Gefallen – Geküsst – Getröstet – Predigt zu Römer 6,3-8 von Maximilian Heßlein
Liebe Gemeinde,
ein heißer Sommertag. Das Fahrrad des Kindes war neu. Es glänzte in den Strahlen der Sonne. Eine erste gemeinsame Tour. Mutter und Vater, Geschwister. Auch der Hund trabte nebenher. So ging es über die Felder voran.
„Komm, lass uns um die Wette fahren! Beim Baum hinter der Kurve ist das Ziel!“ Die Geschwister traten in die Pedale. Sie nahmen Geschwindigkeit auf. Der Wind pfiff ihnen um die Ohren. Die Oberschenkel brannten vor Anstrengung. Das neue Fahrrad fuhr wie der Blitz. Das Kind war schnell. Im Wettstreit der Geschwister lag es weit in Führung. Nur noch die Kurve. Dann war das Rennen gewonnen.
Die Kurve kam. Die Kurve war eng. Die Geschwindigkeit war hoch. In der Kurve lag Schotter. Der beherzte Griff in die Vorderradbremse ließ dem Kind keine Chance. Das Fahrrad rutschte. Das Kind bremste den Sturz mit den Knien.
Nun weinte das Kind. Dicke Tränen. Die Knie aufgeschlagen. Blut lief in kleinen Bahnen das Schienbein hinab. Es tropfte auf die Erde. Heftig aufgeschürfte Schrammen.
Kindergeschichten.
„Wir werden leben!“, sagt der Paulus. Daran besteht kein Zweifel. Die Zukunft leuchtet und strahlt uns entgegen, weil diese Zukunft eine Zeit der Gegenwart Gottes ist. Gott ist da, auch wenn das Leben Schrammen und Wunden davon trägt. So hält der Apostel das fest.
Da können Sie jetzt sagen, liebe Gemeinde, und vielleicht tun Sie es auch: „Ja, schön. Das behauptet Ihr Pfarrer ja immer: Gott ist da. Die Zukunft ist offen. Wir leben. Aber wie erfahren wir das am eigenen Leib? Wie kann ich das im eigenen Leben wahrnehmen? Ist nicht vielmehr die Welt, die so viele Wunden und Striemen reißt, ist nicht viel mehr das Leben an sich ein Erweis des Gegenteils?“
Ich weiß nicht, ob Ihnen oder Euch, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, diese Frage wirklich durch den Kopf geht. Aber ich halte sie für eine sehr natürliche und normale Frage, eine Lebensfrage. Denn es gibt ja neben den Kindergeschichten auch andere Erfahrungen im Leben von uns Menschen, die auch eine schmerzhafte, dazu aber auch noch eine durchaus bedrohlichere Sprache sprechen:
Ich schaue auf den wankenden Kontinent Europa dieser Tage und sehe: Die Zukunft ist alles andere als klar. Sie liegt eher unter einem dunklen Schleier. Und dass wir auch in dieser Zukunft leben, ist noch lange nicht ausgemacht. Europa hat in den letzten Monaten, vielleicht schon in den letzten Jahren viele Kratzer und Schrammen abbekommen. Viele hat es sich auch selbst zugefügt. Wie geht es weiter? – Geht es weiter?
Ich schaue auf die Begleitung so vieler Menschen in diesen Tagen in Nah und Fern. Sie sind gezeichnet von Krankheit und Bedrohung, von Trennung und Schmerz, von Sorge, tiefer Not und Einsamkeit. Es sind tiefe Wunden des Lebens. „Wie geht es weiter?“ heißt die manchmal ausgesprochene, häufig auch zurückgehaltene und dafür im Innern umso deutlicher bewegte Frage. Geht es weiter?
Ich schaue in so viele Gesichter von Menschen, die im letzten Jahr nach Europa gekommen sind. Gekommen voller Hoffnung und Sehnsucht nach einem besseren Leben. Gekommen, weil sie eine bessere Zukunft suchen. Gekommen durch Gefahren und Not, durch Ausbeutung und Verlockung. Wenn ich aber in ihre Gesichter schaue, dann sehe ich so viel Unsicherheit und Angst, so viel Heimweh und Fremdheit. Die Last und der Druck des Lebens in der Ferne liegen so offen zutage. „Wie geht es weiter?“ steht in diesen Gesichtern. Es muss nicht ausgesprochen sein. Geht es weiter?
Es ist, nüchtern betrachtet, das ganz normale Leben in West- oder Mitteleuropa dieser Tage. Da ließen sich noch viele Beispiele anbringen von Menschen, die mit den Wassermassen dieses Sommers zu kämpfen haben. Über die Ufer getretene Flüsse, überschwemmte Straßen und Wege, von Schlamm und Dreck verwüstete Städte und Dörfer.
Ich glaube, uns allen sitzt eine tiefe Verunsicherung über das Wie und das Ob der Zukunft im Nacken. Ja, es ist mühsame Zeit.
„Wir werden leben!“, sagt der Paulus. Hören Sie es noch? Können Sie es noch hören?
Wir werden leben. Paulus spricht das gegen alle Wahrscheinlichkeit. Er setzt es gegen die Furcht und gegen das eigene Erleben. Für ihn besteht daran kein Zweifel. Es geht weiter, das Leben. Das ist auch nicht verhandelbar.
Dabei spricht der Paulus, Apostel, Überbringer der Botschaften Gottes, nicht blauäugig oder gar überheblich zu Ihnen und mir. Nein, vielmehr sieht er sehr genau, was diesem Lebenswort Gottes entgegensteht.
Und ich finde, es ist schon erstaunlich, dass dieser Paulus mit seinem zugegebenermaßen nicht einfachen Text aus dem Römerbrief doch deutlich über die Zeiten hinweg in unser Leben direkt hineinspricht.
Er benutzt dafür, das haben Sie vorhin gehört, diese schweren und großen Worte von Tod und Sünde, Kreuzigung und Grab.
Diese Worte führen ja häufig dazu, dass Menschen sagen: „Ach, das schon wieder. Jetzt kommt die Kirche wieder. Ich soll mich schlecht fühlen, mein Leben infrage stellen. Jetzt werde ich wieder klein gemacht. Nie kann ich es recht machen.“
Wie oft habe ich das schon gehört! Wie oft habe ich das in den Kommentaren der sozialen Netzwerke schon gelesen! Wie groß ist mittlerweile die Angst innerhalb der Kirche, die Begriffe zu nutzen und ihren Gehalt für uns heute zu erklären, sie zu aktualisieren.
Denn dem Paulus geht es gar nicht darum, andere klein zu machen. Viel stärker muss ich noch sagen: Es geht Gott nicht darum, den Menschen klein zu machen. Es geht der Botschaft der Bibel nicht darum.
Vielmehr beschreiben diese großen Worte, Tod und Sünde, Kreuzigung und Grab, die Realität und Wirklichkeit des Lebens. Sie sind zumindest ein Teil meines Lebens, wenn ich in diese Zeit hineinschaue.
Ich erfahre diese Dinge in den Stürzen und Wunden des Lebens. Ich erfahre sie in den hilflosen Gesichtern und in meinen eigenen erschreckten Gedanken. Diese harten und großen Worte des Paulus nämlich sind seine Worte für das, was ganz alltäglich und ganz normal in unserer Welt geschieht. In Ihrem und in meinem Leben. Immer wieder.
Tod und Sünde, Kreuzigung und Grab stehen gegen die gemeinsamen Wege, in denen unser Leben leuchten könnte. In ihnen liegen die Einsamkeit und der Verlust. In ihnen liegt das Ende.
Das weiß der Paulus. Er hat es selbst so erfahren. Zugleich aber, in diesem Wissen – und das kann in dieser Gleichzeitigkeit tatsächlich nur der Paulus in der Heiligen Schrift – wendet er diese Erkenntnis mit einem Blick auf Gott. Den hat er gesehen und diesen lehrt er uns. Paulus lehrt Sie und mich den Blick auf Gott. Er hält uns den Herrn Christus praktisch direkt vor die Nase.
Gott geht an unserer Seite und er heißt Jesus Christus. Der hat das Kreuz getragen wie wir. Der hat die Wunden und die Striemen erlitten. Der ist gefallen. Der war einsam und verlassen. Der hat aber auch den Tod überwunden, wie wir es jeden Tag wieder tun. Der hat das Leben gehalten.
Und: Der Herr Jesus Christus lebt in Ewigkeit. Wie Sie und ich in Ewigkeit leben durch ihn.
Und wenn ich das weiß, dann erkenne ich auch: Es ist so gut, dass wir heute in diesem Gottesdienst solch ein Fest des Lebens feiern. Es ist so gut, dass wir zusammen sind, uns gegenseitig mit unserer Kraft und unserem Leben spüren, unsere neuen Konfirmandinnen und Konfirmanden vorstellen und uns alle miteinander unserer Taufe erinnern. Hier und jetzt in diesem Moment weiß und erkenne ich Ihre und meine Verbindung mit dem Leben Gottes. Seine Nähe zu uns.
Wir werden leben! Das ist in diesem Raum heute mit Händen zu greifen.
Und wenn ich das sehe, dann weiß ich auch, dass dieses Leben, das der Apostel beschreibt, also nicht einfach nur ein Dahinvegetieren ist. Sondern dieses Leben, das Gott schenkt, ist ein umfassendes und gutes, ein leuchtendes und warmes. Es geht über Berge und durch tiefe Täler. Dieses Leben schlägt Wunden. Aber sie heilen auch wieder. Dazu brauchen Sie ja nur in die Gesichter Ihrer Nachbarin oder Ihres Nachbarn zu schauen.
Sie erinnern sich, liebe Gemeinde: Das Kind weinte. Dicke Tränen. Die Knie aufgeschlagen. Blut lief in kleinen Bahnen das Schienbein hinab. Es tropfte auf die Erde. Heftig aufgeschürfte Schrammen.
Endlich fuhren die Eltern heran. Die Gesichter ernst. Sehr sogar. Die Mutter stellte das Fahrrad an die Seite. Sie nahm Taschentücher und die Wasserflasche. Sie wusch den Schotter und den Sand aus dem verwundeten Leben. Das Blut gerann. Die Wunde schloss sich leicht. Ein ganz leichter Film legte sich darüber. Wie eine Glückshaut, dachte das Kind.
Als letztes gab die Mutter dem Kind einen Kuss auf das Knie. Voller Liebe. Die Tränen versiegten. Ein neues Strahlen. Ein neues Leben.
Gott spricht: Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Das Zeichen dieses Trostes Gottes, das wir als seine Menschen, als Jüngerinnen und Jünger Jesu haben, wie es die Lesung aus dem Matthäusevangelium vorhin beschrieben hat, ist die Taufe. Hier wäscht Gott alle Schrammen und Wunden rein. Und er küsst uns sanft. Voller Liebe. Sie und mich. Und dann gehen wir mit ihm in eine neue Zukunft. Amen.
Link zur Online-Bibel
"Ich bin getauft" - eine lebenslange Zusage - Predigt zu Römer 6,3-8 von Angelika Überrück
Liebe Gemeinde,
„Ich bin getauft.“ Der 6. Sonntag nach Trinitatis, den wir heute feiern, hat als Thema die Taufe. Und so ist es schön, dass wir heute in diesem Gottesdienst Kinder taufen. Aber auch wir Erwachsenen sollen uns an diesem Sonntag daran erinnern, dass wir getauft sind und was das für uns heute bedeutet.
Der Predigttext macht es uns dabei nicht gerade einfach. Denn in ihm ist von Sünden, von Tod, Sterben und Auferstehung die Rede.
„So sind wir ja mit Christus Jesus begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln.“
Diese Worte entsprechen nicht dem, was wir heutzutage mit Taufe verbinden. Tod und Sterben gehören nicht dazu. Taufe steht doch am Lebensanfang. Sie ist für uns verbunden mit der Freude über die Geburt eines Kindes. Es ist ein fröhliches Fest. Und wer mag da an etwas anderes denken?
Andererseits: Viele Eltern suchen für ihr Kind einen Taufspruch aus, der davon redet, dass das Kind beschützt und behütet sein soll. Es macht deutlich, dass unser Leben nicht gefahrlos ist. Die fröhliche Seite ist bei der Taufe nur ein Aspekt.
„Ich bin getauft.“ schrieb Martin Luther mit Kreide vor sich auf den Tisch, wenn er Angst hatte, wenn er sich bedroht fühlte vom Teufel, vom Satan, der für ihn wirklich und real war - so wird es jedenfalls von Martin Luther berichtet.
„Ich bin getauft“ - diese drei Worte waren für ihn so etwas wie ein Talisman, ein Amulett, das ihn beschützen sollte. Und er war sich sicher, dass ihm nichts geschehen könnte, denn Gott stand an seiner Seite. Was sollte ihm da der Teufel, was könnten ihm da Menschen anhaben, wenn sie ihm Böses wollten?
Martin Luther hat in seinem Leben oft an Gott gezweifelt, an seiner Gnade. Er zweifelte daran, ob er Gott mit seinem Leben genügen konnte.
In diesen Momenten, da waren sie ihm Hilfe, diese drei Worte: „Ich bin getauft.“ Weil sie bekräftigten: Kein anderer als Gott selbst hat mir das Leben gegeben und will, dass ich lebe. Er gibt mir das Recht, so zu sein wie ich bin.
Das „Ja“ Gottes ist unverlierbar, unlösbar, bleibt für immer. Wir leben mit Gott und wir bleiben auch im Tod und darüber hinaus mit ihm verbunden. Gottes „Ja“ geht all unserem Handeln voran. Diese Gedanken gaben Martin Luther Halt für sein Leben.
„Ich bin getauft“. An den Teufel als Person glauben wir nicht mehr. Aber dass es auch heute teuflische Situationen gibt, das wird sicherlich keiner bestreiten. Diese teuflischen Situationen sind beispielsweise Momente, in denen wir zweifeln an uns und unserem Wert. Da mobbt einen jemand im Beruf oder in der Schule. Da ist eine Bewerbung nicht angekommen. Da verliert jemand seinen Job, weil er zu jung oder zu alt ist. Da putzt einen jemand herunter, weil man einen Fehler gemacht hat.
Es sind Momente, in denen wir meinen, wir hätten kein Recht auf dieser Welt zu sein. Gerade viele ältere Menschen, die sich dadurch definiert haben, dass sie für andere da waren, fühlen sich nutzlos und sinnlos, wenn sie nicht mehr aktiv sein können.
Oder es sind Momente, wo wir das Gefühl haben, alles und jeder hätte sich gegen uns verschworen, wir wären allein, hätten keinen, der uns zuhört, in den Arm nimmt, der uns mag. Jugendliche erleben das sehr intensiv. Oder Erwachsene, weil eine Beziehung in die Brüche gegangen ist. Weil eine Lebensplanung zerbrochen ist, Träume zerplatzt sind.
Es sind Momente, in denen wir das größte Unglück, das größte Leid erleben, weil ein geliebter Mensch schwer krank ist, gestorben ist oder einen schweren Unfall hatte. Es scheint nichts zu geben, was uns da heraus holen könnte. Es sind Momente, in denen wir, warum auch immer, alles in Frage stellen: uns selbst, unser Leben. Können wir in diesen teuflischen Momenten auch, wie Martin Luther, sagen oder schreiben: „Ich bin getauft.“? - Vielleicht hilft es, uns in Erinnerung zu rufen, was in diesem Symbol der Taufe drinsteckt.
Wir taufen mit Wasser. Mit ganz normalem Leitungswasser, ein wenig erwärmt, aber eben kein besonderes Wasser.
Wasser lässt Dinge wachsen. Wasser kann reinigen.
Es steht bei der Taufe aber auch stellvertretend für das, was unser Leben bedroht, was uns Angst macht. Gerade in den letzten Wochen haben wir bei den vielen Überschwemmungen erlebt, wie sehr Wasser unseren Besitz und unser Leben bedrohen kann. Wie gefährlich es ist. Früher wurden die Kinder bei ihrer Taufe ganz ins Wasser getaucht. Da wurde das handgreiflich, dass das Leben bedroht ist. Heute feiern wir manchmal Taufen in Flüssen und an Seen, die durch ihre Tiefe und Größe auch deutlich machen, dass Wasser nicht nur schön und lebensspendend ist.
Taufe ist also nicht nur ein fröhliches Fest, sondern sie lässt auch die realen Ängste um das Leben, die Angst vor dem Sterben nicht außen vor. Deshalb redet Paulus in unserem Predigttext von Tod, Sterben und Auferstehung. Er möchte deutlich machen, dass wir durch die Taufe ein von Gott bestimmtes Leben haben und am Ende unseres Lebens auf die Auferstehung hoffen können.
Wasser allein allerdings macht noch keine Taufe. Das wissen Sie.
„Das Wasser dabei allein tut´s nicht, sondern das Wort Gottes, das mit und bei dem Wasser ist, und der Glaube, der diesem Wort Gottes im Wasser traut.“ So hat Martin Luther es im Kleinen Katechismus gesagt, also in dem Büchlein, wo er alles Wichtige zusammengefasst hat, was man als erwachsener Christ wissen sollte.
Das Wort muss zum Wasser kommen. Das heißt, es genügt nicht, wenn ich unseren Täuflingen Wasser über den Kopf träufele, sondern es ist ganz wichtig, dass ich dazu sage: „Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Das Wasser steht für die Taufe im Namen des dreieinigen Gottes, deshalb wird dem Täufling dreimal Wasser über den Kopf gegossen. Und das Wort dazu macht deutlich, dass diese Handlung nicht eine menschliche ist, sondern dass Gott hier handelt.
Durch dieses „Ja“ Gottes erhalte ich Würde. Nicht Menschen, mit denen ich lebe, sagen mir, was ich wert bin. Auch nicht die Gesellschaft, in der ich wohne, auch nicht durch eine Beziehung, in der ich lebe, erfahre ich, wer ich bin. Meine Würde erhalte ich einzig und allein durch Gott. Nach seinem Bilde hat er jeden von uns erschaffen und uns seinen Atem eingehaucht. Und das macht uns würdig und wertvoll.
Wir sind so geliebt und angenommen, wie wir sind. Mit all unseren Fehlern und Mängeln, all unserem Versagen und unseren Defiziten. Wir müssen bei Gott nicht beweisen, dass wir toll sind, welche Talente und Fähigkeiten wir haben, ganz anders als in der Schule oder im Beruf. Wir müssen auch nicht verbergen, dass wir nicht perfekt sind, sondern wir dürfen so sein wie wir sind, fröhlich und traurig, schlecht gelaunt oder gut gelaunt, mit Ecken und Kanten. Gott nimmt uns so an wie wir sind.
In unserem Leben hören wir oft etwas anderes. Deshalb fällt es uns manchmal schwer anzuerkennen, dass der Satz „Ich bin getauft“ reicht. Durch die Taufe sind wir wertvoll.
Gott sagt zu den Kindern, die wir heute taufen, und auch zu jedem von Ihnen: Ihr seid toll. Ihr seid richtig so, wie Ihr seid. Ihr seid wertvoll und einmalig. Ich habe Euch lieb. Und ich bin für Dich da, Dein Leben lang.
Gott begleitet uns ein Leben lang und das eben auch in den Gefahren und den schwierigen Zeiten unseres Lebens.
In dem Tauflied „Ich bin getauft auf deinen Namen“, das wir als Wochenlied gleich nach der Predigt singen wollen, heißt es: „Mein treuer Gott, auf deiner Seite bleibt dieser Bund wohl feste stehn.“
Dieses „Ja“ Gottes hat Auswirkungen auf unser Leben. Es stellt sich jedem menschlichen „Nein!“ entgegen, das wir so oft gehört haben und hören: „Nein! Du bist es nicht wert, dass man sich für Dich einsetzt.“ Oder: „Nein! Das traue ich Dir nicht zu.“
Bei Gott gilt das „Ja“ und das bleibt bestehen, was auch immer passiert.
In seinem kleinen Katechismus hat Luther als drittes - neben Wasser und Wort - noch den Glauben genannt, der zur Taufe dazugehört: „der Glaube, der solchem Worte Gottes im Wasser traut“. Da die kleinen Kinder noch nicht wissen, was Glauben ist, bekennen sich Eltern und Paten bei der Kindertaufe zum christlichen Glauben. Sie versprechen gleichzeitig, dafür zu sorgen, dass die Kinder etwas über den Glauben erfahren, etwas lernen von der Liebe, mit der Gott uns begleitet. Das Ziel dabei ist, dass auch die Kinder irgendwann selbst zu ihrem Glauben „ja“ sagen. Dass sie nicht irgendwann einmal sagen: „Ich bin getauft – na und“, sondern dass sie spüren, was das für ihr Leben bedeutet.
„Ich bin getauft“, die drei Worte geben mir über mein Dasein hinaus eine eigene, eine unverlierbare Qualität. Sie können auch uns daran erinnern, dass nichts und niemand uns trennen kann von Gott. „Wir glauben, dass wir auch mit Jesus leben werden“, so sagt es unser Predigttext. Und das gilt, was auch immer es an Bedrohlichem und Beängstigendem im Leben geben mag.
„Ich bin getauft.“ Man sollte uns auch anmerken, dass wir getauft sind, indem wir uns so verhalten. Uns selbst gegenüber und auch den Menschen gegenüber, mit denen wir leben. Dass wir getauft sind, sollte unser Denken, Reden und Tun bestimmen. Denn durch die Taufe haben wir alles, was wir brauchen.
In dem Tauflied heißt es weiter: „Du hast zu deinem Kind und Erben, mein lieber Vater, mich erklärt; du hast die Frucht von deinem Sterben, mein treuer Heiland, mir gewährt; du willst in aller Not und Pein, o guter Geist, mein Tröster sein.“
Und darauf können wir bauen in allen Höhen und Tiefen unseres Lebens bis an unser Ende: „So leb ich dir, so sterb ich dir.“ „Ich bin getauft.“ Das wollen wir jetzt singen. Amen.
Link zur Online-Bibel
In seinem Namen auf dem Weg ins Leben - Predigt zu Römer 6,3-8 von Rudolf Rengstorf
Wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln. Denn wenn wir mit ihm verbunden und ihm gleich geworden sind in seinem Tod, so werden wir ihm auch in der Auferstehung gleich sein.Wir wissen ja, dass unser alter Mensch mit ihm gekreuzigt ist, damit der Leib der Sünde vernichtet werde, sodass wir hinfort der Sünde nicht dienen. Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde. Sind wir aber mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden. (Römer 6,3-8)
Liebe Leserin, lieber Leser,
Tod und Sterben – das springt einen aus diesen Sätzen ja förmlich an. Dazu auch noch der Leib der Sünde. Nein, danach steht mir heute nicht der Sinn. Warum in aller Welt soll ich mich und andere damit belasten? Und dann fragt Paulus auch noch: Ja, wisst ihr denn nicht, dass ihr dieses schwere Gepäck seit eurer Taufe mit euch herumschleppt?
Nein, lieber Paulus, dass wir uns mit unserer Taufe den Tod Christi auf den Hals gezogen haben - das gehört nicht zum Grundwissen unseres Glaubens. Und darüber habe ich, so weit ich mich erinnern kann, auch nie in einem Taufgespräch aufmerksam gemacht. Aus gutem Grund. Denn da habe ich es mit Eltern zu tun, die heilfroh über das Leben ihres Kindes sind, und die nun alles tun, damit ihr Kind unbeschwert ins Leben hineinwachsen und sich entfalten kann. Da soll ich ihnen mit Tod und Sterben kommen und vom Sündenleib ihres Kindes reden? Eine Taktlosigkeit sondergleichen, für die es auch keinerlei theologische Rechtfertigung gibt. Denn Jesus, auf den die Taufe abzielt und mit dem sie verbindet, spricht ganz anders von der Taufe. Das ist im Evangelium dieses Sonntags ganz am Ende des Matthäusevangeliums nachzulesen (Mt 28,16-20). Da erteilt Jesus seinen Jüngern den Auftrag, in alle Welt auszuschwärmen, die Menschen vertraut zu machen mit dem, was er gesagt und getan hat und sie auf den Namen des dreieinigen Gottes zu taufen. Und dann sozusagen als sein Testament – seine Zusage: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“
So also läuft das bei uns mit der Taufe, lieber Paulus!
Das war bei uns nicht anders, würde er wohl antworten. Aber unsere Täuflinge waren keine kleinen Kinder, bei denen der Akzent natürlich auf dem Geschenk des Lebens in der Nähe Jesu liegen muss. Doch wir, die wir damals getauft wurden, hatten schon mehr als genug davon erfahren, wie sehr menschliches Leben vom Tod beherrscht ist. Das Sterben vollzog sich überall vor unseren Augen, beginnend mit dem Tod so vieler kleiner Kinder, dann Seuchen und Krankheiten, denen wir ohnmächtig ausgeliefert waren. Die Allgegenwart der römischen ausbeuterischen Besatzungsmacht, die kurzen Prozess machte mit Menschen, die ihnen in die Quere kamen. Von lebensbedrohlichen Missernten und Naturkatastrophen gar nicht zu reden. Und wenn ich dabei vom Leib der Sünde rede, dann meine ich unser Leben, das daran kaputtging, das es dem Terror des Todes nicht entkam und alle Frömmigkeit nicht half - da mochtest du dich anstrengen, wie du wolltest. Gott blieb in weiter Ferne, war offenbar nur im Jenseits erreichbar.
Und dann erfuhren wir von Jesus, dem Menschen, der das Reich Gottes mitten in der Todeswelt aufleuchten ließ. Der dem Tod auch nicht entkam, aber von ihm nicht festgehalten werden konnte, weil Gott ihn zu neuem Leben erweckt hat. Einem Leben, das nicht jenseits unserer Todeswelt liegt, sondern aus dem heraus er unser Leben umzudrehen vermag. Inmitten der Todeswelt werden wir von ihm mitgenommen in seinen Tod hinein, von dem aus wir auf sein Leben zugehen, aus gottverdammten Sündern werden Töchter und Söhne Gottes, und aus ständig um sich selbst Besorgten werden Menschen, die glauben, hoffen und lieben können.
Das Bild dieses von Grund auf umgedrehten Lebens gefällt mir. Bei jedem Kirchgang wird es inszeniert. Aus der Enge, den Zwängen und dem Lärm des Alltags dort draußen nimmt die Weite und Stille des Gotteshauses uns auf. Draußen leben und arbeiten wir vom Morgen auf den Abend zu, hier bewegen wir uns vom Abend, vom Westen zum Altarraum im Osten, zum Sonnenaufgang hin. Draußen gehen wir auf den Tod als Aus und Ende unseres Lebens zu. Kein Wunder, dass wir uns – so gut es geht – vor ihm zu verstecken und zu schützen suchen. Der Gang durch die Kirche aber geht – oft auf Stufen hinab wie in eine Grabkammer – vom Ende, vom Tod aufs Leben zu. Draußen haben allein die Lebenden das Wort, die Toten sind und bleiben stumm. Dieser Raum aber wird von dem am Kreuz Gestorbenen beherrscht. In seinem Namen werden die Menschen hier angesprochen und auf seine Spur gesetzt. In seinem Namen wird hier gebetet und gesungen, Schuld bekannt und von ihr frei gesprochen. In seinem Namen werden wir beim Empfang von Brot und Wein miteinander verbunden und für das Leben draußen gesegnet.
Wie im Tode Christi das Leben beginnt, zeigt sich in der Christus-Skulptur, die Thomas Duttenhoefer für die zum Weltkulturerbe erhobene St. Michaeliskirche in Hildesheim geschaffen hat. Hoch aufgerichtet in der Ostapsis stehend. Dort, wohin sich alle Blicke richten und wohin das erste Tageslicht fällt, stellt sie den Kirchenbesuchern die Gestalt eines gemarterten und gebrochenen Menschen vor Augen.
Er, der für die Mühseligen und Beladenen gelebt hat, ist selbst Unrecht und Gewalt zum Opfer gefallen und hat alles verloren, was dem Menschen Ansehen und Würde verleiht. Das Kreuz, das ihn kaputt gemacht hat, zeichnet sich noch ab in seiner Körperhaltung, ist aber als das, was ihn festgenagelt hält, nicht mehr zu sehen. Er hebt geradezu ab von dem Pfahl unter seinen Füßen. Wird aufgerichtet und der eben noch fixierte linke Arm erhebt sich zum Segen.
Unter seinem Segen gehen wir zurück in unsere von Tod und Gottesferne beherrschte Welt als Menschen, die – weil in seinen Tod hinein Getauften – in seiner Nachfolge auf dem Weg ins Leben sind. Amen.
Link zur Online-Bibel
Vor dem Thron – Predigt zu Römer 14,10-13 von Kathrin Oxen
Da stehen sie: Ruben, Simeon, Naftali und Dan und die anderen Brüder, raue Männer, ein wenig ungelenk und eingeschüchtert von all dem Glanz, der sie hier umgibt. Da stehen sie jetzt vor diesem Thron, auf dem ihr Bruder Josef sitzt. Er hat Karriere gemacht in Ägypten. Er ist der Stellvertreter des Königs geworden. Man sieht es an den Kleidern, die er trägt. Man hört es an seiner leisen Stimme. So spricht einer, der es gewohnt ist, dass alles, was er anordnet, auch ausgeführt wird. Beinahe lautlos geschieht das. Kein Vergleich mit ihnen, deren Kehle manchmal rau ist am Abend vom Rufen nach dem Vieh und dem Antreiben ihrer Lasttiere. Da stehen sie und jetzt ist der Tag da, an dem sie nur noch Brüder sind. Ihren Vater haben sie begraben und sie sind allein miteinander, die Brüder, sich selbst überlassen. Ein Tag, der einmal kommen musste und den sie gefürchtet haben. Allein miteinander, kein Vater mehr da, der nachfragt, wo eigentlich der Bruder ist. Es ist niemand mehr da, der sie zusammenhält.
Und das ist eine Freiheit, die nicht so ist, wie sie es erwartet haben. Sie fühlt sich nicht gut an. Keine Mahnung mehr, kein Einspruch, keine Kritik an ihrem Tun und Lassen. Keiner, der einschreitet, ihren Streit schlichtet, sie schützt vor ihrem Zorn aufeinander und ihrer Wut. Die älteren Brüder und der Jüngste, der Liebling und die Zurückgesetzen, sie kommen zusammen und sie sind allein miteinander. Und sie wissen, was alles geschehen kann, wenn Brüder allein sind miteinander.
Dieser Tag ist ein Tag, der immer schon da gewesen ist. Als er damals vor ihnen stand in seinem bunten Kleid und ihnen von seinen Träumen erzählte. Als dann sie dann weggingen vom Brunnen, in den sie ihn geworfen hatten. Als sie das Geld nahmen von den Händlern und das blutige Kleid dem Vater brachten. Sie taten, was sie taten und wussten dabei: Einmal wird der Tag kommen, an dem wir nur noch Brüder sind. Das ist ein Wissen, das in die Nacht gehört, in einen unruhigen Schlaf, in die Träume, aus denen man lieber aufwachen will.
Nun knien sie vor ihm. Sein Traum ist wirklich wahr geworden. Und ihr Alptraum auch. Allein mit dem Bruder. Und da steht Josef auf von seinem Thron und kommt zu ihnen herunter. Nicht mein Platz, dieser Thron, sagt er. Ich habe nicht zu urteilen und nicht zu vollstrecken. Es steht mir nicht zu. Ich sehe nicht auf die Tage, die hinter uns liegen. Ich sehe, was jetzt am Tage ist. Was wir getan haben, haben wir getan, ihr und ich. Aber aus all unserem Bösen ist am Ende Gutes geworden. Gutes für euch und für mich.
Du aber, was richtest du deinen Bruder? Und du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes treten müssen.
Denn es steht geschrieben:
So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir wird sich beugen jedes Knie,
und jede Zunge wird sich zu Gott bekennen.
Es wird also jeder von uns für sich selbst Rechenschaft ablegen müssen vor Gott.
Wir wollen einander also nicht mehr richten! Achtet vielmehr darauf, dem Bruder keinen Anstoß zu geben und ihn nicht zu verführen. (Übersetzung der Zürcher Bibel 2007)
Wir sind genauso gefragt, so wie Josef und seine Brüder. Wir werden angesprochen als Brüder und Schwestern. Wie lebt ihr eigentlich miteinander, in der Zeit, die uns bleibt, zwischen Leben und Sterben? Ist euer Leben ein Gerangel um den Platz auf dem Thron, ein Kampf um das Recht, Urteile zu fällen über andere?
Die einen richten gern gleich. Da gibt es Schnellverfahren gegen andere. Da ist man schnell mit einem Urteil bei der Hand. Denn es gibt in ihrer Welt nur schwarz und weiß und gut und böse und nichts dazwischen und keine Uneindeutigkeiten. Das macht das Leben schön einfach. Es wird sauber aufgeteilt in zwei Hälften und jeder kann sich seine Seite selber aussuchen.
Wer die falsche Seite gewählt hat, wird schon gewusst haben, warum, hat bestimmt auch etwas gehabt davon – und zwar etwas, worauf wir verzichten mussten. Über die Folgen seines Handelns darf sich dann aber niemand beklagen.
Die anderen dagegen würden niemals richten. Denn so einfach ist es ja nicht. Die komplizierte Welt lässt sich nicht einfach in gut und böse einteilen. Und wer das versucht, mit dem kann man eigentlich nur Mitleid haben. Solche Leute muss man bedauern, weil sie so ein schlichtes Weltbild haben und dadurch unfrei werden und in geistiger Enge leben müssen.
Gerade unter Christen sind die einen wie die anderen zu finden. Das ist schon von Anfang an so. Paulus kennt sie alle. Die Schwachen, die lieber genau einteilen und festlegen wollen, was man darf und was nicht. Und die Starken, die sich über solche einfachen Regeln und Vorschriften erheben. Sie sagen: Das kann jeder für sich entscheiden. Wir brauchen das nicht festzulegen.
Und schon zu Paulus Zeiten war es so, dass die einen wie die anderen Anspruch erhoben haben auf den Thron.
Die einen klettern mutig darauf und mustern alle, die sie vor sich haben und spüren, wie gut es ist, zu unterscheiden und zu urteilen. Wie einen das entlastet von der Unübersichtlichkeit des Lebens und der Welt.
Die anderen besetzen den Thron, indem sie ihn für leer erklären. Es gibt keine Urteile, so lautet ihr Urteil. Lächerlich machen sich doch die, die glauben, urteilen zu können. Es ist eben nicht alles einfach, nur weil man selbst eher einfach gestrickt ist.
Sie alle stehen da, wie damals Josefs Brüder. Sie stehen am Rand des Brunnens und blicken mitleidlos auf den da unten, der zu Fall gekommen sind, weil er glaubte, etwas Besseres zu sein, mehr zu wissen, mehr erreichen zu können.
Oder sie stehen da im bunten Kleid, wie Josef auf dem Thron des Pharao. Vor ihm die anderen, die die Träume nicht träumen können, die er träumte, die alltäglich bleiben und beschränkt, die anscheinend nur den Boden vor ihren Füßen sehen.
Die Anlässe für solche Verurteilungen haben sich geändert im Laufe der Zeiten. Bei Paulus damals ging es um etwas anders als bei uns heute. Es ging um eine Frage, die wir gar nicht mehr richtig nachvollziehen können. Aber strittige Fragen gibt es auch heute genug unter uns Christen. Und gleich geblieben über die Zeiten hinweg ist dieser kalte Blick auf die anderen. Die sind ja unerträglich in ihrer Sicherheit – oder unerträglich in ihrer Unsicherheit.
Wir sind wie Brüder und Schwestern, die plötzlich alleine miteinander sind. Die um das Recht kämpfen, übereinander Urteile zu fällen. Ein Gerangel um den Thron.
Doch er ist nicht unser Platz, dieser Thron. Denn er ist nicht leer. Da ist einer. Einer, der uns zusammenhält, der mahnt und Einspruch erhebt, unser Tun und Lassen kritisiert. Einer, der einschreitet, den Streit schlichtet, der uns schützt vor unserem Zorn auf die anderen und vor unserer Wut. Einer, der immer wieder fragt: Wo ist dein Bruder, wo ist deine Schwester?
Egal, welches Gewand ich anlege, das bunte Kleid der großen Visionen, der grenzenlosen Freiheit oder die graue Uniform der Sicherheiten: Einer ist da, der mich sieht und mich fragt: Du da, im bunten Kleid, wie nutzt du eigentlich deine Freiheit? In Liebe und in Geduld mit denen, die ängstlich sind und unsicher und etwas brauchen, woran sie sich halten können? Bist du bereit, zu warten, bis sie mehr Sicherheit gewinnen und endlich mutiger werden?
Und du da, in der grauen Uniform, wie nutzt du eigentlich deine Sicherheit? In Liebe und mit Offenheit für die, die sich weiter vorwagen als du selbst, die sich genauso bemühen, das Richtige zu tun, aber dabei andere Wege gehen als du?
Einer ist da, der mich sieht und mich fragt. Ich stehe da, im bunten Kleid oder in Uniform und neben mir die Brüder und Schwestern, im bunten Kleid oder in Uniform. Sie sind anders als ich. Sie können nicht aus ihrer Haut, wie ich nicht aus meiner Haut kann. Mir kann das bunte Kleid besser gefallen oder die Uniform, aber niemand kann zu etwas gezwungen werden, was ihm oder ihr nicht passt. Das ewige Gezerre aneinander ist sinnlos.
Gefragt bin ich: Wie nutzt du deine Freiheit, wie nutzt du deine Sicherheit? Was bestimmt dein Handeln? Spürst du eine kalte Freude an der Unzulänglichkeit der anderen oder spürst du die Liebe, die geduldig ist und freundlich, die sich nicht erbittern lässt, die alles erträgt, auch die Brüder und Schwestern?
Gerade Christen tun sich schwer damit. Sie wollen nichts miteinander zu tun haben, kritisieren aneinander die Unfreiheit und geistige Enge oder die Unfähigkeit, eindeutige Antworten zu finden. Sie sind aufgeteilt in Gemeinden, Kirchen, Konfessionen und ein liebevoller Blick auf die anderen fällt schwer. Wir trennen uns, die Wege führen uns auseinander. Die einen geraten in die bunte Welt und bis an die Höfe der Mächtigen, die anderen bleiben in der Genügsamkeit des Vertrauten und Bekannten, in der kleinen Welt mit überschaubaren Herausforderungen.
Aber heute hören wir: Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes treten müssen. Eines Tages kommt ihr wieder zusammen, all ihr unterschiedlichen Geschwister, die ungelenken, die sehr gewandten, die einfachen und die anspruchsvollen. Vergesst das nicht und denkt immer daran. Denn dieser Tag soll kein Tag sein, den ihr fürchten müsst, weil unter euch die Erinnerung lebendig wird an den Brunnen, an dessen Rand ihr ohne Mitleid standet und ohne Liebe.
Kein Tag, der euch noch einmal vor Augen führt, wozu ihr fähig seid als Brüder und Schwestern, wie ihr euch gegenseitig Fallen stellt.
Und kein Tag, an dem ihr auf einen Thron klettert, der nicht euer Thron ist.
Denn der Tag kommt, an dem wir nur noch Brüder sind und Schwestern.
Amen.
(Anmerkung: 1. Mose 50, 15-21 sollte Lesung im Gottesdienst sein)
Link zur Online-Bibel
Predigt zu Römer 14,10-13 von Rainer Kopisch
10 Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.
11 Denn es steht geschrieben (Jesaja 45,23): »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.«
12 So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.
13 Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.
Liebe Gemeinde, liebe Christinnen und Christen,
wann haben Sie sich das letzte Mal über jemand geärgert?
Vielleicht erinnern Sie sich noch an die Worte, die Ihnen zu dem Anlass einfielen, und an die Energie, die dabei an die Oberfläche kam?
Bekannte Beschreibungen sind: Die Galle läuft über. Der Stehkragen platzt.
Es sind Streitigkeiten zwischen Menschen und Rechthabern, die jede Gemeinschaft zerstören können.
Die Gemeinde in Rom ist auf dem besten Weg, sich zu zerlegen, weil ihre Mitglieder über Essensvorschriften bei ihren gemeinsamen Mahlzeiten in Streit geraten sind. Das ist menschlich verständlich, aber für eine Gemeinde von Christen nicht hinnehmbar. Der Apostel Paulus hat zwar die Gemeinde in Rom nicht gegründet, er hat aber Kenntnis von den Zuständen dort durch Christen aus seinen Gemeinden, die nach Rom gekommen sind.
So ist es also nicht verwunderlich, dass Paulus im 14. Kapitel seines Briefes an die Gemeinde in Rom diese Sätze schreibt. Das erklärt auch die Kraft und Deutlichkeit seiner Worte.
Es geht Paulus um die Bedrohung des Glaubens, wenn Christen verschiedener Meinung einander beurteilen und streiten. Es geht darum, dass Menschen in eine eigene Welt ohne Gott zurückfallen, wenn sie ihren Glauben verlieren. Dass Menschen durch das Verhalten von anderen Menschen von ihrem Glauben abfallen können, ist ein lange bekanntes Geschehen. Der sprachliche Ausdruck selbst ist mit der Verwendung des Wortes „glauben“ auf neue Zusammenhänge übertragen worden.
Diese neuen Zusammenhänge entstehen, wenn jemand etwas zur Kenntnis bekommt, was seinen Vorstellungen oder Erwartungen nicht entspricht. Man sagt „das ist unglaublich“, wenn das Verhalten eines anderen Menschen beobachtet und beurteilt wird. Je näher einem dieser Mensch steht, desto heftiger wird die innere Erregung.
Die Redensart „da fällt man doch vom Glauben ab“ spiegelt die innere Erregung. Sie verweist natürlich auch auf den ursprünglichen Vorgang, der existentielle Bedeutung hat.
Paulus kannte die Gefahr.
Ein sinnerfülltes Leben zu finden, bestimmt das Suchen und Sehnen vieler Menschen.
Wir als Christen und Christinnen habe dabei eine große Verantwortung für unser eigenes Suchen und für das der Menschen, die uns auf unserem Lebensweg begegnen. Dabei ist es eine große Hilfe, dass wir viel von Gottes Liebe wissen und ein Gespür dafür entwickeln können, wo wir sie ins Fließen bringen können.
So können wir lernen, Widerstände und Blockaden gegen die göttliche Liebe zur Seite zu räumen, wo wir sie erkennen können.
Paulus sieht seine Aufgabe in der Verkündigung der Botschaft von der Versöhnung Gottes mit den Menschen durch Jesus Christus. Wenn er als Zitat der Schrift eine Überlieferung eines Wortes des Propheten Jesaja verwendet, will er ausdrücken, dass Gott seit alters her als Herrscher über alle Menschen gewürdigt wird. Diese Würdigung Gottes hält Paulus auch in seinen Zeiten für angebracht und wichtig. Wir preisen im Vaterunser Gottes Reich, seine Kraft und seine Herrlichkeit. Das ist unser innerer Kniefall vor Gott. Das wirkliche Knien kann diesen inneren Vorgang natürlich körperlich verstärken.
Wir dürfen im Gebet mit Gott davon sprechen, wie wir die Kraft der Liebe Gottes in unserem Leben umsetzen. Gott weiß das zwar, aber es ist wichtig, dass wir ihm über unser Denken und Handeln Rechenschaft geben. Erinnern Sie sich auch an das Gleichnis Jesu vom Herrn, der außer Landes geht und seinen Knechten unterschiedlich viel Geld anvertraut, mit dem sie wirtschaften sollen? Bei seiner Rückkehr verlangt er von ihnen Rechenschaft über ihr Wirtschaften.
In dem Horizont dessen, was Paulus den Römern schreibt, können wir dieses Gleichnis Jesu so deuten: Wenn Jesus Christus am Ende der Tage zu Gericht sitzt, wird er uns fragen: „Was hast du in deinem Leben mit der Liebe Gottes gemacht, die ich dir gegeben habe? Hast du sie für dich allein behalten oder hast du sie vermehrt, indem du sie an andere weitergegeben hast?“
Paulus stellt die Grundforderung, nicht lieblos mit den anderen Menschen umzugehen, sie zu beurteilen und zu richten und ihnen keinen Anlass zu geben, sich von uns bedroht zu fühlen.
„Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.“ (V 13)
Diese Grundforderung stellt Paulus an die Mitglieder der Gemeinde in Rom, um den dort herrschenden Streit über die Reinheit von Speisen zu beenden.
An der Behandlung der alttestamentlichen Gebote im kleinen Katechismus Doktor Martin Luthers haben wir gelernt, dass eine Erklärung und ein weiteres Verständnis erreicht werden kann, wenn wir die Liebe Gottes in solch einem Zusammenhang zur Entfaltung bringen.
Betrachten wir noch einmal den letzten Vers unseres Predigttextes:
„Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.“
Wenn wir genau hinsehen, stellen wir fest, das Paulus eine solche Zweigliedrigkeit unter der Verwendung des Wortes „sondern“ bereits benutzt. Luther ist das sicher auch aufgefallen.
Wenn wir aus der Forderung des Paulus ein Gebot mit Erklärung machen; wie könnte es dann aussehen?
Du sollst andere Menschen nicht richten, sie herausfordern oder ärgern. Was ist das?
Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unseren Nächsten nicht richten, herausfordern oder ihm Anlass zum Ärger geben, sondern sollen ihn anerkennen und ihm helfen, die Kraft der Liebe Gottes in seinem Herzen zu spüren und aus dieser Kraft zu leben.
Mose hat Gott nach seinem Namen gefragt. Was soll ich sagen, wer mich geschickt hat?
Gott antwortet: Ich bin, der ich sein werde. (Ex 3,14)
Wenn wir diese Antwort mit der nötigen Ruhe und Klarheit bedenken, werden wir mit Erstaunen feststellen, dass Gott Mose etwas grundlegend Wichtiges mit auf den Weg gegeben hat.
Wir Menschen übersehen es gern, weil es unserem inneren Sicherheitsbedürfnis zuwiderläuft.
Wir können Gott keinen Namen geben, wir können ihn nicht beschreiben, wir können ihn auch nicht beurteilen
‚Ich bin, der ich sein werde’ ereignet sich. Jesus hat seinen Jüngern gesagt: „Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Mt 18,20) Unsere christliche Theologie bringt uns in die Gefahr aller bewusst religiösen Menschen, zu denken, dass wir Gott beschreiben und über ihn Auskünfte geben können.
Menschen, die Gott gar beurteilen, stehen in der Gefahr, vom Glauben abzufallen.
Wir Christen wissen, dass Jesus Christus uns den Zugang zu Gottes Liebe erschlossen hat. Was wollen wir denn noch mehr?
Wenn wir dabei sein wollen, wenn Gott sich ereignet, lasst uns in den Alltag der Welt aufbrechen. Es gibt genug zu tun. Packen wir es an!
Amen
Pfarrer i. R. Rainer Kopisch
Roonstr. 6
38102 Braunschweig
rainer.kopisch@gmx.de
Link zur Online-Bibel
Schranken überwinden – Predigt zu Römer 14,10-13 von Ralph Hochschild
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde,
wir kennen das: Plötzlich schaudert uns. Es läuft uns kalt der Rücken hinunter. Wir entdecken bei jemandem ein Tattoo. Oder vielleicht ein Piercing an einer uns unangenehmen Stelle. Wir treffen einen jungen Menschen und wir finden: „Der ist ein bisschen zu gut gekleidet. Ein Schnösel”. Uns nimmt jemand im Auto mit. Wir steigen auf die Rückbank und auf dem Fond, da steht sie, jene umhäkelte Rolle. „Was für ein schlichtes Gemüt, wie peinlich, weiß der nicht, dass…?”
Wir begegnen Menschen. Wir kommen ihnen einen Schritt näher - und plötzlich fällt in unserem Kopf, in unserem Empfinden eine Schranke. Es schaudert uns. Es läuft uns kalt den Rücken herunter. Der andere wird uns plötzlich fremd oder sogar ein wenig unheimlich. Wir denken: „So bin ich nicht.” „Mit dem oder der habe ich nichts gemein.” Zwischen uns steht eine Schranke.
Von solchen Schranken spricht der Apostel Paulus in unserem heutigen Predigttext. Er steht im 14. Kapitel des Römerbriefes in den Versen 10 bis 13.
10 Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.
11 Denn es steht geschrieben (Jesaja 45,23): »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.«
12 So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.
13 Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.
Herr segne unser Reden und Hören. Amen.
Liebe Gemeinde,
es sind nicht nur die Schlagbäume, die längst – nach einem kurzen Sommer – wieder gefallen sind, die Menschen voneinander trennen. Es sind genauso unsere inneren Schranken. Wenn sie sich senken, so hindern sie uns, aufeinander zu zugehen, uns zu begegnen, uns kennenzulernen, uns schätzen zu lernen. Wir wissen das. Doch wir senken sie immer wieder. So stehen sie zwischen Völkern und Nationen, zwischen Religionen, zwischen gesellschaftlichen Gruppen und ihren Lebensstilen, zwischen Menschen, denen wir in unserem Alltag begegnen, zwischen Menschen, die zu unserer Kirche gehören. Es ist wie ein natürlicher Reflex. Als könnten jene Schranken deutlich machen, wer wir sind und was uns einzigartig macht. Als könnten wir durch die Abgrenzung von anderen unsere Identität gewinnen. Aber zu welchem Preis?
Wir sagen ja nicht nur: „So wie der andere bin ich nicht.” Wir fügen halblaut dann dazu: „sondern besser”. Wir denken: „Mit dem oder der habe ich nichts gemein.” Und setzen hinzu: „Denn ich bin Besseres gewohnt.” Wir ziehen nicht nur eine Grenzlinie, wir sprechen dazu ein Urteil. “Nicht vornehm genug, zu schlicht, überkandidelt, armer Schlucker, ein Angeber.”
Es gibt so viele Möglichkeiten, seine Identität auf Kosten eines anderen Menschen, eines anderen Volkes, einer anderen Religion, einer anderen Gruppe zu definieren, aber allen diesen Versuchen ist eines gemeinsam: Paulus hält sie für keine tragfähigen Identitäten. Er glaubt nicht, dass sie belastbar sind. Er ist überzeugt, dass sie in Konflikten nicht dem Frieden dienen. Er weiß, dass diese inneren Blockaden Verständnis und Gemeinschaft untereinander beschränken, statt sie wachsen zu lassen – zumindest in der christlichen Gemeinde.
Deshalb: „Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.”
Paulus zeigt: Es ist eine Illusion, sich durch innere Schlagbäume eine Identität zu konstruieren. Denn letztlich zählen diese Schranken nichts, wenn wir vor den Schranken des Gerichtes Gottes stehen. Dort sind wir alle gleich. Dort sind alle unsere Abgrenzungen und Urteile egal. Alle werden ihre Knie beugen, alle werden auf das gleiche Niveau gebracht.Aaber nicht, um gedemütigt, verurteilt und niedergedrückt zu werden, sondern um ihre Stimmen zu erheben, um Gott zu bekennen, wie es Paulus mit einem Zitat aus dem Jesajabuch sagt: »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.« Und ich füge den nun folgenden Satz bei Jesaja noch an: „Im Herrn habe ich Gerechtigkeit und Stärke.”
„Im Herrn habe ich Gerechtigkeit”. Nicht durch selbstgerechte Urteile, nicht durch Stolz auf meinen Glauben, nicht durch mein Handeln habe ich eine besondere Qualität. Durch Gottes Liebe bin ich gerecht geworden. Gott macht mich durch seine Gerechtigkeit zu einem liebenswerten Menschen. Ich muss weder mir noch einem anderen etwas beweisen. Deshalb bin ich frei, den anderen anzuerkennen, seine Besonderheit wahrzunehmen, ihn ernst zu nehmen, ihm die Hand zu reichen, ihn liebenswürdig zu finden. Denn ich weiß: Mein Selbstbild, meine Identität ist nicht bedroht. Sie ist mir vom lebendigen Gott geschenkt.
„Im Herrn habe ich Gerechtigkeit und Stärke.” Nicht durch Abgrenzungen und Schranken und Schlagbäume werde ich stark, gewinne ich meine Identität, sondern im Herrn habe ich Stärke. Durch meinen Glauben, durch mein Vertrauen, gewinne ich eine innere Stärke, die mir hilft, mein Leben zu bestehen. In Glück und Segen, in meinen Niederlagen und Misserfolgen. Meine Taufe erinnert mich daran, mich bestärkt die Feier des Abendmahls immer neu, wenn wir Brot und Wein miteinander teilen.
Paulus hat an der Feier des Abendmahls erkannt, wie destruktiv es sein kann, wenn sich Menschen gegeneinander abgrenzen. So schön es war, dass es schon in den ersten Gemeinden selbstbewusste Christen gab, die ohne Angst ihren neuen Glauben lebten und all die Götter und Dämonen ihres alten Glaubens hinter sich gelassen hatten. Ihre Selbstgewissheit hatte eine hässliche Hürde für die aufgerichtet, die das nicht konnten. Die sich fragten: Darf man wirklich Speisen essen, die gestern noch als unrein galten? Darf man wirklich heute unbefangen von dem Fleisch essen, das gestern zur Ehre der heidnischen Gottheiten geopfert wurde. Oder ist es mit den alten Dämonen verseucht? Ist es nicht besser, darauf zu verzichten?
Paulus selbst glaubt das nicht. Aber er widersteht der Versuchung, diejenigen, die sich fürchten, zu verachten. Er sagt nicht: „Was für schlichte Gemüter!” Nicht: „Wie altbacken glauben denn die?” Nicht: „Wie peinlich sind die für unsere Gemeinde!” Denn er spürt, wie die Gemeinschaft leidet, wie die unterschiedliche Glaubenspraxis die Gemeinde spaltet, wie die unterschiedliche Lebenspraxis Zugänge zur Gemeinde versperrt.
Paulus sucht deshalb den Weg des Respektes. Denn wenn vor Gottes Gericht alle Gottes Gerechtigkeit erfahren, so können sie alle einander gerecht werden. Niemand muss sich abgrenzen, keiner muss den anderen verurteilen.
Paulus geht den Weg des Verstehens. Verstehen ist vielleicht die machtloseste Form der Kommunikation. Sie verzichtet auf die Kraft der Überzeugung und die Macht der Argumente, aber sie ist es, die Menschen Anerkennung spüren lässt, die auch eine tiefe Kluft schließen kann, die Gemeinschaft stiftet. Wer sich auf den Weg des Verstehens macht, der wird aber auch sensibel für die Gewissensnöte des anderen, und kann seinen Sinn darauf richten, dass kein Anstoß, keine Hürde, keine Schranke den Weg zueinander versperrt.
Zum Verstehen gehört für Paulus aber auch, die Freiheit des anderen zu achten. Paulus beschreitet deshalb den Weg der Rücksichtnahme. Nicht die eigenen Maßstäbe und Gewohnheiten, sondern die Rücksicht auf das Gewissen und die Überzeugungen des anderen sind es, die die Schranken und Türen offen halten.
Vielleicht müssen wir das als Kirche und Gemeinde heute genauso lernen wie damals die ersten Christen der paulinischen Gemeinden. Sensibel zu werden für die vielfältigen Haltungen und die Bedürfnisse in unserer Gemeinde. Auch für die der Gemeindeglieder, die nicht regelmäßig an unserem Gottesdienst teilnehmen möchten. Denen anderes an Kirche und Glauben wichtig ist. Die ihren Glauben anders als wir zu leben wünschen.
Ob wir in Respekt, Verständnis, Rücksicht miteinander leben können, in den Unterschieden, die es heute bei uns gibt? Paulus hat mit seinem Modell für ein friedliches und respektvolles Miteinander wohl nicht über die Grenzen seiner Gemeinde hinaus gedacht. Heute wünsche ich mir, wir könnten es so überzeugend leben, dass es über die Grenzen von Kirche und Gemeinde hinaus anziehend wirkt. Ich glaube, wir bräuchten das. Amen.
Link zur Online-Bibel
„Wat haste jemacht mit dein Leben?“ – Predigt zu Römer 14,10-13 von Walter Meyer-Roscher
Liebe Gemeinde,
„Nehmt sie und richtet über sie. Sie sollen den Preis, welchen auch immer, bezahlen.“ So hat vor kurzem ein Staatspräsident sich der parlamentarischen Opposition seiner Regierung zu entledigen versucht. Eine große Menschenmenge hat begeistert diese Aufforderung bejubelt.
Wir haben es mit Fassungslosigkeit gesehen und gehört. Das kann doch eigentlich keine Gesellschaft hinnehmen, in der alle ein Recht auf Gleichbehandlung haben. Da beginnt ein gefährlicher Weg der Ausgrenzung, der jede Gesellschaft spaltet und ein solidarisches Zusammenleben unmöglich macht.
Politische Verurteilungen und Ausgrenzungen Andersdenkender kennen wir durchaus auch bei uns. Sie finden sogar Eingang in Parteiprogramme und werden auf Parteitagen schonungslos ausgesprochen. Das macht uns Angst.
„Nehmt sie und richtet über sie!“ Der Nährboden für solche Aufforderungen, für ihre oft begeisterte Aufnahme und ein entsprechendes kompromissloses Denken und Handeln ist groß. Er findet sich in vielen Bereichen unseres Lebens und unseres privaten, auch gesellschaftlichen Zusammenlebens.
So neu ist das offenbar ja nicht. „Warum richtest du deinen Bruder?“, fragt schon Paulus in seinem Brief an die junge christliche Gemeinde in Rom.
„Nehmt sie und richtet über sie!“ Ein breites Fernsehpublikum wartet darauf. In meiner Tageszeitung las ich vor kurzem auf der Medienseite, dass die sogenannten Reality Shows, deren Menge auf allen Fernsehkanälen zunimmt, nach folgendem Grundprinzip funktionieren: „schlichter Kandidat dient als Lästeropfer, über das sich die Zuschauer erheben können“. Die Sender sind sich einer hohen Einschaltquote sicher.
Gleichzeitig twittert sich eine heranwachsende Generation durch die sogenannten sozialen Medien. Und da nimmt das gegenseitige Richten und Abqualifizieren beängstigend zu. Man verfolgt Andersdenkende, aber auch Versager, Menschen, deren Fehler man in der medialen Öffentlichkeit anprangern kann und die sich nicht wehren können gegen Häme und verletzenden Beleidigungen.
Wieder fragt Paulus: „Und du, was verachtest du deinen Bruder?“
Sich über andere erhaben zu fühlen und sie auf vielerlei Weise herabsetzen zu können, hat schon immer Menschen angezogen. Warum tut ihr das, fragt schon damals Paulus. Warum richtet und verachtet ihr eure Mitmenschen? Er legt den Finger auf eine schon immer brennende Wunde: Das ist doch nichts weiter als der ständige Versuch, euch selbst zu rechtfertigen, indem ihr euren wachsamen, kritischen Blick zuerst auf die Menschen neben euch richtet. Verschließt doch nicht die Augen vor der Tatsache, dass jeder Mensch über sein eigenes Denken und Handeln Rechenschaft ablegen muss. Warum denkt ihr nicht zuerst an Gott, euren Gott und den aller eurer Mitmenschen? Vor seinem Richterstuhl werden wir alle stehen, ruft Paulus in Erinnerung. „So wird nun jeder von uns für sich selbst Rechenschaft geben.“
In Carl Zuckmayers Theaterstück „Der Hauptmann von Köpenick“ erinnert sich der Berliner Schuster Wilhelm Voigt, dass auch er als von der Gesellschaft immer wieder Abgeschobener und Ausgegrenzter einer letzten Instanz gegenüber Rechenschaft schuldig ist. In seiner Berliner Mundart drückt er das so aus: „Denn stehste vor Gott, dem Vater, der allens jeweckt hat, vor dem stehste denn, und der fragt dir ins Jesichte: Willem Voigt, wat haste jemacht mit dein Leben?“ Die Antwort wird so unbefriedigend ausfallen, weiß Voigt, dass Gott sagt: „Dafür ha ick dir det Leben nich jeschenkt […] wo is et? Was haste mit jemacht?“
Sagt Gott nun auch, wie wir es in unserem politischen und sozialen Umfeld immer wieder hören: Abschiebung, Ausgrenzung?
Wilhelm Voigt will Gottes Frage nicht als höchstinstanzliche Aburteilung verstehen. Er will sie vielmehr als eine eindringliche Mahnung hören. „Ick wer noch was machen mit mein Leben“, nimmt er sich vor. Ob es ihm gelingt, haben dann – Gott sei Dank – nicht Menschen zu beurteilen. Gott richtet. Er richtet uns auf ihn hin aus. Darin liegt doch eine große Hoffnung, dass wir den Blick auf Gott lenken und daher den Willen und die Kraft nehmen können, unser Leben verantwortungsvoll zu gestalten.
In meinem griechischen Neuen Testament lese ich, dass einige alte Handschriften den Hinweis des Paulus auf den Richterstuhl Gottes durch das Bild vom Richterstuhl Christi ersetzen. Aus seinem Mund kommt in vielen mittelalterlichen Bildern zwar das Schwert, aber auch die Lilie als Zeichen von Gnade und Vergebung. Sicher, das Schwert deutet auf eine letzte Verantwortung hin, die wir alle für unser eigenes Leben, aber auch für eine mitmenschliche Ordnung des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft haben. Das Bild von der Lilie dagegen will Mut machen, die Menschenwürde, die Gott uns allen verliehen, und die Freiheit, die er uns allen mitgegeben hat, zu wahren und zu nutzen. Wilhelm Voigt hatte das verstanden, als er sich vornahm, noch etwas aus seinem Leben zu machen, das Geschenk des Lebens mit den Möglichkeiten zum Guten zu nutzen. Dann kann er sich auch an die Hoffnung halten: Gott will nicht ausschließen und ausgrenzen. Sein Urteil soll vor allem ein Aufruf zur Verantwortung für das eigene Leben und das unserer Mitmenschen sein.
Das bleibt unsere Hoffnung in allen Verwerfungen unseres Zusammenlebens: Gott nimmt seine Verheißungen nicht zurück. Im Leben seines Sohnes und unseres Menschenbruders Jesus Christus sind sie lebendig geworden.
Nein, keine Aburteilung durch einen ewig strafenden Richter. Eher ein nachdrücklicher Hinweis auf eine Ordnung von Leben und Zusammenleben, in der ein Dank für die Gaben, die jeder Mensch von Gott mitbekommen hat, ebenso seinen Platz hat wie die Achtung vor der Menschenwürde aller anderen, für Barmherzigkeit und Bereitschaft zur Verständigung statt Richten, Aburteilen und Ausgrenzen. Jesus hat diese Ordnung gelebt, für uns sichtbar und erfahrbar gemacht. Und so hat Paulus sie auch das „Gesetz Christi“ genannt, ein Gesetz der Mitverantwortung und Mithilfe gerade da, wo Menschen Hilfe brauchen, um ihre Lebenslast zu tragen.
Im biblischen Leitwort für die kommenden Woche lässt Paulus seine Gedanken in die Mahnung münden: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ (Galater 6,2).
Amen.
Walter Meyer-Roscher
Landessuperintendent i.R.
e-mail: meyro-hi@arcor.de
Link zur Online-Bibel
Lobpreis der Wunderwege Gottes - Predigt zu Römer 11,33-36 von Heiko Naß
Lobpreis der Wunderwege Gottes
O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!
Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? (Jesaja 40,13)
Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste«? (Hiob 41,3)
Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.
Liebe Gemeinde,
zufällig war die junge Frau an einem Abend im Juni mit einer Freundin auf Rollerblades unterwegs auf der Promenade, als die Kräfte nach einiger Zeit langsam sie verließen. Zufällig war ein junger Mann an diesem Abend mit seinem Fahrrad unterwegs und zufällig gerade an dieser Stelle angelangt, als die Frau mit Ihrer Freundin Ausschau hielt nach jemand, der sie für eine Strecke zurückziehen würde. Zufällig hatte er an diesem Abend etwas Zeit und nichts dagegen, den beiden Damen auf der schwierigsten Strecke etwas behilflich zu sein. Zurück am Ausgangspunkte bedankte man sich und ging auseinander. Zufällig nahm er am folgenden Tag sein Mittag nicht wie gewohnt in der alten sondern der neuen Mensa der Universität ein. Zufällig hatte sie an diesem Tag ein wenig früher Schluss und war bereits um 12:00 statt wie gewohnt um 13:30 in der Mensa. Man kann sich denken, wie der Zufall diese Geschichte weiter geschrieben hat. Jedenfalls saßen beide ein gutes Jahr später vor mir auf den Traustühlen in der Kirche.
Zufälle – haben Sie mitgezählt, es waren sieben Zufälle in dieser Begegnungsgeschichte, sieben, eine vollkommene Zahl. Was wir Zufälle nennen, nennt die Sprache des Glaubens anders. Sie nennt es ein Wunder, und sie erzählt von dem, der solche Wunder zu wirken vermag. Im Buch des Propheten Jesaja heißt es: „Meine Gedanken sind nicht Eure Gedanken und meine Wege nicht eure Wege“, spricht der Herr. „Denn so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege, und meine Gedanken höher als eure Gedanken...“
Die Begegnung zweier Menschen, die einander zum Schicksal werden, rührt an die Grunddimensionen unseres Lebens. Ist alles wirklich so zufällig? Oder gibt es nicht doch einen heimlichen Autor in der Geschichte unseres Lebens. Einen Autor, der für die Geschöpfe seines Wirkens nur den Wunsch kennt, dass sie ihr Glück machen, in Freuden aus ziehen und im Frieden geleitet werden. Auch wenn seine Gedanken höher sind als unsere Gedanken und seine Wege höher sind als unsere Wege, so heißt das doch ganz und gar nicht, dass seine Wege entfernt seien von unseren Wegen. Vielmehr erzählen die Geschichten der Bibel von Gott so, dass er sich mit auf den Weg macht und dabei das eine, wesentliche, Elementare vermitteln will: Segen.
Wer vom Geheimnis Gottes redet, redet zugleich auch vom Geheimnis des Lebens. Davon schreibt der Apostel Paulus in seinem Text, über den wir heute für einen Augenblick nachdenken wollen.
„O, welch eine Tiefe des Reichtums…“, so beginnt der Text, holt uns ab und führt und in die Tiefe.
Wer schon einmal im Meer getaucht ist, weiß, was für eine Faszination von diesem Weg in die Tiefe ausgeht. Hinab zu tauchen aus der Unruhe der Oberfläche, die Bewegungen der Wellen hinter sich lassen und die Ruhe spüren, die einen umgibt.
Von der Tiefe schreibt der Apostel Paulus. Von der Tiefe, in der die Wahrheit liegt. Von der Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes. Wer diese Tiefe entdeckt hat, der hat auch Gott entdeckt. Der hat seinen Ort gefunden, weg von der Oberfläche, dem Schein und Auf und Ab und ist hinabgedrungen, um die Töne aus der Tiefe zu hören.
Was wir erfahren, entzieht sich unserem Begreifen. Wir erleben Tiefe in den Momenten des Glücks, das Staunen, dass wir in der anscheinenden Unendlichkeit des Universums wirklich gemeint sind vom Guten. Dass unter den zahlreichen Möglichkeiten die eine sich für uns ergeben hat, in der wir wirkliche Einheit spüren mit uns selbst, mit unserem Hier und Jetzt, mit Gott.
Alle gute Gabe, schreibt Matthias Claudius, in seinem Erntelied, kommt her von Gott, dem Herrn.
Alle gute Gabe, ja – aber was ist mit den Schlägen, die uns genauso treffen. Mit einem Unglück, das uns einen geliebten Menschen aus der Mitte reißt, mit Krankheit, mit Verlust von Arbeit. Gerade die Erfahrungen des Leidens stoßen uns doch hinab in die Abgründe, in die Schluchten der Tiefe, in deren Finsternis kein Licht zu scheinen scheint.
Es gibt Dinge auf dieser Erde, die wir niemals verstehen werden. Warum für das fröhliche Mädchen ihr Leben nach elf Jahren zu Ende sein musste, warum für sie die Hälfte ihres Lebens von einer Krankheit gezeichnet war, werden wir nicht ergründen können. Wir sind bis aufs Mark getroffen. Dann erleben wir, dass die Antworten, die einmal Halt hatten, ihre Klarheit verlieren. Dass sich der Abgrund auftut und wir erschrecken, weil auch wir verloren gehen könnten, weil uns nichts mehr trägt und birgt. „Wer hat den Sinn des Herrn erkannt oder wer ist sein Ratgeber gewesen“, fragt Paulus, als wüsste er genau, welche Beklemmungen im Leben uns verfolgen können.
Die Größe Gottes misst der Apostel Paulus aus, wenn er von der Tiefe der Gottheit schreibt. Unbegreiflich und unerforschlich sind seine Wege. Kein Rätsel ist gemeint, sondern ein Geheimnis. Ein Rätsel verlangt nach Lösung. Es rechnet damit, dass es auf Fragen eine Antwort gibt. Ein Geheimnis aber gibt keine Antwort, es entzieht sich einer Berechnung. Ein Geheimnis ist darauf angelegt, dass man zu ihm hervordringt, dass nicht wir es lösen, sondern es sich uns erschließt.
Was das Geheimnis des Lebens von uns verlangt, ist, dass wir uns zum ihm verhalten. Dass wir es nicht abtun und beiseite tun, sondern uns zu ihm aufmachen.
Genau dahin möchte uns der Apostel führen, dass wir von diesem Geheimnis angezogen, in dieses Geheimnis hineingezogen werden. Indem wir uns zu unserem Geheimnis des Lebens verhalten, nähern wir uns auch dem Geheimnis Gottes an. Denn zwischen uns und Gott besteht eine Schnittmenge, eine Übereinstimmung, sie besteht darin, dass Gott in seinem Sohn Jesus Christus unseren Weg auf der Ergründung unseres Geheimnisses mit geht bis in die Tiefen der Abgründe hinein. „Ich bin das Licht der Welt“, sagt Jesus. Wo von ihm erzählt wird, da soll diese Erde und alle Geschöpfe auf ihr belebt werden.
Aber sein Licht scheint auch in die Finsternis. Über die Finsternis macht die Bibel sich keine Illusion. Es gibt diese schweren Schatten der Last, Dunkelheiten wie Krankheit, wie Leid, wie Tod. In diese Dunkelheiten ist Jesus hineingegangen, Leid und Sterben hat er auf sich genommen im Kreuzestod, damit es keinen Ort gibt, in dem sein Licht nicht auch gewesen ist. „Ihn hat Gott auferweckt und hat aufgelöst die Schmerzen des Todes, wie es denn unmöglich war, dass er vom Tode festgehalten werden konnte“, das ist die Urbotschaft des Evangeliums, das erste Mal so verkündigt in der Predigt des Petrus zu Pfingsten vor gut 2.000 Jahren (Apg 2,24). Weil es bei Gott immer um alles geht, ist darum das Leben in Jesus durch den Tod hindurchgegangen, damit wirklich alles durch ihn geschehen ist. Gott zieht uns in sein Geheimnis, er zieht uns in das Leben hinein.
Wenn nun von ihm und durch ihn alle Dinge sind, wie werden dann alle Dinge zu ihm sein? Was ist damit gesagt? Mit dieser Frage setzen wir einen Schritt in die Zukunft. Diese Zukunft liegt nicht nur jenseits aller Dinge, also jenseits unserer Welt. Diese Zukunft beginnt in jedem Augenblick, sie ist schon nachher oder sie ist morgen. Sie kann uns verändern.
Für Menschen mit der Diagnose Demenz oder Alzheimer ist die Unsicherheit, wer wir in der Zukunft sein werden, eine der großen Ängste, die ihnen in dieser Krankheit begegnen.
Wie wird es sein, wenn ich mich meiner Liebsten nicht mehr erinnern, wenn ich mich vielleicht einmal nicht mehr meiner selbst erinnern kann. Wer bin ich dann, bin ich dann noch derselbe oder ein anderer oder ein Fremder in meinem Körper?
Von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge, schreibt Paulus. Wenn Gott uns in sein Geheimnis und in das Leben hineinzieht, dann werden wir uns nicht verlieren. Wir haben unser Leben nicht von uns selbst. In allem, was sich ändert und wie wir uns verändern, bleibt Gott derselbe. Er bleibt uns zugewandt. Seine Beziehung bleibt, sie ist die Quelle des Lebens und sie wird sein, wo immer wir sind. Sie wird auch sein, wenn unser Geist sich verdunkelt, und sie wird auch sein, wenn Nacht um uns ist. „Bei ihm ist die Quelle des Lebens und in seinem Lichte sehen wir das Licht“ (Ps 36,10). Das ist der Schritt auf ihn zu, denn nicht nur von ihm und durch ihn, sondern auch zu ihm sind alle Dinge.
Paulus hat kein Klagelied angesichts der unerforschten Wege Gottes geschrieben. Er schrieb einen Lobgesang, dessen Finale aus der Tiefe in die Höhe klingt: Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit.
Amen.
Link zur Online-Bibel
Ein Geheimnis, das jeder versteht und niemand erklären kann - Predigt zu Römer 11,32–36 von Helmut Dopffel
„Ein Geheimnis, das jeder versteht und niemand erklären kann“
Liebe Gemeinde,
es gibt Situationen, in denen es mir die Sprache verschlägt – vor Erstaunen oder Entsetzen, vor lauter Glück oder weil mich der Schmerz überwältigt. Und wenn es mir nicht die Sprache verschlägt, oder wenn ich Worte wiederfinde, dann sind es oft zuerst die Worte anderer, ein Lied, ein Gedicht, ein Zitat, ein Vers, der mir die Worte gibt, die mir selbst gerade fehlen: What a wonderful day! Let it be! Oder es bleibt nur ein Buchstabe: O! O wie schön! O wie schrecklich! So ähnlich muss es Paulus gegangen sein. Er schreibt einen Brief an die christliche Gemeinde in Rom, und beim Schreiben klären sich seine Gedanken. Er denkt nach über eine Frage, die ihn sehr beschäftigt, nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen, und die ihn im Grunde sein ganzes Leben lang seit seiner Berufung vor zwei Jahrzehnten umgetrieben hat. Paulus ist Jude, und er denkt darüber nach, warum die allermeisten Juden die Botschaft von Jesus Christus ablehnen, ihn nicht als Messias anerkennen, und deshalb auch nicht anerkennen, dass zum Gottesvolk nun viele Menschen gehören, die keine Juden sind. Unter dieser Ablehnung hat Paulus furchtbar gelitten, äußerlich und innerlich. Es sind doch seine Schwestern und Brüder, seine Familie, sein Volk, das Volk Israel! Und Israel ist von Gott erwählt, ist Gottes große Liebe. Kann Gott diese große Liebe einfach fallen lassen? Ist er nicht treu und verläßlich? Welcher Sinn liegt dann aber in dieser Verweigerung? Dieses Thema ist für die Kirche bis heute nicht erledigt. Und damit verbindet sich eine andere Frage, die uns ebenfalls auch heute noch beschäftigt und zu hitzigen Diskussionen führt: Wie ist es denn mit den Menschen anderer Religionen, Muslimen, Aleviten und Sikhs und Bahai und Buddhisten und Hindus und anderen, mit denen wir heute nicht nur auf dieser Erde, sondern in unserem Land zusammenleben und deren religiöse Überzeugungen wir zu respektieren haben? Sind sie nicht alle von Gott geschaffen und gewollt und seine Kinder? Was hat Gott mit all diesen Menschen denn vor?
Paulus, so sagt er, ist hier einem göttlichen Geheimnis auf der Spur. Ihm ist, beim Schreiben und beim Nachdenken über die Worte des Alten Testaments und die Worte Jesu und über seine eigenen Erfahrungen, ein Licht aufgegangen. Er hat etwas von diesem Geheimnis verstanden, auch wenn er es nicht erklären kann und es deshalb ein Geheimnis bleibt. Ihm ist etwas – eingefallen. Ein göttlicher Einfall! Er fasst ihn so zusammen: „Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.“ Und mit alle meint er alle, Juden und Heiden, in seiner Ausdrucksweise, heute würden wir sagen: Alle Völker, alleMenschen. Ausnahmslos alle!
Diese Erkenntnis überwältigt ihn. Und deshalb schreibt er, mitten in seinem Brief, ein Lied nieder, einen Hymnus. Wir wissen nicht, ob er das Lied selbst gedichtet hat oder ob er es zitiert, wir wissen aber, dass das Lied aus Zitaten besteht, und zwar aus jüdischen und heidnischen Zitaten. Und es beginnt mit O:
O welch eine Tiefe des Reichtums,
beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!
Wie unbegreiflich sind seine Gerichte
Und unerforschlich seine Wege!
Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt
Oder wer ist sein Ratgeber gewesen?
Oder wer hat ihm etwas zuvor gegeben,
dass Gott es ihm vergelten müsste?
Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.
Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen
Ich bin davon überzeugt, dass diese Verse allen Menschen etwas sagen, nicht nur denen, die wir heute „religiös musikalisch“ nennen. Die unbegreiflichen Gerichte, die unerforschlichen Wege: Das sind doch ganz reale Lebenserfahrungen. Dramatisch erzählt werden sie zum Beispiel im Buch Hiob, das nicht ohne Grund bis heute populär ist. Hiobs Leben wird durch eine unerklärliche, schreckliche Folge von Unglücksfällen zerstört, sein Wohlstand vernichtet, seine Kinder getötet, er selbst krank, es bleibt ihm nichts als das nackte elende Leben und auch das ist gefährdet. Und das alles, obwohl er ein frommer und gerechter Mann ist, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen. Warum? Warum ist ihm all das widerfahren? Warum war das sein Weg? Darüber grübelt er nach, darüber grübeln seine Freunde nach, darüber grübeln Menschen aller Zeiten nach. Da wird dieser Satz des Paulus zu einem Vehikel für Resignation, Zynismus und Zorn: Unbegreiflich und unerforschlich sind Gottes Wege. Was ist das für ein Gott! Dafür kann man Gott doch nicht loben! Nein, dafür kann man Gott nicht loben, und dafür dürfen wir ihn auch nicht loben. Das wäre doch nur heroisch und unwahrhaftig. Das will Gott nicht.
Die unbegreiflichen Gerichte, die unerforschlichen Wege können aber auch in eine ganz andere Richtung führen. Manchmal sehen wir lange keinen Weg, und dann entsteht er doch unter unseren Füßen. Die Dinge fügen sich, unerwartet und unvorhersehbar und wunderbar. Wir begegnen einem Menschen, der uns schon immer Angst gemacht hat, an unbekanntem Ort, und zucken zusammen und denken O je, muss das sein? Doch diesmal ist es anders, wir kommen ins Gespräch, ein Faden spinnt sich wo nie einer war, das erste Lächeln, und die Angst macht sich davon als wäre sie nie gewesen. Ja, es musste sein, diese Begegnung. - Eine Erinnerung, die uns bedrückt, eine Schuld die wie eine schwere Last auf uns liegt löst sich auf, weil jemand das richtige Wort gefunden hat, das unser Herz erreicht und leicht und hell macht. - Oder wir blicken zurück auf unseren Lebensweg und sehen: Wäre damals meine erste heftige Liebe erhört worden, wäre ich meiner großen Liebe nie begegnet. Hätte ich mich damals nicht erfolglos beworben, hätte ich die neue Stelle nie bekommen. Und wir erahnen, im Rückblick, im Nachhinein: Gottes Wege sind verborgen und führen doch zum Ziel. Er schreibt auf krummen Linien gerade. Er fügt. Natürlich waren wir selbst es, die diesen Weg gegangen sind. Natürlich waren es andere Menschen, die uns den richtigen Rat gegeben, das lösende Lächeln geschenkt haben. Und doch: Das allein war es nicht. Alles hat sich merkwürdig gefügt.
Es sind die Geheimnisse des eigenen Lebens, und darüber hinaus die Geheimnisse des Lebens überhaupt und vielleicht auch die Geheimnisse der Geschichte und des Universums, an die uns dieses Lied des Paulus von der Tiefe Gottes und seinen unergründlichen Wegen denken lässt. Und vieles bleibt rätselhaft, und manches schmerzlich rätselhaft. Das Lied des Paulus löst diese Rätsel nicht, und nur manchmal blitzt im Leben eine Ahnung auf, wie es sein könnte, diese Auflösung. Aber wenn wir wissen, dass es nicht ein dumpfes und zufälliges Geschick ist, das unser Leben bestimmt, sondern dass es die unerklärlichen und unerforschlichen Wege Gottes sind, auf denen wir gehen oder geführt werden, dann sind wir nicht verlassen, sondern geborgen in einer unbegreiflichen Weise. Wenn wir wissen, dass wir es nicht mit den Rätseln des Schicksals, sondern mit einem Geheimnis Gottes zu tun haben, dann hat sich schon viel verändert.
Für Paulus hat das Geheimnis aber noch einen ganz anderen und präziseren Sinn. Ihm geht es nicht um die Rätsel des eigenen Lebens oder des Universums. Seine Frage heißt ja: Was hat Gott mit den Menschen vor, die nicht an Jesus Christus glauben? Und da hat er einen Blick auf das Geheimnis erhascht, der sich mit vier Punkten umschreiben lässt:
- Gott ist nicht exklusiv. Glauben heißt, zu vertrauen: ich bin sein. Glauben heißt nicht: Gott gehört mir, und nur mir. Oder uns, und nur uns. Gott ist für alle da, denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.
- Gott hat für jeden und jede den eigenen Weg, und er findet ihn. Für die Juden so, für die Heiden anders. Für dich so und für mich so. Gott findet jeden Menschen und führt ihn zu sich. Für alle gibt es einen Weg. Es geht immer um alle und alles, denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.
- Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Wir Menschen leben im Ungehorsam. Das ist mir sofort plausibel, wenn ich auf mich selbst blicke. Und es ist mir sofort plausibel, wenn ich auf unsere Welt heute schaue, oder auf die die Geschichte der Menschheit. Ungehorsam bedeutet ganz schlicht: Wir tun nicht, was für uns, für andere Menschen, für diese Welt, für die Zukunft gut wäre und notwendig ist. Ungehorsam heißt: Wir wollen nicht lieben. Doch Gott ist viel größer als unser Ungehorsam, und seine Liebe stärker als unsere Lebensfeindlichkeit. Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.
- Und schließlich: Dass Gott für alle da ist, dass er für jeden seinen Weg findet, dass seine Liebe stärker ist als unser Ungehorsam: All das haben wir nicht verdient. Wir haben es nicht verdient, können es nicht verdienen, müssen es nicht verdienen. Wir haben es auch nicht gemacht. Wir haben auch keinen Anspruch darauf, sowenig wie es einen Anspruch auf ein gutes Leben, auf ungestörten Wohlstand und Wellness und Gesundheit gibt. Gottes Handeln an uns zerstört alle Machbarkeitsphantasien und jedes Anspruchsdenken. Es ist allein Gottes Tiefe und Reichtum und Weisheit und Erkenntnis, von der wir leben, der wir unser Leben und Weiterleben verdanken. Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.
Gottes Größe und Reichtum ist – das Heil für alle. Das ist das Geheimnis, das Paulus plötzlich versteht, das auch wir verstehen können. Und doch bleibt es ein Geheimnis, denn: Warum ist das so? Warum tut Gott das? Darüber staunt Paulus. Deshalb schreibt er dieses Lied.
Die Tiefe Gottes ist also nicht einfach schwarz und dunkel und bedrohlich. Diese Tiefe der Gottheit ist voller Reichtum und voller Licht und Liebe. Sie ist ein Geheimnis, denn sie ist unerschöpfbar, und keiner kann auf den Grund schauen oder gar auf den Grund kommen. Aber das Geheimnis ist nicht stumm. Es ist voller Musik. Es hat eine Botschaft: Dass er sich aller erbarme. Es ist ein Geheimnis, weil es jeder verstehen, aber niemand erklären kann. Kein Kalkül, keine Vernunft, keine Moral, keine Philosophie kann das erklären. Aber wir alle verstehen, was es bedeutet. Er erkennt uns, bevor wir ihn erkennen. Er hält uns, auch wenn wir ihn loslassen und loswerden wollen. Wir haben unsere Geschichte mit Gott, und die ist brüchig und voller Fragen und Zweifel und Ungehorsam. Aber Gott hat seine Geschichte mit uns, und die ist treu und verlässlich und voller Liebe und Kraft. Wir sind geliebter, als wir es uns vorstellen können.
Können wir noch mehr sagen über dieses Geheimnis? Die Kirche hat das in ihren Glaubensbekenntnissen gewagt. Der eine Gott ist Gott als Vater, Sohn und Geist, ist also in sich selbst Beziehung, Gemeinschaft, Liebe. Gott ist Vater, Sohn und Geist, und der Geist ist das Band der Liebe zwischen Vater und Sohn. So etwa, ganz grob zusammengefasst, erklärt das die christliche Theologie, und sie hat das mit großem geistigen Aufwand und Raffinesse entwickelt. Wir glauben nicht an diese Feinheiten der Theologie. Wir glauben aber, dass der eine Gott Liebe ist, in sich selbst zuerst, und dass dann diese Liebe ausstrahlt nach außen und uns und alle umfasst, damit er sich aller erbarme.
Das ist das Geheimnis, das wir erblicken, wenn Gott uns in sein Herz schauen lässt. Aber warum dieses Herz Gottes ist, wie es ist und was es ist, das bleibt ein Geheimnis, bis ans Ende der Zeiten und vielleicht sogar in alle Ewigkeit.
Deshalb sind auch mit dem Lied des Paulus nicht alle Fragen beantwortet, alle Rätsel gelöst, alle Geheimnisse gelüftet. Im Gegenteil: Jedes Geheimnis schafft neues Staunen und neue Fragen und neues Suchen, und dieses erst recht. Wir bleiben unterwegs. Amen.
Link zur Online-Bibel
Predigt zu Römer 11,32-36 von Rainer Stahl
Liebe Leserin und lieber Leser!
Liebe Schwestern und Brüder!
Es gibt die Sage um Augustinus von Hippo, nach der er am Meer spazieren gegangen sei und einen Jungen am Strand beobachtet habe, wie dieser versuchte, das Meer mit Hilfe einer Muschel in eine Mulde im Sand des Strandes zu schöpfen. „Aber, das ist doch unmöglich“, meinte Augustinus zu ihm. Worauf der Junge antwortete: „Genauso unmöglich ist es, die Trinität, die Dreieinigkeit Gottes, zu verstehen.“
Als hätte Paulus diese Erkenntnis schon vorweggenommen, schreibt er in unserem Teil seines Briefes an die christliche Gemeinde in Rom nur – aber, was heißt hier: „nur“? – in Sätzen des Staunens, der Feier, der Verherrlichung: „Welch’ Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unnahbar sind seine Zuweisungen, und wie unverstehbar sind seine Wege!“ (Vers 33).
Er kann nicht anders, als Aussagen seiner eigenen Bibel aufzunehmen, aber Aussagen, mit deren Hilfe er nur zum Ausdruck bringen kann, dass wir Menschen – auch die geistlichen Menschen, ja: gerade die geistlichen Menschen – die Distanz zu Gott nicht überbrücken können. Eine dieser Aussagen lautet: „Wer hat den Geist Gottes erfasst? Und welcher Mensch ist in der Lage, ihm Rat zu erteilen?“ – aus Jesaja 40,13.
Und er schließt mit einem Bekenntnis, das Seinesgleichen sucht: „Denn aus ihm und durch ihn und zu ihm hin ist alles. Ihm ist Ehre in Ewigkeit. Amen!“ (Vers 36).
Nur in einer Hinsicht wäre diese Sprachgewalt noch zu verbessern. Wer immer wieder einmal Luther liest, kann eine interessante Beobachtung machen: Luther verändert an entscheidenden Stellen seine Sprachform. Er wechselt von der Rede über Gott in die Anrede zu Gott hin: 1523 stellte er in einer Predigt zum Petrusbekenntnis fest, dass es ein unzureichendes Verstehen Christi gibt, nämlich das Verstehen als Vorbild:
„Wo also nur Vernunft ist und »Fleisch und Blut«, die können nicht weiter Christum begreifen als allein für einen heiligen, frommen Mann, der von sich ein fein Exempel gebe, dem nachzufolgen sei.“
Und er unterstreicht: „Nun, wer ihn so annimmt, allein für ein Exempel eines guten Lebens, dem ist der Himmel noch verschlossen und er hat Christum noch nicht ergriffen, noch erkannt.“ Eine solche Frau, ein solcher Mann, die Christus als ein Vorbild für ihr Leben nehmen, tun gewiss viel, aber eigentlich haben sie noch gar nichts verstanden.
Deshalb endet Luther mit dem Bekenntnis: „Das andere Verständnis von Christus ist das […]: »nicht einer, der anderen vorangeht. Es ist noch viel höher mit dir: du bist Christus, der heilige Gottessohn«“ – und wechselt dabei in die Anredeform, wie sie Petrus im Gespräch mit Jesus (Matthäus 16,16) natürlich verwendet hat.
Genauso müsste das in unserer Stelle aus dem Römerbrief sein. Paulus sollte nicht etwas über Gott sagen, als könnten wir Menschen uns neben Gott stellen und über ihn scheinbar neutral überprüfbare Aussagen machen. Paulus sollte Gott anreden – dann würden seine Worte Wirklichkeit werden, uns wirklich verändern: „Welch’ Tiefe deines Reichtums und deiner Weisheit und deiner Erkenntnis, o Gott! Wie unnahbar sind deine Zuweisungen, und wie unverstehbar sind deine Wege! [...] Denn aus dir und durch dich und zu dir hin ist alles. Dir ist Ehre in Ewigkeit. Amen!“
Das ist keine Spielerei. Ich bin zutiefst überzeugt, dass alle Aussagen über Gott in der dritten Person eigentlich unangemessen sind. Wenn es stimmt – und ich denke, es stimmt –, dass niemand Gottes Geist erfasst hat und niemand in der Lage ist, ihm Ratschläge zu erteilen, dann müssen wir aufhören, so zu tun, als hätten wir „Gottesgelehrtheit“ und könnten Aussagen über Gott machen wie über einen Versuchsgegenstand. Das können wir nicht! Und weil wir das nicht können, bleibt nur die Möglichkeit, Gott anzureden: ihn groß zu machen – oder ihn mit unseren Zweifeln und Enttäuschungen zu konfrontieren.
Der christliche Glaube an den dreieinen Gott ist nichts anderes, als die Erkenntnis, dass wir das dürfen. Denn der Glaube, dass uns in Jesus Christus Gott entgegentritt, heißt, dass er unseren menschlichen Unzulänglichkeiten nicht fern ist, sondern sich ganz in sie hinein begeben hat. Und der Glaube, dass Gott als Geist in uns wirkt, bedeutet, dass unser Beten – unser Klagen und unser Bitten, unser Loben und unser Danken – Worte finden kann, die bei ihm ankommen, die Gott erreichen, weil sie von Gott selbst bewirkt sind.
Nun wollen wir ein „Trinitatis-Lied“ miteinander singen, auf dessen „Trinitatis-Charakter“ Ihr vielleicht noch nie gekommen seid: die zweite Strophe von „Ein feste Burg ist unser Gott“. Martin Luther hat gedichtet:
„Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren
es streit’ für uns der rechte Mann, den Gott hat selbst erkoren.
Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ,
der Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott,
das Feld muss er behalten.“
Habt Ihr Euch die Unlogik und zugleich theologische Richtigkeit dieser Zeilen schon einmal vergegenwärtigt?
Zuerst: Der „rechte Mann“, von „Gott selbst erkoren“ – also einer aus uns Menschen, den Gott für sein Vorhaben ausgewählt und in Dienst genommen hat.
Dann aber derselbe: Der „Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott“ – also Gott selbst, kein Mensch!
Jesus aus Nazareth, der Christus, und Gott ganz eng zusammengerückt, so dass kein Blatt Papier zwischen sie passt, ja: sie in eins gesetzt! Das ist zu erkennen, besser: zu ahnen und zu glauben. Das ist das Wesen des Christlichen!
Ihr werdet fragen: Aber, wo ist der Geist, die dritte Person Gottes, der Trinität, die wir heute doch auch bekennen und feiern? Dieser Geist ist genau dabei. Denn ohne ihn könnten wir diese tiefe Wahrheit nicht erkennen, besser: nicht ahnen, nicht glauben. Den Geist dürfen wir nicht als weitere Gestalt dazu malen, sondern der Geist ist die Kraft, die überhaupt zu diesen Glaubenseinsichten verhilft. Und die entscheidende Glaubenseinsicht, zu der er verhilft, ist die Einsicht darin, dass uns in Christus Gott entgegentritt, dass Christus das „Bild Gottes“ ist!
Je älter ich werde, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass wir uns Gott weder vorstellen noch ihn uns malen können. Alle Bilder unseres Denkens und alle Bilder unserer Maltraditionen, die ihn als menschengestaltige Person ins Bild setzen, als „alten Mann“ darstellen, sind falsch. Hier gilt ungebrochen das Zweite Gebot, das wir leider meisthin vergessen haben, weil es Luther entsprechend der alten kirchlichen Tradition bei den Zehn Geboten im Katechismus übergangen hat. Deshalb bringe ich es bewusst entsprechend der Übersetzung des biblischen Textes durch Luther selbst jetzt zu Gehör:
„Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen. [...] Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott“ – so in 2. Mose 20 und in 5. Mose 5.
Wenn wir ein Bild von Gott haben wollen, dann können wir das nur auf einem Wege bekommen: Wir müssen Christinnen und Christen werden. Denn, wenn wir das werden, lehrt uns der Geist, dass dieser Jesus aus Nazareth der Christus und das heißt, das einzige Bild Gott ist. An ihn haben wir uns zu halten: „Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ, der Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott.“
Amen.
„Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre Eure Herzen und Sinne bei Christus Jesus, unserem Herrn!“
Predigtlied: EG 362,2.
Literaturhinweis:
Martin Luther: Sermon von der Gewalt Sankt Peters, 29.6.1522, WA 10, III, 208ff.