Leben aus dem Geist? – Predigt zu Römer 8,12-17 von Andreas Pawlas

Leben aus dem Geist? – Predigt zu Römer 8,12-17 von Andreas Pawlas
8,12-17

So sind wir nun, liebe Brüder, nicht dem Fleisch schuldig, dass wir nach dem Fleisch leben. Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben müssen; wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Fleisches tötet, so werdet ihr leben. Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden.

 

Was soll wohl im Predigttext gemeint sein mit dem „Taten des Fleisches töten durch den Geist“? Und überhaupt, wann beschäftigen wir uns in unserem Alltag einmal richtig mit dem „Geist“? Häufiger können wir dagegen hören, dass uns modernen Menschen so viele „geistlose“ Tätigkeiten an Fließbändern, Werkstätten oder Amtsstuben allen Geist ausgetrieben hätten. Oder auch überlauter Krach oder überlaute Musik. Allerdings scheint es im Lande auch eine große Sehnsucht nach Geist, nach Geistvollem, nach Begeisterung zu geben. So entstehen mancherorts „geistvolle“ oder gar esoterische Zirkel. Sollte dann etwa allein denen dieser Satz in unserem Predigttext gelten: „Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder“?

Aber diese Frage lenkt die Aufmerksamkeit auf uns persönlich zurück. Denn was würden wir wohl antworten auf die Frage, was uns persönlich täglich antreibt. Was für ein Geist das ist. Jedoch, wer wollte dafür die Antwort lange nachdenken und da klingt überhaupt nichts nach „Geist“: Denn treiben uns nicht meist die ganz alltäglichen Dinge an, die wir brauchen, um unser „Fleisch“ zu erhalten und einfach zu überleben? Ja, das sind wir sozusagen unserem Leib, „Fleisch“, eben unserer materiellen Lebensgrundlage schuldig. Ist damit etwa nun die Frage erledigt? Nein, denn wir müssen doch weiterfragen, was wir dann mit unserem so erhaltenen Leben machen. Geht es dann nur wieder um weitere Lebenserhaltung oder was treibt uns da zu welchem Ziel? Ja, welcher Geist will uns treiben, wenn wir uns in unserem Beruf einsetzen, in Familie, Kirche, Vereinen oder Politik?

Natürlich wissen wir, dass sich für uns da heutzutage in der Zeit der „Neuen Unübersichtlichkeit“ viele Antwortmöglichkeiten auftun. Aber vermutlich sind wir uns alle in einem hinsichtlich des Geistes, der uns treibt, einig: Nämlich, dass es auf keinen Fall ein knechtischer Geist sein soll, der uns treibt. Nein, das wollen wir uns gefälligst verbitten. Knecht sein, das möchte doch niemand gern. Aber frei sein und Freiheit in vollen Zügen genießen, das wollen wir doch alle! Wer wollte sich da ausschließen. Geist und Freiheit, die sollen doch zusammengehören.
Überhaupt ist doch Geist und Freiheit die Grundsubstanz unserer modernen Gesellschaft und unseres modernen Staates. Wie großartig wurde deshalb vor Jahren dieser Geist der Freiheit gefeiert, der vor 227 Jahren das französische Volk zur französischen Revolution trieb und fast das ganze Europa mit hineinzog. Ja, auch Deutschland, das in seiner dreifarbigen Fahne noch immer für die drei Schlagworte der französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ demonstriert. Aber ist es heute noch dieser Geist, der uns treibt und der in stolzer und gefeierter Tradition steht? Und vor allem: Ist es etwa dieser Geist, den der Apostel Paulus meint und als Geist Gottes versteht?

Jedoch steht uns vor Augen, dass damals in der französischen Revolution und den darauf folgenden Umbrüchen, im Namen von Freiheit und Befreiung ein Blutbad nach dem anderen verübt wurde und ein Massaker nach dem anderen. Da frage ich mich schon, ob ich mich tatsächlich mit einem solchen Geist der Freiheit identifizieren möchte.

Oder ist das alles gar nicht gemeint? Gilt für uns und die Christenheit heute etwa ein ganz anderer Geist der Freiheit? Etwa der Geist der Freiheit, dem es vor allem um freien Handel, freies Kaufen und Verkaufen geht? Aber wer wollte denn verhindern können, dass sich ein solcher Geist sehr schnell in Raffgier und Geiz auflöst, wie wir es in der letzten Finanzkrise erleben mussten? Sollte darum das der Geist sein, der uns treibt?

Oder empfinden wir etwa allein den Geist der Freiheit für unser Leben, wenn wir freie Zeit oder Urlaub haben? Also Freizeit als das Beste im Leben? Nämlich alle Viere genüsslich von sich strecken nach dem Motto: Den lieben Gott einen guten Mann sein lassen.

Nichts gegen Freiheit und Freizeit, freies Kaufen und Geld verdienen –  wir dürfen doch bestimmt Gott dafür danken, dass uns das alles weitgehend möglich ist. Aber sollte das etwa der Geist sein, in dem wir auch unsere Kinder aufwachsen lassen und erziehen wollen? Worin wollen wir denn den Geist unserer Kinder anregen und schulen? Etwa, dass sie noch besser und gewitzter kaufen, handeln oder faulenzen können? Aber wie sollten sie so ihr Leben wirklich bestehen können?

Nun sagt ja mancher, dass man gar nicht früh genug damit anfangen kann, die Kinder auf den Ernst des Lebens vorzubereiten. Und offenbar ist damit nicht gemeint möglichst gelungenes Faulenzen, und möglichst viel Freiheit als Freizeit. Sondern manche meinen, dass den Kindern möglichst schnell alles Naive und Kindliche ausgetrieben werden muss. Und wozu sollte da etwa ein Händefalten und das zu Gott „Abba, lieber Vater“ rufen nützlich sein?

Wenn immer wieder Leute sagen, dass der kindliche Geist von solchen angeblich naiven Selbsttäuschungen möglichst schnell befreit werden muss, dann hat das offenkundig mit dem zu tun, was man in seinem Leben als real und damit als wirkmächtig ansieht. Und solche Leute sagen dann auch, real und wirkmächtig sei doch nur das, was wir messen, zählen, wiegen oder prüfen können. Real sei doch nur das, was wir im Portemonnaie oder in der Scheune haben.

Aber, liebe Gemeinde, wenn nur das alles real sein soll, wenn nur das der Reichtum unserer ganzen Wirklichkeit sein sollte, wären wir dann nicht  ganz arme Menschen?
Wo bliebe dann alle Freude? Die kann man doch im Portemonnaie nicht zählen!
Wo bliebe dann alles Schöne und alles Vertrauen? Denn das kann man doch nicht messen oder wiegen!
Und wo bliebe dann alle Liebe und alle Hoffnung? Das alles wäre in einer solchen verkümmerten Erbsenzähl-Realität nicht vorhanden. Und dann wären wir wirklich arm dran.

 

Für mich klingt genau eine solche armselige Realität durch in dem, was ganz am Anfang im Bibelwort mit „ Fleisch“ bezeichnet wird. Mir scheint diese armselige Realität mit „Fleisch“ gemeint zu sein, deren Auswirkungen, also „Taten“, durch den Geist überwunden, also „getötet“ werden sollen. Aber warum soll es denn notwendig sein, diese armselige Realität zu überwinden? Viele haben sich doch darin in der heutigen Zeit irgendwo eingerichtet. Jedoch schreibt uns hier der Apostel in aller scharfen Konsequenz ins Gewissen: „Wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben müssen“. Aber wieso denn?

Schauen wir hierzu allein einmal auf die Kinder. Denn wie sollten Kinder in einer armselige Erbsenzähl-Realität überleben können? So hat doch kein Kind vor seiner Geburt kritisch geprüft, ob bei den Eltern auch genügend Geld auf dem Konto ist für seine Ernährung oder ob sie beim neuesten Babywickelkurs mitgemacht haben. Kinder haben doch gar keine andere Lebenschance, als Vater und Mutter völlig zu vertrauen. Und für Kinder ist es auch gar kein Problem, Vater und Mutter mit ganzem Herzen zu lieben, sonst würden sie einfach sterben.
Und vergleichbar könnte sich ein Erwachsener kaum aus dem Haus bewegen, wenn er immer alles, was er für das Alltagsleben braucht, wie Auto, Aufzug, U-Bahn, Haus, Lebensmittel, allen nach unserem technischen Zeitalter möglichen Verlässlichkeits- und Gesundheitstests unterwerfen wollte. Vermutlich würde er drum schlicht verhungern. Offensichtlich stimmt es: Wer nicht vertrauen kann, muss sterben. Wessen Leben nicht vom Geist des Vertrauens getragen ist, der wird es verlieren.

Wenn wir uns darum davon verabschieden können, in unserem Geist allein von den Alltagsdingen bestimmt zu werden und unserem himmlischen Vater genauso vertrauen könnten, wie unsere Kinder Vater und Mutter völlig vertrauen, dann müssten wir nicht genauso vergehen wie unsere Alltagsdinge. Sondern dann könnten wir uns ganz gewiss sein, Gottes Kinder und damit Gottes Erben und Miterben Christi zu sein, denen nach allem weltlichen Leiden himmlische Herrlichkeit zugesagt ist.

Warum ist uns das nun so fremd geworden, so wie Kinder einfach zu glauben und zu leben? Sind wir in unserem Leben vielleicht zu viel enttäuscht und verletzt worden? Oder tragen wir vielleicht an Leib und Seele zu viel an Trauer, Schmerzen oder Wut mit uns herum? Wie dem auch sei, eins lehrt dabei jedenfalls die Erfahrung: dass man in der Regel von allein aus einem solchen dunklen Loch schmerzlicher Erfahrungen nicht heraus kommt. Sich allein an einem grauen Morgen vorzunehmen, „Heute will ich begeistert und fröhlich sein“, das klappt einfach nicht oder führt nur zu Verkrampfungen.

Manche sagen, was da helfen kann, ist der Mitmensch. Das ist sicherlich manchmal möglich. Aber kennen wir das nicht auch: Da steht man enttäuscht und traurig, und dann stellt sich ein munterer Mitmensch zu einem und sagt polterig so etwas wie: „Komm, so schlimm ist das doch alles gar nicht, stell dich doch nicht so an!“ Und dann schluckt man und verkriecht sich noch tiefer in sein Schneckenhaus. Nein, ein solcher polteriger Geist kann nicht immer helfen. Weder in Arbeit und Beruf, noch in Familie oder Gesellschaft.

Wirklich hilfreich kann nur ein liebevoller, einfühlsamer, herzlicher Geist sein, der einem eben nicht gewaltsam übergestülpt wird oder auf Knopfdruck von irgendwoher auf einen niederprasselt. In unserem Bibelwort heißt es deshalb ja auch: Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Und da der Geist Gottes weht, wo er will, bedeutet das weiter, dass man um Gottes guten Geist nur bitten kann. Nein,  nicht nur zu bitten, sondern  sich dann auch darauf zu verlassen, dass Gott unsere Bitte um Christi willen erhört und uns dann seinen Geist schickt, mit neuem Mut, mit neuer Kraft, mit neuem Trost und neuer Hoffnung.

Wenn man um Gottes guten Geist wirklich bitten kann, dann geschieht tatsächlich etwas. Bitte rechnen Sie jetzt nicht mit ständigen spitzen Halleluja-Rufen oder dauerhaften ekstatischen Tänzen. Aber mit einem muss und darf man ganz fest rechnen: dass sich Menschen wohltuend verändern. Dass sich das Klima untereinander und miteinander heilsam verändert, wenn Menschen tatsächlich beten, wenn Menschen tatsächlich Gott um seinen guten Geist bitten. Und dann sind sie auch gleichzeitig von Gottes Geist getrieben und dann sind sie seine Kinder. Und Besseres kann es doch wirklich nicht geben im Leben und im Sterben. Denn dann werden einem als Kind oder Erwachsenen die Augen aufgetan für Gottes ganz andere Lebenswelt, die in jeder Fröhlichkeit und in allem Schönen durchschimmern will, die in jedem Gefühl der Dankbarkeit, des Vertrauens und der Liebe uns bereits jetzt anrühren will, um uns dann als Kinder Gottes ewig wunderbar zu umhüllen und zu umschließen in seinem ewigen Reich. Dazu führe und leite uns alle Gottes guter Geist. Amen.

 

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Pastor i. R. Dr. Andreas Pawlas
Eichenweg 24
25365 Kl. Offenseth-Sparrieshoop,
Andreas.Pawlas@web.de

Perikope
28.08.2016
8,12-17

Am Ende: Gottes Erbarmen - Predigt zu Römer 9,1-8.14-16 von Martin Weeber

Am Ende: Gottes Erbarmen - Predigt zu Römer 9,1-8.14-16 von Martin Weeber
9,1-8.14-16

„So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.“

Der Apostel Paulus entfaltet eine ganz grundlegende Einsicht an einem sehr speziellen Beispiel.
Die grundlegende Einsicht gilt für alle Menschen.
Das Beispiel ist das Verhältnis zwischen Christen und Juden, oder wie man auch sagen kann: Zwischen Kirche und Israel.
An diesem Beispiel liegt Paulus freilich etwas. Hier schlägt sein Herz.
Denn er war erst Jude und wurde dann Christ.
Aber als Christ blieb er eben doch auch dem Judentum ganz eng verbunden.
Das ist jetzt alles sehr grob gesprochen, aber trifft doch den Kern der Sache.

Führen wir uns zunächst einmal die grundlegende Einsicht vor Augen:
„So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.“
So übersetzt Martin Luther. Bei aller Liebe zu Luthers Sprachkunst: Eine neuere Übersetzung ist vielleicht leichter verständlich. So übersetzt die Basisbibel:
„Es kommt also nicht darauf an, ob der Mensch etwas will oder ob er sich abmüht. Sondern es kommt allein auf Gottes Erbarmen an.“

Das hört sich gut und fromm an.
Aber es widerspricht doch unserer Alltagserfahrung.
Wir wissen doch, dass es oft sehr wohl darauf ankommt, ob wir etwas wirklich wollen und ob wir uns dafür wirklich abmühen.
„Anstrengungsbereitschaft“ nennt man das, was da verlangt ist.
In vielen Zeugnissen ist davon die Rede.
Anstrengungsbereitschaft: Das will die Lehrerin ihren Schülern beibringen. „Streng dich an, halte durch, lass nicht nach.“
„Lerne, schaffe, leiste was – dann kannste, haste, biste was.“
So sagt es das Sprichwort.
Ohne Fleiß kein Preis, ohne Anstrengung kein Erfolg.

Das ist auch protestantischen Christen über die Jahrhunderte hinweg eingetrichtert worden, und zwar mit Erfolg.
Leute, die sich in der Geschichte auskennen, sagen einem, dass deshalb in vielen protestantisch geprägten Gegenden der Wohlstand immer bemerkenswert hoch war.
Da ist was dran. Man spricht vom „protestantischen Leistungsethos.“

Aber gleichzeitig wurde uns Protestanten auch stets die Botschaft von der freien Gnade Gottes verkündigt:
Gott erweist uns seine Gnade ganz unabhängig von unseren Leistungen.

Irgendwie sind das zwei Seiten einer Medaille.
Und es ist auch genauso wie bei einer Medaille, wie bei einer Münze: Man kann nicht beide Seiten zugleich betrachten. Entweder man betrachtet die eine Seite, oder man betrachtet die andere Seite: Bild oder Zahl.
Dennoch gehört beides zusammen.

Neulich habe ich ein Ehepaar besucht. Ein nachträglicher Goldhochzeitsbesuch.
Ein sehr schönes Haus, wirklich geschmackvoll eingerichtet, schöne Bilder an der Wand. Ich kannte die beiden bis dahin nicht. Der Ehemann begann, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Und es wurde deutlich: Er hat immer viel gearbeitet, hat viel geleistet. Er kam aus kleinen Verhältnissen, aber er hat sich durch Fleiß und Klugheit nach oben gearbeitet. Seine Anstrengung war von Erfolg gekrönt.
Das ist die eine Seite der Medaille.
Irgendwann im Gespräch sagte er dann aber noch etwas. Er sagte: „Wir haben viel Glück gehabt. Wir sind dankbar.“
Das ist die andere Seite der Medaille.
Er war sich ganz klar dessen bewusst, dass es in seinem Leben viele gute Wendungen gegeben hatte, die gar nichts mit eigener Anstrengung zu tun hatten. Er sprach davon, wie ihn in seinem Leben der CVJM geprägt habe, der „Christliche Verein junger Menschen“. Und es wurde schnell deutlich, dass er die glücklichen Wendungen seines Lebens keinem anderen zuschrieb als Gott.

Am Ende kommt es doch darauf an, dass Gott es gut mit uns meint.
„So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.“
Oder noch einmal in der moderneren Übersetzung:
„Es kommt also nicht darauf an, ob der Mensch etwas will oder ob er sich abmüht. Sondern es kommt allein auf Gottes Erbarmen an.“

Zwei Seiten einer Medaille. Sie gehören zusammen.
Wie sie genau zusammengehören, das ist ganz schwierig zu beschreiben.
Vielleicht so: Wir sollen uns anstrengen. Wir sollen unsere Fähigkeiten nutzen.
Aber wir sollen immer daran denken, dass es Gott ist, der uns unsere Fähigkeiten verleiht.
Und er verleiht sie uns ja im wahrsten Sinne des Wortes.
Denn wir verfügen nicht dauerhaft über sie.
Irgendwann lässt es nach mit unserer Kraft oder mit unserer Klugheit oder mit unserem Geschick.

Also: Solange wir etwas leisten können, sollen wir auch etwas leisten.
Aber das macht uns nicht als Personen aus.
Wenn wir nichts mehr leisten können, dann sind wir bei Gott immer noch gut angesehen. Und bei unseren Mitmenschen hoffentlich auch.

Aber auch solange wir etwas leisten können, ist es wichtig, dass wir uns immer wieder dem Leistungsdruck entziehen, dass wir Pausen machen, dass wir uns Erholung gönnen. Gott selber hält uns dazu an, etwa dadurch, dass er uns mahnt, Ruhetage einzuhalten, klassisch: Den Sabbat oder den Sonntag.

So weit, so gut. Nun könnte die Predigt friedlich und erbaulich enden.
Aber da ist noch das andere Thema. Und dem können wir am heutigen Sonntag, dem sogenannten Israelsonntag, nicht ausweichen.
Da ist noch das Thema, das den Paulus so sehr bewegt: Die Sache mit den Juden und mit den Christen. Paulus war Jude und ist nun Christ. Aber er hängt immer noch an seinen jüdischen Glaubensgeschwistern.

Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit.

Was ihn als Christ von seinen jüdischen Glaubensgeschwistern trennt, ist die Einsicht, dass es am Ende nicht darauf ankommt, was wir im Leben geleistet haben, sondern darauf, dass Christus uns durch seinen Tod am Kreuz erlöst hat. Christus ist für Paulus und für alle Christen der Erlöser.

Das ist der Punkt, an dem sich der christliche und der jüdische Glaube ganz deutlich voneinander unterscheiden. Da besteht ein Unterschied, den man bei aller Liebe nicht beliebig kleinreden kann.

Und dennoch ist es bewegend, zu lesen und zu sehen, wie eng Paulus sich seinen jüdischen Geschwistern verbunden fühlt. Da besteht für ihn so etwas wie eine Verwandtschaft, die man nicht auflösen kann.

Da müssten wir nun ziemlich tief in die alttestamentlichen Familiengeschichten von Abraham und seinen Nachkommen einsteigen, um die durchaus kunstvolle Argumentation des Paulus nachvollziehen zu können. Wir müssten uns der Frage stellen, warum Gott die einen erwählt und die anderen nicht. Aber zu einer wirklich einleuchtenden Antwort würden wir da nicht kommen und ist Paulus auch nicht gekommen.

Martin Luther hat einst eine große Vorlesung über den Römerbrief gehalten. Und als er zu unserem Abschnitt und zu der Frage gekommen ist, warum Gott die einen erwählt und die anderen nicht, da hat er gesagt: „Ich würde nichts dazu sagen, wenn mich nicht die Ordnung der Vorlesung und die Pflicht dazu nötigte.“ Kurzum: Er hätte den Abschnitt am liebsten übersprungen. Ein paar Zeilen weiter schreibt er dann, es sei am besten, „dass man sich um solche Gedanken nicht kümmert.“

Wichtig scheint mir hier vor allem das Eine: Paulus weiß genau, was ihn von seinen jüdischen Glaubensgeschwistern trennt, aber er bemüht sich dennoch darum, die Verbindung nicht abreißen zu lassen. Sein wichtigster Gesichtspunkt ist dabei der, „dass Gottes Wort doch nicht hinfällig geworden sei.“ Gott hat Israel erwählt und diese Erwählung kann er doch nicht aufheben. Auf irgendeine Art und Weise wird doch Gott seinen Heilswillen auch im Blick auf Israel durchsetzen – und sei es erst am Ende der Zeit.

Es ist eine sehr gute Entwicklung, dass wir es als Christen immer mehr lernen, das zu sehen und zu würdigen, was uns mit unseren jüdischen Glaubensgeschwistern verbindet. Viel zu lange waren uns dafür die Augen verschlossen, mit furchtbaren Folgen.

Bei allen Unterschieden gehören wir doch alle in Gottes großen und guten Plan.
Das versucht Paulus auf seine Weise zu verdeutlichen, mit einer theologischen Genialität, der wir kaum gewachsen sind und die wir wahrscheinlich nur in Ansätzen nachvollziehen können.
Die Argumente des Paulus können wir im Einzelnen gar nicht immer leicht verstehen. Wichtig ist die Grundhaltung: Bei klarem Bewusstsein der Unterschiede einander doch nicht aufzugeben, einander im Blick zu behalten. Und darauf zu vertrauen, dass Gott am Ende weiß, wie er seine guten Absichten zum Ziel bringt.
Vielleicht hilft uns diese Haltung auch, mit Problemen umzugehen, die Paulus noch gar nicht im Blick haben konnte.

Perikope
31.07.2016
9,1-8.14-16

Vom Vater und seinen beiden Söhnen - Predigt zu Römer 9,1-8.14-16 von Katharina Wiefel-Jenner

Vom Vater und seinen beiden Söhnen - Predigt zu Römer 9,1-8.14-16 von Katharina Wiefel-Jenner
9,1-8.14.16

Römer 9,1-8.14-16 in der Übersetzung der Basisbibel:

Für das, was ich jetzt sage, berufe ich mich auf Christus.
Es ist die Wahrheit, ich lüge nicht. Auch mein Gewissen bezeugt es und erhält dafür die Bestätigung durch den
Heiligen Geist: Ich bin wirklich sehr traurig, ja, mir schmerzt regelrecht das Herz. Denn es geht um meine Brüder und Schwestern. Ich wünschte nur, ich könnte an ihre Stelle treten und selbst verflucht sein – ausgeschlossen aus der Gemeinschaft mit Christus. Es sind doch meine Landsleute, mein eigenes Fleisch und Blut. Sie sind doch Israeliten! Sie sind Kinder Gottes und haben Anteil an seiner Herrlichkeit. Mit ihnen hat Gott mehrfach einen Bund geschlossen. Er hat ihnen das Gesetz gegeben und sie gelehrt, ihn in rechter Weise zu verehren. Und er hat ihnen sein Versprechen gegeben.
Sie sind Nachkommen der
Stammväter, von denen auch Christus seiner irdischen Herkunft nach abstammt. Gott, der über allem steht, sei in Ewigkeit gelobt! Amen.
Es ist ja nicht so, dass Gottes Zusage hinfällig ist. Allerdings gehören nicht alle, die aus
Israel stammen, auch wirklich zu Israel. Genauso wenig sind alle Menschen, die von Abraham abstammen, auch wirklich seine Nachkommen. Sondern Gott hatte gesagt: »Die Nachkommen Isaaks sollen als deine Nachkommen gelten.« Das heißt: Die leiblichen Nachkommen von Abraham sind nicht zwangsläufig Kinder Gottes. Vielmehr gelten nur diejenigen wirklich als seine Nachkommen, die auf die Welt kamen, weil Gott es versprochen hat.
Was sollen wir dazu sagen? Etwa: »Ist Gott nicht ungerecht?« Auf keinen Fall! Er sagt ja zu
Mose: »Ich werde dem mein Erbarmen schenken, mit dem ich Erbarmen habe. Und ich werde dem mein Mitleid zeigen, mit dem ich Mitleid habe.«
Es kommt also nicht darauf an, ob der Mensch etwas will oder ob er sich abmüht. Sondern es kommt allein auf Gottes Erbarmen an.

 

„Mit dem Gottesreich ist es so: Ein Vater hatte zwei Söhne.“

Ihr meint, Ihr kennt die Geschichte schon. Ja, Ihr kennt sie schon. „Ein Vater hatte zwei Söhne.“ Jesus hat sie erzählt. Paulus hat die Geschichte auch erzählt.

„Ein Vater hatte zwei Söhne. Er liebte sie beide von ganzem Herze, den Jüngeren und den Älteren. Der eine war ihm genauso lieb wie der andere.“ Besonders Paulus hat diese Geschichte erzählt. Mit Petrus hat er sich über den Ausgang der Geschichte gestritten. Jakobus, der leibliche Bruder Jesu, war wohl auch anderer Meinung als Paulus. Aber schließlich wurde die Version von Paulus weiter erzählt.
„Ein Vater hatte also zwei Söhne. Er liebte sie beide von ganzen Herzen. Den älteren liebte er zuerst, denn er war der ältere Sohn und der Jüngere war noch gar nicht geboren. Zu ihm, dem Älteren, hat er gesagt: ‚Du bist mein geliebtes Kind.’ Nichts und niemand würde den Vater jemals davon abbringen können, seinen ältesten Sohn für immer und ewig innig zu lieben. Und auch der Sohn liebte seinen Vater innig. Lange war der ältere der Einzige – ein Einzelkind. Und so lange der Jüngere nicht geboren war, fühlte sich der Ältere als Einzelkind.
Im tiefsten seines Herzens ist er dieses Einzelkind geblieben. Doch wer wollte ihm das verübeln? In seiner Vaterliebe hatte doch niemand weiteres Platz, nicht einmal ein jüngerer Bruder. Hatte er nicht das Schönste und Beste vom Vater bekommen? Für alle Ewigkeit würde der Vater zu ihm stehen. Ihm hatte der Vater die Tora gegeben. Er bekam vom Vater das Gesetz, mit dem das Leben zum Guten führt. Alles, was zum guten Leben nötig ist, hat der Vater ihm zuerst in die Wiege gelegt. Einen ganz besonderen, einen einzigartigen Bund hatte der Vater mit ihm geschlossen.
Sicher, es gab auch schwierigere Phasen. Aber die Zeiten, als sich der Ältere wie ein pubertierender Teenager aufführte, sind vergangen. Abgesehen davon war dies lange bevor der Jüngere geboren war.
Als der Ältere noch nicht richtig verstanden hatte, was für einen grandiosen und einmaligen Vater er hat, da hatte er sich einen Dreck darum gekümmert, was der alte Herr von ihm wollte. Er hatte zwar die Tora. Gehindert hat ihn das aber nicht daran, sich lieber bei den anderen Familien umzusehen und zu überlegen, ob es nicht besser bei denen sei – die Mädchen waren schließlich hübsch. Jedes Mal, wenn er sich so richtig tief reingeritten hatte, war dann der Vater da und hat ihn wieder rausgeholt. Ein Klageschrei genügte meist und der Vater war zur Stelle rettete, bügelte die Fehler aus, beglich die Schulden, sorgte für Ruhe. Wie gesagt, das war zu einer Zeit, als der ältere Sohn noch Einzelkind war.
Schlimm waren dann die Zeiten, als der Vater erst einmal keinen Finger gerührt hat, um ihn vor den Folgen seines Leichtsinns zu bewahren. Der Sohn hätte es zwar wissen können, dass es böse enden wird, wenn man sich mit den falschen Leuten verbündet – noch dazu, weil der alte Herr ihn mehr als nur einmal gewarnt hatte.
Es war so absehbar gewesen, was passieren würde. Der Sohn fand sich im Exil wieder. Fern von zu Hause, ohne Aussicht, jemals zurückkehren zu können. Da saß er an fremden Ufern, verstummte, kein Lied kam mehr über seine Lippen. Er hängte seine Harfe in die Weidenbäume und weinte. Welches Vaterherz würde nun noch auf der Fortsetzung seiner pädagogischen Maßnahmen bestehen? Der Sohn hatte doch endlich gelernt! Zuhause würde er – da konnte man sich nun sicher sein – endlich die richtigen Worte finden, die richtigen Dinge tun, das Haus des Vaters wieder aufbauen und sich nicht mehr mit den falschen Leuten einlassen. Selbst dann nicht, wenn es unbequem würde, selbst dann nicht, wenn die üblen Schläger vom anderen Ende der Stadt ihn verprügeln und die Lügner aus der Nachbarschaft ihn mit Klagen überziehen und erpressen würden. Nein, endlich hatte er verstanden, wie großartig der Vater ist. Endlich versuchte er alles, um die Liebe des Vaters zu erwidern.“

Aus der Sicht des älteren Sohnes könnte die Geschichte hier enden. Dann aber wurde der Jüngere geboren. Wenn Paulus diese Geschichte erzählt, geht sie so weiter:
„Mit dem Gottesreich ist es so: Der ältere Sohn war und blieb das innig geliebte Kind seines Vaters. Und als die Zeit erfüllt war, wurde der jüngere Sohn geboren. Ihn liebte der Vater so sehr, dass er ihm die ganze Welt zu Füßen legte. Alle, die im Himmel und auf der Erde und unter der Erde sind, sollten ihre Knie vor ihm beugen. Alles, was in dieser Welt seufzt und sehnlich nach Befreiung schreit, würde durch ihn erlöst werden. Alles, was jemals dem Tod diente, würde durch ihn zum Leben bekehrt. Der Tod würde nicht mehr sein. So sehr liebte der Vater den jüngeren Sohn, dass seine Liebe die Pforten der Hölle zuschlossen.
Und als die Zeit ins Land gegangen war, hatten beide Söhne wiederum Kinder. Sie gehörten alle dazu, die Kindes des Älteren wie die Kinder des Jüngeren. Aber sie verstanden einander nicht. Die Kinder des älteren Sohnes glaubten nicht, dass die Liebe des Vaters zum Jüngeren die Hölle zufrieren ließ, sie glaubten nicht daran, dass sich vor dem Jüngeren die Knie aller im Himmel, auf der Erde und unter der Erde beugen. Sie glaubten nicht, dass mit dem Jüngeren der Tod an sein Ende gekommen ist. Sie bestanden darauf, dass nur die Liebe des Vaters zum Älteren zählt. Für sie war nur das Versprechen des Vaters an den älteren Sohn gültig.“

Paulus erzählt die Geschichte. Es ist seine eigene Geschichte. Er gehörte zu den Kindern des Jüngeren. Sein ganzes Apostelleben hat er darum gerungen, dass die Kinder des Älteren die Liebe des Vaters zum Jüngeren anerkennen. Die ganze Welt sollte durch ihn diese Geschichte erfahren. Unter Schmerzen musste er einsehen, dass er die Kinder des Älteren nicht von der Liebe des Vaters zu Jesus Christus überzeugen konnte. Sie blieben bei ihrer Liebe zum Vater.

Ihr habt es längst gemerkt: Es ist nicht nur die Geschichte von Paulus. Der Apostel erzählt uns unsere Geschichte. Auch wir gehören zu den Kindern des Jüngeren, denn so geht es weiter:
„Mit dem Reich Gottes aber ist es so: Gott ist der Vater. Jakob-Israel ist der ältere Sohn und Jesus ist der jüngere. Gott bleibt bei seiner innigen Liebe zu beiden, denn seine Liebe ist größer als unsere Herzen. Sie ist ewig und treu, denn er ist ewig und treu. Voller Mitleid erbarmt sich Gott beider und der Tod wird nicht mehr sein. Am Ende aber werden dann alle einsehen: Gottes Liebe lässt sich nicht trennen, nicht aufteilen und auch nicht gegeneinander aufrechnen.

„Mit dem Gottesreich ist es so: Ein Vater hatte zwei Söhne. Er liebte beide innig.“
Und Paulus wird mit seiner Version der Geschichte rechtbehalten - auf seine typische Paulus-Art. Amen.

Perikope
31.07.2016
9,1-8.14.16

Die Gotteskindschaft des jüdischen Volkes – Gottesdienstentwurf und Lesepredigt zu Römer 9,1-5 zum Israelsonntag von Ursula Rudnick

Die Gotteskindschaft des jüdischen Volkes – Gottesdienstentwurf und Lesepredigt zu Römer 9,1-5 zum Israelsonntag von Ursula Rudnick
9,1-5

Gottesdienstentwurf

Bei der ersten biblischen Lesung aus Exodus 19 schlage ich vor, die Lesung um zwei Verse zu erweitern und sie somit nicht nur auf Gottes Rede zu beschränken, sondern auch die Antwort des Volkes einzuschließen. Beim Predigttext schlage ich eine Kürzung der Lesung vor, da sich die ausgearbeitete Predigt auf die Verse Röm 9,1-5 beschränkt.

Orgelvorspiel

Begrüßung:
„Wohl dem Volk, dessen Gott der HERR ist, dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat.“ Mit diesen Worten aus Psalm 33,12 begrüße ich Sie herzlich am Israelsonntag.

An diesem Sonntag feiern wir die Treue Gottes zu seinem Volk Israel, dem jüdischen Volk.
„Israel“ – das ist der Name Jakobs, den er nach dem Kampf am Jabbok von Gott erhielt und es ist der Name des jüdischen Volkes. Unsere Beziehung zu Jüdinnen und Juden steht im Mittelpunkt dieses Gottesdienstes.

In der Lesung aus dem 2. Buch Mose vergegenwärtigen wir, wie Gott seinen Bund mit Israel am Sinai schließt. In der Lesung des Evangeliums bekräftigt Jesus das höchste Gebot: Gottes- und Nächstenliebe, und Paulus hält die Auszeichnungen Israels fest, die auch nach Jesu Tod und Auferweckung gültig bleiben.

Wir feiern diesen Gottesdienst im Namen des dreieinigen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Lied: Gott ist gegenwärtig (eg 165,1-4)

Psalm 111 (im Wechsel mit der Gemeinde)

Ehr sei dem Vater

Kyrie

Ehre sei Gott

Allein Gott in der Höh

Gebet

Gott,
wir sind zusammengekommen, um Dich zu loben und zu preisen.
Wir sehen das Werk Deiner Hände und freuen uns an ihm.
Wir danken Dir für das Gute, wir danken Dir für dein Wort.

Gott,
öffne uns Augen und Ohren, sende uns Deinen Geist.
Dies beten wir durch Jesus Christus unseren Herrn. Amen.

Lesung: Exodus 19,1-8

Lied: Nun danket Gott (eg 290,1.3-6)

Lesung: Markus 12,28-34

Lied: Wir glauben Gott im höchsten Thron (eg 184,1-5) (gesungenes Credo)

Predigt zu Römer 9,1-5

Liebe Schwestern und Brüder,

Paulus, der Apostel der Völker. Er hätte gut in die heutige Zeit gepasst, denn Paulus weiß sich zu inszenieren. Denken Sie an seine Berufung: Die dramatische und höchst einprägsame Geschichte. Wer sie einmal gehört hat, vergisst sie nicht so schnell: Die Wandlung des Paulus vom Verfolger der Jesus- Gläubigen hin zum engagierten Botschafter Christi unter den Völkern.

Paulus würde gut in heutige Talk-Shows passen. Er ist streitbar, lässt sich von niemandem ins Bockshorn jagen und vertritt seine Position engagiert.

Sein Credo: Die frohe Nachricht vom Gott Israels gilt nicht allein dem Volk Israel, sondern mit der Auferweckung Jesu Christi auch den Völkern.

Unter den Propheten Israels gibt es Visionen für ein Miteinander von Israel und den Völkern. So stellt sich Micha eine Zeit vor, da nicht nur Israel, sondern auch die Völker zum Zion, zu Gottes Wohnsitz in Jerusalem, pilgern werden: „Kommt, lasst uns hinauf zum Berge des Herrn gehen und zum Hause des Gott Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir in seinen Pfaden wandeln. Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem.“ (Mi 4,2) Und dann werde Frieden herrschen, Schwerter werden zu Pflugscharen geschmiedet und jeder werde unter seinem Feigenbaum und Weinstock sitzen.

Diese Visionen sind messianische Hoffnungen, Vorstellungen einer Endzeit, die anders ist als die erlebte Gegenwart.

Wider allen Anschein sagt Paulus: Diese Hoffnung von der Versöhnung der Völker ist schon jetzt Wirklichkeit. Dieser Überzeugung widmet er sein Leben. Sie wird sein Auftrag, seine Mission.

Seine Botschaft ist in der jüdischen Gemeinschaft allerdings umstritten. Deshalb haben sich nur einige Menschen Jesus und seinen Anhängerinnen und Anhängern angeschlossen. Außerdem fragen sich Juden und Jüdinnen: Auf welche Weise können und dürfen Nicht-Juden Zugang zum Gott Israels haben?

Paulus macht sich dafür stark, dass die Menschen aus den Völkern, die durch den Glauben an Jesus Christus ihren Zugang zum Gott Israels gefunden haben, keinen Status zweiter Klasse erhalten. Dies wäre naheliegend, denn sie sind später gekommen und sie halten nicht alle Gebote der Tradition. Was für uns Christinnen und Christen heute selbstverständlich ist, dass Menschen aus den Völkern den Namen des Gottes Israels anrufen, war im 1. Jahrhundert eine umstrittene Frage.

Paulus behauptet: Die neu Hinzugekommenen sind „nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes“ (Eph 2,19), wie es der Epheserbrief so anschaulich formuliert.

Und so wie Paulus Respekt für die „Neuen“ fordert, so macht er gleichermaßen deutlich, dass die „Neuen“ keinen Anlass für Überheblichkeit gegenüber den „Alten“ haben. In komplexen Gedankengängen führt er dies – insbesondere in den Kapiteln 9-11 des Römerbriefes – aus.
Hören wir auf Worte aus dem 9. Kapitel, die Verse 1-5.

„Ich sage die Wahrheit im Gesalbten, ich lüge nicht, mein Gewissen legt dabei Zeugnis für mich ab im heiligen Geist: Ich haben großen Schmerz, und mein Herz hat unaufhörlich Kummer. Ich wünschte nämlich, selbst verflucht und so vom Gesalbten getrennt zu sein zugunsten meiner Geschwister, meiner Landsleute der Herkunft nach. Sie sind ja doch Israeliten, ihnen gehört die Kindschaft, der Glanz, die Bundesschlüsse, die Gabe der Tora, der Gottesdienst und die Verheißungen, ihnen gehören die Väter, und von ihnen kommt der Gesalbte seiner Herkunft nach. Der über allem ist, Gott: Er sei gesegnet für immer! Amen.“

Mit seinem ganzen Sein wünscht sich Paulus also, dass seine jüdischen Zeitgenossen sein Vertrauen auf Jesus, den Gesalbten Gottes, den Messias teilen. Alles würde er dafür geben: Selbst seine Zugehörigkeit zum Gesalbten.

Und doch muss er feststellen: Viele teilen seine Leidenschaft nicht. Sie glauben nicht an Jesus als Gesalbten Gottes.

Dies ist jedoch kein Grund den „Alten“, den jüdischen Geschwistern ihre Verbindung zu Gott abzusprechen.

Das jüdische Volk hat reiche Schätze. Paulus macht eine lange Liste:

  • Die Kindschaft – das heißt Gottes geliebtes Kind zu sein.
  • Der Glanz und die Herrlichkeit – das meint die Erfahrung der Gegenwart Gottes. Sie spiegelt sich im Antlitz seines Volkes.
  • Die Bundesschlüsse: Zu ihnen gehören der Noachbund, der Abrahams-Bund und in der Lesung haben wir die Geschichte des Sinaibundes gehört.
    Der Bund – das ist die Selbstverpflichtung Gottes, für sein Volk da zu sein und es durch die Zeiten hindurch zu bewahren.
  • Die Tora als Lebensmittel – als Mittel zum Leben in Freiheit: Die fünf Bücher Mose mit den Weisungen Gottes für ein gelingendes Leben in Freiheit. Zugleich bedeutet das Wort Tora „Lehre“ und meint die gesamte schriftliche und mündliche Lehre, die Moses auf dem Berg Sinai erhalten hat, also die jüdische Bibel und den Talmud.
  • Der Gottesdienst – in ihm wird Gott gelobt und immer wieder auch die Geschichte mit Gott vergegenwärtigt. Gottesdienst, das ist auch die Feier der Geschenke Gottes im Alltag.
  • Die Verheißungen – die Hoffnungen und die Versprechen auf eine Zukunft in Frieden. Sie kennen die Visionen von Jesaja, Micha und der anderen Propheten.

Die sechs Punkte, die Paulus hier benannt hat, laden ein zum Erzählen.
Und sie fordern heraus, Jüdinnen und Juden nach der Bedeutung des Bundes und der Tora heute zu fragen.

Zum Beispiel David Freund: Er ist Mitglied einer liberalen Jüdischen Gemeinde in Hove in der Nähe von Brighton und kommt jedes Jahr zur jüdisch-christlichen Bibelwoche in Ohrbeck bei Osnabrück. Einer seiner Großonkel war Landesrabbiner in Niedersachsen, sein Großvater war Direktor des jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee. Sein Vater studierte Germanistik in Göttingen und konnte sich rechtzeitig nach Großbritannien retten. Dort konnte er in den 30er-Jahren jedoch keine feste Stelle bekommen und emigrierte deshalb mit seiner Frau Kitty nach Südafrika, wo David geboren wurde. Heute lebt David in Großbritannien. Er ist ein liberaler Jude, der tief in der jüdischen Tradition verwurzelt ist.

David Freund sagt: „Der Bund ist die Grundlage meines Lebens. Er verbindet mich mit meinen Vorfahren, der Geschichte meiner Väter und Mütter. Mit der Geschichte meines Großonkels, der Rabbiner in Hannover war und mit dem Großvater, der Direktor des jüdischen Friedhofs in Berlin war. Mit der Geschichte meines Vaters, der sein Land verlassen musste, weil er Jude war. Das Leben meiner Vorfahren und auch mein Leben wären anders verlaufen, wenn ich nicht jüdisch wäre.

Der Bund ist etwas Positives. Ich erlebe ihn in der Gemeinschaft, wenn ich zur Synagoge oder zur Talmudstunde gehe. Ich versuche, so gut ich kann den Bund in meinem Alltag zu leben.
Für mich heißt dies, gegenüber Menschen eine wohlwollende Haltung zu haben und das Leben – mit allem was geschieht – positiv zu betrachten. Und es heißt für mich, für Gerechtigkeit einzutreten und auch dafür zu kämpfen, sei es in persönlichen oder politischen Fragen.
Mein Verständnis vom Bund ist nicht exklusiv: Er verbindet mich mit dem Ewigen und mit allen Menschen und Geschöpfen [...] Mit Worten lässt sich seine Bedeutung gar nicht ausdrücken. Es ist so viel und so viel mehr.“

Was für viele Menschen sich nach einem abstrakten Konzept anhört – der Bund Gottes mit dem jüdischen Volk – ist für David Freund etwas Konkretes, das einen wichtigen Teil seines Lebens ausmacht. Es ist das Fundament seines Lebens, welches auf vielfältige Weise seinen Ausdruck findet – auch und gerade im alltäglichen Leben.

Und zur Tora sagt David Freund: „Die Tora ist für mich Geschichte, Kultur und Ethik. Wichtig ist mir dabei, immer wieder neue Perspektiven zu entdecken: Fragen zu stellen. Neue Fragen zu entdecken. Immer wieder neu.“

Bund und Tora sind ein tragbares Vaterland. Heinrich Heine sprach vom portativen Vaterland. Mit dem Bund und der Tora zu leben, bedeutet eine nicht-zerstörbare geistlich-geistige Heimat zu besitzen. Es heißt, sich als Kind und Volk Gottes zu wissen, mit einem Kompass und einer Landkarte fürs Leben ausgestattet, für ein Leben in Freiheit und im Gegenüber und im Angesicht Gottes.

Es gäbe viel zu erzählen. Es gibt viel zu entdecken. Paulus zählt Schätze des Volkes Israel auf.
Sie waren im 1. Jahrhundert Schätze des Volkes Israel – und sie sind es auch in der Gegenwart.

In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten haben sich Christinnen und Christen auf den Weg in Synagogen und Lehrhäuser gemacht, haben Jüdinnen und Juden zugehört und haben viel Neues gelernt.

Wir haben theologische Urteile als Vorurteile und Falschurteile entlarvt.
Wir haben Neues entdeckt, so zum Beispiel die Freude an der Tora mit ihren Geboten.
Wir haben jüdische Tradition und Traditionen schätzen gelernt und ein zusätzliches Geschenk erhalten. Das Geschenk, auch unsere eigene Tradition in einem neuen Licht zu sehen und sie auf diese Weise besser zu verstehen.

Dies ist die Verheißung und die Aufforderung des Apostel Paulus: „Freut euch ihr Völker mit Gottes Volk!“ Ja, freuen wir uns mit Gottes Volk, mit unseren jüdischen Schwestern und Brüdern!

Wir können uns freuen, weil uns so viel miteinander verbindet. Als Juden und Christen sind wir Kinder und Geliebte Gottes, mit Abraham als unserem Vater. Wir sind als Juden und Christen erwählt und berufen, als Geschwister die Herrlichkeit Gottes zu verkünden und Gottes Willen zu tun.

Aus der Freude wächst das Gotteslob. Gott „sei gesegnet für immer!“ – so Paulus. Denn wir sind reich beschenkt. Es gilt die Schätze zu entdecken, sie miteinander zu teilen und sich an ihnen zu freuen. Amen.

Orgelmeditation (fröhlich)

Abkündigungen

Lied: Bewahre uns Gott, behüte uns Gott (eg 171,1-4)

Fürbitten:
Gott,
wir danken Dir für die Bewahrung Deines Volkes:
Du hast es aus der Knechtschaft in Israel befreit, du hast es durch die Wüste geführt, du hast den Bund mit ihm am Sinai geschlossen und gabst ihm Deine Weisung, die Tora.

Gott,
wir danken Israel für die Bewahrung Deiner Worte.
Ohne Dein Volk wüssten wir nicht von Dir.

Gott,
bewahre Dein Volk, behüte es vor Anfeindungen.
Gib uns die Kraft und den Mut, an seiner Seite zu stehen.

Gott,
lass uns teilhaben an der Freude Deiner Gebote, sodass wir als Juden und Christen Deinen Willen tun, als Partnerinnen und Partner Deinem Reich entgegen gehen. Amen.

Vaterunser

Sendung und Segen
Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen,
aber meine Gnade soll nicht von dir weichen,
und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen. (Jesaja 54,10)

Amen.

Orgelnachspiel

 

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Perikope
31.07.2016
9,1-5