Abel, steh‘ auf, wir müssen neu anfangen - Predigt zu 1. Mose 4, 1-16a und Lukas 10, 25-37 Walter Meyer-Roscher
Zwei Geschichten, in denen von brutaler Gewalt, der ein Mensch zum Opfer fällt, berichtet wird, bestimmen diesen Sonntag im Kirchenjahr. Der Predigttext aus dem AT ist die uralte Erzählung von Abel, den sein Bruder Kain aus Missgunst und Überheblichkeit erschlägt. Im Sonntagsevangelium ist dann die Rede von einem Mann, der zwischen Jerusalem und Jericho unter die Räuber fällt und halbtot am Weg liegen bleibt.
Nur zwei Episoden aus einer unendlichen Geschichte von Hass und Gewalt, Brutalität und Vergeltung – einer Geschichte, die ganze Völker immer wieder in Angst und Schrecken versetzt, die uns alle nicht zur Ruhe kommen lässt? Nein, es sind keine Episoden, die man dann auch getrost vergessen könnte. Es sind vielmehr symbolische Geschichten, die einen großen Bogen vom nicht wieder gutzumachenden Anfang bis zu einer Hoffnung auf Veränderung schlagen wollen.
Am Anfang steht Kain mit seiner Tat und mit seiner scheinheilig-egoistischen Frage: Soll ich meines Bruders Hüter sein?
Abel steh auf, damit es anders anfängt zwischen uns allen – ein Wunsch, der die erste Gewalttat revidieren und unsere Geschichte von Anfang an verändern möchte. Abel steh wieder auf, dann könnten sich doch neue hoffnungsvolle Wege für ein friedliches Miteinander der Menschen auftun. Dann würde auch die alte Frage: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ eine neue Antwort finden können.
Hilde Domin gibt diesem Wunsch und dieser Hoffnung in einem Gedicht Ausdruck:
Abel steh auf, wir müssen neu anfangen.
Täglich müssen wir neu anfangen können.
Täglich muss die Antwort noch vor uns sein
Und die Antwort muss JA sein können.
Wenn du nicht aufstehst, Abel, wie soll die Antwort,
Diese einzige wichtige Antwort sich je verändern?
Wenn du nur aufstehst und sie rückgängig machst,
Die erste falsche Antwort auf die einzige Frage
Auf die es ankommt.
Steh auf, damit Kain sagt, damit er es sagen kann:
JA, ich bin dein Hüter, Bruder,
Wie sollte ich nicht dein Hüter sein?
Abel steh auf, damit es anders anfängt zwischen uns allen.
Ja, wenn die unzähligen Opfer brutaler Gewalt wieder aufstehen könnten, die Opfer von Vorurteilen und Hass. Wenn sie doch wieder aufstehen könnten, die unbarmherziger Egoismus und kalte Liebelosigkeit zu Boden getreten, in einen unverdienten Tod getrieben haben. Dann könnten wir doch mit eigenen Augen sehen, dass es im Zusammenleben von Menschen anders werden kann. Aber dieser verzweifelte Wunsch findet keine Erfüllung.
Die unschuldigen Opfer von Hass und Gewalt stehen nicht wieder auf, wie wir dies manchmal erhoffen. Abel liegt tot am Boden, und er bleibt dort auch liegen. Das ist wie ein Fluch, der unsere Menschheitsgeschichte von Anfang an belastet. Der Wunsch, er könnte wieder aufstehen und damit das Geschehen von Gewalt und Totschlag rückgängig machen, wird nicht erfüllt. Und doch stirbt die Hoffnung nicht, dass es einmal anders und neu zwischen uns allen anfangen könnte, dass Hass und Gewalt unser Zusammenleben nicht endgültig zerstören, dass Egoismus und Lieblosigkeit nicht das letzte Wort haben.
Diese Hoffnung greift Jesus im Sonntagsevangelium auf. Er kleidet sie in eine gleichnishafte Erzählung, die Geschichte vom barmherzigen Samariter. Seltsamerweise erwähnt Jesus die Gewalttäter nicht weiter. Jesus erzählt nur, dass ein Mann an der öden Wüstenstraße von Jerusalem nach Jericho unter die Räuber fällt. Die schlagen ihn, ziehen ihn aus und lassen ihn halbtot liegen. Dann ist von diesen Tätern nicht mehr die Rede. Unser spontaner und ganz menschlicher Wunsch nach einem Eingreifen von Ordnungskräften, nach Verhaftung und gerechter Strafe, wird in diesem Gleichnis ignoriert. Die Räuber verschwinden in der Anonymität, aus der sie so plötzlich aufgetaucht sind. Offenbar geht es Jesus nicht um die Täter, sondern um die, die auf die Tat und das unschuldige Opfer zukommen.
Der Priester und der Levit, offizielle Vertreter der Religion, rechtschaffene, geachtete und sicher auch fromme Menschen sehen das Opfer und sehen weg. Warum?
Wir wissen es nicht. Jesus sagt es auch nicht. Wir wissen nur: Beide sind „Gottesdiener“, vertraut mit der Ordnung und Liturgie des Gottesdienstes. Beide kennen Gottes Gebote und sind auch mit ihrer Auslegung vertraut. Aber sie sehen weg – aus Angst, dass auch sie an dieser gefährlichen Straße zu Opfern brutaler Gewalt werden könnten? Vielleicht! Aus Gleichgültigkeit, weil sie Anderes und ihrer Meinung nach Wichtigeres zu bedenken haben? Oder weil sie sich nicht zuständig fühlen und die erste Fürsorge lieber denen überlassen, die dafür ausgebildet sind und deren Beruf die professionelle Hilfe ist? Es gibt viele denkbare Gründe und nicht wenige berühren, treffen uns, treffen eine Mentalität, die sich in unserer Gesellschaft breit gemacht hat: Wegsehen, sich nicht angesprochen fühlen, anderen die Verantwortung zuschieben. Soll denn ausgerechnet ich meines Bruders Hüter sein?
Vielleicht ist ja das Wegsehen für Jesus eine besondere Form der Eskalation von Gewalt in unserer Welt. Abel steht nicht wieder auf. Aber der eigentliche Skandal ist, dass immer mehr Menschen sich von den Opfern an der Straße der Gewalt gar nicht mehr angesprochen fühlen, dass sie wegsehen, dass menschliches Mitgefühl verloren geht.
Der Samariter hätte durchaus einen Grund wegzusehen und vorüberzugehen. Der da halbtot an der Straße liegt, ist ein Mann aus dem jüdischen Volk, und er, der Samariter, ist nur ein Fremder, der nicht dazugehört. Seine Volks- und Glaubensgemeinschaft ist nur eine kleine Randgruppe mitten im Gebiet der großen jüdischen Glaubensgemeinschaft, immer wieder ausgegrenzt, diskriminiert, mit Missachtung gestraft.
Ausgerechnet dieser Fremde hat einen wachen Blick für das Leiden anderer und ein offenes Herz, das mitfühlt und mitleidet. Das unschuldige Opfer jammert ihn, so drückt es Jesus aus. Seine Gefühle richten sich unmittelbar auf den, der seine Zuwendung und Hilfe braucht. Da fallen die Schranken, die zwischen Menschen und menschlichen Gemeinschaften gezogen werden und uns dann oft das Leiden anderer gar nicht empfinden lassen: Die gehören nicht zu uns, zu weit weg oder auch selbst schuld – und wie die Ausflüchte auch heißen mögen, um sich das Elend derer, die unter die Gewalttäter gefallen sind, vom Leibe zu halten.
Auf der Straße der Gewalt nicht die Augen verschließen, sondern hinsehen, mitfühlen und da helfen, wo wir die Nächsten sind. Das will Jesus am Beispiel des Samariters verdeutlichen. Nicht am Ausmaß und an der Eskalation der Gewalt verzweifeln, sich nicht in eine egoistische Resignation zurückziehen, sondern da helfen, wo es unmittelbar notwendig ist. Nächstenliebe richtet sich immer auf den, der vor unseren Augen unter Gewalt und Hilflosigkeit leidet. Der Mann, dem der Samariter so fürsorglich hilft, mit Versorgung der Wunden, mit Nahrung und mit finanzieller Hilfe – dieser Mann kann im Gegensatz zu Abel wieder aufstehen, obwohl er schon halbtot am Boden lag. Da konnte sich etwas verändern im Leben eines Gewaltopfers, weil ein anderer hingesehen und erkannt hat: Ich bin ja sein Nächster. Ja, ich bin meines Bruders Hüter und ich frage nicht mehr nach seiner Rasse, seiner Volkszugehörigkeit, seiner Religion.
Hier muss eure Hoffnung ansetzen, sagt Jesus. Ihr selbst könnt sie gestalten durch Hinsehen und Zuwendung, durch Mitfühlen, Mitleiden und Fürsorge. Für die, die immer nur auf das schreckliche Ausmaß der Gewalt in unserer Welt starren und die dabei gleichgültig werden, mag das keine die Verhältnisse umkehrende Veränderung sein. Aber es ist die Möglichkeit, eine Antwort auf die Anfangsfrage des Schriftgelehrten im Sonntagsevangelium zu finden: Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe.
Für euch, sagt Jesus, ist die Nächstenliebe, wie der Samariter sie beispielhaft gestaltet, die beste Möglichkeit, den Weg in erfülltes, sinnvolles mitmenschliches Leben zu finden. Dazu gehört die neue Antwort auf die uralte Kainsfrage „Soll ich meines Bruder Hüter sein?“:
JA, ich bin dein Hüter, wie sollte ich nicht dein Hüter sein?!
Amen
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Jenseits von Eden – Predigt zu 1. Mose 4,1-16 von Martin M. Penzoldt
1. Mose 4, 1 – 16 (V 16 unverstümmelt).
Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain (und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit dem Herren.) Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann. Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist es nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. Kain aber sprach zu dem HERRN: Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir's gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet. Aber der HERR sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.
Liebe Gemeinde,
wenn diese Geschichte eine Farbe hätte, dann wäre sie dunkelgelb. Gelb: Die Farbe des Neids. Diese Geschichte trieft vor Neid.Wir reden kirchens gern von Güte, Gemeinschaft, Liebe und Hoffnung. Doch die Bibel redet gleich am Anfang von Sündenfall und Mord. Sie redet davon, dass der Mensch für den anderen Menschen ein Wolf ist, der ihm alles nehmen möchte - sogar das Leben. Eigentlich wollen wir nicht Teil einer solchen Geschichte sein. Eigentlich wollen wir die Paradiesgeschichte weiterleben. Und das ginge auch, wenn nur, ja wenn nur der Nachbar nicht wäre. Und was wären wir für eine tolle Familie, wenn nicht die Schwiegermutter wäre. Zwistigkeiten, Argwohn, Lügen und Missgunst umgeben uns. Wie könnten wir da souverän, gütig, duldsam und vergebungsbereit sein? Wir müssen uns abgrenzen und unser Paradies retten – und können es nicht. Es ist ja der eigene Bruder, die Schwester, die über uns triumphieren. Es sind ja die eigenen Eltern, die uns unsere Geschwister vorziehen. Ja, und es ist‚ Gott, der uns nicht sieht und keine Gerechtigkeit schafft. Haben wir nicht verdient einmal so richtig Glück zu haben? Haben wir nicht alles getan, um Anerkennung und Erfolg zu erringen? Und doch scheint es so, als ob immer die anderen das große Los ziehen. Was geschah als wir ganz alleine waren und keiner uns ansah? Wie tief reichen solche Kränkungen und bestimmen das Leben! Mancher Erbstreit ist ein spätes Echo auf Neidgefühle in jungen Jahren. Kein Außenstehender kann das je verstehen. Kaum einer kann helfen.
Und wenn wir uns in der Welt umblicken: Was würden wir sehen in dieser Welt? Da sähen wir die aberwitzigsten Kämpfe, die Gräber der Toten, Millionen Hungernde, Hass und Zank, Neid und Missgunst. Dabei: Die Erde gibt allen genug, dass sie davon leben können. Könnten! Warum können wir das - in drei Gottes Namen - nicht sehen?
Kain und Abel, das ist weit mehr, als ein Kriminalfall. Es ist die Fortsetzung des Sündenfalls. Missbrauch der Freiheit, die Gott dem Menschen gegeben hat. Der wendet sich gegen Gott und wendet sich gegen andere Menschen. Die Sünde also im Erbe - so könnte man das in dunklen Farben ausmalen. Aber das ist nicht alleinbestimmend für das Bild vom Menschen: die biblische Überlieferung kennt auch seine Kooperationsbereitschaft, sie rühmt seine Liebesfähigkeit des Menschen in vielen Farben und baut letztlich auf seine im Geist erneuerte Geschwisterlichkeit. Es muss also schon etwas sehr Schlimmes vorfallen, um dieses Bild zu verdunkeln: Neid und Eifersucht! Der Neid unter Menschen ist eine tödliche Kraft. Nichts stillt seine Sucht, denn er will immer genau nur das haben was der andere hat.
Ein Schäfer, ein Ackermann, beide frei in der Natur unter offenem Himmel, der eine mühsam in der Erde grubelnd, der andere immer in Sorge um jedes seiner Tiere. Beide mit geschärftem Blick auf das Wetter und die Raubtiere, dabei auf engem Raum angebunden, urbestimmten Bräuchen verpflichtet. Beide Spießbürger in gutem Sinn. Jeder gibt sein Bestes. Jeder will auch gut dastehen vor all den anderen. Es bleibt ja nichts verborgen, wenn man so eng aufeinander lebt. Aber nicht alles gelingt und einer von beiden fällt immer weiter zurück. Es ist Erntezeit, Zeit der Abrechnung, und einer steht blamiert. Im Augenblick der größten Öffentlichkeit, beim Opfern des Jahresertrages, erfährt sich Kain bloßgestellt: Nimmt Gott nur das Opfer von Abel an? Vielleicht hat Kain das überhaupt nicht vorausgesehen. Vielleicht hat er sich vom Bruder, von allen und von Gott geliebt gefühlt. Und auf einmal wird ihm alle Liebe entzogen. Und Scham ergreift ihn. Früher hat man Menschen öffentlich an den Pranger gestellt, um sie zu bestrafen und sie vor allem spüren zu lassen, wie viele Menschen sie geschädigt und enttäuscht hatten. Kain ist wie von allen guten Geistern verlassen. Warum er? Er weiß es nicht. Gott und seine unerträgliche Willkür einerseits! Andererseits hat Kain die Kraft und die Freiheit, die Situation anzunehmen. Wenn du fromm bist', also wenn du aufrecht bist, so heißt es, kannst du auch mit einer solchen Situation leben. Auch angesichts der größten Ungerechtigkeit - und was könnte größer sein als die Ungerechtigkeit Gottes - kann der Mensch gerecht und gut bleiben. Das Gute wiegt schwer. Und letztlich wird sich auch Gott am Ende aller Zeiten nach dem Guten richten. „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüder, das habt ihr mir getan.“ Mt 25,40 (Wochenspruch. Lesung: Lk 10,25ff.)
Aber Kain kann gute Worte jetzt nicht hören. Er ist außer sich. Kain, der Handwerker und Bauer, er sieht nicht mehr was er hat und kann. Wenn er, der Ältere, nicht auch im Erfolg vorne steht, dann ist alles nichts. Er sieht sich nur noch als den Benachteiligten und Zurückgestellten und bleibt im Teufelskreis seiner gelb-dumpfen Gefühle. Und so wird er, statt sich zu beherrschen, aus Neid zum Mörder am eigenen Bruder,
Gott verhindert die Tat nicht. Aber er vergilt sie auch nicht mit Tötung. Aber von nun an irrt Kain - irrt durch die Lande, wird lange nicht sesshaft, ein Nomade also, wie es von Abram heißt: unser Urvater war ein herumirrender Nomade. Kain fällt vom Bauern (neolithische Revolution) eine Kulturstufe zurück zum Nomaden und ist doch mit einem Mal allen voraus, denn jenseits von Eden (V16) gründet er die allererste Stadt (V17) und damit d e n Inbegriff auch des modernen Nomadentums.
Wenn Gott weder Abel schützt noch Kain entsprechend bestraft, und so die Menschen ganz auf sich gestellt sind und das Ergebnis ist Mord und ewiges Herumirren, haben wir nicht alle von Gott zu viel Freiheit erhalten, mehr als wir aushalten??
Ja, es ist eine Freiheit, die in ihrer Unermesslichkeit fasziniert – und in ihren Folgen blankes Entsetzten auslösen kann. Wir sind nicht Gottes Roboter, die auf der Weltenbühne ferngelenkt durchs Leben geführt werden. Vielmehr schuf Gott den Menschen als sein Abbild. Gott hat sich die Freiheit genommen, sich mit dem Menschen ein freies Gegenüber zu schaffen und keine Marionette. Das schließt ein, dass er Morde geschehen lässt. Gott will keine Marionetten, wohl aber will er Menschen, die verantwortlich leben - auch Kain hatte diese Chance.
Gott ermahnt den Menschen immer wieder mit Worten: "Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie." Das ist die Freiheit, die Gott für uns will, denn wir sind nicht an seinen Fäden aufgehängt. Und es heißt - und das mag bitter sein: Seine Maßstäbe annehmen, auch da, wo ich meine, zu kurz zu kommen. Seine Maßstäbe annehmen, auch wenn ich das Gefühl habe, gerade auch vor Gott zu kurz zu kommen.
Was ist, wenn mir ein neuer Vorgesetzter vor die Nase gesetzt wird, wenn ich doch weiß, ich könnte die Stelle viel besser ausfüllen? Was ist, wenn meine Kollegin die besseren Zeugnisse hat, obwohl ich meine, dass ich kompetenter bin? Die Gedanken drehen sich, es entsteht ein Strudel von Gefühlen und eigenwilligen Aufrechnungen verschaffen sich Raum. Der Eindruck setzt sich fest: Gott und das Leben sind ungerecht. Und dieses Empfinden von Ungerechtigkeit kann uns alle schnell ergreifen. Bekommen solche Gefühle Macht über mich? Oder lasse ich mir von Gott zurufen: "Sünde ist vor der Tür: Herrsche über sie." Ps 4 sagt sehr schön: „ Zürnet ihr, so sündigt nicht,
redet in eurem Herzen auf dem Lager und seid stille.“ Jeder hat die Kraft und die Freiheit böse Gedanken abzuwenden. Es gibt schon genug Tod. Und es genügt nicht den eigenen Neid zu bekämpfen, wir sollen auch nach Abel sehen und unseres Bruders, unserer Schwester Hüter sein. So heißt es seitdem allenthalben. Aber es sollte doch zu denken geben, dass selbst Gott einen Kain s o nicht von seiner Untat abhalten konnte.
Ich weiß, dass auch Jesus dazu Entscheidendes gesagt hat. Und jeder der es kann möge seine Worte beherzigen. Vielen geht es vermutlich aber dabei wie Kain, dass sie auf gute Worte nicht mehr zu hören vermögen. Nur durch eine letzte Überbietung dieser heillosen Lage ist Hilfe möglich. Der Aufruf an Kain, sich um diese Schwachen und Leidenden zu kümmern, eine Mitleidsethik also, greift hier entschieden zu kurz. Zu sehr sind viele selbst angefressen, verletzt, empört und beschämt. Ich sehe vor mir die trauernden Erben, die sich feindlich gegenüber sitzen, ich sehe die Tochter, die den Vater pflegte, der nur von seinem Sohn sprach, ich sehe das Schattenkind, das neben dem schwerkranken Bruder nichts galt, die Wut des Antragsstellers vor einer gewollt undurchschaubaren Bürokratie, die Ohnmacht der Verletzten deren Aggressor nach Recht und Gesetz frei sind.
Was also sollen wir tun? Wir deuten auf das Kreuz. Genauso wie Gott Kain bezeichnet hat zu seinem Schutz. Wir deuten auf das Bild des alle Leiden durchmessenden Gottessohnes. Hierin liegt der christliche Trost und die Gemeinschaft des Leides, die ermutigt wieder Kraft zu gewinnen und Mut zu fassen. Wer durch die Solidarität der Sterbenden das Bild des Lebendigen in sich trägt, der kann die Enge, die Angst in sich verlieren und wieder leben.
Wir sind die Kinder Adams und Evas aus dem Paradies. Wir sind aber auch die Kinder Kains aus dem Land Nod, jenseits von Eden - in Elend und Unrast. Bauern und Großstadtnomaden. Die Geschichten von Adam und Eva, von Kain und Abel erzählen wir weiter, weil sie die Option der Veränderung für unser Leben enthält. Es sind Geschichten aus erdenschwerer Zeit mit einem Keim der Hoffnung. Einer Hoffnung, die sich auf Gottes Gewähren gründet: Kain darf leben.
Die Gottesgeschichte von Kain und Abel handelt von einem Leben, das getötet wird und einem anderen Leben, das bis an den Tod gerät, bevor es von göttlichem Zeichen beschützt zu neuem Leben aufbrechen kann. Die biblischen Geschichten haben von Beginn eine Kreuzestiefe, die nicht durch Aufforderungen zu guten Werken überspielt werden darf. Die Konzentration liegt auf diesem Kreuzeszeichen +. Amen
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Kainsgefühle – Predigt zu 1. Mose 4,1-16a von Werner Grimm
Liebe Gemeinde!
„Lasset uns singen, dem Schöpfer bringen Güter und Gaben, was wir nur haben, alles sei Gotte zum Opfer gesetzt.“ Genau das haben Kain und Abel, beide, getan. Aber was dann passierte – nun, wir möchten es am liebsten gleich beiseitelegen, was schert uns dieser Vorfall aus grauer Vorzeit. Aber halt: Kain und Abel, das ist ja nicht eine singuläre Mordsgeschichte aus längst vergangener Zeit, sondern: Wir haben es mit einem Menschheitstext von Urmenschlichem zu tun: Kain und Abel schlummern bis zum heutigen Tage als gefährliche Möglichkeit in unser aller Brust. Wir sind also mit gemeint bei allem, was da erzählt wird.
Erst einmal: An der fehlenden Nestwärme liegt es nicht unbedingt, wenn einer den Weg Kains geht. Kain gehört nicht zu den unerwünschten Kindern. Kain ist, wie es in der biblischen Zeit selbstverständlich war, ein herzlich willkommen geheißener Knabe. Eva, die Mutter, habe ihm – im Rahmen eines kleinen Festakts, darf man sich vorstellen – mit einem Jauchzen seinen Namen gegeben. Kain, ruft Eva aus, zu Deutsch „Schmied“ – „Schmied“ soll ihr Erstgeborener heißen, soll also ein starker Mann werden, fähig, Pläne zu „schmieden“ und sozusagen seines Glückes Schmied zu werden. Abel dagegen bedeutet „Hauch“, „Nichtigkeit“, „ein Lüftchen“. Ahnen die Eltern, dass er der Schwächere sein wird, ein Sorgenkind, um das man sich kümmern muss, leicht wegzublasen?
In der uralten Zeit, in der die zeitlos gültige Geschichte spielt, gab es für die Menschen im Vorderen Orient zwei Berufe. Man wurde Schaf- und Ziegenhirt und lebte von Milch, Käse, Fleisch und Wolle, und alles hing davon ab, dass man fürs Vieh immer wieder Weideplätze fand zum Abgrasen. Oder man wurde ein ortsansässiger Bauer, bearbeitete den Ackerboden und lebte von den Früchten des Landes. Arbeitsteilung und Austausch der Erträge gibt es in der Menschheit seit Urzeiten, so sieht es die Bibel. Ob die Arbeitsteilung bei allen Chancen, die in ihr liegen, auch dazu beiträgt, dass Menschen sich einander fremd werden, weil sie in verschiedenen Milieus leben? Wir kennen doch solche Gedanken: „Zwölf Wochen Urlaub hat die Lehrerin – die möchte ich mal haben!“ Und wir sehen nur diese eine Seite. Die Lokführer – haben die’s gut. Tagaus, tagein, durch die Technik entlastet, durch schöne Landschaften rauschen – und dann erlauben sie sich’s noch, mit einem Streik den ganzen Verkehr lahmzulegen. Und wir sehen nur diese eine Seite. Ob Sozialneid solcher Art eine Rolle spielt für das, was Kain nachher tun wird – wer weiß.
Dunkle Wolken jedenfalls ziehen auf, als sich Kain ungeliebt und zurückgesetzt fühlt. Beide wollen sie dasselbe, wollen, wozu die Opfergabe da ist: Gott danke sagen und Ihm eine Freude machen; und sie hoffen, dass er dann seinerseits auch ihnen wieder freundlich gesinnt ist. Das ist der Kreislauf des Segens. Und nun unterbricht nicht Kain diesen, sondern Gott! Verstörend, rätselhaft: Abels Gabe nimmt er an, die von Kain würdigt er keines Blickes. Das erkennt Kain übrigens nicht daran, dass bei seiner Opfergabe der Rauch nicht aufsteigt, sondern er merkt das in seiner ganzen Existenz: daran, dass die mühselige Arbeit auf dem Acker heuer erfolglos bleibt: eine totale Missernte gab’s nach ausgebliebenem Regen. Kaum reicht’s für den Lebensunterhalt, während Abels Herde in diesem Jahr besonders gut warf. Dass es dem Schwächlichen jetzt besser geht als dem, der seines Glückes Schmied sein wollte – unfassbar für einen Kain. Ein beängstigendes Gefühl beschleicht Kain: Mein Leben misslingt. Nicht denkt er daran, dass sich im nächsten Jahr die Verhältnisse schon wieder ganz anders darstellen können. Vor Augen hat er nur immer seinen jetzt reichen Bruder. Dessen Leben glückt. Der glänzt vor Freude. Es ist unbegreiflich und fast nicht auszuhalten.
An dieser dunklen Stelle versuchen fast alle Ausleger, Gott zu erklären und zu entlasten. Kain habe wohl nicht richtig oder er habe in niedriger Gesinnung geopfert. Er wäre eben von Anfang an der Böse (Sagt im Neuen Testament sogar ein Apostel!).
Auf nichts aber von alledem lenkt die ursprüngliche Erzählung vorläufig unser Augenmerk. Sie sagt lapidar nur: So ist es, so geschieht es auf dieser Welt, so ungleich verteilen sich Glück und Gelingen auf die Menschenkinder. Das ist die Wirklichkeit von Uranfang an.
Und diese Botschaft stimmt mit der Lebenserfahrung überein. So fragt doch mancher: Warum konzentriert sich alles Pech auf mich? Ich habe einen Menschen wirklich geliebt – er ist mir versagt geblieben. Es gab kein Geld mehr, dass ich den Beruf meines Lebens hätte lernen können – für meinen Bruder war es da. Warum musste ich mein ganzes Leben immer nur Menschen hergeben? Der Nachbar, wenn ich sein Geld hätte und seine Gesundheit – was würde ich daraus machen! Sie hören richtig: Immer ist das Ich betont in solchen Sätzen. Aber es ist die Ichbezogenheit des vielleicht wirklich zu kurz gekommenen Menschen. Am meisten greift „mich“ nun allerdings nicht der materielle Besitz an, den der andere mehr hat – mehr noch nagt an „mir“ etwas Elementareres: das, was der andere in sich selber ist und aus sich selber ist, was er nicht wie die Habe verlieren kann: sein Sein; seine von innen kommende Schönheit, seine Intelligenz, sein Ruhen in sich selbst, seine Festigkeit, seine Liebesfähigkeit, sein Gottvertrauen. Es ist wie eine Bedrohung, eine Verurteilung meines Lebens.
Ich denke, wenn wir nur einen Teil dieser Empfindungen von uns selber kennen, dann sind wir jetzt dagegen gefeit, einen Kain hier schon zu verdammen. Wer einem Kain moralisch kommt, hat’s wohl nie erleiden müssen – unsere Erzählung beschreibt‘ s mit einem tiefen-psychologischen Blick, bei wörtlicher Übersetzung des hebräischen Textes: „Und es wurde Kain sehr heiß vor Wut und sein Angesicht fiel herunter.“ Das macht er nicht, das überfällt ihn und überwältigt ihn. Psychosomatisch. Über die Seele erfasst es den Körper. Bald brennt der Neid und macht den Körper heiß und aufs höchste geladen und will sich entladen, will die Gerechtigkeit mit Gewalt wiederherstellen. Bald lässt tiefe Depression das Angesicht niedergeschlagen sein. Das ist ein Ausdruck für Liebesverlust: mit dem niedergeschlagenen Angesicht ist der Kontakt zu den Mitmenschen abgebrochen. Denn für ein sich austauschendes, liebe-volles Leben braucht es das erhobene, offene Angesicht: in Augen sehen, die einen liebevoll anblicken, eine beruhigende Stimme hören, einen Menschen riechen können – alles ist versammelt im Angesicht; wir leben von Angesicht zu Angesicht. Und das ewige Leben soll bekanntlich darin bestehen, dass wir Gott von Angesicht zu Angesicht schauen.
Kains Verbrechen beginnt erst da, wo er sein Leiden an Gott und der ungerechten Situation eigenmächtig und mit Gewalt beenden will. Statt seine maßlose Enttäuschung und Wut „sich von der Seele zu schreien“ – vielleicht hätte solches „Dampf ablassen“ ja schon entspannt – aber kein noch so quälendes Leiden berechtigt dazu, sich am Leib eines Menschen zu vergreifen. Jedes Menschenleben ist Geschöpf Gottes und damit unter seinen „Naturschutz“ gestellt: es ist heilig. Kain aber plant die Tötung; sehr bewusst, bei vollem Verstand, plant er das Verbrechen so, dass es nachher unentdeckt bleibt; darum lockt er Abel aufs Feld hinaus weitab von jeder Menschensiedlung. Mag sein, dass es noch einen kurzen Wortwechsel zwischen den beiden gab. Kain: „Hau ab; das ist mein Ackerboden.“ Abel: „Gut, und du – zieh deine Kleider aus. Denn die Wolle stammt von meinen Schafen!“ Und dann erschlägt Kain seinen Bruder – dort, wo das Opfer keine Chance hat, mit seinem „Hilfe!“ jemanden zu erreichen, erschlägt er ihn. (Nachher wird sich freilich herausstellen, dass es das perfekte Verbrechen nicht gibt; In der Symbolsprache der Erzählung: Abels Blut tritt für den stumm gemachten Mund des Getöteten ein, und seinen Schrei hört Gott. Und Gott ahndet das Verbrechen und sei es „nur“ durch die Ruhelosigkeit einer gehetzten Existenz, welcher der unentdeckt gebliebene Mörder zeitlebens nicht entkommt.)
Die Kainsgeschichte – nicht so müssen wir es uns merken, dass der Erste, der seinen Bruder tötete, ein gewisser Kain und Ackerbauer in einem Land des Nahen Ostens war. Sondern so: Wer immer einem Menschen das Leben nimmt oder es schwer verletzt, aus welchen Gründen auch immer – denn Kain hatte „Beweggründe“ – , der begeht Mord an einem Bruder, an einer Schwester. Ist doch die Menschheit nach Gottes Willen seine Familie.
Jesus hat das ausdrücklich auf die seelischen Verwundungen ausgedehnt und sucht damit sozusagen den Anfängen einer Gewaltgeschichte zu wehren: Brudermord begeht, wer das gemeine Wort „raka“, es ist so böse, dass ich es auf Deutsch in einer Kirche nicht ausspreche – Brudermord begeht, wer das kränkende oder gar tötende Wort auf den Nächsten schießt. Und Jesus sagt: Was man einem seiner geringsten Brüder oder Schwestern antäte, das täte man ihm an. Jesus hat sich aber auch an „Abel“ gewandt. Auch er habe manchmal die Chance, etwas zu tun für einen besseren Ausgang der Geschichte. Wenn ein „Abel“ spürt, dass der Bruder etwas gegen ihn hat, dass etwas zwischen ihnen ist, dann soll er zu ihm hin, notfalls sogar mitten auf dem Weg zum Gotteshaus umdrehen, die „Opfergabe“ liegen lassen und rasch hin zum Bruder! (Mt 5,21-24)
Nun ist es gerade diese Neuauflage der Kain-Abel-Geschichte durch Jesus, die uns alle herausfordert: Könnte man sie nicht besser zu Ende schreiben? Schon der alte Erzähler ließ Gott an einem kritischen Punkt Kain folgendermaßen fürsorglich, fast seelsorgerlich ins Gewissen sprechen: „Ist es nicht so? Wenn du dich konsequent, sozusagen vorwärts blickend, auf das Gute ausrichtest und jedenfalls stur bei der Ehrfurcht vor dem Leben als dem Unantastbaren bleibst, dann kannst du bald wieder frei aufschauen.“ Dann wird ein anderer Tag kommen, dann wird das Vergangene allmählich seine Macht verlieren und du wirst nicht „bitter-böse“ werden müssen bis ins Mark hinein.
Fragt jetzt einer: Aber wie kann ich bleiben bei der Ehrfurcht vor dem Leben dessen, der mich so arg gekränkt hat? Wie die Zurücksetzung und Demütigung aushalten? Da finden wir eine Antwort bei Paulus, dem Apostel Jesu Christi: „Ich ins Elend meiner aggressiven Wut- und Hassgefühle eingesperrter Mensch! Wer wird mich erlösen?“, hat auch er geklagt und gefragt. Und eine beglückende Antwort bekommen, für die er nicht genug danken kann: „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn!“ Im folgenden Kapitel seines Briefs an die Römer beschreibt er die Erlösung genauer als eine einzigartige Liebeserfahrung: „Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? ... Wer will uns scheiden von der Liebe Christi ... , von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8,32.35.39) Die in der „Gabe“ Jesus ergangene unüberbietbare Liebeserklärung Gottes an den Menschen befreit ‚Kain‘ von seinen Eifersuchtsdämonien und quälenden Minderwertigkeitsgefühlen. Sie befähigt ihn, in Erwiderung der Liebe buchstäblich das Angesicht zu heben und ‚liebe-voll‘ (wörtlich!) auf seine Schwestern und Brüder zu schauen und Gutes an ihnen zu tun.
Amen.
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Nur Mord und Totschlag? – Predigt zu 1. Mose 4,1-16a von Andreas Pawlas
Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des HERRN. Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann. Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist’s nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. Kain aber sprach zu dem HERRN: Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir’s gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet. Aber der HERR sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN.
Liebe Gemeinde,
Warum müssen wir denn am heutigen Sonntagmorgen wieder etwas von Mord und Totschlag hören? Unsere Medien sind doch schon voll davon! Und gibt es nicht jeden Abend „Krimis“, wo es um die Aufdeckung und Verfolgung einer Bluttat geht? Darüber hinaus fesseln so oft die Zeitungen unsere Aufmerksamkeit durch Schlagzeilen von gräßlichsten Bluttaten und bringen uns dann auf den folgenden Seiten alle üblen Details zur Kenntnis. Und jetzt, jetzt soll auch noch diese bluttriefende Welt hier in unseren Gottesdienst einbrechen, wo doch unsere wunden Seelen im Angesicht Gottes Einkehr und Frieden finden sollen und wollen. Wie sollte das auszuhalten sein!? Zudem geht doch bestimmt keiner in die Kirche, um hier vor Gottes Angesicht noch einmal dasselbe erzählt zu bekommen, was er auch außerhalb der Kirchenmauern hört. Nein, hier in der Gegenwart Gottes, da soll doch alles ganz anders sein oder werden.
Was ist also nun zu tun? Den blutigen Bericht von Kain und Abel einfach ignorieren und verschweigen? Aber warum wird er denn seit Jahrtausenden in unserer Bibel so sorgfältig überliefert? Und es muss doch Gründe dafür geben, warum dieser Bericht in der Bibel als Gottes Heiliges Wort Nahrung für unser Leben sein soll. Außerdem muss es doch Gründe dafür geben, warum dieser Bericht in unser kulturelles bzw. sprachliches Gedächtnis Einzug gehalten hat: Die Stichworte vom Bruderzwist zwischen Kain und Abel, die bohrende Frage an Kain: „Wo ist dein Bruder Abel?“ die ausweichende Antwort Kains: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ und dann das Zeichen Gottes an Kain, das Kainsmal, die gehören doch nun einmal zu uns.
Und warum gehören sie im Kern zu uns? Weil wir vielleicht selbst etwas von Kain und Abel an uns und in uns haben? Weil vielleicht dieser archaische Bericht von Kain und Abel, nicht ein antiquiertes Zeugnis für das Denken und die Lebensart alter Zeiten ist, über die wir uns weit erhaben fühlen dürfen? Ja, es spricht viel dafür, dass dieser Bericht von Kain und Abel ebenso für uns moderne Menschen so eng zu uns gehört, dass sie uns auch begleitet, wenn wir vor Gottes Angesicht für unsere Seelen Einkehr und Frieden finden wollen. Ja, weil genau wir es sind, die Frieden suchen, deshalb hat dieser mörderische Bericht hier seinen Raum.
Natürlich gibt es versierte Leute, die rücken durch kluges geschichtliches Wissen diesen Bericht etwas von uns ab, wenn sie uns aufklären, dass die Szene zwischen Kain und Abel eine archetypische Konkurrenz widerspiegelt zwischen dem Bauern Kain und dem Schäfer Abel, zwischen der Bodenständigkeit Kains und der Wandermentalität Abels. Aber damit wäre der Bericht in den Bereich des Lehrbuchwissens abgeschoben. Auch dürfte die ganze Thematik der Opferns eigentlich klug und separat zu erörtern sein.
Trotzdem sieht es für mich so aus, als würde in der Szene zwischen Kain und Abel etwas hindurchschimmern, was wir auch durchaus im heutigen Alltag erleben können. Denn wie häufig passiert es, dass der eine auf Früchte seiner Arbeit schaut, auf alle bitteren Mühen und Lasten, die er sich abgequält hat, und dann muss er erfahren: Sie sind nichts wert. Vergeblich! Umsonst gerackert! Alles für die Katz! "Kain und sein Opfer sah Gott nicht gnädig an".
Aber dann ist da der andere, ja, sogar der eigene Bruder! Und dann noch sogar der jüngere! Und dem geht alles leicht von der Hand! Dem fällt alles in den Schoß! Der muss sich nicht so sauer anstrengen. Ja, der weiß überhaupt nicht, was Sorgen sind! Was für ein leichtes, gefälliges Geschick! "Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer“.
Das ist doch ungerecht! Das darf doch nicht sein. Denn ich bin doch der Ältere, dem der Vorrang gebührt! Das darf doch nicht sein, wenn es einen Gott im Himmel gibt!
Wer könnte nicht verstehen, dass das dem Benachteiligten die Seele zerreißt, seine ganze Welt zusammenbrechen lässt. Nein, eine ungerechte Welt, die will ich nicht haben! Und einen ungerechten Gott, der willkürlich und in nicht nachvollziehbarer Weise Erfolg und Gelingen schenkt, den schon gar nicht!
Wird da nicht die ganze Empörung und Wut über Gott und die Welt zutreffend beschrieben, wenn es heißt: "Da ergrimmte Herr M. sehr und senkte finster seinen Blick“? "Da ergrimmte Frau S. sehr und senkte finster ihren Blick“?
Und wie ging das dann mit Kain weiter? Der Bauer Kain sagt listig zu dem Schäfer Abel: "Laßt uns aufs Feld gehen“. Warum auf das Feld? Etwa weil man sich da auskennt? Und macht man das heute nicht genauso? Den Rivalen auf das eigene Feld holen, auf das eigene Spezialgebiet, und dann? "Als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot" Auf eigenem Feld, auf eigenem Spezialgebiet, da läßt man Rivalen auflaufen, da zählt man ihn aus, da macht man ihn fertig. Und keiner merkt das! Die gerechte Ordnung ist wieder hergestellt - aus der Sicht Kains.
Aber dann, dann kommt unvermutet die Frage Gottes, die Frage, die das Gewissen unruhig macht, die Frage, die uns nicht schlafen lässt: "Kain, wo ist dein Bruder Abel?"
Aber die Antwort, die Ausflucht, die Ausrede, die kennen wir ja schon. Die hören wir doch andauernd: "Ich weiß nicht, soll ich meines Bruders Hüter sein? Hüter meiner Schwester, Hüter meiner Kinder, meiner Eltern Hüter meines Volkes? Hüter der Völker der Erde?
Was soll das mich denn alles angehen, ich habe doch genügend eigene Sorgen.“ Ja, alle diese Antworten und Ausreden, kennen wir schon. Kennen wir die nicht ganz genau, weil wir auch ziemlich genau wissen, was im Herzen von Kain vorgeht? Und ist es meist nicht nur eine Haaresbreite, die uns von Kain trennt?
Ich muss an ein Seminar über Schuld und Strafe denken, das ich mit einem Besuch im Gefängnis beenden ließ und mit einem Gespräch mit dortigen Häftlingen, darunter auch einem Mörder, einem freundlichen jungen Mann, der einmal nur für den Bruchteil einer Sekunde die Fassung verloren hatte und so zum Mörder geworden war. Hinterher stöhnten die Teilnehmer richtig und sagten, "Sie hätten es uns nicht so schwer machen dürfen und uns als Gesprächspartner nicht so nette Jungs präsentieren dürfen“.
Ja, offenbar ist es manchmal nur eine Haaresbreite, die uns von Kain trennt. Manchmal ist es offenbar nur kurz davor, das uns der Geduldsfaden reisst und sich unsere berechtigte Wut ihre tödlichen Weg bricht. Jeder, der einmal in aller Aufrichtigkeit in die grausigen Tiefen des eigenen Herzens geschaut hat, der weiß, wie man über sich und seine eigenen Gedanken und Gefühle erschrecken kann.
Und was bleibt nun? Bleibt da nur, unstet und flüchtig, oder mit einem Kainsmal auf der Stirn versehen auf diesem verfluchten Erdenboden zu leben? Kann das eine Lösung sein, so wie unser Bericht schließt, wie Kain hinwegzugehen von dem Angesicht des HERRN? Wie sollte das gehen, wo wir doch genau wissen, dass vor unserem Gott nichts verborgen ist und man einfach nicht weglaufen kann, vor Gott, vor seinem Nächsten, vor sich selbst?
Nein, die Antwort auf diese Frage findet sich nun nicht im Alten Testament, aber das Neue Testament gibt uns Antwort: Wenn wir auch als Menschenkinder, als Adamskinder, als Kainskinder durch Neid und Haß auch immer wieder schuldig werden vor Gott und den Menschen, es gibt einen, der hat alle unsere Schuld, all unser Elend, alles Unrecht und Last unseres Lebens getragen und weggenommen am Kreuz: es ist Jesus Christus!
Ja, wenn ich von dieser Gewissheit auch nur ein wenig angerührt bin, wie sollte ich dann überhaupt noch neidisch werden können auf meinen Bruder, Nachbarn, Konkurrenten? Dann habe ich doch schon alles für kein Leben!
Denn ich darf doch Christus glauben, daß Gott mir schon gnädig ist, mein Leben erfüllt und meine Sehnsucht stillt, noch ehe ich ihn überhaupt in Gebet und Opfer angerufen habe! Und vor allem, da geht es doch nicht nach Reihenfolge, nicht nach Vorsprung in der Opferkonkurrenz, nicht nach Tüchtigkeit, Leistung oder Altersvorsprung. Nein, es ist großartig: obwohl wir so sind, wie wir sind, und obwohl Christus uns genau kennt, wendet er sich Dir und mir zu. und will uns halten und erfüllen, trösten und führen von jetzt an.
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Segen statt Hatespeech - Predigt zu Gen 12,1-4a von Norbert Stahl
01.07.2018 zum 5. Sonntag nach Trinitatis,
Segen statt Hatespeech - Predigt zu Gen 12,1-4a von Norbert Stahl
Hatespeech vergiftet das Klima
Hatespeech – dieses Wort musste ich in den letzten Monaten neu lernen. Es kommt aus dem Englischen und heißt wörtlich übersetzt: Hassrede. Sinngemäß meint es eine hasserfüllte, andere entwertende Redeweise. Also eine Redeweise, die die Würde der Betroffenen nicht ernst nimmt. Eine Redeweise, der diese Würde egal ist.
Immer wieder kam es in den vergangenen Monaten in Deutschland zu schlimmen Ausbrüchen von Hassrede. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin wurde thematisiert, Minderheiten wurden beschimpft und schließlich die unsäglichen 12 Jahre Naziherrschaft in Deutschland kleingeredet. Ich wiederhole die wörtlichen Formulierungen hier jetzt nicht. Ich möchte nicht dazu beitragen, dass sie sich noch weiter in unsere Köpfe eingraben. Für solcherlei Ausbrüche und Provokationen musste ich das neue Wort lernen: Hatespeech.
Hatespeech ist unsachlich, vereinfachend, aggressiv, herablassend, unbarmherzig, mitleidslos. Das Phänomen scheint sich auszubreiten. Das Internet mit seinen Foren und Blogs bietet die Möglichkeiten dazu.
Das schlimme ist: Solche Redeweise hinterlässt ihre Spuren. Noch wird Hatespeech bei uns gebrandmarkt. In der Regel lösen die gemachten Aussagen eine empörte Diskussion aus. Dann wird zurückgerudert. Man habe das soo nicht gemeint, es täte einem leid, man sei missverstanden worden usw. Aber die ursprünglich ehrverletzende, Grenzen verschiebende Äußerung ist im Raum und wirkt unmerklich weiter.
Ein Mann hatte über seinen Nachbarn schlecht geredet. Dieser hatte von den Gerüchten gehört und stellte ihn zur Rede. „Ich werde es bestimmt nicht wieder tun,“ versprach der Mann. „Ich nehme alles zurück, was ich über dich erzählt habe.“ Der Nachbar schaute sein Gegenüber ernst an. „Ich verzeihe dir,“ erwiderte er. „ Jedoch verlangt deine Tat eine Wiedergutmachung.“"Ich bin gerne zu allem bereit,“ sagte der Mann zerknirscht. Da erhob sich der Nachbar, ging in sein Schlafzimmer und kam mit einem großen Kopfkissen zurück. "Trag dieses Kissen bis zu dem Haus, das hundert Schritte von meinem entfernt steht“, sagte er. "Dann schneide ein Loch in das Kissen und komme wieder zurück, indem du unterwegs immer Federn nach rechts und nach links wirfst. Das ist der erste Teil der Wiedergutmachung“. Der Mann tat, wie ihm geheißen. Als er wieder vor dem Nachbarn stand und ihm die leere Kissenhülle überreichte, fragte er: "Und was ist der zweite Teil der Wiedergutmachung“? "Gehe jetzt den Weg zum Haus zurück und sammle alle Federn wieder ein“. Der Mann stammelte verwirrt: “Ich kann doch unmöglich all die Federn wieder einsammeln! Ich habe sie wahllos verstreut, mal eine hierhin, mal eine dorthin. Inzwischen hat der Wind sie in alle Himmelsrichtungen getragen. Wie könnte ich sie jemals alle wieder einfangen“? Der Nachbar nickte ernst und sagte: "Du hast es erfasst!“
Liebe Gemeinde, so verhält es sich mit dem Gift Hatespeech: Einmal ausgestreut, fliegt sie durch alle Winde bis wer weiß wohin. Niemand kann sie wieder einfangen.
Gott redet anders!
Im Predigttext von heute Morgen wird ganz anders geredet! Gott segnet Abraham. Das ist genau das Gegenteil von Hatespeech. Segnen bedeutet jemandem wohlgesonnen sein. Ihm das allerbeste zu wünschen: Gedeihen und Gelingen, Glück und Erfolg, Wohlstand und Zufriedenheit. Im Falle Gottes, also wenn (wie im Falle Abrahams) Gott selbst den Segen ausspricht, dann bedeutet segnen nicht nur wünschen, sondern feste Zusage. Dann wird der Wunsch ohne Zweifel Wirklichkeit. Bei Abraham ist es so: Er bekommt – so, wie Gott es versprochen hatte – ein Land und viele Nachkommen. Was angesichts des überlieferten Alters Abrahams und seiner Frau Sarah wirklich ungewöhnlich ist. Und dass die zahlreiche Nachkommenschaft dann auch noch zu einem Volk wird, ist das zweite Wunder.
Vom Anfang der Schöpfung an segnet Gott. Ganz am Anfang der Bibel heißt es gleich nach der Erschaffung der ersten Tiere und noch einmal gleich nach der Erschaffung der ersten Menschen: Und Gott segnete sie. Schon hier bedeutet Segen: Wachstum und Gedeihen, Fruchtbarkeit und Leben, gelingendes Leben. Zusammenfassend wird festgestellt: Siehe, es war sehr gut! Der Satz könnte auch lauten: Siehe, es war gesegnet!
Seit Jahrtausenden empfinden Juden den abrahamitischen Segen Gottes intensiv. Schon allein die Tatsache, dass das Judentum trotz schlimmster Verfolgung nicht untergegangen ist, wird von vielen als Zeichen des Gesegnetseins empfunden. Dafür sind Juden immer dankbar. In der Folge nehmen sie auch den zweiten Teil des abrahamitischen Segens sehr ernst: „… du sollst ein Segen sein.“
Du sollst ein Segen sein!
„Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein!“ – das ist bis zum heutigen Tage für Juden immer auch Verpflichtung, sich segensreich einzusetzen für andere. Für die Mitmenschen, für die Gesellschaft, in der sie leben. Ein bedeutender Rabbiner (Samson Raphael Hirsch) schreibt im Jahr 1903 zum Segen an Abraham: „Alle anderen streben danach … Segen zu gewinnen, gesegnet zu werden, und das vor allen Völkern. … In der Mitte der Menschheit, die Selbstvergrößerung und den rücksichtslosen Ausbau der eigenen Wohlfahrt als maßgebendes Ziel anstrebt, soll Abrahams Volk im Einzelnen und im Gesamtleben nur dem einen Rufe folgen: Sei Segen!“ Für Hirsch bedeutet dies, „sich mit aller Hingebung den Gotteszwecken des Welten- und Menschenheils zu weihen“ und auf diese Weise den „Adam in seiner ursprünglichen Bestimmung zur Anschauung zu bringen.“ Das ist für unsere Ohren altmodisch und kompliziert ausgedrückt. Der Gedanke dahinter aber ist toll! Hirsch sagt: Es ist die edelste Aufgabe der Juden, dass sie als Gesegnete den empfangenen Segen weitergeben. Der Spitzensatz ist für mich, dass Juden, indem sie so handeln, zum eigentlichen Menschsein finden. Im Dasein für andere verwirklicht sich also etwas davon, wie der Mensch ursprünglich gemeint ist: als soziales Wesen nämlich, das einander hilft, füreinander einsteht, es gut meint mit den anderen und gemeinsam den Weg des Friedens sucht.
Juden aller Jahrhunderte gehen diesen Weg. In Wissenschaft und Kultur, in Kunst und Musik, in der Medizin und im Geistesleben. Sie machen der Welt und der Menschheit damit ein Geschenk. Oftmals – Gott sei es geklagt – ernten sie durch die Jahrhunderte hindurch Fluch statt Segen.
Segen empfangen und selbst ein Segen sein – das ist so ziemlich genau das Gegenteil von Hassrede. Wer segnet spricht Gutes aus über anderen, wünscht ihnen Gutes. Setzt sich ein für das Gute, das Wohl. Das Wohl des Einzelnen wie das Wohl der Gesellschaft. Wer hasserfüllt redet, wünscht dem anderen nichts Gutes. Möchte ihn aus dem Blick haben, aus dem Sinn, aus dem Land.
Und der Segen im eigenen Leben?
Und der Segen im eigenen Leben? Bei Abraham klingt das alles so glatt, so rosig. Wenn ich mein eigenes Leben anschaue würde ich schon sagen, dass ich mich als gesegnet empfinde. Schwierigkeiten und Spannungen gibt es aber auch. Spricht das gegen den Segen Gottes in meinem Leben?
Ich lese die Geschichte Abrahams noch einmal genauer. Bei diesem zweiten Hinsehen muss ich feststellen, dass auch in Abrahams Leben nicht alles glatt und ohne Schwierigkeiten ging. Abraham muss sein Heimatland verlassen. Sein Weg führt ihn zunächst nach Ägypten, wo seine Frau Sarah in Gefahr gerät. Abraham und sein Neffe Lot geraten in einen schwierigen Streit miteinander. Abrahams Frau Sarah wird lange Zeit nicht schwanger, was dem Paar schwer zu schaffen macht und manches mehr. – Abrahams Leben ist keinesfalls frei von Spannungen, schwierigen Situationen, manchmal auch Ratlosigkeit und Schwäche. Mir zeigt das: Schwierigkeiten und notvolle Tage heißen nicht, dass einer von Gott verlassen ist. Allerdings vergeht eine geraume Zeit, bis der anfangs über Abraham ausgesprochene Segen Gottes so richtig sichtbar wird. Eine geraume Zeit, in der Abraham am Segen Gottes durchaus zweifelt.
Es tut mir gut, auch dieses wahrzunehmen. Es macht mir deutlich: Gottes Segen ist nicht immer sofort sichtbar. Ich wünschte es mir manchmal schneller, klarer und mächtiger. Im eigenen Leben und auch im Leben anderer. Trotzdem macht es Sinn, sich (z.B. am Ende eines jeden Gottesdienstes) unter den Segen Gottes zu stellen. Gott verspricht uns, bei uns zu sein. In allem und durch alles hindurch. Gottes Segen kommt zum Ziel. Am Ende wird alles gut. Über alles irdische Leben hinaus.
Amen.
Pfarrer Norbert Stahl, Waldenbuch
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Sympathieträger des Aufbruchs in Gottes Namen: Abraham – Predigt zu 1. Mose 12,1-4a von Christian Bogislav Burandt
„Wir sind Weltmeister!“ – Das, liebe Gemeinde, war der Ruf vor vier Jahren. Da hatte die deutsche Fußballnationalmannschaft den Weltmeistertitel in Brasilien geholt. Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen. Sie feierten den sportlichen Erfolg, und sie feierten das Wir-Gefühl, das die Nationalmannschaft vermittelte. In der Weltmeister-Elf fühlten die Menschen sich aufgehoben, fast schien es, als hätte nun jeder Deutsche die Goldmedaille umhängen: Wir sind Weltmeister!
Freilich: Erfolge verblassen und jedes erhebende Gefühl bleibt eine Momentaufnahme. Nur allzu schnell holen uns die Niederungen des Alltags wieder ein, die eigenen Aufgaben, Nöte und Sorgen, und dann ist das Wir-Gefühl verschwunden. Aber die Sehnsucht nach einem größeren Zusammenhang, in dem ich mein Ich unterbringen kann, die bleibt. Und sie kommt immer wieder.
Von einem Sympathieträger der besonderen Art, in dem viele Menschen sich untergebracht haben und sich unterbringen, haben wir gerade gehört. Ich meine damit den Erzvater Abraham aus dem ersten Buch Mose. Zuerst hieß er nur Abram, bevor Gott ihm den neuen Namen Abraham verlieh. Abraham genießt höchstes Ansehen und zwar gleichermaßen bei Juden, Christen und Muslimen. Und warum?
An einem spektakulären Erfolg kann das nicht liegen. Denn Abraham hatte zu Lebzeiten nach menschlichen Maßstäben keinen Erfolg. Das einzige Stück Privateigentum, das er erwarb, war ein Erbbegräbnis für seine Frau. Und das im Land, das ihm verheißen wurde! Auch unter dem Gesichtspunkt von Integration gibt es im Blick auf ihn keine Erfolge zu verzeichnen. Abraham ist gebürtiger Iraker mit mutmaßlich syrischem Pass; denn er wohnte vor seinem Aufbruch bei seiner Sippschaft in Syrien. Spätere Kontakte zu der Bevölkerung des verheißenen Landes sind sporadisch und nicht immer positiv. Stichwort: Sodom und Gomorrha. Und auch Abrahams Familienleben ist weit davon entfernt als glücklich oder als ideal bezeichnet zu werden...
Aber immerhin. Gegen jede Wahrscheinlichkeit wird ihm und seiner Frau trotz ihres hohen Alters doch noch ein Sohn geboren. Wenigstens ein sichtbares Zeichen dafür, dass Gott es mit seiner Verheißung ernst meint.
Aber ansonsten. Ist Abraham ein Verlierer, ein Looser? Auf keinen Fall. Abraham ist vielmehr der, der ganz nach vorne lebt; dadurch, dass er an der Verheißung Gottes festhält; gegen alle Zweifel, Rückschläge und Misserfolge. Weil er sich Gottes Wort zu Herzen nimmt, hat er Mut und kann er aufbrechen.
Die Mühe beim Aufbrechen, die kommt in unserer Sprache ja schon im Wort selbst zum Ausdruck. Aufbrechen, Aufbruch, da geht etwas in Stücke. Da müssen erst Gewohnheit, Bequemlichkeit oder Fesseln der Tradition zerschlagen werden, damit Bewegung entsteht. Und das ist natürlich ungeheuer mühsam!
Gott spricht: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Gott redet und verschafft sich bei Abraham Gehör. Aufbrechen soll der. Was für eine Zumutung! In dem Alter mit 75 ins Ungewisse aufbrechen, ohne Versicherung, ohne Rente und ohne die Hoffnung, dass die Verwandten ihn einmal pflegen würden. Keine Kinder, keine Zukunft, so musste Abraham denken!
Aber. Gott gibt nicht Anweisungen ohne Verheißungen. Gott schickt nicht ziellos ins Ungewisse, auch wenn die Unwissenden das Ziel nicht gleich erkennen können. Gott macht keine Zumutungen, ohne Mut zuzusprechen. Ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Die Zumutung an Abraham ist groß, aber die Verheißung ist größer!
Im Evangelium haben wir gehört, wie Jesus Menschen auffordert, Netze auszuwerfen. Menschen, die im Trüben gefischt haben und keinen Erfolg hatten, denen mutet Jesus zu, seinem Wort zu vertrauen. Und der Erfolg, der verändert dann alles, der geht über eine größere Fischfangquote weit hinaus! Der macht aus den Fischern Anhänger Jesu!
So ähnlich ist es auch mit der Verheißung, die an Abraham ergeht. Sie geht weit über Abraham hinaus und soll es auch! Wenn wir das erste Buch Mose aufmerksam von Beginn an lesen, dann beobachten wir: Die Menschen lassen keine Gelegenheit aus, sich durch Sünde und Bosheit das Leben selber schwer zu machen.
Dagegen schreitet Gott ein: Er möchte seinen Segen in die menschlichen Verhältnisse hineinbringen. In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Gott will, dass alle Geschlechter der Erde Segen gewinnen. Und so mutet Gott dem Abraham den Beginn der Geschichte des Glaubens zu, den Beginn einer heilvollen Geschichte, in deren Mitte Jesus Christus steht. Der Apostel Paulus sagt es dann so: „Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Kinder und nach der Verheißung Erben.“ (Galater 3,29)
Heil und Segen sind Gottes Ziele, darum ermutigt er Abraham zum Aufbruch. Und Abraham geht im Vertrauen auf Gottes Wort und seine Verheißung. Mit ihm beginnt die Geschichte des Glaubens. Das, liebe Gemeinde, das ist einzigartig - die Fans in diesen Tagen würden sagen „weltmeisterlich“ - und darum ist Abraham Sympathieträger bei Juden, Christen und Muslimen, gehört er nicht einer Religion allein. Die Dichterin Nelly Sachs etwa sagt: O Abraham, die Uhren aller Zeiten, die sonnen- und monddurchleuchteten hast du auf Ewigkeit gestellt - .1
In der Geschichte des Glaubens dürfen wir uns unterbringen, dürfen uns gesagt sein lassen, dass um Jesu Christi willen der Abraham erteilte Segen auch uns gilt. Lasst uns darum uns an Abraham ein Beispiel nehmen und im Vertrauen auf Gott die Zukunft angehen! Ohne Aufbruch kein Segen! Lasst uns an Gottes Zusagen festhalten, selbst wenn andere Menschen oder die Umstände uns zweifeln lassen!
Segen empfangen und weitergeben. Auf seine Weise versucht dies das Orchester des westöstlichen Divans, in dem jüdische, palästinensische und arabische Musiker gemeinsam musizieren. Im nächsten Jahr wird dies Orchester 20 Jahre alt.
Mut und Stärkung für den Lebensweg, auch für Aufbrüche, die uns bevorstehen. Dies schenkt Jesus Christus uns durch sein Mahl. Das heilige Abendmahl ist Wegzehrung, es ist sinnlich erfahrbare Erinnerung daran, dass Gottes Verheißung in Kraft ist. Auch für uns. Wir empfangen Segen und geben ihn weiter.
Gott macht keine Zumutungen, ohne Mut zuzusprechen. Gott wird alle Mühen des Aufbruchs belohnen um Jesu Christi willen. Sein Segen wird sich zum Heil der Welt durchsetzen.
AMEN
1 I Nelly Sachs: Abraham, in ‚Spuren des Wortes. Biblische Stoffe in der Literatur. Materialien für Predigt, Religionsunterricht und Erwachsenenbildung’ Bd. 3, Altes Testament, Stuttgart 1990, S.238.
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Mit leichtem Gepäck und großer Verheißung – Predigt zu 1. Mose 12, 1 - 4a von Anke Fasse
Liebe Gemeinde,
er hat sein Leben gelebt. Fünfundsiebzig Jahre ist er inzwischen alt. Er lebt schon eine ganze Weile an einem Ort, der ihm zur Heimat wurde. Dort lebt er zusammen mit seiner Frau, seinem Bruder und einer großen Verwandtschaft. Ja, er hat sein Leben gelebt und eigentlich ist auch alles in Ordnung so. Man hat sich halt so eingerichtet. Ja, manchmal ist er traurig, dass er keine Kinder hat. Aber mit fünfundsiebzig Jahren muss er nun wirklich damit abschließen. Und noch einmal umziehen? Nein, einen alten Baum verpflanzt man nicht. Abraham heißt er, und er ist ein gottesfürchtiger Mann. Vielleicht kennen Sie ihn. Oder Ihnen fallen vielleicht Menschen ein, zu denen die Beschreibung von Abraham auch irgendwie passt.
Mitten in seinem normalen Alltag, kam für Abraham der Tag, der alles veränderte. Kein „Weiterso“, sondern Umbruch und Aufbruch wurde von ihm gefordert – und Vertrauen.
Aber hört selbst:
Der Herr sprach zu Abraham: „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.“ Da zog Abraham aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte. (1. Mose 12, 1-4a)
Unglaubliches wird da von Abraham gefordert – und das in seinem Alter. Er soll seine Heimat verlassen, die ihm seit vielen Jahren vertraut ist, wo er verwurzelt ist. Er soll seine Verwandtschaft verlassen, die zu ihm gehört und ihm Sicherheit gibt. Er soll alles zurücklassen, nur mit seiner Frau Sara und seinem Bruder soll er aufbrechen, mit kleinem Gepäck und einer großen Verheißung. Ich will dich segnen und du sollt ein Segen sein – das sagt Gott zu ihm. Abraham, der jetzt schon fünfundsiebzig ist und seine Frau nicht viel jünger, er wird eine große Nachkommenschaft haben, auch wenn es sich unglaublich anhört. Bleibe nicht, geh nicht dahin, wo Du willst, sondern geh in das Land, das Gott dir zeigen wird. Mach dich auf den Weg, mach dich frei, geh mit der Verheißung Gottes und mit seinem Segen.
Unglaubliches wird von Abraham gefordert. Aber der hört Gottes Auftrag ganz deutlich – und er stellt sich voller Vertrauen unter seine Verheißung und unter seinen Segen. Davon lesen wir in der Bibel.
Später lesen wir auch von Schwierigkeiten auf dem Weg, von Zweifeln, denn der Weg in das gelobte Land ist alles andere als eine gut ausgebaute Autobahn. Und die große Nachkommenschaft ist auch nicht im nächsten Jahr da. Aber Abraham geht seinen Weg. Er vertraut seinem Gott – und dessen Verheißung.
Ich denke an so viele andere Menschen, die ihre Heimat verlassen, oftmals verlassen müssen, zu allen Zeiten gab es sie. Ich denke an meine Großeltern, die vor gut 70 Jahren Flüchtlinge waren. Die aufbrachen aus ihrer Heimat, und fast alles zurückließen. Das Gepäck war klein, der Weg mühevoll und oftmals gefährlich. Hunger, Angst und Sorgen waren Begleiter. Und schließlich ein Ankommen an einem neuen Ort gar nicht leicht.
Vor wenigen Tagen las ich in der Zeitung, dass gerade aktuell so viele Menschen, wie noch nie zuvor auf der Flucht sind, ihre Heimat und fast alles, was ihnen vertraut war, hinter sich gelassen haben und auf der Suche sind nach einem neuen Ort, nach einem neuen Leben, nach Sicherheit.
In meiner Arbeit als Krankenhausseelsorgerin erlebe ich noch ganz andere Aufbrüche, die von Menschen gefordert werden. Meist unfreiwillig. Meist scheint das Leben vorher in guten, ruhigen Bahnen zu verlaufen. Alles ist gut und normal, kein Grund oder Wille, etwas zu verändern. Und dann kommt die Krankheit, die alles auf den Kopf stellt. Die Sicherheit nimmt. Die alten Gewohnheiten unmöglich macht. Die zum Aufbruch zwingt. Der Weg scheint oft unkalkulierbar und vor allem sehr beschwerlich. Und das Ziel?
Abraham. Ein Menschheitsvater. Vater aller drei großen monotheistischen Religionen. Von ihm fordert Gott einen unglaublichen Aufbruch. Exemplarisch.
In der Bibel lesen wir nichts davon, ob Abraham versucht hat mit Gott zu verhandeln. Wir lesen nichts von seinen Sorgen und Ängsten, von seinen Tränen. Wir lesen von seinem großen Vertrauen in den Gott, der für ihn Grund und Ziel des Lebens ist. Wir lesen von seinem offenen Ohr für diesen Gott der Väter und seinem Gehorsam in sein Wort. Und mit der Verheißung dieses Gottes und unter seinem Segen, konnte Abraham voller Vertrauen aufbrechen. Er tat dies als erster. Exemplarisch. Als Vater einer großen Nachkommenschaft. Als Menschheitsvater.
Vertrauen ist ein Wagnis. Abraham ist es eingegangen, sein Glaube gab ihm die Kraft dazu. Und auf dem Weg, mit all seinen Umwegen und Beschwernissen, hat er die Erfahrung gemacht, dass Gottes Verheißungen tragen.
Gott erfüllt nicht alle unsere Wünsche, aber alle seine Verheißungen. So hat es Dietrich Bonhoeffer ausgedrückt.
Leben und Aufbruch, dies gehört zusammen. Es gibt die großen freiwilligen und auch die unfreiwilligen Aufbrüche. Die neuen Lebensabschnitte. Die äußeren Gründe, die den Aufbruch fordern. Und es gibt die kleinen täglichen Aufbrüche. Kein Ort, kein Mensch, keine Gewohnheit, kein Umstand ist ewig, ist fest, ist sicher.
Im Urlaub bekommen wir manches Mal eine Ahnung davon.
„Ein Tourist macht Station in einem Kloster. Er wird freundlich aufgenommen, und man bietet ihm eine Mönchszelle als Schlafquartier an. Darin stehen nur ein Bett und ein Stuhl. In der Tür fragt der Tourist erstaunt: „Und wo sind Ihre Möbel?“ „Wo sind denn Ihre?“, erwidert der Mönch. Verwirrt antwortet der Tourist: „Ich bin ja nur auf der Durchreise.“ Der Bruder lächelt: „Wir auch.““
Wir sind auf der Durchreise, immer wieder zu neuen Aufbrüchen herausgefordert. Aber seit Abraham sind wir nie allein unterwegs, nie ohne Ziel. Gottes Verheißung und sein Segen, beides ist da, aktuell.
Und wie das Vertrauen darin, vor Urzeiten an Abraham lag – so liegt es heute an uns, darauf zu vertrauen, dass Gott mit mir und mit Dir auf dem Weg ist, durch alle Kurven hindurch und bei allen Aufbrüchen. Dass er für mich und für Dich ein Ziel hat und auch am Ende einen Neuanfang. Und Gott spricht: Ich will Dich segnen. Und so sollst und wirst Du selbst ein Segen sein, jeden Tag neu. Amen
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Zum Segen werden - Predigt zu 1. Mose 12, 1-4a. von Reinhard Schmidt-Rost
Lieder: EG 245, 1-3 (Wochenlied) – 311 – 497, 1-3.4-6
Lesung: Luk. 5, 1-11 (Evang.)
Liebe Gemeinde,
es ist Nacht über Jerusalem, der Tempelberg mit allen seinen Gebäuden liegt im Dunkeln. Im Schein einer Öllampe sitzt ein Dozent der Jerusalemer Priesterschule und ordnet Schriftstücke. Einige kleinere sind in Tontafeln geritzt, die meisten aber auf Papyrusblätter aufgezeichnet, auf einen eigenen Stapel hat er kleine Holztäfelchen gelegt, auf denen jeweils nur einzelne Sätze stehen.
Manche Texte hat er selbst geschrieben, andere hat er von Kollegen erhalten, die Tontafel in der Bibliothek gefunden. Er gehört zu einer Arbeitsgemeinschaft, die die Geschichte des Volkes aufzeichnen soll, das seit etwa 600 Jahren in Palästina lebt und seit König David Jerusalem als Hauptstadt ausgewählt und ausgebaut hat. Die Gelehrten sammeln, was sie selbst vom Hören-Sagen wissen und sichten das Material, das schon in kleineren und größeren Sammlungen vorliegt.
Es ist eine Auftragsarbeit der Priester am Tempel in Jerusalem, aus dem Mosaik der Aufzeichnungen soll ein zusammenhängender Text entstehen, lesbar für alle, die lesen können, ein Bericht, der die Geschichte des Volkes Israel für die Nachkommen bewahren und verständlich machen soll.
Seit langem, ja eigentlich von Anfang an, seit sie diesen Auftrag zur Bündelung der Überlieferung übernommen hatten, beschäftigt ihn als Leiter der Arbeitsgruppe die Frage: Wie soll er anfangen und wo soll er anfangen. Zunächst hatte er vorgehabt, mit den Lebensgeschichten von Abraham, Isaak und Jakob zu beginnen; davon hatten sie die meisten Daten gesammelt und diese Geschichten hatte er schon seit längerem stimmig in einen Zusammenhang geordnet, so dass sie jetzt wie eine Familien-Saga spannend zu lesen waren. Schon das war eine ziemlich komplizierte Aufgabe gewesen, denn diese ziemlich bunten, oft auch drastischen Geschichten waren als Einzelstücke von verschiedenen Stämmen und aus verschiedenen Gegenden Palästinas überliefert worden.
Aber je länger er an dieser Aufgabe arbeitete, umso mehr gewann er den Eindruck, er müsse weiter ausholen. Und nun ist ihm klar: Er wird die Geschichte seines Volkes in die Weltgeschichte einordnen, wenigstens ansatzweise. Und so hat er auch einige eindrucksvolle Erzählungen zurecht gelegt, die vom Anfang der Welt und des Menschen erzählen, auch der Bericht von der Überschwemmungskatastrophe im Land an Euphrat und Tigris, die schon einige Jahrhunderte zurückliegt, aber immer mal wieder in der Erinnerung hochkommt, und auch die rätselhafte Ruine des großes Turms in Babylon, die einen sagen, das Bauwerk ist eingestürzt, weil es zu groß geplant war, andere behaupten, die Arbeiter hätten gestreikt oder seien miteinander in Streit gerasten. Solche markanten Geschichten will er in die Einleitung aufnehmen, damit seine Leser spüren, was ihnen erspart geblieben ist in ihrem Leben, wovor sie Gott bewahrt hat. Die Dankbarkeit seiner Leser will er wecken und ein Staunen über die Wunder der Welt, in der sie leben, hervorrufen.
Und zur allgemeinen Orientierung über die wichtigsten Personen plant er, Ahnentafeln in diese Einleitung einzufügen, die erste von Adam bis Noah.
So hat er im Grunde schon eine ziemlich gute Übersicht über die Sammlung. Aber abends, wenn es dunkel und still ist auf dem Tempelplatz, dann nimmt er sich das Schwierigste vor: Er sucht nach einer einleuchtenden Verbindung zwischen den eindrucksvollen Geschichten von Schöpfung und Paradies und Flut und Turmbau und der Familiensaga der Ahnen des Volkes, Abram, Isaak und Jakob.
Und er greift wieder zum Mittel der Ahnenreihe: Diesmal die zehn Generationen von Noahs Sohn Sem bis zu Abram. So weit, so gut.
Dann aber sucht er wieder, wie schon manches Mal nach Worten zur Einleitung der Familiengeschichten, würdige Worte, die die große Bedeutung der Väter den Nachkommen, den kommenden Generationen für alle Zeiten unauslöschlich in der Erinnerung befestigen. Und so schreibt er:
Und der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Da zog Abram aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte. (Gen. 12, 1-4a)
Liebe Gemeinde,
Sie waren Einwanderer, die Israeliten. Das war dem Gelehrten auf dem Tempelberg, dessen Namen wir nicht kennen, bekannt und unzweifelhaft. Sie waren als kleine Gruppen nach Palästina gekommen. Manche hatten vorher in der Wüste als Nomaden gelebt, waren von Oase zu Oase gezogen mit ihren Herden, auch aus Ägypten waren einige Familien gekommen, hatten dort als Sklaven auf den großen Baustellen der Pharaonen gearbeitet, an Tempeln und Totenstätten, den Pyramiden mitgeschuftet, aber er war sich auch sicher, dass die Berichte von den Vorfahren aus dem Zweistrom-Land stimmten. Vielleicht waren sie von dort vertrieben worden, vielleicht aber suchten sie eine neue Herausforderung abseits von den luxuriösen, stolzen Städten an der Mündung von Euphrat und Tigris.
Für ihn, den Lehrer und Geschichtsschreiber am Tempel in Jerusalem, aber war dies ganz selbstverständlich und die Grundlage seines Denkens und Lebens: Es konnte nur der Wille Jahwes, des Gottes, den sie im Tempel von Jerusalem seit Jahrhunderten verehrten, es konnte nur sein Wink und Wille gewesen sein, der die Vorfahren aus dem Süden und dem Osten nach Palästina geführt hatte. Und auch daran bestand ja kein Zweifel, dass diese Vorfahren mit ihren Erfahrungen im Kulturland des Ostens zur Blüte des Volkes im Westen wesentlich beigetragen hatten, zur differenzierten Integration der 12 Stämme im Lande Kanaan. Was immer seit jener frühen Zeit mit dem Volk geschehen war, man konnte es nur als Segensgeschichte begreifen. Bei allem, was in den Jahrhunderten auch an Schrecklichem geschehen war, zuletzt war es doch eine vielfältige Erfahrung von Bewahrung und Verschonung, selbst der Tempel war nach der Zerstörung durch die Übermacht der Babylonier wieder aufgebaut worden.
Und aus dieser Gewissheit, aus dem Glauben an den Gott, der den Menschen gut will, schreibt er nun auch voller Zuversicht die ersten Sätze der Geschichte der Vorfahren, wie Gott zu Abraham sagt: Du sollst ein Segen sein. Und mit dieser Verheißung für Abraham wandern seine Gedanken mit einem Mal weit in die Zukunft: Was werden in fernen Zeiten Menschen denken, die diesen Satz lesen und sich sagen lassen: Du sollst ein Segen sein! Und: Ich will dich zu einem großen Volk machen. Ob das nur für Abraham gelten sollte oder nur von seinem Volk Israel ernst genommen wird? Aber gilt es nicht allen Menschen und der ganzen Welt, ist Gottes Segen nicht für alle Menschen aller Zeiten überlebenswichtig?
Ob die Menschheit bewahrt bleibt vor der völligen Selbstvernichtung durch angstvolle Selbstverteidigung? Er fühlt sich hilflos, wenn er an die Zukunft denkt: Wie soll er denn mit seinen Worten - allein mit Worten!! - die Herzen der Menschen in aller Welt bewegen, dass sie sich zum Frieden und zur Vergebung wenden? Aber dann erfasst ihn doch wieder Zuversicht, wenn er die vielen mutigen Menschen vor seinem inneren Auge sieht, die lange vor ihm für die Bewahrung der Schöpfung und der Menschheit eingetreten sind, die die Geschichten gesammelt haben, von der Schöpfung der Welt und von der Bewahrung in der Flutkatastrophe. Es werden andere kommen, weitere Generationen, die die alte Botschaft ganz neu hören werden. Vielleicht kann ja seine Arbeit dazu beitragen, die Menschen zu ermutigen, dass sie Träger des Segens Gottes sind. Wer sonst sollte Gottes Segen weitertragen, wenn nicht die Menschen, die seine Worte lesen und verstehen – und die richtigen Lehren daraus ziehen
Liebe Gemeinde,
jede Leserin und jeder Leser der Verheißung an Abraham stellt sich immer wieder die Frage, ob bewusst oder unbewusst: Gelten diese Worte auch mir? Es ist gar nicht möglich, diese Worte in der fernen Vergangenheit zu lassen. Nicht selten haben Eltern für ihr Kind dieses Wort vom Anfang der Vätergeschichten als Taufspruch gewählt:
Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein.
Diese Verheißung greift weit über ein einzelnes Leben hinaus. Sie bleibt nicht in der Vergangenheit Abrahams, nicht in der nächtlichen Stille am Tempelberg. Diese Verheißung ergreift jeden, der sich davon ergreifen lässt: Gesegnet werden und ein Segen sein. Was können wir uns anderes und besseres wünschen für unser Leben und das Leben aller, die uns anvertraut sind?
Und so ergreife uns der Segen Gottes, der unser Denken und unsere Vernunft übersteigt, und lasse uns zum Segen werden.
Amen.
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Vaterland und Muttersprache und das Unwort des Jahres – Predigt zu 1. Mose 12,1-4a von Silvia Mustert
Liebe Gemeinde,
das Vaterland verlassen. Das Land verlassen, in dem man von klein auf aufgewachsen ist. Du kennst jede Ecke, jede Straße, jeden Grashalm. Die Bäume, auf die du schon als Kind mit deinen Freunden geklettert bist. Vielleicht habt ihr gemeinsam Drachen steigen lassen. Ihr habt zusammen gespielt, gelacht, gestritten. Du kennst deine Freunde. Du kennst deine Verwandten. Sie kennen dich. Sie wissen, was dich ärgert. Und sie kennen das Lachen in deinen Augen, wenn du einen Schmetterling entdeckst.
„Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus“. Wie mag Abraham diese Aufforderung Gottes gehört haben, seine Heimat zu verlieren? Heimat, Vaterland, das ist der Ort, wo meine Muttersprache gesprochen wird. Muttersprache. Das ist die Sprache, mit der mich abends meine Mutter in den Schlaf singt. Muttersprache ist die Sprache, in der ich bete und fluche. Muttersprache bleibt die Sprache der Liebe und Zärtlichkeit. Zwei deutsche Worte, die uns an die Menschen binden, denen wir unsere Herkunft verdanken und die nächsten sind: Vater, Mutter. Zwei Worte, die zugleich in der deutschen Sprache bezeichnen, was Heimat ist: Vaterland und Muttersprache.
Vaterland und Muttersprache hinter sich lassen. Was würde mich dazu bringen, all das, was mein ganzes Leben ist, hinter mir zu lassen und aufzubrechen? Ein Aufbruch ins Ungewisse. Wo ich nicht weiß, ob ich wirklich an einem guten Ort ankomme. Wo ich nicht weiß, ob ich willkommen sein werde. Werde ich mich verständlich machen können? Weiß ich, ob ich diese Reise überleben werde? - Was würde uns dazu bringen, uns auf solch eine Reise ins Ungewisse aufzumachen?
Wir hatten schon das Gefühl, das Größte sei geschafft. Die großen Flüchtlingsunterkünfte in unserem Land sind kaum noch bewohnt. Nach dem Kraftakt 2015, als bisweilen täglich Platz für mehr als 10.000 Menschen gefunden werden musste, hatte sich die Lage 2016 entspannt. Und was die Unterbringung der Menschen angeht, sah es endlich auch dort besser aus, wo die Lage besonders schwierig war: in den großen Städten. Wir hatten uns schon zurückgelehnt.
Und nun macht ein Wort wie „Asyltourismus“ die Runde. Er bringt eine Schärfe und einen Zwiespalt mit sich, deren Folgen wir nicht abschätzen können. Neue Hetze greift um sich, die Zeitung mit den vier großen Buchstaben mischt kräftig mit. „Asyltourismus“. Ein Wort, das höchstens zum „Unwort 2018“ taugt. 68,5 Millionen Menschen sind auf der Flucht, die Hälfte davon Kinder. Sie machen sich nicht auf, um Land und Leute kennenzulernen. Ihr Gepäck ist nicht für 14 Tage gepackt, weil sie danach sicher wieder nach Hause reisen, wo während ihres Urlaubs die Blumen vom Nachbarn gegossen wurden. Sie fliehen vor Krieg, Verfolgung, Vergewaltigung. Sie tun es aus Not, die wir uns nicht vorstellen können. Nichts verbindet Flüchtlinge mit Touristen. Die Menschen, die die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer auf sich nehmen, sind mit einer großen Hoffnung unterwegs. Krieg, Gewalt, Armut lässt sie das Weite suchen. Niemand verlässt sein Vaterland und seine Muttersprache, wenn er nicht perspektivlos ist. Ja, und da gibt es auch Menschen, die verlassen aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat. Und ja, dass es diese Armut und ungerechte Verteilung der Güter gibt, hat direkt mit uns hier in Europa zu tun. Wir können uns nicht zurücklehnen. Wir können nicht so tun, als wäre das alles ganz neu, noch nie dagewesen. Und wir können nicht aufhören, in unseren Kirchen darüber zu sprechen.
Es gehört schon zu den Grundmotiven im Alten Testament: Die Rede von der Fremdlingsschaft. Das Volk Israel hat in seiner Geschichte von seinen Anfängen an immer wieder die Erfahrung gemacht, als Fremdling zu leben. Daraus wird die humanitäre Haltung abgeleitet, Fremdlinge nicht zu bedrücken. Wieder und wieder heißt es: „Ihr seid auch Fremdlinge in Ägypten gewesen“.
Abraham wurde zu einem Fremdling, als er sich aufmachte. Und doch gibt es einen großen Unterschied zwischen Abraham und den Flüchtlingen, die hier bei uns eine neue Heimat suchen. Bei Abraham stand am Anfang die Verheißung. Am Anfang waren da diese Worte: „Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein.“ (Gen 12,2). Gott will Abram dieses Land zeigen. Was für eine Verheißung! Es ist eine Verheißung auf Glauben hin. Abram hatte nichts als dieses Wort Gottes. Und doch macht er sich mit seiner Familie auf den Weg. Verheißungen entfalten eine große Kraft.
Mit welcher Verheißung machen sich die Flüchtlinge heute auf den Weg? Welche Verheißung ist so groß, dass sie dafür das Vaterland und die Muttersprache hinter sich lassen? Der Vater ist der, der dich bei der Hand nimmt und dich beschützt, wenn du Angst hast. Die Mutter nimmt dich in den Arm, wenn du weinst. Sie tritt für dich ein, wenn dir in der Schule Unrecht geschieht. Der Vater klebt das Pflaster auf die blutende Wunde. Solange sie leben, bleiben viele Eltern die engen Berater ihrer Kinder. Vater und Mutter sind tief in uns Bilder für ein geborgenes, beschütztes Leben. Deshalb gibt es auch kaum eine tiefere Verunsicherung, als wenn in diese elterliche Sphäre Gewalt einbricht. Oder wenn sie selbst gar zur Gewalt wird.
Wenn du erfährst, dass dein Vaterland nicht mehr dein Vaterland ist, weil es dich zu zerstören droht. Wenn du erfährst, dass die Muttersprache nicht mehr deine Sprache ist, weil nur noch Hass ihre Worte sind. Dann machst du dich auf den Weg. Dann machst du dich auf und folgst der Verheißung: nach Frieden, nach Geborgenheit, nach Sicherheit, nach Nahrung. Wer seine Heimat verliert, macht sich auf, um eine neue Heimat zu finden. Denn ohne diesen Ort, wo wir wissen, hier sind wir gewollt, können wir nicht leben.
Wir können in unserem Land auch nicht den Himmel auf Erden bieten. Aber wir haben die Pflicht, daran mitzuarbeiten, dass jene Verheißung, die die Menschen dazu bringt, ihre Heimat zu verlassen, nicht unerfüllt bleibt. Und wir können an einer Haltung mitarbeiten. Uns wehren gegen eine Sprache, die Hass und Zwietracht säet. Unwörtern wie Asyltourismus widersprechen, die Menschen auf falsche Fährten bringen. Aufstehen gegen eine politische Haltung, die gefährliche alte Grenzen sichert. Tun wir es für uns und die Flüchtlinge.
Ich höre die Verheißung an Abraham mit neuen Ohren: was ist, wenn die Flüchtlinge Abraham sind? Sind dann nicht wir verflucht, wenn wir sie im Mittelmeer ertrinken lassen? Verlieren wir dann nicht unsere Seele? Und sind wir nicht gesegnet, wenn wir unsere Türen gastfreundlich öffnen? „Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“ (Gen 12,3). An unserem Umgang mit den Flüchtlingen entscheidet sich nach wie vor die Humanität Europas, ja auch, ob wir uns überhaupt in irgendeiner Form als christliches Abendland verstehen dürfen. Amen
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Aufbruch der Alten: Abraham und Sara – Predigt zu 1. Mose 12,1-4 von Margot Runge
Gehe aus deinem Haus und deiner Verwandtschaft in ein Land, das ich dir zeigen will. Jugendliche spricht diese Geschichte immer wieder an. Das Lied „Geh, Abraham geh“ ist ein alter Hit in der Jugendarbeit. Leute ziehen in die Ferne hinaus, weg von zuhause. So etwas wird ja eher Jugendlichen zugeschrieben dass sie die Welt erobern, dass sie Ideale im Kopf haben und leben, Alternative suchen. Abraham und Sara – etwas für junge Leute?
Wenig später wird erzählt, wie alt Abraham und Sara gewesen sein sollen, als diese Story begann: 75 und 65 Jahre! Stellen Sie sich das heute vor, bei Leuten aus Ihrer Umgebung, bei einem älteren Herrn über 70, bei einer Dame Mitte 60. Die werden plötzlich mobil, brechen alle Brücken hinter sich ab, fangen etwas Ungewöhnliches an. Sie fühlen sich berufen, in ihrem Alter mit Sack und Pack durch die Weltgeschichte loszuzotteln. Was würden wohl die Nachbarsleute tratschen, wie würde die Verwandtschaft den Kopf schütteln und sagen: und das in ihrem Alter!
So bekommt die Geschichte einen ganz anderen Klang, als wir sie sonst hören, etwas Verwirrendes und Befremdendes. Zwei ältere Menschen steigen aus und neu ein. Das ist etwas, wo manche nicht genau wissen: Ist das etwas Beispielhaftes, etwas Vorbildliches, etwas zum Nachahmen, was Sie Ihren Bekannten empfehlen würden – oder ist das ein abschreckendes Beispiel, übergeschnappt, verdreht und verwirrt.
Dass junge Leute wegziehen und ihre eigenen Wege gehen, dass sie ausbrechen, das verstehen wir, auch wenn es oft auch schmerzt. Junge Leute müssen raus aus dem Haus, das ist allen klar. Dass jedoch ältere, dass alte Menschen so ausbrechen, dass sie mit Sitte und Tradition brechen, das ist uns höchst ungewöhnlich und fremd, vielleicht sogar ein wenig unheimlich.
Abraham und Sara werden klar als ältere Leute geschildert. Anders als heute waren 75- oder 65-jährige in biblischen Zeiten Greise, die völlig auf Unterstützung angewiesen waren. Die Zahl der Jahre soll in der Bibel weniger das genaue Alter ausdrücken. Denn es wird von dem Paar noch vieles mehr berichtet. Und all diese Geschichten sind darüber hinaus Jahrhunderte hindurch mündlich weitererzählt worden, bis sie aufgeschrieben wurden. Aber was heißt „genaues Alter“? Wir sollen wissen: Abraham und Sara waren nicht mehr die Jüngsten. Sie waren in der Lebensphase angelangt, in der Menschen sich zur Ruhe setzen mit ihren Kräften, mit ihrer Gesundheit, ihrer Aktivität und Beweglichkeit. Sie erwarten nichts umwerfend Neues mehr, haben keine Illusionen mehr, sie brauchen keine Bäume mehr auszureißen. Vielleicht werden sie auch ein wenig träge und bequem, innerlich und äußerlich. Solche waren Abraham und Sara, das will uns die Bibel erzählen.
An solche Leute wendet sich Gott: Zieht fort. Beginnt etwas Neues. Ihr, die ihr euch bequem einrichtet, kommt in Bewegung. Ich will euren Horizont erweitern. Ich will, dass ihr losgeht auf eure alten Tage. Ich will, dass mit euch etwas losgeht in eurem Leben.
Abraham und Sara lässt dieser Gedanke nicht los. So können wir es uns vielleicht vorstellen, dass Gott die beiden ansprach. Ein Gedanke, der weiß ich woher kam, arbeitet in ihnen. Er lässt sie nicht mehr zur Ruhe kommen. Er macht sie unruhig und hippelig.
Dann werden sie miteinander hin- und herüberlegt haben. Anders kann ich es mir nicht vorstellen, auch wenn die Bibel darüber schweigt und selbst wenn die Männer von damals als Patriarchen gelten. Aber könnte ein Abraham glaub-würdig und Glaubens-Vorbild sein, wenn es ihn überhaupt nicht interessierte und juckte, was Sara dachte? Und hätte Sara zur Mutter der Glaubenden werden können, wenn sie nur so etwas wie ein blasser und stummer Schatten von Abraham gewesen wäre? Sie werden gemeinsam sinniert und diskutiert haben.
So könnten ihre Gedanken ausgesehen haben: Was stellen wir hier eigentlich an, wir, in unserem Alter? Ist es nicht unklug, dumm und gefährlich, wenn wir alles über Bord werfen, unsere eigenen Erfahrungen und die unserer Eltern und Vorfahren, all das, was sich gehört, was Sitte ist bei uns und was immer so war? Ist es nicht waghalsig, alle Sicherheiten aufzugeben, gerade jetzt, wo wir eher Hilfe benötigen? Ist das nicht ein zu großes Risiko?
Das werden ihnen sicher auch ihre Verwandten und Nachbarn gesagt haben. Das macht man doch nicht. Das ist noch nie da gewesen. Dieser Satz. Da ist förmlich zu spüren, wie Köpfe geschüttelt werden. So wird es auch Abraham und Sara gegangen sein. Niemand konnte, niemand wollte sie verstehen. Selbst enge Beziehungen bekamen einen Riss aus Unverständnis. Und es wird sie geschmerzt haben, dass sie nun so allein da standen.
Vielleicht haben sie sich sogar ausgemalt, ob es nicht wieder so werden könnte wie früher, wenn sie nur ihre Gedanken – Gottes Ruf –wie eine spinnerte Idee beiseite legten und darüber lachten und gemeinsam mit den anderen den Kopf schüttelten: So ein verrückter Einfall!
So wird es bei ihnen hin und her gegangen sein, bis sie sich entschieden haben zu gehen. Kommt es daher, dass sie schon immer offen waren für Neues und gelernt haben, Ungewöhnlichem mit Neugier zu begegnen? Oder ist es schon selbst ein Geschenk, eine Gnade Gottes, wenn Gott Menschen offen macht?
Jedenfalls –sie haben’s gewagt und sind losgezogen. Und am Ende haben sie noch unwahrscheinlich viel erlebt. Für sie, die sich zur Ruhe setzen sollten, hatten noch einmal etwas Neues begonnen. Das hat ihr Leben so bestimmt, verändert und geprägt, dass in der Bibel nur noch davon die Rede ist und nicht von dem, was vorher mit ihnen war. Am Ende waren ihre alten Tage und Jahre erstaunlich reich und bewegt und spannend.
So etwas kann Gott mit alten Menschen vorhaben. So kann Gott Leute auf ihre alten Tage neu machen und ihnen neue Horizonte eröffnen.
Ich finde es spannend, die Geschichte von Abraham und Sara einmal aus dem Blickwinkel des Älterwerdens zu betrachten. Das hilft zu vertrauen, dass Gott in jedem Lebensabschnitt, auch im Alter, Besonderes mit uns vorhat und Wandlungen bereithält. Wenn wir spüren: ich werde älter – kann Gott uns nicht gerade dann neue Horizonte eröffnen? Es macht Mut, dass Gott ausgerechnet ältere Leute wie Abraham und Sara losschickt, und aus dem Aufbruch der beiden Alten erwächst sogar Zukunft für ein ganzes Volk.
Sicher zeichnen sich die Jahrzehnte in unseren Körpern ein; vieles fällt schwerer und dauert länger. Abraham und Sara können heute anregen, dass ich Neues an mir entdecke und merke: ich kann mich wandeln, statt zu klagen: „Es wird alles schlechter, es ist sowieso nichts mehr los“. Als die beiden älter wurden, stagnierte es gerade nicht. Es ging nicht rückwärts mit ihnen oder wurde weniger und schlechter. Sondern Gott hat ihnen eine neue Zukunft, eine neue Aufgabe gezeigt.
Das gilt für jedes Lebensalter. Gott ruft immer wieder heraus aus dem, wie es ist, aus einem verklärten Blick auf die Vergangenheit. Gott lockt weg von dem, wie es früher war, was schon immer so gewesen ist, wie es jetzt üblich ist oder wie es jetzt so geht. Das ist vorbei. Gott richtet den Blick nach vorn. Abraham und Sara waren dafür offen. Sie können ihren Blick auf die Zukunft wenden und ihre Schritte, ihre Kraft darauf richten. Ich wünsche uns, dass wir, jung und alt, mit dem Pfund der Offenheit wuchern und Gottes Wege nach vorn gehen, so ungewöhnlich sie sein mögen.