Leben aus dem Geist? – Predigt zu Römer 8,12-17 von Andreas Pawlas

Leben aus dem Geist? – Predigt zu Römer 8,12-17 von Andreas Pawlas
8,12-17

So sind wir nun, liebe Brüder, nicht dem Fleisch schuldig, dass wir nach dem Fleisch leben. Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben müssen; wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Fleisches tötet, so werdet ihr leben. Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden.

 

Was soll wohl im Predigttext gemeint sein mit dem „Taten des Fleisches töten durch den Geist“? Und überhaupt, wann beschäftigen wir uns in unserem Alltag einmal richtig mit dem „Geist“? Häufiger können wir dagegen hören, dass uns modernen Menschen so viele „geistlose“ Tätigkeiten an Fließbändern, Werkstätten oder Amtsstuben allen Geist ausgetrieben hätten. Oder auch überlauter Krach oder überlaute Musik. Allerdings scheint es im Lande auch eine große Sehnsucht nach Geist, nach Geistvollem, nach Begeisterung zu geben. So entstehen mancherorts „geistvolle“ oder gar esoterische Zirkel. Sollte dann etwa allein denen dieser Satz in unserem Predigttext gelten: „Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder“?

Aber diese Frage lenkt die Aufmerksamkeit auf uns persönlich zurück. Denn was würden wir wohl antworten auf die Frage, was uns persönlich täglich antreibt. Was für ein Geist das ist. Jedoch, wer wollte dafür die Antwort lange nachdenken und da klingt überhaupt nichts nach „Geist“: Denn treiben uns nicht meist die ganz alltäglichen Dinge an, die wir brauchen, um unser „Fleisch“ zu erhalten und einfach zu überleben? Ja, das sind wir sozusagen unserem Leib, „Fleisch“, eben unserer materiellen Lebensgrundlage schuldig. Ist damit etwa nun die Frage erledigt? Nein, denn wir müssen doch weiterfragen, was wir dann mit unserem so erhaltenen Leben machen. Geht es dann nur wieder um weitere Lebenserhaltung oder was treibt uns da zu welchem Ziel? Ja, welcher Geist will uns treiben, wenn wir uns in unserem Beruf einsetzen, in Familie, Kirche, Vereinen oder Politik?

Natürlich wissen wir, dass sich für uns da heutzutage in der Zeit der „Neuen Unübersichtlichkeit“ viele Antwortmöglichkeiten auftun. Aber vermutlich sind wir uns alle in einem hinsichtlich des Geistes, der uns treibt, einig: Nämlich, dass es auf keinen Fall ein knechtischer Geist sein soll, der uns treibt. Nein, das wollen wir uns gefälligst verbitten. Knecht sein, das möchte doch niemand gern. Aber frei sein und Freiheit in vollen Zügen genießen, das wollen wir doch alle! Wer wollte sich da ausschließen. Geist und Freiheit, die sollen doch zusammengehören.
Überhaupt ist doch Geist und Freiheit die Grundsubstanz unserer modernen Gesellschaft und unseres modernen Staates. Wie großartig wurde deshalb vor Jahren dieser Geist der Freiheit gefeiert, der vor 227 Jahren das französische Volk zur französischen Revolution trieb und fast das ganze Europa mit hineinzog. Ja, auch Deutschland, das in seiner dreifarbigen Fahne noch immer für die drei Schlagworte der französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ demonstriert. Aber ist es heute noch dieser Geist, der uns treibt und der in stolzer und gefeierter Tradition steht? Und vor allem: Ist es etwa dieser Geist, den der Apostel Paulus meint und als Geist Gottes versteht?

Jedoch steht uns vor Augen, dass damals in der französischen Revolution und den darauf folgenden Umbrüchen, im Namen von Freiheit und Befreiung ein Blutbad nach dem anderen verübt wurde und ein Massaker nach dem anderen. Da frage ich mich schon, ob ich mich tatsächlich mit einem solchen Geist der Freiheit identifizieren möchte.

Oder ist das alles gar nicht gemeint? Gilt für uns und die Christenheit heute etwa ein ganz anderer Geist der Freiheit? Etwa der Geist der Freiheit, dem es vor allem um freien Handel, freies Kaufen und Verkaufen geht? Aber wer wollte denn verhindern können, dass sich ein solcher Geist sehr schnell in Raffgier und Geiz auflöst, wie wir es in der letzten Finanzkrise erleben mussten? Sollte darum das der Geist sein, der uns treibt?

Oder empfinden wir etwa allein den Geist der Freiheit für unser Leben, wenn wir freie Zeit oder Urlaub haben? Also Freizeit als das Beste im Leben? Nämlich alle Viere genüsslich von sich strecken nach dem Motto: Den lieben Gott einen guten Mann sein lassen.

Nichts gegen Freiheit und Freizeit, freies Kaufen und Geld verdienen –  wir dürfen doch bestimmt Gott dafür danken, dass uns das alles weitgehend möglich ist. Aber sollte das etwa der Geist sein, in dem wir auch unsere Kinder aufwachsen lassen und erziehen wollen? Worin wollen wir denn den Geist unserer Kinder anregen und schulen? Etwa, dass sie noch besser und gewitzter kaufen, handeln oder faulenzen können? Aber wie sollten sie so ihr Leben wirklich bestehen können?

Nun sagt ja mancher, dass man gar nicht früh genug damit anfangen kann, die Kinder auf den Ernst des Lebens vorzubereiten. Und offenbar ist damit nicht gemeint möglichst gelungenes Faulenzen, und möglichst viel Freiheit als Freizeit. Sondern manche meinen, dass den Kindern möglichst schnell alles Naive und Kindliche ausgetrieben werden muss. Und wozu sollte da etwa ein Händefalten und das zu Gott „Abba, lieber Vater“ rufen nützlich sein?

Wenn immer wieder Leute sagen, dass der kindliche Geist von solchen angeblich naiven Selbsttäuschungen möglichst schnell befreit werden muss, dann hat das offenkundig mit dem zu tun, was man in seinem Leben als real und damit als wirkmächtig ansieht. Und solche Leute sagen dann auch, real und wirkmächtig sei doch nur das, was wir messen, zählen, wiegen oder prüfen können. Real sei doch nur das, was wir im Portemonnaie oder in der Scheune haben.

Aber, liebe Gemeinde, wenn nur das alles real sein soll, wenn nur das der Reichtum unserer ganzen Wirklichkeit sein sollte, wären wir dann nicht  ganz arme Menschen?
Wo bliebe dann alle Freude? Die kann man doch im Portemonnaie nicht zählen!
Wo bliebe dann alles Schöne und alles Vertrauen? Denn das kann man doch nicht messen oder wiegen!
Und wo bliebe dann alle Liebe und alle Hoffnung? Das alles wäre in einer solchen verkümmerten Erbsenzähl-Realität nicht vorhanden. Und dann wären wir wirklich arm dran.

 

Für mich klingt genau eine solche armselige Realität durch in dem, was ganz am Anfang im Bibelwort mit „ Fleisch“ bezeichnet wird. Mir scheint diese armselige Realität mit „Fleisch“ gemeint zu sein, deren Auswirkungen, also „Taten“, durch den Geist überwunden, also „getötet“ werden sollen. Aber warum soll es denn notwendig sein, diese armselige Realität zu überwinden? Viele haben sich doch darin in der heutigen Zeit irgendwo eingerichtet. Jedoch schreibt uns hier der Apostel in aller scharfen Konsequenz ins Gewissen: „Wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben müssen“. Aber wieso denn?

Schauen wir hierzu allein einmal auf die Kinder. Denn wie sollten Kinder in einer armselige Erbsenzähl-Realität überleben können? So hat doch kein Kind vor seiner Geburt kritisch geprüft, ob bei den Eltern auch genügend Geld auf dem Konto ist für seine Ernährung oder ob sie beim neuesten Babywickelkurs mitgemacht haben. Kinder haben doch gar keine andere Lebenschance, als Vater und Mutter völlig zu vertrauen. Und für Kinder ist es auch gar kein Problem, Vater und Mutter mit ganzem Herzen zu lieben, sonst würden sie einfach sterben.
Und vergleichbar könnte sich ein Erwachsener kaum aus dem Haus bewegen, wenn er immer alles, was er für das Alltagsleben braucht, wie Auto, Aufzug, U-Bahn, Haus, Lebensmittel, allen nach unserem technischen Zeitalter möglichen Verlässlichkeits- und Gesundheitstests unterwerfen wollte. Vermutlich würde er drum schlicht verhungern. Offensichtlich stimmt es: Wer nicht vertrauen kann, muss sterben. Wessen Leben nicht vom Geist des Vertrauens getragen ist, der wird es verlieren.

Wenn wir uns darum davon verabschieden können, in unserem Geist allein von den Alltagsdingen bestimmt zu werden und unserem himmlischen Vater genauso vertrauen könnten, wie unsere Kinder Vater und Mutter völlig vertrauen, dann müssten wir nicht genauso vergehen wie unsere Alltagsdinge. Sondern dann könnten wir uns ganz gewiss sein, Gottes Kinder und damit Gottes Erben und Miterben Christi zu sein, denen nach allem weltlichen Leiden himmlische Herrlichkeit zugesagt ist.

Warum ist uns das nun so fremd geworden, so wie Kinder einfach zu glauben und zu leben? Sind wir in unserem Leben vielleicht zu viel enttäuscht und verletzt worden? Oder tragen wir vielleicht an Leib und Seele zu viel an Trauer, Schmerzen oder Wut mit uns herum? Wie dem auch sei, eins lehrt dabei jedenfalls die Erfahrung: dass man in der Regel von allein aus einem solchen dunklen Loch schmerzlicher Erfahrungen nicht heraus kommt. Sich allein an einem grauen Morgen vorzunehmen, „Heute will ich begeistert und fröhlich sein“, das klappt einfach nicht oder führt nur zu Verkrampfungen.

Manche sagen, was da helfen kann, ist der Mitmensch. Das ist sicherlich manchmal möglich. Aber kennen wir das nicht auch: Da steht man enttäuscht und traurig, und dann stellt sich ein munterer Mitmensch zu einem und sagt polterig so etwas wie: „Komm, so schlimm ist das doch alles gar nicht, stell dich doch nicht so an!“ Und dann schluckt man und verkriecht sich noch tiefer in sein Schneckenhaus. Nein, ein solcher polteriger Geist kann nicht immer helfen. Weder in Arbeit und Beruf, noch in Familie oder Gesellschaft.

Wirklich hilfreich kann nur ein liebevoller, einfühlsamer, herzlicher Geist sein, der einem eben nicht gewaltsam übergestülpt wird oder auf Knopfdruck von irgendwoher auf einen niederprasselt. In unserem Bibelwort heißt es deshalb ja auch: Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Und da der Geist Gottes weht, wo er will, bedeutet das weiter, dass man um Gottes guten Geist nur bitten kann. Nein,  nicht nur zu bitten, sondern  sich dann auch darauf zu verlassen, dass Gott unsere Bitte um Christi willen erhört und uns dann seinen Geist schickt, mit neuem Mut, mit neuer Kraft, mit neuem Trost und neuer Hoffnung.

Wenn man um Gottes guten Geist wirklich bitten kann, dann geschieht tatsächlich etwas. Bitte rechnen Sie jetzt nicht mit ständigen spitzen Halleluja-Rufen oder dauerhaften ekstatischen Tänzen. Aber mit einem muss und darf man ganz fest rechnen: dass sich Menschen wohltuend verändern. Dass sich das Klima untereinander und miteinander heilsam verändert, wenn Menschen tatsächlich beten, wenn Menschen tatsächlich Gott um seinen guten Geist bitten. Und dann sind sie auch gleichzeitig von Gottes Geist getrieben und dann sind sie seine Kinder. Und Besseres kann es doch wirklich nicht geben im Leben und im Sterben. Denn dann werden einem als Kind oder Erwachsenen die Augen aufgetan für Gottes ganz andere Lebenswelt, die in jeder Fröhlichkeit und in allem Schönen durchschimmern will, die in jedem Gefühl der Dankbarkeit, des Vertrauens und der Liebe uns bereits jetzt anrühren will, um uns dann als Kinder Gottes ewig wunderbar zu umhüllen und zu umschließen in seinem ewigen Reich. Dazu führe und leite uns alle Gottes guter Geist. Amen.

 

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Pastor i. R. Dr. Andreas Pawlas
Eichenweg 24
25365 Kl. Offenseth-Sparrieshoop,
Andreas.Pawlas@web.de

Perikope
28.08.2016
8,12-17

Am Ende: Gottes Erbarmen - Predigt zu Römer 9,1-8.14-16 von Martin Weeber

Am Ende: Gottes Erbarmen - Predigt zu Römer 9,1-8.14-16 von Martin Weeber
9,1-8.14-16

„So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.“

Der Apostel Paulus entfaltet eine ganz grundlegende Einsicht an einem sehr speziellen Beispiel.
Die grundlegende Einsicht gilt für alle Menschen.
Das Beispiel ist das Verhältnis zwischen Christen und Juden, oder wie man auch sagen kann: Zwischen Kirche und Israel.
An diesem Beispiel liegt Paulus freilich etwas. Hier schlägt sein Herz.
Denn er war erst Jude und wurde dann Christ.
Aber als Christ blieb er eben doch auch dem Judentum ganz eng verbunden.
Das ist jetzt alles sehr grob gesprochen, aber trifft doch den Kern der Sache.

Führen wir uns zunächst einmal die grundlegende Einsicht vor Augen:
„So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.“
So übersetzt Martin Luther. Bei aller Liebe zu Luthers Sprachkunst: Eine neuere Übersetzung ist vielleicht leichter verständlich. So übersetzt die Basisbibel:
„Es kommt also nicht darauf an, ob der Mensch etwas will oder ob er sich abmüht. Sondern es kommt allein auf Gottes Erbarmen an.“

Das hört sich gut und fromm an.
Aber es widerspricht doch unserer Alltagserfahrung.
Wir wissen doch, dass es oft sehr wohl darauf ankommt, ob wir etwas wirklich wollen und ob wir uns dafür wirklich abmühen.
„Anstrengungsbereitschaft“ nennt man das, was da verlangt ist.
In vielen Zeugnissen ist davon die Rede.
Anstrengungsbereitschaft: Das will die Lehrerin ihren Schülern beibringen. „Streng dich an, halte durch, lass nicht nach.“
„Lerne, schaffe, leiste was – dann kannste, haste, biste was.“
So sagt es das Sprichwort.
Ohne Fleiß kein Preis, ohne Anstrengung kein Erfolg.

Das ist auch protestantischen Christen über die Jahrhunderte hinweg eingetrichtert worden, und zwar mit Erfolg.
Leute, die sich in der Geschichte auskennen, sagen einem, dass deshalb in vielen protestantisch geprägten Gegenden der Wohlstand immer bemerkenswert hoch war.
Da ist was dran. Man spricht vom „protestantischen Leistungsethos.“

Aber gleichzeitig wurde uns Protestanten auch stets die Botschaft von der freien Gnade Gottes verkündigt:
Gott erweist uns seine Gnade ganz unabhängig von unseren Leistungen.

Irgendwie sind das zwei Seiten einer Medaille.
Und es ist auch genauso wie bei einer Medaille, wie bei einer Münze: Man kann nicht beide Seiten zugleich betrachten. Entweder man betrachtet die eine Seite, oder man betrachtet die andere Seite: Bild oder Zahl.
Dennoch gehört beides zusammen.

Neulich habe ich ein Ehepaar besucht. Ein nachträglicher Goldhochzeitsbesuch.
Ein sehr schönes Haus, wirklich geschmackvoll eingerichtet, schöne Bilder an der Wand. Ich kannte die beiden bis dahin nicht. Der Ehemann begann, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Und es wurde deutlich: Er hat immer viel gearbeitet, hat viel geleistet. Er kam aus kleinen Verhältnissen, aber er hat sich durch Fleiß und Klugheit nach oben gearbeitet. Seine Anstrengung war von Erfolg gekrönt.
Das ist die eine Seite der Medaille.
Irgendwann im Gespräch sagte er dann aber noch etwas. Er sagte: „Wir haben viel Glück gehabt. Wir sind dankbar.“
Das ist die andere Seite der Medaille.
Er war sich ganz klar dessen bewusst, dass es in seinem Leben viele gute Wendungen gegeben hatte, die gar nichts mit eigener Anstrengung zu tun hatten. Er sprach davon, wie ihn in seinem Leben der CVJM geprägt habe, der „Christliche Verein junger Menschen“. Und es wurde schnell deutlich, dass er die glücklichen Wendungen seines Lebens keinem anderen zuschrieb als Gott.

Am Ende kommt es doch darauf an, dass Gott es gut mit uns meint.
„So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.“
Oder noch einmal in der moderneren Übersetzung:
„Es kommt also nicht darauf an, ob der Mensch etwas will oder ob er sich abmüht. Sondern es kommt allein auf Gottes Erbarmen an.“

Zwei Seiten einer Medaille. Sie gehören zusammen.
Wie sie genau zusammengehören, das ist ganz schwierig zu beschreiben.
Vielleicht so: Wir sollen uns anstrengen. Wir sollen unsere Fähigkeiten nutzen.
Aber wir sollen immer daran denken, dass es Gott ist, der uns unsere Fähigkeiten verleiht.
Und er verleiht sie uns ja im wahrsten Sinne des Wortes.
Denn wir verfügen nicht dauerhaft über sie.
Irgendwann lässt es nach mit unserer Kraft oder mit unserer Klugheit oder mit unserem Geschick.

Also: Solange wir etwas leisten können, sollen wir auch etwas leisten.
Aber das macht uns nicht als Personen aus.
Wenn wir nichts mehr leisten können, dann sind wir bei Gott immer noch gut angesehen. Und bei unseren Mitmenschen hoffentlich auch.

Aber auch solange wir etwas leisten können, ist es wichtig, dass wir uns immer wieder dem Leistungsdruck entziehen, dass wir Pausen machen, dass wir uns Erholung gönnen. Gott selber hält uns dazu an, etwa dadurch, dass er uns mahnt, Ruhetage einzuhalten, klassisch: Den Sabbat oder den Sonntag.

So weit, so gut. Nun könnte die Predigt friedlich und erbaulich enden.
Aber da ist noch das andere Thema. Und dem können wir am heutigen Sonntag, dem sogenannten Israelsonntag, nicht ausweichen.
Da ist noch das Thema, das den Paulus so sehr bewegt: Die Sache mit den Juden und mit den Christen. Paulus war Jude und ist nun Christ. Aber er hängt immer noch an seinen jüdischen Glaubensgeschwistern.

Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit.

Was ihn als Christ von seinen jüdischen Glaubensgeschwistern trennt, ist die Einsicht, dass es am Ende nicht darauf ankommt, was wir im Leben geleistet haben, sondern darauf, dass Christus uns durch seinen Tod am Kreuz erlöst hat. Christus ist für Paulus und für alle Christen der Erlöser.

Das ist der Punkt, an dem sich der christliche und der jüdische Glaube ganz deutlich voneinander unterscheiden. Da besteht ein Unterschied, den man bei aller Liebe nicht beliebig kleinreden kann.

Und dennoch ist es bewegend, zu lesen und zu sehen, wie eng Paulus sich seinen jüdischen Geschwistern verbunden fühlt. Da besteht für ihn so etwas wie eine Verwandtschaft, die man nicht auflösen kann.

Da müssten wir nun ziemlich tief in die alttestamentlichen Familiengeschichten von Abraham und seinen Nachkommen einsteigen, um die durchaus kunstvolle Argumentation des Paulus nachvollziehen zu können. Wir müssten uns der Frage stellen, warum Gott die einen erwählt und die anderen nicht. Aber zu einer wirklich einleuchtenden Antwort würden wir da nicht kommen und ist Paulus auch nicht gekommen.

Martin Luther hat einst eine große Vorlesung über den Römerbrief gehalten. Und als er zu unserem Abschnitt und zu der Frage gekommen ist, warum Gott die einen erwählt und die anderen nicht, da hat er gesagt: „Ich würde nichts dazu sagen, wenn mich nicht die Ordnung der Vorlesung und die Pflicht dazu nötigte.“ Kurzum: Er hätte den Abschnitt am liebsten übersprungen. Ein paar Zeilen weiter schreibt er dann, es sei am besten, „dass man sich um solche Gedanken nicht kümmert.“

Wichtig scheint mir hier vor allem das Eine: Paulus weiß genau, was ihn von seinen jüdischen Glaubensgeschwistern trennt, aber er bemüht sich dennoch darum, die Verbindung nicht abreißen zu lassen. Sein wichtigster Gesichtspunkt ist dabei der, „dass Gottes Wort doch nicht hinfällig geworden sei.“ Gott hat Israel erwählt und diese Erwählung kann er doch nicht aufheben. Auf irgendeine Art und Weise wird doch Gott seinen Heilswillen auch im Blick auf Israel durchsetzen – und sei es erst am Ende der Zeit.

Es ist eine sehr gute Entwicklung, dass wir es als Christen immer mehr lernen, das zu sehen und zu würdigen, was uns mit unseren jüdischen Glaubensgeschwistern verbindet. Viel zu lange waren uns dafür die Augen verschlossen, mit furchtbaren Folgen.

Bei allen Unterschieden gehören wir doch alle in Gottes großen und guten Plan.
Das versucht Paulus auf seine Weise zu verdeutlichen, mit einer theologischen Genialität, der wir kaum gewachsen sind und die wir wahrscheinlich nur in Ansätzen nachvollziehen können.
Die Argumente des Paulus können wir im Einzelnen gar nicht immer leicht verstehen. Wichtig ist die Grundhaltung: Bei klarem Bewusstsein der Unterschiede einander doch nicht aufzugeben, einander im Blick zu behalten. Und darauf zu vertrauen, dass Gott am Ende weiß, wie er seine guten Absichten zum Ziel bringt.
Vielleicht hilft uns diese Haltung auch, mit Problemen umzugehen, die Paulus noch gar nicht im Blick haben konnte.

Perikope
31.07.2016
9,1-8.14-16

Vom Vater und seinen beiden Söhnen - Predigt zu Römer 9,1-8.14-16 von Katharina Wiefel-Jenner

Vom Vater und seinen beiden Söhnen - Predigt zu Römer 9,1-8.14-16 von Katharina Wiefel-Jenner
9,1-8.14.16

Römer 9,1-8.14-16 in der Übersetzung der Basisbibel:

Für das, was ich jetzt sage, berufe ich mich auf Christus.
Es ist die Wahrheit, ich lüge nicht. Auch mein Gewissen bezeugt es und erhält dafür die Bestätigung durch den
Heiligen Geist: Ich bin wirklich sehr traurig, ja, mir schmerzt regelrecht das Herz. Denn es geht um meine Brüder und Schwestern. Ich wünschte nur, ich könnte an ihre Stelle treten und selbst verflucht sein – ausgeschlossen aus der Gemeinschaft mit Christus. Es sind doch meine Landsleute, mein eigenes Fleisch und Blut. Sie sind doch Israeliten! Sie sind Kinder Gottes und haben Anteil an seiner Herrlichkeit. Mit ihnen hat Gott mehrfach einen Bund geschlossen. Er hat ihnen das Gesetz gegeben und sie gelehrt, ihn in rechter Weise zu verehren. Und er hat ihnen sein Versprechen gegeben.
Sie sind Nachkommen der
Stammväter, von denen auch Christus seiner irdischen Herkunft nach abstammt. Gott, der über allem steht, sei in Ewigkeit gelobt! Amen.
Es ist ja nicht so, dass Gottes Zusage hinfällig ist. Allerdings gehören nicht alle, die aus
Israel stammen, auch wirklich zu Israel. Genauso wenig sind alle Menschen, die von Abraham abstammen, auch wirklich seine Nachkommen. Sondern Gott hatte gesagt: »Die Nachkommen Isaaks sollen als deine Nachkommen gelten.« Das heißt: Die leiblichen Nachkommen von Abraham sind nicht zwangsläufig Kinder Gottes. Vielmehr gelten nur diejenigen wirklich als seine Nachkommen, die auf die Welt kamen, weil Gott es versprochen hat.
Was sollen wir dazu sagen? Etwa: »Ist Gott nicht ungerecht?« Auf keinen Fall! Er sagt ja zu
Mose: »Ich werde dem mein Erbarmen schenken, mit dem ich Erbarmen habe. Und ich werde dem mein Mitleid zeigen, mit dem ich Mitleid habe.«
Es kommt also nicht darauf an, ob der Mensch etwas will oder ob er sich abmüht. Sondern es kommt allein auf Gottes Erbarmen an.

 

„Mit dem Gottesreich ist es so: Ein Vater hatte zwei Söhne.“

Ihr meint, Ihr kennt die Geschichte schon. Ja, Ihr kennt sie schon. „Ein Vater hatte zwei Söhne.“ Jesus hat sie erzählt. Paulus hat die Geschichte auch erzählt.

„Ein Vater hatte zwei Söhne. Er liebte sie beide von ganzem Herze, den Jüngeren und den Älteren. Der eine war ihm genauso lieb wie der andere.“ Besonders Paulus hat diese Geschichte erzählt. Mit Petrus hat er sich über den Ausgang der Geschichte gestritten. Jakobus, der leibliche Bruder Jesu, war wohl auch anderer Meinung als Paulus. Aber schließlich wurde die Version von Paulus weiter erzählt.
„Ein Vater hatte also zwei Söhne. Er liebte sie beide von ganzen Herzen. Den älteren liebte er zuerst, denn er war der ältere Sohn und der Jüngere war noch gar nicht geboren. Zu ihm, dem Älteren, hat er gesagt: ‚Du bist mein geliebtes Kind.’ Nichts und niemand würde den Vater jemals davon abbringen können, seinen ältesten Sohn für immer und ewig innig zu lieben. Und auch der Sohn liebte seinen Vater innig. Lange war der ältere der Einzige – ein Einzelkind. Und so lange der Jüngere nicht geboren war, fühlte sich der Ältere als Einzelkind.
Im tiefsten seines Herzens ist er dieses Einzelkind geblieben. Doch wer wollte ihm das verübeln? In seiner Vaterliebe hatte doch niemand weiteres Platz, nicht einmal ein jüngerer Bruder. Hatte er nicht das Schönste und Beste vom Vater bekommen? Für alle Ewigkeit würde der Vater zu ihm stehen. Ihm hatte der Vater die Tora gegeben. Er bekam vom Vater das Gesetz, mit dem das Leben zum Guten führt. Alles, was zum guten Leben nötig ist, hat der Vater ihm zuerst in die Wiege gelegt. Einen ganz besonderen, einen einzigartigen Bund hatte der Vater mit ihm geschlossen.
Sicher, es gab auch schwierigere Phasen. Aber die Zeiten, als sich der Ältere wie ein pubertierender Teenager aufführte, sind vergangen. Abgesehen davon war dies lange bevor der Jüngere geboren war.
Als der Ältere noch nicht richtig verstanden hatte, was für einen grandiosen und einmaligen Vater er hat, da hatte er sich einen Dreck darum gekümmert, was der alte Herr von ihm wollte. Er hatte zwar die Tora. Gehindert hat ihn das aber nicht daran, sich lieber bei den anderen Familien umzusehen und zu überlegen, ob es nicht besser bei denen sei – die Mädchen waren schließlich hübsch. Jedes Mal, wenn er sich so richtig tief reingeritten hatte, war dann der Vater da und hat ihn wieder rausgeholt. Ein Klageschrei genügte meist und der Vater war zur Stelle rettete, bügelte die Fehler aus, beglich die Schulden, sorgte für Ruhe. Wie gesagt, das war zu einer Zeit, als der ältere Sohn noch Einzelkind war.
Schlimm waren dann die Zeiten, als der Vater erst einmal keinen Finger gerührt hat, um ihn vor den Folgen seines Leichtsinns zu bewahren. Der Sohn hätte es zwar wissen können, dass es böse enden wird, wenn man sich mit den falschen Leuten verbündet – noch dazu, weil der alte Herr ihn mehr als nur einmal gewarnt hatte.
Es war so absehbar gewesen, was passieren würde. Der Sohn fand sich im Exil wieder. Fern von zu Hause, ohne Aussicht, jemals zurückkehren zu können. Da saß er an fremden Ufern, verstummte, kein Lied kam mehr über seine Lippen. Er hängte seine Harfe in die Weidenbäume und weinte. Welches Vaterherz würde nun noch auf der Fortsetzung seiner pädagogischen Maßnahmen bestehen? Der Sohn hatte doch endlich gelernt! Zuhause würde er – da konnte man sich nun sicher sein – endlich die richtigen Worte finden, die richtigen Dinge tun, das Haus des Vaters wieder aufbauen und sich nicht mehr mit den falschen Leuten einlassen. Selbst dann nicht, wenn es unbequem würde, selbst dann nicht, wenn die üblen Schläger vom anderen Ende der Stadt ihn verprügeln und die Lügner aus der Nachbarschaft ihn mit Klagen überziehen und erpressen würden. Nein, endlich hatte er verstanden, wie großartig der Vater ist. Endlich versuchte er alles, um die Liebe des Vaters zu erwidern.“

Aus der Sicht des älteren Sohnes könnte die Geschichte hier enden. Dann aber wurde der Jüngere geboren. Wenn Paulus diese Geschichte erzählt, geht sie so weiter:
„Mit dem Gottesreich ist es so: Der ältere Sohn war und blieb das innig geliebte Kind seines Vaters. Und als die Zeit erfüllt war, wurde der jüngere Sohn geboren. Ihn liebte der Vater so sehr, dass er ihm die ganze Welt zu Füßen legte. Alle, die im Himmel und auf der Erde und unter der Erde sind, sollten ihre Knie vor ihm beugen. Alles, was in dieser Welt seufzt und sehnlich nach Befreiung schreit, würde durch ihn erlöst werden. Alles, was jemals dem Tod diente, würde durch ihn zum Leben bekehrt. Der Tod würde nicht mehr sein. So sehr liebte der Vater den jüngeren Sohn, dass seine Liebe die Pforten der Hölle zuschlossen.
Und als die Zeit ins Land gegangen war, hatten beide Söhne wiederum Kinder. Sie gehörten alle dazu, die Kindes des Älteren wie die Kinder des Jüngeren. Aber sie verstanden einander nicht. Die Kinder des älteren Sohnes glaubten nicht, dass die Liebe des Vaters zum Jüngeren die Hölle zufrieren ließ, sie glaubten nicht daran, dass sich vor dem Jüngeren die Knie aller im Himmel, auf der Erde und unter der Erde beugen. Sie glaubten nicht, dass mit dem Jüngeren der Tod an sein Ende gekommen ist. Sie bestanden darauf, dass nur die Liebe des Vaters zum Älteren zählt. Für sie war nur das Versprechen des Vaters an den älteren Sohn gültig.“

Paulus erzählt die Geschichte. Es ist seine eigene Geschichte. Er gehörte zu den Kindern des Jüngeren. Sein ganzes Apostelleben hat er darum gerungen, dass die Kinder des Älteren die Liebe des Vaters zum Jüngeren anerkennen. Die ganze Welt sollte durch ihn diese Geschichte erfahren. Unter Schmerzen musste er einsehen, dass er die Kinder des Älteren nicht von der Liebe des Vaters zu Jesus Christus überzeugen konnte. Sie blieben bei ihrer Liebe zum Vater.

Ihr habt es längst gemerkt: Es ist nicht nur die Geschichte von Paulus. Der Apostel erzählt uns unsere Geschichte. Auch wir gehören zu den Kindern des Jüngeren, denn so geht es weiter:
„Mit dem Reich Gottes aber ist es so: Gott ist der Vater. Jakob-Israel ist der ältere Sohn und Jesus ist der jüngere. Gott bleibt bei seiner innigen Liebe zu beiden, denn seine Liebe ist größer als unsere Herzen. Sie ist ewig und treu, denn er ist ewig und treu. Voller Mitleid erbarmt sich Gott beider und der Tod wird nicht mehr sein. Am Ende aber werden dann alle einsehen: Gottes Liebe lässt sich nicht trennen, nicht aufteilen und auch nicht gegeneinander aufrechnen.

„Mit dem Gottesreich ist es so: Ein Vater hatte zwei Söhne. Er liebte beide innig.“
Und Paulus wird mit seiner Version der Geschichte rechtbehalten - auf seine typische Paulus-Art. Amen.

Perikope
31.07.2016
9,1-8.14.16

Die Gotteskindschaft des jüdischen Volkes – Gottesdienstentwurf und Lesepredigt zu Römer 9,1-5 zum Israelsonntag von Ursula Rudnick

Die Gotteskindschaft des jüdischen Volkes – Gottesdienstentwurf und Lesepredigt zu Römer 9,1-5 zum Israelsonntag von Ursula Rudnick
9,1-5

Gottesdienstentwurf

Bei der ersten biblischen Lesung aus Exodus 19 schlage ich vor, die Lesung um zwei Verse zu erweitern und sie somit nicht nur auf Gottes Rede zu beschränken, sondern auch die Antwort des Volkes einzuschließen. Beim Predigttext schlage ich eine Kürzung der Lesung vor, da sich die ausgearbeitete Predigt auf die Verse Röm 9,1-5 beschränkt.

Orgelvorspiel

Begrüßung:
„Wohl dem Volk, dessen Gott der HERR ist, dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat.“ Mit diesen Worten aus Psalm 33,12 begrüße ich Sie herzlich am Israelsonntag.

An diesem Sonntag feiern wir die Treue Gottes zu seinem Volk Israel, dem jüdischen Volk.
„Israel“ – das ist der Name Jakobs, den er nach dem Kampf am Jabbok von Gott erhielt und es ist der Name des jüdischen Volkes. Unsere Beziehung zu Jüdinnen und Juden steht im Mittelpunkt dieses Gottesdienstes.

In der Lesung aus dem 2. Buch Mose vergegenwärtigen wir, wie Gott seinen Bund mit Israel am Sinai schließt. In der Lesung des Evangeliums bekräftigt Jesus das höchste Gebot: Gottes- und Nächstenliebe, und Paulus hält die Auszeichnungen Israels fest, die auch nach Jesu Tod und Auferweckung gültig bleiben.

Wir feiern diesen Gottesdienst im Namen des dreieinigen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Lied: Gott ist gegenwärtig (eg 165,1-4)

Psalm 111 (im Wechsel mit der Gemeinde)

Ehr sei dem Vater

Kyrie

Ehre sei Gott

Allein Gott in der Höh

Gebet

Gott,
wir sind zusammengekommen, um Dich zu loben und zu preisen.
Wir sehen das Werk Deiner Hände und freuen uns an ihm.
Wir danken Dir für das Gute, wir danken Dir für dein Wort.

Gott,
öffne uns Augen und Ohren, sende uns Deinen Geist.
Dies beten wir durch Jesus Christus unseren Herrn. Amen.

Lesung: Exodus 19,1-8

Lied: Nun danket Gott (eg 290,1.3-6)

Lesung: Markus 12,28-34

Lied: Wir glauben Gott im höchsten Thron (eg 184,1-5) (gesungenes Credo)

Predigt zu Römer 9,1-5

Liebe Schwestern und Brüder,

Paulus, der Apostel der Völker. Er hätte gut in die heutige Zeit gepasst, denn Paulus weiß sich zu inszenieren. Denken Sie an seine Berufung: Die dramatische und höchst einprägsame Geschichte. Wer sie einmal gehört hat, vergisst sie nicht so schnell: Die Wandlung des Paulus vom Verfolger der Jesus- Gläubigen hin zum engagierten Botschafter Christi unter den Völkern.

Paulus würde gut in heutige Talk-Shows passen. Er ist streitbar, lässt sich von niemandem ins Bockshorn jagen und vertritt seine Position engagiert.

Sein Credo: Die frohe Nachricht vom Gott Israels gilt nicht allein dem Volk Israel, sondern mit der Auferweckung Jesu Christi auch den Völkern.

Unter den Propheten Israels gibt es Visionen für ein Miteinander von Israel und den Völkern. So stellt sich Micha eine Zeit vor, da nicht nur Israel, sondern auch die Völker zum Zion, zu Gottes Wohnsitz in Jerusalem, pilgern werden: „Kommt, lasst uns hinauf zum Berge des Herrn gehen und zum Hause des Gott Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir in seinen Pfaden wandeln. Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem.“ (Mi 4,2) Und dann werde Frieden herrschen, Schwerter werden zu Pflugscharen geschmiedet und jeder werde unter seinem Feigenbaum und Weinstock sitzen.

Diese Visionen sind messianische Hoffnungen, Vorstellungen einer Endzeit, die anders ist als die erlebte Gegenwart.

Wider allen Anschein sagt Paulus: Diese Hoffnung von der Versöhnung der Völker ist schon jetzt Wirklichkeit. Dieser Überzeugung widmet er sein Leben. Sie wird sein Auftrag, seine Mission.

Seine Botschaft ist in der jüdischen Gemeinschaft allerdings umstritten. Deshalb haben sich nur einige Menschen Jesus und seinen Anhängerinnen und Anhängern angeschlossen. Außerdem fragen sich Juden und Jüdinnen: Auf welche Weise können und dürfen Nicht-Juden Zugang zum Gott Israels haben?

Paulus macht sich dafür stark, dass die Menschen aus den Völkern, die durch den Glauben an Jesus Christus ihren Zugang zum Gott Israels gefunden haben, keinen Status zweiter Klasse erhalten. Dies wäre naheliegend, denn sie sind später gekommen und sie halten nicht alle Gebote der Tradition. Was für uns Christinnen und Christen heute selbstverständlich ist, dass Menschen aus den Völkern den Namen des Gottes Israels anrufen, war im 1. Jahrhundert eine umstrittene Frage.

Paulus behauptet: Die neu Hinzugekommenen sind „nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes“ (Eph 2,19), wie es der Epheserbrief so anschaulich formuliert.

Und so wie Paulus Respekt für die „Neuen“ fordert, so macht er gleichermaßen deutlich, dass die „Neuen“ keinen Anlass für Überheblichkeit gegenüber den „Alten“ haben. In komplexen Gedankengängen führt er dies – insbesondere in den Kapiteln 9-11 des Römerbriefes – aus.
Hören wir auf Worte aus dem 9. Kapitel, die Verse 1-5.

„Ich sage die Wahrheit im Gesalbten, ich lüge nicht, mein Gewissen legt dabei Zeugnis für mich ab im heiligen Geist: Ich haben großen Schmerz, und mein Herz hat unaufhörlich Kummer. Ich wünschte nämlich, selbst verflucht und so vom Gesalbten getrennt zu sein zugunsten meiner Geschwister, meiner Landsleute der Herkunft nach. Sie sind ja doch Israeliten, ihnen gehört die Kindschaft, der Glanz, die Bundesschlüsse, die Gabe der Tora, der Gottesdienst und die Verheißungen, ihnen gehören die Väter, und von ihnen kommt der Gesalbte seiner Herkunft nach. Der über allem ist, Gott: Er sei gesegnet für immer! Amen.“

Mit seinem ganzen Sein wünscht sich Paulus also, dass seine jüdischen Zeitgenossen sein Vertrauen auf Jesus, den Gesalbten Gottes, den Messias teilen. Alles würde er dafür geben: Selbst seine Zugehörigkeit zum Gesalbten.

Und doch muss er feststellen: Viele teilen seine Leidenschaft nicht. Sie glauben nicht an Jesus als Gesalbten Gottes.

Dies ist jedoch kein Grund den „Alten“, den jüdischen Geschwistern ihre Verbindung zu Gott abzusprechen.

Das jüdische Volk hat reiche Schätze. Paulus macht eine lange Liste:

  • Die Kindschaft – das heißt Gottes geliebtes Kind zu sein.
  • Der Glanz und die Herrlichkeit – das meint die Erfahrung der Gegenwart Gottes. Sie spiegelt sich im Antlitz seines Volkes.
  • Die Bundesschlüsse: Zu ihnen gehören der Noachbund, der Abrahams-Bund und in der Lesung haben wir die Geschichte des Sinaibundes gehört.
    Der Bund – das ist die Selbstverpflichtung Gottes, für sein Volk da zu sein und es durch die Zeiten hindurch zu bewahren.
  • Die Tora als Lebensmittel – als Mittel zum Leben in Freiheit: Die fünf Bücher Mose mit den Weisungen Gottes für ein gelingendes Leben in Freiheit. Zugleich bedeutet das Wort Tora „Lehre“ und meint die gesamte schriftliche und mündliche Lehre, die Moses auf dem Berg Sinai erhalten hat, also die jüdische Bibel und den Talmud.
  • Der Gottesdienst – in ihm wird Gott gelobt und immer wieder auch die Geschichte mit Gott vergegenwärtigt. Gottesdienst, das ist auch die Feier der Geschenke Gottes im Alltag.
  • Die Verheißungen – die Hoffnungen und die Versprechen auf eine Zukunft in Frieden. Sie kennen die Visionen von Jesaja, Micha und der anderen Propheten.

Die sechs Punkte, die Paulus hier benannt hat, laden ein zum Erzählen.
Und sie fordern heraus, Jüdinnen und Juden nach der Bedeutung des Bundes und der Tora heute zu fragen.

Zum Beispiel David Freund: Er ist Mitglied einer liberalen Jüdischen Gemeinde in Hove in der Nähe von Brighton und kommt jedes Jahr zur jüdisch-christlichen Bibelwoche in Ohrbeck bei Osnabrück. Einer seiner Großonkel war Landesrabbiner in Niedersachsen, sein Großvater war Direktor des jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee. Sein Vater studierte Germanistik in Göttingen und konnte sich rechtzeitig nach Großbritannien retten. Dort konnte er in den 30er-Jahren jedoch keine feste Stelle bekommen und emigrierte deshalb mit seiner Frau Kitty nach Südafrika, wo David geboren wurde. Heute lebt David in Großbritannien. Er ist ein liberaler Jude, der tief in der jüdischen Tradition verwurzelt ist.

David Freund sagt: „Der Bund ist die Grundlage meines Lebens. Er verbindet mich mit meinen Vorfahren, der Geschichte meiner Väter und Mütter. Mit der Geschichte meines Großonkels, der Rabbiner in Hannover war und mit dem Großvater, der Direktor des jüdischen Friedhofs in Berlin war. Mit der Geschichte meines Vaters, der sein Land verlassen musste, weil er Jude war. Das Leben meiner Vorfahren und auch mein Leben wären anders verlaufen, wenn ich nicht jüdisch wäre.

Der Bund ist etwas Positives. Ich erlebe ihn in der Gemeinschaft, wenn ich zur Synagoge oder zur Talmudstunde gehe. Ich versuche, so gut ich kann den Bund in meinem Alltag zu leben.
Für mich heißt dies, gegenüber Menschen eine wohlwollende Haltung zu haben und das Leben – mit allem was geschieht – positiv zu betrachten. Und es heißt für mich, für Gerechtigkeit einzutreten und auch dafür zu kämpfen, sei es in persönlichen oder politischen Fragen.
Mein Verständnis vom Bund ist nicht exklusiv: Er verbindet mich mit dem Ewigen und mit allen Menschen und Geschöpfen [...] Mit Worten lässt sich seine Bedeutung gar nicht ausdrücken. Es ist so viel und so viel mehr.“

Was für viele Menschen sich nach einem abstrakten Konzept anhört – der Bund Gottes mit dem jüdischen Volk – ist für David Freund etwas Konkretes, das einen wichtigen Teil seines Lebens ausmacht. Es ist das Fundament seines Lebens, welches auf vielfältige Weise seinen Ausdruck findet – auch und gerade im alltäglichen Leben.

Und zur Tora sagt David Freund: „Die Tora ist für mich Geschichte, Kultur und Ethik. Wichtig ist mir dabei, immer wieder neue Perspektiven zu entdecken: Fragen zu stellen. Neue Fragen zu entdecken. Immer wieder neu.“

Bund und Tora sind ein tragbares Vaterland. Heinrich Heine sprach vom portativen Vaterland. Mit dem Bund und der Tora zu leben, bedeutet eine nicht-zerstörbare geistlich-geistige Heimat zu besitzen. Es heißt, sich als Kind und Volk Gottes zu wissen, mit einem Kompass und einer Landkarte fürs Leben ausgestattet, für ein Leben in Freiheit und im Gegenüber und im Angesicht Gottes.

Es gäbe viel zu erzählen. Es gibt viel zu entdecken. Paulus zählt Schätze des Volkes Israel auf.
Sie waren im 1. Jahrhundert Schätze des Volkes Israel – und sie sind es auch in der Gegenwart.

In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten haben sich Christinnen und Christen auf den Weg in Synagogen und Lehrhäuser gemacht, haben Jüdinnen und Juden zugehört und haben viel Neues gelernt.

Wir haben theologische Urteile als Vorurteile und Falschurteile entlarvt.
Wir haben Neues entdeckt, so zum Beispiel die Freude an der Tora mit ihren Geboten.
Wir haben jüdische Tradition und Traditionen schätzen gelernt und ein zusätzliches Geschenk erhalten. Das Geschenk, auch unsere eigene Tradition in einem neuen Licht zu sehen und sie auf diese Weise besser zu verstehen.

Dies ist die Verheißung und die Aufforderung des Apostel Paulus: „Freut euch ihr Völker mit Gottes Volk!“ Ja, freuen wir uns mit Gottes Volk, mit unseren jüdischen Schwestern und Brüdern!

Wir können uns freuen, weil uns so viel miteinander verbindet. Als Juden und Christen sind wir Kinder und Geliebte Gottes, mit Abraham als unserem Vater. Wir sind als Juden und Christen erwählt und berufen, als Geschwister die Herrlichkeit Gottes zu verkünden und Gottes Willen zu tun.

Aus der Freude wächst das Gotteslob. Gott „sei gesegnet für immer!“ – so Paulus. Denn wir sind reich beschenkt. Es gilt die Schätze zu entdecken, sie miteinander zu teilen und sich an ihnen zu freuen. Amen.

Orgelmeditation (fröhlich)

Abkündigungen

Lied: Bewahre uns Gott, behüte uns Gott (eg 171,1-4)

Fürbitten:
Gott,
wir danken Dir für die Bewahrung Deines Volkes:
Du hast es aus der Knechtschaft in Israel befreit, du hast es durch die Wüste geführt, du hast den Bund mit ihm am Sinai geschlossen und gabst ihm Deine Weisung, die Tora.

Gott,
wir danken Israel für die Bewahrung Deiner Worte.
Ohne Dein Volk wüssten wir nicht von Dir.

Gott,
bewahre Dein Volk, behüte es vor Anfeindungen.
Gib uns die Kraft und den Mut, an seiner Seite zu stehen.

Gott,
lass uns teilhaben an der Freude Deiner Gebote, sodass wir als Juden und Christen Deinen Willen tun, als Partnerinnen und Partner Deinem Reich entgegen gehen. Amen.

Vaterunser

Sendung und Segen
Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen,
aber meine Gnade soll nicht von dir weichen,
und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen. (Jesaja 54,10)

Amen.

Orgelnachspiel

 

Link zu weiteren Materialien: www.kirche-judentum.de

Perikope
31.07.2016
9,1-5

Gefallen – Geküsst – Getröstet – Predigt zu Römer 6,3-8 von Maximilian Heßlein

Gefallen – Geküsst – Getröstet – Predigt zu Römer 6,3-8 von Maximilian Heßlein
6,3-8

Liebe Gemeinde,

ein heißer Sommertag. Das Fahrrad des Kindes war neu. Es glänzte in den Strahlen der Sonne. Eine erste gemeinsame Tour. Mutter und Vater, Geschwister. Auch der Hund trabte nebenher. So ging es über die Felder voran.

„Komm, lass uns um die Wette fahren! Beim Baum hinter der Kurve ist das Ziel!“ Die Geschwister traten in die Pedale. Sie nahmen Geschwindigkeit auf. Der Wind pfiff ihnen um die Ohren. Die Oberschenkel brannten vor Anstrengung. Das neue Fahrrad fuhr wie der Blitz. Das Kind war schnell. Im Wettstreit der Geschwister lag es weit in Führung. Nur noch die Kurve. Dann war das Rennen gewonnen.

Die Kurve kam. Die Kurve war eng. Die Geschwindigkeit war hoch. In der Kurve lag Schotter. Der beherzte Griff in die Vorderradbremse ließ dem Kind keine Chance. Das Fahrrad rutschte. Das Kind bremste den Sturz mit den Knien.

Nun weinte das Kind. Dicke Tränen. Die Knie aufgeschlagen. Blut lief in kleinen Bahnen das Schienbein hinab. Es tropfte auf die Erde. Heftig aufgeschürfte Schrammen.

Kindergeschichten.

„Wir werden leben!“, sagt der Paulus. Daran besteht kein Zweifel. Die Zukunft leuchtet und strahlt uns entgegen, weil diese Zukunft eine Zeit der Gegenwart Gottes ist. Gott ist da, auch wenn das Leben Schrammen und Wunden davon trägt. So hält der Apostel das fest.

Da können Sie jetzt sagen, liebe Gemeinde, und vielleicht tun Sie es auch: „Ja, schön. Das behauptet Ihr Pfarrer ja immer: Gott ist da. Die Zukunft ist offen. Wir leben. Aber wie erfahren wir das am eigenen Leib? Wie kann ich das im eigenen Leben wahrnehmen? Ist nicht vielmehr die Welt, die so viele Wunden und Striemen reißt, ist nicht viel mehr das Leben an sich ein Erweis des Gegenteils?“

Ich weiß nicht, ob Ihnen oder Euch, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, diese Frage wirklich durch den Kopf geht. Aber ich halte sie für eine sehr natürliche und normale Frage, eine Lebensfrage. Denn es gibt ja neben den Kindergeschichten auch andere Erfahrungen im Leben von uns Menschen, die auch eine schmerzhafte, dazu aber auch noch eine durchaus bedrohlichere Sprache sprechen:

Ich schaue auf den wankenden Kontinent Europa dieser Tage und sehe: Die Zukunft ist alles andere als klar. Sie liegt eher unter einem dunklen Schleier. Und dass wir auch in dieser Zukunft leben, ist noch lange nicht ausgemacht. Europa hat in den letzten Monaten, vielleicht schon in den letzten Jahren viele Kratzer und Schrammen abbekommen. Viele hat es sich auch selbst zugefügt. Wie geht es weiter? – Geht es weiter?

Ich schaue auf die Begleitung so vieler Menschen in diesen Tagen in Nah und Fern. Sie sind gezeichnet von Krankheit und Bedrohung, von Trennung und Schmerz, von Sorge, tiefer Not und Einsamkeit. Es sind tiefe Wunden des Lebens. „Wie geht es weiter?“ heißt die manchmal ausgesprochene, häufig auch zurückgehaltene und dafür im Innern umso deutlicher bewegte Frage. Geht es weiter?

Ich schaue in so viele Gesichter von Menschen, die im letzten Jahr nach Europa gekommen sind. Gekommen voller Hoffnung und Sehnsucht nach einem besseren Leben. Gekommen, weil sie eine bessere Zukunft suchen. Gekommen durch Gefahren und Not, durch Ausbeutung und Verlockung. Wenn ich aber in ihre Gesichter schaue, dann sehe ich so viel Unsicherheit und Angst, so viel Heimweh und Fremdheit. Die Last und der Druck des Lebens in der Ferne liegen so offen zutage. „Wie geht es weiter?“ steht in diesen Gesichtern. Es muss nicht ausgesprochen sein. Geht es weiter?

Es ist, nüchtern betrachtet, das ganz normale Leben in West- oder Mitteleuropa dieser Tage. Da ließen sich noch viele Beispiele anbringen von Menschen, die mit den Wassermassen dieses Sommers zu kämpfen haben. Über die Ufer getretene Flüsse, überschwemmte Straßen und Wege, von Schlamm und Dreck verwüstete Städte und Dörfer.

Ich glaube, uns allen sitzt eine tiefe Verunsicherung über das Wie und das Ob der Zukunft im Nacken. Ja, es ist mühsame Zeit.

„Wir werden leben!“, sagt der Paulus. Hören Sie es noch? Können Sie es noch hören?
Wir werden leben. Paulus spricht das gegen alle Wahrscheinlichkeit. Er setzt es gegen die Furcht und gegen das eigene Erleben. Für ihn besteht daran kein Zweifel. Es geht weiter, das Leben. Das ist auch nicht verhandelbar.

Dabei spricht der Paulus, Apostel, Überbringer der Botschaften Gottes, nicht blauäugig oder gar überheblich zu Ihnen und mir. Nein, vielmehr sieht er sehr genau, was diesem Lebenswort Gottes entgegensteht.

Und ich finde, es ist schon erstaunlich, dass dieser Paulus mit seinem zugegebenermaßen nicht einfachen Text aus dem Römerbrief doch deutlich über die Zeiten hinweg in unser Leben direkt hineinspricht.

Er benutzt dafür, das haben Sie vorhin gehört, diese schweren und großen Worte von Tod und Sünde, Kreuzigung und Grab.

Diese Worte führen ja häufig dazu, dass Menschen sagen: „Ach, das schon wieder. Jetzt kommt die Kirche wieder. Ich soll mich schlecht fühlen, mein Leben infrage stellen. Jetzt werde ich wieder klein gemacht. Nie kann ich es recht machen.“

Wie oft habe ich das schon gehört! Wie oft habe ich das in den Kommentaren der sozialen Netzwerke schon gelesen! Wie groß ist mittlerweile die Angst innerhalb der Kirche, die Begriffe zu nutzen und ihren Gehalt für uns heute zu erklären, sie zu aktualisieren.

Denn dem Paulus geht es gar nicht darum, andere klein zu machen. Viel stärker muss ich noch sagen: Es geht Gott nicht darum, den Menschen klein zu machen. Es geht der Botschaft der Bibel nicht darum.

Vielmehr beschreiben diese großen Worte, Tod und Sünde, Kreuzigung und Grab, die Realität und Wirklichkeit des Lebens. Sie sind zumindest ein Teil meines Lebens, wenn ich in diese Zeit hineinschaue.

Ich erfahre diese Dinge in den Stürzen und Wunden des Lebens. Ich erfahre sie in den hilflosen Gesichtern und in meinen eigenen erschreckten Gedanken. Diese harten und großen Worte des Paulus nämlich sind seine Worte für das, was ganz alltäglich und ganz normal in unserer Welt geschieht. In Ihrem und in meinem Leben. Immer wieder.

Tod und Sünde, Kreuzigung und Grab stehen gegen die gemeinsamen Wege, in denen unser Leben leuchten könnte. In ihnen liegen die Einsamkeit und der Verlust. In ihnen liegt das Ende.

Das weiß der Paulus. Er hat es selbst so erfahren. Zugleich aber, in diesem Wissen – und das kann in dieser Gleichzeitigkeit tatsächlich nur der Paulus in der Heiligen Schrift – wendet er diese Erkenntnis mit einem Blick auf Gott. Den hat er gesehen und diesen lehrt er uns. Paulus lehrt Sie und mich den Blick auf Gott. Er hält uns den Herrn Christus praktisch direkt vor die Nase.

Gott geht an unserer Seite und er heißt Jesus Christus. Der hat das Kreuz getragen wie wir. Der hat die Wunden und die Striemen erlitten. Der ist gefallen. Der war einsam und verlassen. Der hat aber auch den Tod überwunden, wie wir es jeden Tag wieder tun. Der hat das Leben gehalten.

Und: Der Herr Jesus Christus lebt in Ewigkeit. Wie Sie und ich in Ewigkeit leben durch ihn.

Und wenn ich das weiß, dann erkenne ich auch: Es ist so gut, dass wir heute in diesem Gottesdienst solch ein Fest des Lebens feiern. Es ist so gut, dass wir zusammen sind, uns gegenseitig mit unserer Kraft und unserem Leben spüren, unsere neuen Konfirmandinnen und Konfirmanden vorstellen und uns alle miteinander unserer Taufe erinnern. Hier und jetzt in diesem Moment weiß und erkenne ich Ihre und meine Verbindung mit dem Leben Gottes. Seine Nähe zu uns.

Wir werden leben! Das ist in diesem Raum heute mit Händen zu greifen.

Und wenn ich das sehe, dann weiß ich auch, dass dieses Leben, das der Apostel beschreibt, also nicht einfach nur ein Dahinvegetieren ist. Sondern dieses Leben, das Gott schenkt, ist ein umfassendes und gutes, ein leuchtendes und warmes. Es geht über Berge und durch tiefe Täler. Dieses Leben schlägt Wunden. Aber sie heilen auch wieder. Dazu brauchen Sie ja nur in die Gesichter Ihrer Nachbarin oder Ihres Nachbarn zu schauen.

Sie erinnern sich, liebe Gemeinde: Das Kind weinte. Dicke Tränen. Die Knie aufgeschlagen. Blut lief in kleinen Bahnen das Schienbein hinab. Es tropfte auf die Erde. Heftig aufgeschürfte Schrammen.

Endlich fuhren die Eltern heran. Die Gesichter ernst. Sehr sogar. Die Mutter stellte das Fahrrad an die Seite. Sie nahm Taschentücher und die Wasserflasche. Sie wusch den Schotter und den Sand aus dem verwundeten Leben. Das Blut gerann. Die Wunde schloss sich leicht. Ein ganz leichter Film legte sich darüber. Wie eine Glückshaut, dachte das Kind.

Als letztes gab die Mutter dem Kind einen Kuss auf das Knie. Voller Liebe. Die Tränen versiegten. Ein neues Strahlen. Ein neues Leben.

Gott spricht: Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Das Zeichen dieses Trostes Gottes, das wir als seine Menschen, als Jüngerinnen und Jünger Jesu haben, wie es die Lesung aus dem Matthäusevangelium vorhin beschrieben hat, ist die Taufe. Hier wäscht Gott alle Schrammen und Wunden rein. Und er küsst uns sanft. Voller Liebe. Sie und mich. Und dann gehen wir mit ihm in eine neue Zukunft. Amen.

Perikope
03.07.2016
6,3-8

"Ich bin getauft" - eine lebenslange Zusage - Predigt zu Römer 6,3-8 von Angelika Überrück

"Ich bin getauft" - eine lebenslange Zusage - Predigt zu Römer 6,3-8 von Angelika Überrück
6,3-8

Liebe Gemeinde,

„Ich bin getauft.“ Der 6. Sonntag nach Trinitatis, den wir heute feiern, hat als Thema die Taufe. Und so ist es schön, dass wir heute in diesem Gottesdienst Kinder taufen. Aber auch wir Erwachsenen sollen uns an diesem Sonntag daran erinnern, dass wir getauft sind und was das für uns heute bedeutet.

Der Predigttext macht es uns dabei nicht gerade einfach. Denn in ihm ist von Sünden, von Tod, Sterben und Auferstehung die Rede.

„So sind wir ja mit Christus Jesus begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln.“

Diese Worte entsprechen nicht dem, was wir heutzutage mit Taufe verbinden. Tod und Sterben gehören nicht dazu. Taufe steht doch am Lebensanfang. Sie ist für uns verbunden mit der Freude über die Geburt eines Kindes. Es ist ein fröhliches Fest. Und wer mag da an etwas anderes denken?

Andererseits: Viele Eltern suchen für ihr Kind einen Taufspruch aus, der davon redet, dass das Kind beschützt und behütet sein soll. Es macht deutlich, dass unser Leben nicht gefahrlos ist. Die fröhliche Seite ist bei der Taufe nur ein Aspekt.

„Ich bin getauft.“ schrieb Martin Luther mit Kreide vor sich auf den Tisch, wenn er Angst hatte, wenn er sich bedroht fühlte vom Teufel, vom Satan, der für ihn wirklich und real war - so wird es jedenfalls von Martin Luther berichtet.

„Ich bin getauft“ - diese drei Worte waren für ihn so etwas wie ein Talisman, ein Amulett, das ihn beschützen sollte. Und er war sich sicher, dass ihm nichts geschehen könnte, denn Gott stand an seiner Seite. Was sollte ihm da der Teufel, was könnten ihm da Menschen anhaben, wenn sie ihm Böses wollten?

Martin Luther hat in seinem Leben oft an Gott gezweifelt, an seiner Gnade. Er zweifelte daran, ob er Gott mit seinem Leben genügen konnte.

In diesen Momenten, da waren sie ihm Hilfe, diese drei Worte: „Ich bin getauft.“ Weil sie bekräftigten: Kein anderer als Gott selbst hat mir das Leben gegeben und will, dass ich lebe. Er gibt mir das Recht, so zu sein wie ich bin.

Das „Ja“ Gottes ist unverlierbar, unlösbar, bleibt für immer. Wir leben mit Gott und wir bleiben auch im Tod und darüber hinaus mit ihm verbunden. Gottes „Ja“ geht all unserem Handeln voran. Diese Gedanken gaben Martin Luther Halt für sein Leben.

„Ich bin getauft“. An den Teufel als Person glauben wir nicht mehr. Aber dass es auch heute teuflische Situationen gibt, das wird sicherlich keiner bestreiten. Diese teuflischen Situationen sind beispielsweise Momente, in denen wir zweifeln an uns und unserem Wert. Da mobbt einen jemand im Beruf oder in der Schule. Da ist eine Bewerbung nicht angekommen. Da verliert jemand seinen Job, weil er zu jung oder zu alt ist. Da putzt einen jemand herunter, weil man einen Fehler gemacht hat.

Es sind Momente, in denen wir meinen, wir hätten kein Recht auf dieser Welt zu sein. Gerade viele ältere Menschen, die sich dadurch definiert haben, dass sie für andere da waren, fühlen sich nutzlos und sinnlos, wenn sie nicht mehr aktiv sein können.

Oder es sind Momente, wo wir das Gefühl haben, alles und jeder hätte sich gegen uns verschworen, wir wären allein, hätten keinen, der uns zuhört, in den Arm nimmt, der uns mag. Jugendliche erleben das sehr intensiv. Oder Erwachsene, weil eine Beziehung in die Brüche gegangen ist. Weil eine Lebensplanung zerbrochen ist, Träume zerplatzt sind.

Es sind Momente, in denen wir das größte Unglück, das größte Leid erleben, weil ein geliebter Mensch schwer krank ist, gestorben ist oder einen schweren Unfall hatte. Es scheint nichts zu geben, was uns da heraus holen könnte. Es sind Momente, in denen wir, warum auch immer, alles in Frage stellen: uns selbst, unser Leben. Können wir in diesen teuflischen Momenten auch, wie Martin Luther, sagen oder schreiben: „Ich bin getauft.“? - Vielleicht hilft es, uns in Erinnerung zu rufen, was in diesem Symbol der Taufe drinsteckt.

Wir taufen mit Wasser. Mit ganz normalem Leitungswasser, ein wenig erwärmt, aber eben kein besonderes Wasser.

Wasser lässt Dinge wachsen. Wasser kann reinigen.

Es steht bei der Taufe aber auch stellvertretend für das, was unser Leben bedroht, was uns Angst macht. Gerade in den letzten Wochen haben wir bei den vielen Überschwemmungen erlebt, wie sehr Wasser unseren Besitz und unser Leben bedrohen kann. Wie gefährlich es ist. Früher wurden die Kinder bei ihrer Taufe ganz ins Wasser getaucht. Da wurde das handgreiflich, dass das Leben bedroht ist. Heute feiern wir manchmal Taufen in Flüssen und an Seen, die durch ihre Tiefe und Größe auch deutlich machen, dass Wasser nicht nur schön und lebensspendend ist.

Taufe ist also nicht nur ein fröhliches Fest, sondern sie lässt auch die realen Ängste um das Leben, die Angst vor dem Sterben nicht außen vor. Deshalb redet Paulus in unserem Predigttext von Tod, Sterben und Auferstehung. Er möchte deutlich machen, dass wir durch die Taufe ein von Gott bestimmtes Leben haben und am Ende unseres Lebens auf die Auferstehung hoffen können.

Wasser allein allerdings macht noch keine Taufe. Das wissen Sie.

„Das Wasser dabei allein tut´s nicht, sondern das Wort Gottes, das mit und bei dem Wasser ist, und der Glaube, der diesem Wort Gottes im Wasser traut.“ So hat Martin Luther es im Kleinen Katechismus gesagt, also in dem Büchlein, wo er alles Wichtige zusammengefasst hat, was man als erwachsener Christ wissen sollte.

Das Wort muss zum Wasser kommen. Das heißt, es genügt nicht, wenn ich unseren Täuflingen Wasser über den Kopf träufele, sondern es ist ganz wichtig, dass ich dazu sage: „Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Das Wasser steht für die Taufe im Namen des dreieinigen Gottes, deshalb wird dem Täufling dreimal Wasser über den Kopf gegossen. Und das Wort dazu macht deutlich, dass diese Handlung nicht eine menschliche ist, sondern dass Gott hier handelt.

Durch dieses „Ja“ Gottes erhalte ich Würde. Nicht Menschen, mit denen ich lebe, sagen mir, was ich wert bin. Auch nicht die Gesellschaft, in der ich wohne, auch nicht durch eine Beziehung, in der ich lebe, erfahre ich, wer ich bin. Meine Würde erhalte ich einzig und allein durch Gott. Nach seinem Bilde hat er jeden von uns erschaffen und uns seinen Atem eingehaucht. Und das macht uns würdig und wertvoll.

Wir sind so geliebt und angenommen, wie wir sind. Mit all unseren Fehlern und Mängeln, all unserem Versagen und unseren Defiziten. Wir müssen bei Gott nicht beweisen, dass wir toll sind, welche Talente und Fähigkeiten wir haben, ganz anders als in der Schule oder im Beruf. Wir müssen auch nicht verbergen, dass wir nicht perfekt sind, sondern wir dürfen so sein wie wir sind, fröhlich und traurig, schlecht gelaunt oder gut gelaunt, mit Ecken und Kanten. Gott nimmt uns so an wie wir sind.

In unserem Leben hören wir oft etwas anderes. Deshalb fällt es uns manchmal schwer anzuerkennen, dass der Satz „Ich bin getauft“ reicht. Durch die Taufe sind wir wertvoll.

Gott sagt zu den Kindern, die wir heute taufen, und auch zu jedem von Ihnen: Ihr seid toll. Ihr seid richtig so, wie Ihr seid. Ihr seid wertvoll und einmalig. Ich habe Euch lieb. Und ich bin für Dich da, Dein Leben lang.

Gott begleitet uns ein Leben lang und das eben auch in den Gefahren und den schwierigen Zeiten unseres Lebens.

In dem Tauflied „Ich bin getauft auf deinen Namen“, das wir als Wochenlied gleich nach der Predigt singen wollen, heißt es: „Mein treuer Gott, auf deiner Seite bleibt dieser Bund wohl feste stehn.“

Dieses „Ja“ Gottes hat Auswirkungen auf unser Leben. Es stellt sich jedem menschlichen „Nein!“ entgegen, das wir so oft gehört haben und hören: „Nein! Du bist es nicht wert, dass man sich für Dich einsetzt.“ Oder: „Nein! Das traue ich Dir nicht zu.“

Bei Gott gilt das „Ja“ und das bleibt bestehen, was auch immer passiert.

In seinem kleinen Katechismus hat Luther als drittes - neben Wasser und Wort - noch den Glauben genannt, der zur Taufe dazugehört: „der Glaube, der solchem Worte Gottes im Wasser traut“. Da die kleinen Kinder noch nicht wissen, was Glauben ist, bekennen sich Eltern und Paten bei der Kindertaufe zum christlichen Glauben. Sie versprechen gleichzeitig, dafür zu sorgen, dass die Kinder etwas über den Glauben erfahren, etwas lernen von der Liebe, mit der Gott uns begleitet. Das Ziel dabei ist, dass auch die Kinder irgendwann selbst zu ihrem Glauben „ja“ sagen. Dass sie nicht irgendwann einmal sagen: „Ich bin getauft – na und“, sondern dass sie spüren, was das für ihr Leben bedeutet.

„Ich bin getauft“, die drei Worte geben mir über mein Dasein hinaus eine eigene, eine unverlierbare Qualität. Sie können auch uns daran erinnern, dass nichts und niemand uns trennen kann von Gott. „Wir glauben, dass wir auch mit Jesus leben werden“, so sagt es unser Predigttext. Und das gilt, was auch immer es an Bedrohlichem und Beängstigendem im Leben geben mag.

„Ich bin getauft.“ Man sollte uns auch anmerken, dass wir getauft sind, indem wir uns so verhalten. Uns selbst gegenüber und auch den Menschen gegenüber, mit denen wir leben. Dass wir getauft sind, sollte unser Denken, Reden und Tun bestimmen. Denn durch die Taufe haben wir alles, was wir brauchen.

In dem Tauflied heißt es weiter: „Du hast zu deinem Kind und Erben, mein lieber Vater, mich erklärt; du hast die Frucht von deinem Sterben, mein treuer Heiland, mir gewährt; du willst in aller Not und Pein, o guter Geist, mein Tröster sein.“

Und darauf können wir bauen in allen Höhen und Tiefen unseres Lebens bis an unser Ende: „So leb ich dir, so sterb ich dir.“ „Ich bin getauft.“ Das wollen wir jetzt singen. Amen.

Perikope
03.07.2016
6,3-8

In seinem Namen auf dem Weg ins Leben - Predigt zu Römer 6,3-8 von Rudolf Rengstorf

In seinem Namen auf dem Weg ins Leben - Predigt zu Römer 6,3-8 von Rudolf Rengstorf
6,3-8

Wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln. Denn wenn wir mit ihm verbunden und ihm gleich geworden sind in seinem Tod, so werden wir ihm auch in der Auferstehung gleich sein.Wir wissen ja, dass unser alter Mensch mit ihm gekreuzigt ist, damit der Leib der Sünde vernichtet werde, sodass wir hinfort der Sünde nicht dienen. Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde. Sind wir aber mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden. (Römer 6,3-8)

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

Tod und Sterben – das springt einen aus diesen Sätzen ja förmlich an. Dazu auch noch der Leib der Sünde. Nein, danach steht mir heute nicht der Sinn. Warum in aller Welt soll ich mich und andere damit belasten? Und dann fragt Paulus auch noch: Ja, wisst ihr denn nicht, dass ihr dieses schwere Gepäck seit eurer Taufe mit euch herumschleppt?

Nein, lieber Paulus, dass wir uns mit unserer Taufe den Tod Christi auf den Hals gezogen haben - das gehört nicht zum Grundwissen unseres Glaubens. Und darüber habe ich, so weit ich mich erinnern kann, auch nie in einem Taufgespräch aufmerksam gemacht. Aus gutem Grund. Denn da habe ich es mit Eltern zu tun, die heilfroh über das Leben ihres Kindes sind, und die nun alles tun, damit ihr Kind unbeschwert ins Leben hineinwachsen und sich entfalten kann. Da soll ich ihnen mit Tod und Sterben kommen und vom Sündenleib ihres Kindes reden? Eine Taktlosigkeit sondergleichen, für die es auch keinerlei theologische Rechtfertigung gibt. Denn Jesus, auf den die Taufe abzielt und mit dem sie verbindet, spricht ganz anders von der Taufe. Das ist im Evangelium dieses Sonntags ganz am Ende des Matthäusevangeliums nachzulesen (Mt 28,16-20). Da erteilt Jesus seinen Jüngern den Auftrag, in alle Welt auszuschwärmen, die Menschen vertraut zu  machen mit dem, was er gesagt und getan hat und sie auf den Namen des dreieinigen Gottes zu taufen. Und dann sozusagen als sein Testament – seine Zusage: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

So also läuft das bei uns mit der Taufe, lieber Paulus!

Das war bei uns nicht anders, würde er wohl antworten. Aber unsere Täuflinge waren keine kleinen Kinder, bei denen der Akzent natürlich auf dem Geschenk des Lebens in der Nähe Jesu liegen muss. Doch wir, die wir damals getauft wurden, hatten schon mehr als genug davon erfahren, wie sehr menschliches Leben vom Tod beherrscht ist. Das Sterben vollzog sich überall vor unseren Augen, beginnend mit dem Tod so vieler kleiner Kinder, dann Seuchen und Krankheiten, denen wir ohnmächtig ausgeliefert waren. Die Allgegenwart der römischen ausbeuterischen Besatzungsmacht, die kurzen Prozess machte mit Menschen, die ihnen in die Quere kamen. Von lebensbedrohlichen Missernten und Naturkatastrophen gar nicht zu reden. Und wenn ich dabei vom Leib der Sünde rede, dann meine ich unser Leben, das daran kaputtging, das es dem Terror des Todes nicht entkam und alle Frömmigkeit nicht half - da mochtest du dich anstrengen, wie du wolltest. Gott blieb in weiter Ferne, war offenbar nur im Jenseits erreichbar.

Und dann erfuhren wir von Jesus, dem Menschen, der das Reich Gottes mitten in der Todeswelt aufleuchten ließ. Der dem Tod auch nicht entkam, aber von ihm nicht festgehalten werden konnte, weil Gott ihn zu neuem Leben erweckt hat. Einem Leben, das nicht jenseits unserer Todeswelt liegt, sondern aus dem heraus er unser Leben umzudrehen vermag. Inmitten der Todeswelt werden wir von ihm mitgenommen in seinen Tod hinein, von dem aus wir auf sein Leben zugehen, aus gottverdammten Sündern werden Töchter und Söhne Gottes, und aus ständig um sich selbst Besorgten werden Menschen, die glauben, hoffen und lieben können.

Das Bild dieses von Grund auf umgedrehten Lebens gefällt mir. Bei jedem Kirchgang wird es inszeniert. Aus der Enge, den Zwängen und dem Lärm des Alltags dort draußen nimmt die Weite und Stille des Gotteshauses uns auf. Draußen leben und arbeiten wir vom Morgen auf den Abend zu, hier bewegen wir uns vom Abend, vom Westen zum Altarraum im Osten, zum Sonnenaufgang hin. Draußen gehen wir auf den Tod als Aus und Ende unseres Lebens zu. Kein Wunder, dass wir uns – so gut es geht – vor ihm zu verstecken und zu schützen suchen. Der Gang durch die Kirche aber geht – oft auf Stufen hinab wie in eine Grabkammer – vom Ende, vom Tod aufs Leben zu. Draußen haben allein die Lebenden das Wort, die Toten sind und bleiben stumm. Dieser Raum aber wird von dem am Kreuz Gestorbenen beherrscht. In seinem Namen werden die Menschen hier angesprochen und auf seine Spur gesetzt. In seinem Namen wird hier gebetet und gesungen, Schuld bekannt und von ihr frei gesprochen. In seinem Namen werden wir beim Empfang von Brot und Wein miteinander verbunden und für das Leben draußen gesegnet.

Wie im Tode Christi das Leben beginnt, zeigt sich in der Christus-Skulptur, die Thomas Duttenhoefer für die zum Weltkulturerbe erhobene St. Michaeliskirche in Hildesheim geschaffen hat. Hoch aufgerichtet in der Ostapsis stehend. Dort, wohin sich alle Blicke richten und wohin das erste Tageslicht fällt, stellt sie den Kirchenbesuchern die Gestalt eines gemarterten und gebrochenen Menschen vor Augen.

Er, der für die Mühseligen und Beladenen gelebt hat, ist selbst Unrecht und Gewalt zum Opfer gefallen und hat alles verloren, was dem Menschen Ansehen und Würde verleiht. Das Kreuz, das ihn kaputt gemacht hat, zeichnet sich noch ab in seiner Körperhaltung, ist aber als das, was ihn festgenagelt hält, nicht mehr zu sehen. Er hebt geradezu ab von dem Pfahl unter seinen Füßen. Wird aufgerichtet und der eben noch fixierte linke Arm erhebt sich zum Segen.

Unter seinem Segen gehen wir zurück in unsere von Tod und Gottesferne beherrschte Welt als Menschen, die – weil in seinen Tod hinein Getauften – in seiner Nachfolge auf dem Weg ins Leben sind. Amen.

Perikope
03.07.2016
6,3-8

Vor dem Thron – Predigt zu Römer 14,10-13 von Kathrin Oxen

Vor dem Thron – Predigt zu Römer 14,10-13 von Kathrin Oxen
14,10-13

Da stehen sie: Ruben, Simeon, Naftali und Dan und die anderen Brüder, raue Männer, ein wenig ungelenk und eingeschüchtert von all dem Glanz, der sie hier umgibt. Da stehen sie jetzt vor diesem Thron, auf dem ihr Bruder Josef sitzt. Er hat Karriere gemacht in Ägypten. Er ist der Stellvertreter des Königs geworden. Man sieht es an den Kleidern, die er trägt. Man hört es an seiner leisen Stimme. So spricht einer, der es gewohnt ist, dass alles, was er anordnet, auch ausgeführt wird. Beinahe lautlos geschieht das. Kein Vergleich mit ihnen, deren Kehle manchmal rau ist am Abend vom Rufen nach dem Vieh und dem Antreiben ihrer Lasttiere. Da stehen sie und jetzt ist der Tag da, an dem sie nur noch Brüder sind. Ihren Vater haben sie begraben und sie sind allein miteinander, die Brüder, sich selbst überlassen. Ein Tag, der einmal kommen musste und den sie gefürchtet haben. Allein miteinander, kein Vater mehr da, der nachfragt, wo eigentlich der Bruder ist. Es ist niemand mehr da, der sie zusammenhält.

Und das ist eine Freiheit, die nicht so ist, wie sie es erwartet haben. Sie fühlt sich nicht gut an. Keine Mahnung mehr, kein Einspruch, keine Kritik an ihrem Tun und Lassen. Keiner, der einschreitet, ihren Streit schlichtet, sie schützt vor ihrem Zorn aufeinander und ihrer Wut. Die älteren Brüder und der Jüngste, der Liebling und die Zurückgesetzen, sie kommen zusammen und sie sind allein miteinander. Und sie wissen, was alles geschehen kann, wenn Brüder allein sind miteinander.

Dieser Tag ist ein Tag, der immer schon da gewesen ist. Als er damals vor ihnen stand in seinem bunten Kleid und ihnen von seinen Träumen erzählte. Als dann sie dann weggingen vom Brunnen, in den sie ihn geworfen hatten. Als sie das Geld nahmen von den Händlern und das blutige Kleid dem Vater brachten. Sie taten, was sie taten und wussten dabei: Einmal wird der Tag kommen, an dem wir nur noch Brüder sind. Das ist ein Wissen, das in die Nacht gehört, in einen unruhigen Schlaf, in die Träume, aus denen man lieber aufwachen will.
Nun knien sie vor ihm. Sein Traum ist wirklich wahr geworden. Und ihr Alptraum auch. Allein mit dem Bruder. Und da steht Josef auf von seinem Thron und kommt zu ihnen herunter. Nicht mein Platz, dieser Thron, sagt er. Ich habe nicht zu urteilen und nicht zu vollstrecken. Es steht mir nicht zu. Ich sehe nicht auf die Tage, die hinter uns liegen. Ich sehe, was jetzt am Tage ist. Was wir getan haben, haben wir getan, ihr und ich. Aber aus all unserem Bösen ist am Ende Gutes geworden. Gutes für euch und für mich.

Du aber, was richtest du deinen Bruder? Und du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes treten müssen.

Denn es steht geschrieben:
So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir wird sich beugen jedes Knie,
und jede Zunge wird sich zu Gott bekennen.
Es wird also jeder von uns für sich selbst Rechenschaft ablegen müssen vor Gott.
Wir wollen einander also nicht mehr richten! Achtet vielmehr darauf, dem Bruder keinen Anstoß zu geben und ihn nicht zu verführen.
(Übersetzung der Zürcher Bibel 2007)

Wir sind genauso gefragt, so wie Josef und seine Brüder. Wir werden angesprochen als Brüder und Schwestern. Wie lebt ihr eigentlich miteinander, in der Zeit, die uns bleibt, zwischen Leben und Sterben? Ist euer Leben ein Gerangel um den Platz auf dem Thron, ein Kampf um das Recht, Urteile zu fällen über andere?

Die einen richten gern gleich. Da gibt es Schnellverfahren gegen andere. Da ist man schnell mit einem Urteil bei der Hand. Denn es gibt in ihrer Welt nur schwarz und weiß und gut und böse und nichts dazwischen und keine Uneindeutigkeiten. Das macht das Leben schön einfach. Es wird sauber aufgeteilt in zwei Hälften und jeder kann sich seine Seite selber aussuchen.
Wer die falsche Seite gewählt hat, wird schon gewusst haben, warum, hat bestimmt auch etwas gehabt davon – und zwar etwas, worauf wir verzichten mussten. Über die Folgen seines Handelns darf sich dann aber niemand beklagen.
Die anderen dagegen würden niemals richten. Denn so einfach ist es ja nicht. Die komplizierte Welt lässt sich nicht einfach in gut und böse einteilen. Und wer das versucht, mit dem kann man eigentlich nur Mitleid haben. Solche Leute muss man bedauern, weil sie so ein schlichtes Weltbild haben und dadurch unfrei werden und in geistiger Enge leben müssen.
Gerade unter Christen sind die einen wie die anderen zu finden. Das ist schon von Anfang an so. Paulus kennt sie alle. Die Schwachen, die lieber genau einteilen und festlegen wollen, was man darf und was nicht. Und die Starken, die sich über solche einfachen Regeln und Vorschriften erheben. Sie sagen: Das kann jeder für sich entscheiden. Wir brauchen das nicht festzulegen.

Und schon zu Paulus Zeiten war es so, dass die einen wie die anderen Anspruch erhoben haben auf den Thron.
Die einen klettern mutig darauf und mustern alle, die sie vor sich haben und spüren, wie gut es ist, zu unterscheiden und zu urteilen. Wie einen das entlastet von der Unübersichtlichkeit des Lebens und der Welt.
Die anderen besetzen den Thron, indem sie ihn für leer erklären. Es gibt keine Urteile, so lautet ihr Urteil. Lächerlich machen sich doch die, die glauben, urteilen zu können. Es ist eben nicht alles einfach, nur weil man selbst eher einfach gestrickt ist.

Sie alle stehen da, wie damals Josefs Brüder. Sie stehen am Rand des Brunnens und blicken mitleidlos auf den da unten, der zu Fall gekommen sind, weil er glaubte, etwas Besseres zu sein, mehr zu wissen, mehr erreichen zu können.
Oder sie stehen da im bunten Kleid, wie Josef auf dem Thron des Pharao. Vor ihm die anderen, die die Träume nicht träumen können, die er träumte, die alltäglich bleiben und beschränkt, die anscheinend nur den Boden vor ihren Füßen sehen.
Die Anlässe für solche Verurteilungen haben sich geändert im Laufe der Zeiten. Bei Paulus damals ging es um etwas anders als bei uns heute. Es ging um eine Frage, die wir gar nicht mehr richtig nachvollziehen können. Aber strittige Fragen gibt es auch heute genug unter uns Christen. Und gleich geblieben über die Zeiten hinweg ist dieser kalte Blick auf die anderen. Die sind ja unerträglich in ihrer Sicherheit –  oder unerträglich in ihrer Unsicherheit.
Wir sind wie Brüder und Schwestern, die plötzlich alleine miteinander sind. Die um das Recht kämpfen, übereinander Urteile zu fällen. Ein Gerangel um den Thron.

Doch er ist nicht unser Platz, dieser Thron. Denn er ist nicht leer. Da ist einer. Einer, der uns zusammenhält, der mahnt und Einspruch erhebt, unser Tun und Lassen kritisiert. Einer, der einschreitet, den Streit schlichtet, der uns schützt vor unserem Zorn auf die anderen und vor unserer Wut. Einer, der immer wieder fragt: Wo ist dein Bruder, wo ist deine Schwester?
Egal, welches Gewand ich anlege, das bunte Kleid der großen Visionen, der grenzenlosen Freiheit oder die graue Uniform der Sicherheiten: Einer ist da, der mich sieht und mich fragt: Du da, im bunten Kleid, wie nutzt du eigentlich deine Freiheit? In Liebe und in Geduld mit denen, die ängstlich sind und unsicher und etwas brauchen, woran sie sich halten können? Bist du bereit, zu warten, bis sie mehr Sicherheit gewinnen und endlich mutiger werden?
Und du da, in der grauen Uniform, wie nutzt du eigentlich deine Sicherheit? In Liebe und mit Offenheit für die, die sich weiter vorwagen als du selbst, die sich genauso bemühen, das Richtige zu tun, aber dabei andere Wege gehen als du?

Einer ist da, der mich sieht und mich fragt. Ich stehe da, im bunten Kleid oder in Uniform und neben mir die Brüder und Schwestern, im bunten Kleid oder in Uniform. Sie sind anders als ich. Sie können nicht aus ihrer Haut, wie ich nicht aus meiner Haut kann. Mir kann das bunte Kleid besser gefallen oder die Uniform, aber niemand kann zu etwas gezwungen werden, was ihm oder ihr nicht passt. Das ewige Gezerre aneinander ist sinnlos.
Gefragt bin ich: Wie nutzt du deine Freiheit, wie nutzt du deine Sicherheit? Was bestimmt dein Handeln? Spürst du eine kalte Freude an der Unzulänglichkeit der anderen oder spürst du die Liebe, die geduldig ist und freundlich, die sich nicht erbittern lässt, die alles erträgt, auch die Brüder und Schwestern?

Gerade Christen tun sich schwer damit. Sie wollen nichts miteinander zu tun haben, kritisieren aneinander die Unfreiheit und geistige Enge oder die Unfähigkeit, eindeutige Antworten zu finden. Sie sind aufgeteilt in Gemeinden, Kirchen, Konfessionen und ein liebevoller Blick auf die anderen fällt schwer. Wir trennen uns, die Wege führen uns auseinander. Die einen geraten in die bunte Welt und bis an die Höfe der Mächtigen, die anderen bleiben in der Genügsamkeit des Vertrauten und Bekannten, in der kleinen Welt mit überschaubaren Herausforderungen.

Aber heute hören wir: Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes treten müssen. Eines Tages kommt ihr wieder zusammen, all ihr unterschiedlichen Geschwister, die ungelenken, die sehr gewandten, die einfachen und die anspruchsvollen. Vergesst das nicht und denkt immer daran. Denn dieser Tag soll kein Tag sein, den ihr fürchten müsst, weil unter euch die Erinnerung lebendig wird an den Brunnen, an dessen Rand ihr ohne Mitleid standet und ohne Liebe.

Kein Tag, der euch noch einmal vor Augen führt, wozu ihr fähig seid als Brüder und Schwestern, wie ihr euch gegenseitig Fallen stellt.

Und kein Tag, an dem ihr auf einen Thron klettert, der nicht euer Thron ist.

Denn der Tag kommt, an dem wir nur noch Brüder sind und Schwestern.

Amen.

(Anmerkung: 1. Mose 50, 15-21 sollte Lesung im Gottesdienst sein)

Perikope
19.06.2016
14,10-13