Platz für Engel - Predigt zu Hebräer 13, 1-3 von Christiane Quincke

Platz für Engel - Predigt zu Hebräer 13, 1-3 von Christiane Quincke
13,1-3

I. (Begegnung in Franken)

Herbst 2015 irgendwo in Franken bei Bamberg.

Die 68-Jährige Gabriele Stärz aus Karlsruhe und ihr Lebensgefährte Hans haben eine anstrengende Tour hinter sich. "Mir hängt der Magen in den Kniekehlen, wir müssen unbedingt ein Gasthaus finden“. Sie entdecken das Schild "Brauerei - Gasthof Hennemann“. Merkwürdig, der zugemauerte Eingang. Aber da schaut ein Mann aus dem Fenster und zeigt mit einer Handbewegung, dass es hinten reingeht. Also gehen sie über den Hof ins Haus.

In diesem Haus lebt Kawa Suliman seit gut einem Jahr. Der 30-Jährige stammt aus Qamishli, einer Stadt im Norden Syriens. 2014 ist der junge Anwalt nach Deutschland geflohen. Er war einer der ersten, die in den ehemaligen Gasthof einzogen, als dieser zum Heim für Asylsuchende wurde. Von den jetzigen Bewohnern kann er am besten Deutsch. „Ich verstehe sie nicht. Ich weiß nicht, was sie wollen,“ sagt er zu ihnen. „Aber eins weiß ich: Die haben Hunger und müde sehen sie auch aus.“ Kawa Suliman heißt die beiden Gäste willkommen und führt sie an einen Tisch. Gabriele fällt auf, dass Tische und Stühle im Gastraum nicht zusammenpassten. "Die fangen wohl neu an“, denkt sie. Da muss man Verständnis haben, wenn's nicht so schnieke ist. Und außerdem ist der junge Gastronom wirklich nett. Suliman holt seine Freunde in die Küche. Mohammed Ali holt die Apfelmarmelade, die er zwei Tage zuvor gekocht hat, die anderen bringen Eier, Tomaten, Käse und Joghurt. Kawa Suliman richtet eine Platte an und serviert alles mit Fladenbrot. 

„Toll hat das geschmeckt", sagt Gabriele. Sie hatte einen grünen Tee bestellt, ihr Hans trinkt Milch. Den Karlsruhern gefällt das sympathische syrische Restaurant in Franken. „Nun würden wir gerne zahlen!“ Kawa schaut sie verständnislos an. „Aber ihr seid doch unsere Gäste, wir leben hier“. Er holt die anderen aus der Küche, Mohammed und die anderen. Willkommen in Deutschland, rufen sie. Und da erkennen Gabriele und Hans, wo sie gelandet sind. In einem Asylbewerberheim!

II. (Bibeltext)

Im Hebräerbrief heißt es (Übersetzung: BasisBibel außer v3 (a)):

Die Liebe zu den Brüdern und Schwestern soll bestehen bleiben. Vergesst aber auch die Gastfreundschaft nicht. Denn auf diese Weise haben schon manche, ohne es zu wissen, Engel als Gäste aufgenommen. Denkt an die Gefangenen, als ob ihr mit ihnen im Gefängnis wärt. Denkt an die Misshandelten, als wäre es euer Körper, der misshandelt wird (a).

III. (Begegnung bei Abraham und Sarah)

Abraham ist der perfekte Gastgeber. Als die 3 Männer vor seinem Zelt stehen, lässt er alles stehen und liegen, sorgt dafür, dass sie sich waschen können und sich im Schatten niederlassen. Er tischt ihnen auf, was er hat: Brot, Butter, Milch, Kalbfleisch. Und sie kommen ins Gespräch. Über die Zukunft und die Herkunft, über Träume und Pläne. Und die Gäste verkünden, dass die hochbetagte Sara einen Sohn bekommen wird. Als die das hört, bekommt sie einen Lachanfall. Peinlich, dass die Gäste das mitbekommen. Denn es ist unhöflich, über Gäste zu lachen. Und erst recht über Engel. Sara versucht sich rauszureden, aber es gelingt ihr nicht wirklich. Die Gäste ziehen weiter.

Gäste, die was zu sagen hatten. Die sie überraschten und eine andere Welt mitbrachten. Gäste, die sich wohlfühlten und eigentümlich vertraut waren, obwohl sie so fremd waren. Und obwohl Abraham und Sarah wussten, wer sie waren, stellte dieser Besuch ihr Welt gehörig auf den Kopf. Ein Kind im hohen Alter. Das hatten sie doch schon abgehakt. Und jetzt? Lachen und Weinen zugleich. Die Zukunft bekommt eine neue Farbe. Engel als Gäste - „ Vergesst (…) die Gastfreundschaft nicht….“

IV. (Begegnung an deutschen Tischen)

Viele von uns Deutschen tun sich nicht so leicht mit der Gastfreundschaft. Spätestens im Ausland merken wir den Unterschied. Wenn wir z.B. unsere Partnerkirche in Südindien besuchen, dann werden wir schon am Flughafen mit Blumenketten empfangen und überall, wo wir hinkommen, freuen sich die christlichen Schwestern und Brüder uns zu sehen und das zeigen sie uns mit Tischen voller Speisen und Getränke. Umgekehrt fällt es uns jedes Mal sehr schwer, überhaupt genügend Interessierte zusammen zu kriegen, wenn unsere indischen Gäste kommen. Nicht selten habe ich mich dafür geschämt.

Oder wenn wir im Interreligiösen Dialog gemeinsame Treffen organisieren. Egal ob wir in der Synagoge sind oder in der Moschee: immer gibt es Tee, Gebäck und richtig leckeres Essen. Unsere Dialogpartner zwinkern uns zu: Und? Wann ladet ihr uns ein?

Warum tun sich viele von uns so schwer - auch und gerade in unseren Gemeinden? Haben wir verlernt, uns in den Fremden, die Fremde hineinzufühlen? Oder ist es nur eine Sache der Mentalität? Wollen wir alles immer zu perfekt machen? Oder wollen niemand Fremdes reinschauen lassen in unser Privates? Warum auch immer: ich wünsche mir, dass unsere Kirchen gastfreundlicher werden.

V. (Engelbegegnung)

„Vergesst die Gastfreundschaft nicht“ - warum eigentlich?

Weil ein Engel vor der Tür steht. Ein Bote oder eine Botin von Gott. Ein himmlischer Gast, dem man seine himmlische Herkunft nicht ansieht. Er besucht den wandernden Abraham mitten im Tag und isst mit ihm. Er stärkt Elia, als dieser nicht mehr weiter kann und nur noch sterben will. Ein Engel kommt mitten in der Nacht zur jungen Maria und sagt ihr, dass sie ein Kind bekommt und dieses Kind ist nicht irgendwer. Und sie weiß nicht wie ihr geschieht, aber sie spürt, dass die Welt nicht mehr dieselbe ist. Ein Engel besucht die Hirten mitten in der Nacht und bringt sie dazu, ein Neugeborenes im Stall zu besuchen und daraus ihre ganze Hoffnung zu schöpfen. Ein Engel tröstet den verzweifelten und müden Jesus im Garten Gethsemane und es sind Engel, die die trauernden Frauen am Grab von Jesus wieder ins Leben schicken.

Und nun klopft jemand bei mir an, ich lasse ihn ein, decke den Tisch, biete etwas zu trinken an. Ein Glas Wein, ein Bier, ein Wasser, einen Kaffee? Mein Gast soll sich wohl fühlen, willkommen sein. Zuhause sein. Ich nehme mir Zeit, ich höre ihm zu, ich bin neugierig, was er zu erzählen hat. Meine Welt wird weiter, wenn ich einen Gast habe. Meistens. Ob meine Küche aufgeräumt ist oder der Zeitungsstapel noch das Sofa bedeckt, ist völlig egal. Ein Engel?

VI. (Begegnung mit Gott)

Macht Platz für Gottes Engel! Nicht nur zuhause, sondern auch hier, in der Kirche. Gerade hier. Schaut genau hin. Wenn Neugierige oder Suchende den Weg in unsere Kirche finden, werden sie sich dann wohl fühlen? Willkommen sein? Ist die Tür überhaupt offen? Wie leicht machen wir es ihnen, sich zurecht zu finden? Und kommen wir sogar miteinander ins Gespräch? Es könnten Engel sein, die uns was zu sagen haben und unsere Welt auf den Kopf stellen.

Sie haben Gott mit im Gepäck und sie haben was zu sagen. Nicht alles ist gefällig. Aber sie verbinden dich mit dem Himmel. Und die Zukunft bekommt eine neue Farbe.

Waren Gabriele und Hans im fränkisch-syrischen Asylbewerberheim vielleicht Engel? Ich glaube, ja. Vielleicht nicht von Anfang an, wer weiß das schon? Aber sie wurden zu Boten Gottes. Sie erzählten es weiter: von Kawa und Mohamed und wie selbstverständlich sie als Gäste behandelt wurden. Sie rührten damals vor viereinhalb Jahren eine ganze Nation. BILD, RTL, FAZ und der Bayrische Rundfunk erzählten davon. Es entstand sogar ein Kurzfilm (b) daraus, der nun in Schulen und Kirchen gezeigt wird. Die Geschichte geht weiter und sie zeigt: geflüchtete Menschen bringen eine Kultur der Gastfreundschaft mit, die uns guttut. Es sind Menschen, die für andere da sein wollen. Die was zurück geben wollen, wenn man sie nur lässt. Ihre Geschichte geht uns was an. Denn es könnte unsere Geschichte sein.

Ja, Gabriele und Hans wurden zu Engeln, weil sie ihre Geschichte nicht für sich behielten. Botin und Bote Gottes. Botin und Bote einer Menschenfreundlichkeit, die unsere Gesellschaft braucht.

VII. (Begegnung ermöglichen)

Reißen wir unsere Kirchentüren auf. Halten wir die Kirchen offen für Gäste, die womöglich Engel sind. Sie sind im Namen Gottes unterwegs. Haben uns was zu sagen. Überraschend. Das Herz weitend. Unsere Welt auf den Kopf stellend. Vielleicht nehmen wir sie am Anfang nicht ernst, so wie Sarah. Oder wir wissen nicht, was sie eigentlich suchen, so wie es den Syrern in Franken ging. Aber lasst uns gastfreundlich sein. Heute. Morgen. Die nächsten Tage. Damit die Welt eine andere wird. Eine größere. Eine weitere. Eine Welt, die Platz hat für Gottes Engel und Raum für seine Freundlichkeit.

Amen.

 

  1. Der Vers 3 ist im letzten Teil eher an die Genfer Neue Übersetzung angelehnt

(b) Kurzfilm "Die Herberge" von Ysabel Fantou und Sanne Kurz

 

Empfehlung: Genesis 18,1-16a als Lesung verwenden

 

 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Christiane Quincke

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
In die Gottesdienste der Stadtkirche kommen immer wieder auch ausländische Gäste und immer wieder Menschen, die das erste Mal da sind - angezogen von hochwertiger Kirchenmusik. Oft bleiben sie unbeachtet. Im Kirchenbezirk pflegen wir seit über 20 Jah-ren eine Partnerschaft mit der südindischen Diözese Coimbatore. Außerdem spielt die Arbeit mit Flüchtlingen immer wieder eine Rolle im Kirchenbezirk. So haben wir als Evangelische Kirche eine Kampagne unterstützt, dass Pforzheim sich zum „sicheren Ha-fen“ erklärt. Leider bisher erfolglos…

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das Thema „Gastfreundschaft“ ist hochaktuell. Ich hatte mich „irgendwie“ an die Zeitungsmeldung vom Dezember 2015 erinnert, die von dieser Verwechslung einer Asylunterkunft mit einer Gaststätte erzählte. Der Charme dieser Geschichte hat mich sehr eingenommen….

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Erkenntnis, dass nicht die freundlichen Gastgeber die Engel sind (wie wir vielleicht zuerst annehmen würden), sondern die Gäste - und die Frage: was macht Gäste zu Engeln?

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mit meinem Predigtcoach Jan Mathis hatte ich einen regen Austausch zu meinem Predigtentwurf. Er ermutigte mich dazu, mich stärker auf den Vergleich mit Gen 18 zu konzentrieren (Am Anfang hatte ich noch Mt 25 mit dabei) und damit auch eher den Überraschungscharakter zu betonen statt den ethischen Impuls einer Imitatio Dei. Das und seine wertschätzende Würdigung des Gesamtduktus waren sehr hilfreich für mich. Danke dafür!

 

Perikope
26.07.2020
13,1-3

Verlassen - Predigt zu Hebräer 13,12-14 von Heinz Behrends

Verlassen - Predigt zu Hebräer 13,12-14 von Heinz Behrends
13,12-14

Verlassen tut weh.

Ich schau nach einem wunderbaren Tag am Strand von Cassis an der Cote d’Azur noch einmal mit meiner Frau auf die Bucht. Das Wasser leuchtet in verschiedenen Blau-Grün-Tönen, die Abendsonne liegt orange auf dem gegenüberliegenden Felsen. Es ist der letzte Urlaubstag. Ob wir hier im nächsten Jahr wieder stehen werden? Jetzt weiß ich, ich werde es diesen Sommer nicht wiedersehen. Die Pandemie wird es verhindern. Ob ich diesen Blick jemals in meinem Leben wieder haben werde? Ich werde traurig. Abschied nehmen, verlassen tut weh.

Es ist eine kleine Vorerfahrung vom Sterben. Wir haben hier keine bleibende Stadt.

Aber wenn es nach Hause geht,  ist der Schmerz nur kurz.

Jeder möchte wissen, wohin er gehört, wo er sein kann wie er ist, wo er sich nicht beweisen muss, wo er fraglos ist. Zuhause ist jeder kompetent.

 

Uns allen ist in diesen Wochen das Zuhause genommen, mindestens verunsichert ist es. Der Virus scheucht uns auf.  Gewohnte Abläufe gehen nicht mehr. Abstand halten als Zeichen der Zugewandtheit.  Sein Gesicht verstecken durch Mundschutz. Soziale Kontakte meiden. Wir lernen ganz neue Verhaltensweisen.

Und etliche sind in ihrer Existenz bedroht. Für sie ist das keine Zeit des Lernens, keine Pause. Die beiden jungen Männer haben vor 4 Jahren ein kleines Bistrorant aufgemacht, Kaffee am Morgen und mittags eine sehr gute Pasta. Sie haben sich mit viel Liebe eine Schar von Stammgästen erarbeitet. Am Montag mußten sie schließen. „Wir halten bei den Fixkosten vier Wochen durch“, sagen sie, „dann sind wir am Ende trotz aller Maßnahmen der Regierung“. Ihr neues Zuhause werden sie leer zurück lassen müssen. Es ist noch gar nicht abzusehen, was all diese Erfahrungen dieser Tage mit uns machen werden. Auf jeden Fall ist es ein Abschied. Ein uraltes Thema der Bibel.

 

Jesus nimmt Abschied

Es ist das Thema Jesu: Gehen, verlassen, Zukunft suchen. Er hat das als Sohn des Ersten Testaments schon als Kind eingesogen. Abraham verläßt sein Vaterhaus und zieht ins Unbekannte. Das Volk Gottes wohnt in Zelten. Ja, Gott selbst wohnt mit seinen Geboten in einem Zelt, das mit dem Volk zieht. Der spätere Tempelbau ist sehr umstritten. Anhalten, bleiben, Häuser bauen. Die Propheten kritisieren, wenn das Volk sich darauf ausruht, seßhaft zu werden. Dennoch: Sie bauen ihre Häuser, ihre Straßen, ihre Brunnen, ihre Märkte. Sie bauen ihre Stadt. Und richten sich ein.

Das ist nicht der Geist Jesu. Er verläßt die Werkstatt seines Vaters und wird ein Wanderprediger. Die Füchse wissen, wo sie sich abends schlafen legen, er weiß es nicht. Seine wandernde Existenz ist Ausdruck seiner Haltung. Leben ist Bewegung, Aufbruch.

 

In Lagern einrichten

Aber der Mensch braucht Wurzeln. Er braucht Heimat. Er will wissen, wohin er gehört. Je weitläufiger die Welt wird, desto mehr sehnt er sich nach Heimat. Sehnsucht nach Ankommen, Bleiben. Heimatbücher haben Konjunktur.

Nur, feste Häuser schaffen ein Problem. Sie lehren das Festhalten. Hecken, Zäune, Überwachungskameras. Geschlossene Fensterläden. Geschützte Räume verlangen nach Recht. „Wenn ihr erst besitzt“, sagt der Hl Franz, „dann braucht Ihr auch Waffen, es zu verteidigen“. Feste Häuser werden zu Lagern. Man will unter sich sein. Milieugebundene Stadtteile entstehen. Im Lager entsteht eine Lagermentalität. Die Schriftgelehrten und Hohepriester bilden ein Lager. Man definiert sich über Zugehörigkeit zum Lager. Wir erleben das in diesen Tagen auf andere Weise. Es dürfen nur in Kontakt sein, die miteinander leben in einer Familie oder Wohngemeinschaft. Wir spüren, wie kostbar es ist, jemanden zu haben, der bei mir ist. Umso schwerer für die Alleinstehenden oder die Familie, in der die Konflikte schon lange schwelen. Aber ebenso stark ist die Sehnsucht, endlich wieder Kontakt nach draußen zu haben, zu den anderen. Das feste Haus ist verunsichert.

 

Herausbewegen – das ist Jesu Existenz

Ein festes Haus gibt es nur im Glauben. Jesu Existenz ist das Heraustreten, so wie das lateinische Wort „Existenz“ zu übersetzen ist. Ex-sistere. Herausstellen, sich herausbewegen. Er bricht den Lagergedanken auf. Die ihn verurteilen und draußen vor den Toren der Stadt töten, wissen gar nicht, dass der Ort außerhalb der Stadtmauer genau seinem Wesen entspricht. Sie wollen ihn behandeln wie ein Tier-Opfer im Tempel, das seinen Dienst getan hat und draußen vor dem Tor durch Verbrennen entsorgt wird.

Nein, er ist die ganze Zeit seines Wirkens aus den Gewohnheiten herausgetreten. Er gab auf, sein Recht zu behaupten. Er verzichtet auf Besitz. Er setzt die Beziehung zu Gott höher als zu Mutter und Geschwistern. Er hat Menschen nie fest genagelt. Er gibt dem Zachäus Raum zur Veränderung, der Ehebrecherin für einen neuen Anfang.

 

Und die Schmach ertragen

Heraustreten mag ja noch gehen, aber er fügt hinzu. „und tragt seine Schmach“. Wer die Konventionen im Lager bricht, der fliegt raus, der verliert die öffentliche Anerkennung. Ich denke jetzt nicht an die, die sich profilieren wollen durchs Heraustreten oder um ihre Macht kämpfen. Donald Trump, Boris Johnson. Nein, die sich zu Christi Geist bekennen.

Nun müssen wir in unserer Gesellschaft wenig Schmach ertragen, weil wir Christen sind. Da ergeht es den Schwestern und Brüdern in Nord-Korea, im Irak, in Syrien schon anders. Sie werden vor die Tore der Stadt gedrängt, dass sie aushalten oder flüchten müssen. Wer die Schmach getragen hat, der versteht das Leiden Jesu vor den Toren der Stadt, außerhalb der Gesellschaft.

 

Verlassen ist Lebensaufgabe

Verlassen ist meine Existenz von Beginn an. Der erste Schock, wenn ich den warmen Mutterleib verlassen und selbst anfangen muss zu atmen, um nicht zu sterben. Der erste Tag im Kindergarten ohne Mutter oder Vater. Das Elternhaus verlassen. Der erlernte Beruf reicht nicht für ein ganzes Leben. Neues lernen. Die Kinder verlassen das Haus und richten sich in der eigenen Existenz ein. Der erste Schmerz im Rücken, der Schuss der Hexe. Die Melancholie des 70jährigen: „Wie viele Frühlinge werde ich noch sehen?“ Für viele Ältere ist diese Frage im Augenblick nicht mehr mit Koketterie gestellt. Wird es dann ein Beatmungsgerät für mich geben?  Muss ich meine vertraute Wohnung einmal verlassen, um mich in einem Pflegeheim versorgen zu lassen? Wir haben hier keine bleibende Stadt. Alle Sicherungsmaßnahmen taugen nicht.

 

Freude auf Zukunft

Wer verlässt, muss wissen, wohin er will. Nicht ausweglos fliehen.

Jens packt vergnügt seinen großen Rucksack. Mutter steht etwas aufgeregt und betrübt daneben. Für ein Jahr wird er in Kanada sein, Schüler-Austausch. Seine Gastfamilie hat er schon über skype und instagram kennengelernt. Großes Haus haben sie am Rande von Toronto, zwei Kinder, die Tochter zwei Jahre älter als er, Jim, der Sohn in seinem Alter, seine Klasse. Er freut sich, in der neuen Familie zu leben, das Land kennen zu lernen. Seit einem Jahr bereitet er sich darauf vor. Und nach einem Jahr spricht er fließend Englisch. Vielleicht zieht er später mal ganz nach Kanada, vielleicht auch Neuseeland, gleich nach dem Abitur in zwei Jahren. Das alles geht ihm durch den Kopf während Mutter aufgeregt seinen Rucksack mit ihm packen will. „Hast du auch nichts vergessen?“ „Nein, Mutter“.

-„Und in drei Monate besuche ich dich“. – „Bitte nicht, Mama“.

Er weiß, wohin er will. Keine bleibende Stadt zu haben, das ist ihm eine helle Freude.

Ja, die zukünftige suchen wir. Wir werden sie mit mehr Druck als Jens in den nächsten Monaten und Jahren suchen und am besten gemeinsam finden. Die an Christus glauben, sind dafür gerüstet.

 

Zwischen Sehnsucht nach zuhause und Aufbruch in die Zukunft, das ist unsere Existenz. Die Lyrikerin Mascha Kaleko weiß um diese Spannung. Darum nennt sie ihr Gedicht „Rezept“.

„Sage nicht mein.
Es ist dir alles geliehen.

Lebe auf Zeit und sieh,

wie wenig du brauchst.

Richte dich ein.

Und halte den Koffer bereit“

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Superintendent i.R. Heinz Behrends

1.​Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?

 

Ich habe eine Gemeinde vor Augen, die an lebensnaher Auslegung interessiert ist. Deshalb wähle ich eine einfache Sprache. An diesem Sonntag haben alle nur ein Thema: Die Sorge um den Fortgang der Pandemie. Sie darf nicht verniedlicht werden, Zukunft darf nicht zu rasch versprochen werden.  Dennoch Öffnung für das Leben danach

 

 

2.​Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?

 

Das Thema des Textes ist ein existentielles. Es spricht jeden/jede an. Jeder/ jede ist kompetent. Sehnsucht nach zu Hause und nach der Weite. Verlassen und Heimkehren. Als Mensch von der Nordseeküste liebe ich die Seemannslieder, die genau dies Thema in Vielfalt besingen.

 

 

 

3.​Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?

 

Mit 72 Jahren und noch voller Lust am Leben ist meine persönliche Frage: Wie viele Frühlinge werde ich noch erleben?

 

4.​Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?

 

Der Situation geschuldet ist der Coach nur einen Schritt (4 Tage vor dem Sonntag) gegangen. Ihre Hinweise waren alle sehr hilfreich. „Weniger, aber konkret. Nicht moralisieren“.

 

Ich habe auf grund des aktuellen Standes der Pandemie kurzfristig die Predigt auf die Situation hin konkretisiert. Der Coach konnte auf grund der Arbeitssituation darauf vorher nicht eingehen, hat dann aber sehr ermutigend den korrigierten Text weiter empfohlen. Danke.

 

 

 

 

 

Perikope
29.03.2020
13,12-14

Von Großmüttern und anderen Priestern - Predigt zu Hebräer 4,14-16 von Hanna Hartmann

Von Großmüttern und anderen Priestern - Predigt zu Hebräer 4,14-16 von Hanna Hartmann
4,14-16

Liebe Gemeinde,

Lena war fünf Jahre alt. Sie hatte eine kleine Katze, an der sie sehr hing. Eines Tages passierte es: ihre geliebte Katze wurde überfahren. Lena war aufgelöst und am Boden zerstört. Es war ihre erste Begegnung mit dem Tod. Ihre Eltern versuchten sie zu trösten und erzählten ihr von einem Katzenhimmel. Aber das tröstete sie wenig. Sie wollte ihr Kätzchen zurückhaben und betete darum. Aber es kam nicht wieder. In ihrer Not wandte sie sich an ihre Großmutter: „Warum, Oma, warum?“ Die Großmutter legte ihrem Arm um sie und nahm sie auf ihren Schoß. Und dann erzählte sie ihr, wie das damals gewesen war, als ihr Großvater starb und wie schlimm das für sie gewesen war. Damals hätte sie auch gebetet; aber Gott hätte ihren Großvater nicht zurückgebracht. Warum, das wüsste sie auch nicht... Inzwischen hatte Lena den Kopf an Großmutters Brust gelegt. Sie schluchzte. Als sie wieder zur Großmutter aufschauen konnte, bemerkte sie, dass auch sie weinte. Später erzählte Lena: „Auch wenn meine Großmutter mir keine Antwort gegeben hatte, fühlte sie danach doch alles anders an. Meine Großmutter war einfach ein Schoß. Und von diesem Schoß aus konnte ich mich dem stellen, was sich nicht ändern ließ. Aber jetzt war ich nicht mehr allein.“ *

 

Liebe Gemeinde, hier hat ein kleines Menschenkind Trost und Hilfe erfahren. Und das nicht durch Stärke und Weitblick, sondern durch bloßes Mit-Fühlen und Mit-Leiden. Miteinander haben die beiden, die Großmutter und ihre Enkelin, noch einmal durcherlebt, wie weh das tut, etwas oder jemand Geliebten zu verlieren. Und dieses „Miteinander“ im Leid, das hat Lena wieder Grund unter den Füßen gegeben, so dass wie wieder aufstehen konnte.

Ich gestehe: Wenn ich an Helfer und Beraterinnen, Seelsorger, Ärztinnen, Supervisoren oder Coaches denke, dann habe ich oft eher starke Menschen vor meinem inneren Auge. Fachleute eben, die ihr Metier verstehen und wissen, wie’s geht. Doch mit dem Wissen allein scheint es nicht getan. Es braucht mehr und v.a. auch anderes, damit Trost und Hilfe ankommen können.

Hören wir, was die Bibel von Jesus sagt, wie er zu uns kam und kommt. Hebräer 4,14-16:

Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis. Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. Darum lasst uns freimütig hinzutreten zu dem Thron der Gnade, auf dass wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden und so Hilfe erfahren zur rechten Zeit.

Jesus wird uns hier als Hohepriester vorgestellt, zu dem man freimütig und ohne jede Scheu kommen kann.

Ein Priester ist einer, der sich in heiligen Dingen auskennt und der Zugang hat zu Gott. Und ein Hohepriester – das war ein besonders hoher und herausgehobener Amtsträger im Tempel im Jerusalem. Nur er durfte die inneren Räume des Tempels betreten. Er brachte Opfer dar und vor allem betete er für das Volk. 1 x im Jahr, am Versöhnungstag, betrat er – und nur er! – das Allerheiligste. Es war der Ort, wo die Lade Gottes stand. Sie wurde von zwei goldenen Cheruben bedeckt. Niemand außer ihm durfte hineingehen in diesen abgeschirmten und stillen Raum der greifbaren und doch unbegreiflichen Gegenwart Gottes.

Jesus als Hohepriester!

Dabei hatte er doch bei seinem Vater Zimmermann gelernt, aber keineswegs das Priesteramt. Den allergrößten Teil seines Lebens war er in Nazareth und Galiläa daheim; Jerusalem hingegen besuchte er nur zu besonderen Anlässen. Außerdem fehlte ihm der richtige Stammbaum, um Hohepriester werden zu können. Denn das war den Aaroniten vorbehalten; er aber kam aus dem Stamm Juda.

Und doch bezeichnet ihn der Hebräerbrief als Hohenpriester: Wir haben einen großen Hohenpriester, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat.  

Das Hohepriesteramt von Jesus ist also keines, das ihm Menschen verliehen hätten, und es hängt auch nicht an seiner irdischen Abstammung. Sein Hohepriesteramt hängt vielmehr an seiner göttlichen Herkunft als Sohn Gottes. Als solcher war er Gott nahe und kannte den Himmel „wie seine Hosentasche“, hatte ihn erwandert und durchstreift. Und Gott selbst war es, der ihn gesandt hat und ihn eingesetzt und autorisiert: Jesus – der Gesandte und Gesalbte Gottes! Hohepriester qua Herkunft.

Das, liebe Gemeinde, war damals das Bekenntnis der Gläubigen. Und das glauben und bekennen wir als Christen auch heute: Jesus Christus ist Gottes Sohn; er kam von Gott und ist wieder bei Gott. Und genau in dieser Bewegung liegt das Geheimnis. So nah wollte er uns Menschen sein, dass er als Mensch zu uns gekommen ist. Als Mensch unter Menschen. An Weihnachten feiern wir das Wunder seiner Geburt. Doch er bleibt ja kein Kind. Er wird älter. Er geht bei seinem Vater in die Lehre. Er hat Konflikte mit seiner Familie. Er findet neue Freunde. Er erlebt Gastfreundschaft. Und er erfährt Anfeindung und Grausamkeit böswilliger und machtgieriger Menschen. Am Schluss behandeln sie ihn wie einen Verbrecher, mobben und verspotten ihn: „Du kannst andern helfen? Hilf dir doch selbst, wenn du kannst!“ Sie foltern ihn, legen ihn aufs Kreuz und töten ihn. Doch Gott hat ihn auferweckt.

Gottes geliebter Sohn, er wurde so ganz und gar Menschenkind und Spielball der Menschen von der Krippe bis zum Kreuz. Jesus, der den Himmel durchschritten hat, er hat auch zutiefst das Leid der Erde durchlitten. Er in seiner Person ist die Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen dem Heiligen und dem Profanen, zwischen Gott und Welt. Denn er kennt beides wie kein anderer. Ja sogar die Hölle ist ihm nicht fremd. Und dieser Jesus ist unser Hohepriester!

Das lateinische Wort für Priester heißt Pontifex. Übersetzt: „Brückenbauer.“ Jesus, der Brückenbauer. Wenn wir beim Bild der Brücke bleiben, dann steht der eine Pfeiler im Himmel, in der reinen Gegenwart Gottes. Und der zweite Pfeiler steht auf der Erde, mitten in unserer Welt mit ihrer Ungerechtigkeit, mit ihrem Leid und Schmerz und den vielen offenen Fragen: Warum, Gott, warum?

Durch sein Kommen, durch sein Leben, Leiden und Sterben hat Jesus diese Brücke gebaut. Er weiß, wovon einer redet, wenn er erzählt, wie er ausgelacht wird. Er kann mitfühlen, wie weh der Verlust ihres geliebten Menschen tut. Und er leidet auch mit einer kleinen Lena, die um ihre Katze trauert. Er fühlt die Schmerzen, wenn jemand gefoltert wird. Und er weiß aus eigener Erfahrung, wie ausgeliefert ein Flüchtlingskind ist.

Ein Hohepriester, der nicht erhaben über allem schwebt, sondern das Leben kennt. Zu dem kann man kommen. Freimütig und mit allem, was einem Kummer macht. Er legt zuallererst einmal den Arm um einen. Und – im Bilde gesprochen – nimmt er einen dann wie Großmutter ihre kleine Enkelin – auf den Schoß und weint mit einem. Was für ein wunderbarer Hohepriester! Er zeigt nicht nur den Weg zu Gott, er geht ihn mit. Darum lasst uns freimütig hinzutreten zu ihm, auf dass wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden und so Hilfe erfahren zur rechten Zeit.

Von unserer menschlichen Natur aus hätten wir es gern, dass es Versuchung, Leid, Schuld und Tod gar nicht gäbe. Sie gehören aber zur Welt und zum Leben, so schmerzlich das ist. Sie halten uns auf dem Boden. Und im besten Fall lehren sie uns, auch mit anderen gnädig zu sein, mit ihnen zu fühlen und zu leiden.

Und zu unserer evangelischen Tradition gehört ja das „Priestertum aller Gläubigen“. Wo also allen Christen zugesprochen und aufgetragen ist, seinem Mitbruder und seiner Mitschwester ein Priester und eine Priesterin zu sein. Sie alle haben als Christ und Christin die Kompetenz eines Brückenbauers oder einer Brückenbauerin. Dazu bedarf es weder eines Ingenieur- noch eines Theologiestudiums. Was ausreicht, ist die Bereitschaft, aus die Steine und Bruchstücke des eigenen Lebens ernst zu nehmen und sie einzubringen. Gerade auch aus den schmerzlichen. Denn aus den Stücken Ihrer und meiner Lebens- und Glaubenserfahrung kann etwas wunderbares werden.

Ein junger Mann kommt mir in den Sinn. Strahlend und ganz praktisch hat er seinen Glauben an Jesus gelebt. Er fühlte sich Gott so nah, dass er es sich gar nicht anders vorstellen konnte. Eines Tages meldete er sich ganz aufgelöst. Was war geschehen? Er war an Freunde geraten, die so ganz anders dachten. Und so ganz anderen Ideen folgten. Das Vertrauen zu Gott, das ihm bisher so sicher gewesen war, war ihm entglitten und auch die Freude war ihm immer mehr verloren gegangen. Es war eine bittere Erfahrung für ihn gewesen. Doch im Nachhinein, sagt er, war es auch eine wichtige Erfahrung. Weil er dadurch erkannt habe, dass der Glaube ein Geschenk sei und keineswegs ein Besitz oder etwas Selbstverständliches. Und ich bin mir sicher, dass er mit dieser schmerzlichen Erfahrung anderen noch eine wichtige Hilfe und ein Brückenbauer sein wird.

Die kleine Lena, deren Katze überfahren worden war, ist später übrigens Ärztin geworden. Sie sagte: „Was ich für meine Patienten sein will? Ein Schoß! Ein Schoß wie der meiner Großmutter. Ein Ort, von dem aus sie sich dem stellen können, was sie nicht ändern können, und an dem sie nicht allein sind.“ *

Amen.

 

*  Freie Nacherzählung einer Geschichte aus dem Buch „Aus Liebe zum Leben“ von Rachel Naomi Remen

 

Perikope
10.03.2019
4,14-16

Abstand und Nähe zu Gott - Predigt zu Hebräer 4,14-16 von Karoline Läger-Reinbold

Abstand und Nähe zu Gott - Predigt zu Hebräer 4,14-16 von Karoline Läger-Reinbold
4,14-16

1. Versuchung

Mit fünf Lügen fing es an. Mittlerweile sind es im Schnitt zehn oder mehr, an jedem einzelnen Tag. Falschaussagen. Manipulierte Berichte. Verdrehte Tatsachen. Geschönte Darstellungen. Oder, mit dreistem Selbstbewusstsein formuliert: alternative Fakten.

Die Washington Post hat sie gesammelt und gezählt, überprüft und  festgestellt: Donald Trump, der amerikanische Präsident, sagt nicht die Wahrheit.1 Wissentlich, willentlich, warum auch immer: in den etwas mehr als zwei Jahren seiner Amtszeit hat er inzwischen etwa 8.000mal öffentlich gelogen.   

Das ist bemerkenswert. Und wir nehmen das irgendwie hin: wir, die Amerikaner und eigentlich die ganze Welt. Fast hat man sich schon ein bisschen gewöhnt. Da spricht und twittert eben einer, dem man nicht alles glauben kann.

Am Mittwoch hat die Fastenzeit begonnen. Sieben Wochen wird sie dauern, bis wir dann Ostern das Auferstehungsfest feiern. Sieben Wochen, in denen Christinnen und Christen sich erinnern lassen an den Leidensweg Jesu. Eine besondere Zeit.

Sieben Wochen ohne. Nach alter Sitte sind es Fleisch und Wurst, auf die verzichtet wird in der Passionszeit. Alkohol, Schokolade, Fernsehen. Kleinigkeiten, die uns bewusst oder unbewusst den Alltag versüßen. Uns ablenken, milder stimmen, weicher.

Sieben Wochen ohne. Die Fastenaktion der evangelischen Kirche plädiert in diesem Jahr für Freimut: „Mal ehrlich! Sieben Wochen ohne Lügen“. Sieben Wochen die Wahrheit sagen. Ungefiltert. Einfach raushauen, was mir in den Kopf kommt, und was ich wirklich denke oder meine.

Ob ich mir das trauen will? Anstrengend kommt es mir vor, dieses Eintreten für die Wahrheit. Oder, vielleicht trifft es das besser: für meine Sicht auf die Realität. In den sozialen Medien ist das inzwischen ein richtiger Kampf. Zuhause und im Privaten kann es bedeuten, dass ich der Tochter schon beim Frühstück sage: „Also, dein Outfit heute, das geht gar nicht. So kannst du auf keinen Fall aus dem Haus“. Oder später zum Nachbarn im Treppenhaus: „Sie! Wo ich Sie jetzt endlich mal sehe! Das nervt mich total, dass Sie immer rauchen auf Ihrem Balkon. Bei uns ist der Qualm dann im Schlafzimmer.“ Das kann ich zwar denken – aber will ich das sagen?  

Schon lauert sie an der Tür, die Versuchung. Die Möglichkeit, nicht ganz ehrlich zu sein. Ein bisschen zu schummeln. Etwas dahinsagen, bloß damit Ruhe ist. „Wie gefällt dir mein neues Kleid?“ „Oh, super, ganz toll! Sieht wirklich klasse aus!“  

„Kleine Lügen tun nicht weh. Kleine Lügen sind wie Honig im Tee, wie ein Sahnebaiser, und sie machen das Leben leichter“, singt Max Raabe.2

Ja, die Versuchung ist groß. Oft ist da ein schmaler Grat zwischen Wahrheit und Flunkern, zwischen faustdicker Lüge und ehrlicher Auskunft. Einfach mal was behaupten, weil ich dann meine Ruhe habe. Oder einfach besser dastehe. Oder den Anderen auf Abstand bringen will.

Sich um Wahrheit bemühen, das ist anstrengend. Es bedeutet Arbeit an der Beziehung. Ich muss damit rechnen, dass der Andere gekränkt ist, sich aufregt. Diplomatisch sein und nicht verletzend, aufrichtig und doch offen für das Gegenüber, das ist nicht ganz leicht. Manchmal möchte ich lieber ein bisschen lügen, um mich und mein Gegenüber zu schonen.

Versuchung! Nun komm schon, Eva, probier‘s einfach aus! Säuselt die Schlange im Paradies.3 Was kann denn schon schiefgehen, du wirst nicht gleich sterben. Schon ist die Grenze  überschritten, ganz schnell kann das gehen.  

Und sieh da, die Schlange behält in einem Punkt sogar Recht: Adam und Eva werden nicht sofort mit dem Tod bestraft. Aber den Garten Eden werden sie verlassen. Und müssen jetzt mit Arbeit, Mühsal und Schmerzen leben.  

Der Abstand zu Gott, der ist größer geworden.

 

2. Der Mittler

Einer aber hat es geschafft, sagt der Hebräerbrief. Der war standhaft und stark und hat den Abstand wieder kleiner gemacht.  Obwohl er so schwach war wie wir. Ein echter, wirklicher Mensch. Einer wie du und wie ich. Jesus.

Das Evangelium4 erzählt, wie er dem Bösen begegnet. Und Jesus  bleibt stark. Verzichtet: auf Nahrung. Auf seine Macht, das Wunder zu tun, auf den Erweis seiner Größe und Herrlichkeit.  

Die Erzählung von Jesu Versuchung macht klar: Da liegen Welten zwischen ihm und mir. Jesus ist einer, der hat wirklich Kraft und macht sein Ding. Es wäre sinnlos, sich mit ihm zu vergleichen. Als Gottes Sohn gehört er einer anderen Liga an. Und darum setzt er dem Bösen etwas entgegen.

Der Hebräerbrief sagt: Er ist der große Hohepriester. Den Himmel hat er durchschritten und ist unser Mittler. Er überwindet, was uns von Gott trennt. Er kommt von oben, kennt die Distanz zwischen Höhe und Tiefe, von den Kindern zum Vater. Und er ist versucht worden, wie wir.

Jesus weiß also, wovon die Rede ist, wenn ich ihm das Elend meines Unvermögens klage. Meine Schwäche, meine Schmerzen, meine Inkonsequenz und all das Weinerliche. Er kennt die Lebensfragen; mehr noch: all das Nervige. Die Belanglosigkeiten. Den ganzen Kram, mit dem ich mich herumschlage, all das, was belastet.  

Ein Hohepriester. Aber einer, der nicht abgehoben ist. Der nicht weit weg ist von dem, was mich bewegt und beschäftigt. Und gleichzeitig ist er am nächsten dran – an Gott. Denn nur der Hohepriester darf im Tempel das Allerheiligste betreten. Zum großen Versöhnungstag bringt er das Sühnopfer dar. So wird es beschrieben in der Thora. Der Hebräerbrief erinnert an dieses kultische Amt und erklärt mit diesem Bild, was es mit Jesus auf sich hat.

Der ist ganz nah bei Gott, und er ist ganz nah bei uns. Er ist der Mittler für Gottes Gnade und Barmherzigkeit. Der Abstand zwischen Mensch und Gott, Jesus macht ihn gering. 

 

3. Gnade

Und: Darum lasst uns festhalten, sagt der Hebräerbrief. Lasst uns festhalten am Bekenntnis zu diesem Gottessohn und Menschen, der da vom Himmel kommt und doch für uns da ist.

Lasst uns festhalten. Ein bisschen rührend klingt das. Ich denke an die alte Dame mit dem Hut, wie sie im Café sitzt und sich festhält an ihrer etwas altmodischen Handtasche. Ab und zu streicht sie liebevoll über das glatte Leder und sagt sich: es ist alles noch da.

Lasst uns festhalten an diesem Schatz, den wir da haben von unseren Müttern und Vätern. Wir können stolz darauf sein, haben nichts zu verstecken.  

Haltet fest, haltet durch! Bleibt verbunden in diesem Glauben, das ist die Botschaft des Hebräerbriefs. Die Menschen, zu denen dieses Schreiben spricht, sind Christinnen und Christen der zweiten oder dritten Generation, zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts. Menschen, denen es nicht leichtfällt, ihren Glauben zu leben, weil ihre Umwelt sie kritisch beäugt. Weil die Nachbarn und Freunde, vielleicht auch Partner und auch Familie sagen: was für einen merkwürdigen Kult ihr da habt. Aber die Glaubenden sagen: Lasst uns doch festhalten daran. Mut-mach-Worte sind das.

Lasst uns festhalten an dem, was uns geschenkt wird, schreibt der Hebräerbrief, und lasst uns freimütig hinzutreten zu dem Thron der Gnade, auf dass wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden und so Hilfe erfahren zur rechten Zeit.

Darum also geht es: Gnade. Barmherzigkeit. Hilfe. Jesus, der Mittler zwischen Gott und Menschen, er macht den Abstand wieder kleiner. Sein Thron der Gnade ist nicht weit entfernt. Weil Jesus weiß, wie es sich anfühlt, Mensch zu sein, darum ist er voller Sympathie. Er leidet mit uns an den offenen Fragen, an unseren hilflosen Versuchen, an unseren Lügen und an unserer Unvollkommenheit.

Gnade, Barmherzigkeit, Hilfe zur rechten Zeit. Fehlerfreundlichkeit. Langen Atem hat dieser Jesus für mich, und jederzeit ein gutes Wort. Und ich verstehe: Ehrlichkeit bedeutet auch, dem anderen eine Chance zu geben. Meine kritischen Worte zu prüfen, bevor ich sie anderen entgegen schleudere. Der Versuchung widerstehen, mich selbst zum Maß aller Dinge zu machen. Gnade nicht nur für mich, sondern für alle – und gerade auch für die, mit denen es schwer ist.

Sieben Wochen Passionszeit – sieben Wochen ohne Lügen. Mehr Ehrlichkeit und vielleicht auch mehr Demut. Vermutlich nicht für Donald Trump. Aber für jeden von uns, der darauf hofft, dass der Abstand zu Gott am Ende überwunden wird.  

Sieben Wochen, in denen wir uns festhalten an dem, der da geht. Vom Himmel auf die Erde und ans Kreuz, zurück zum Vater und immer wieder zu uns. Abstand und Nähe zu Gott.

Gnade und Hilfe für jeden, der glaubt. Amen.

 

1 I https://www.washingtonpost.com/politics/2018/12/21/president-trump-has-…

2 I https://www.universal-music.de/max-raabe/videos/kleine-luegen-292279

3 I Genesis 3,1-24: AT-Lesung für den Sonntag Invokavit.

4 I Matthäus 4,1-11: Evangelium für den Sonntag Invokavit.

Perikope
10.03.2019
4,14-16

Vom Ende der Opfer – Predigt zu Hebräer 9,15.26b-28 von Gabriele Arnold

Vom Ende der Opfer – Predigt zu Hebräer 9,15.26b-28 von Gabriele Arnold
9,15.26b-28

Liebe Gemeinde,

heute am Karfreitag steht das Kreuz da – groß und unerbittlich – vor unseren Augen, in der Mitte unseres Nachdenkens. Das Kreuz, Zeichen für den grausamen Tod, Zeichen für Menschenverachtung und Folter, Zeichen für sinnloses Töten und elendes Sterben. Hunderttausende von Kreuzen überzogen in der Antike die römischen Provinzen.  Kreuzigung war die grausamste Todesstrafe, die sich der römische Staatsapparat für Sklaven und Aufständische ausgedacht hatte. Nicht umsonst war die Anordnung, dass ein römischer Bürger nicht gekreuzigt werden durfte. Die Schreie der Sklaven finden Ihren Wiederhall bis heute in den Schreien und Schmerzen all der Opfer von Gewalttat und Folter durch die Jahrhunderte bis heute Morgen.

Warum quälen wir uns Jahr um Jahr am Karfreitag mit dem Kreuz? Warum stehen Kreuze in all unseren Kirchen? Hängen Kreuze in Krankenzimmern und Schulklassen? Warum verschenken wir dieses Folterwerkzeug an unsere Täuflinge und Konfirmanden? Haben wir denn wirklich nichts Besseres, Fröhlicheres, Einladenderes mit dem wir uns und unsere Kirchen schmücken könnten?

Nein, liebe Gemeinde, wir haben nichts Besseres, Größeres und Wertvolleres als das Kreuz. An diesem Kreuz hängt unsere Schuld, hängt unsere bitterste Not, hängt unser Leben, hängt unser Gott. Hier ist alles zu finden was wir zum Leben brauchen. Ohne dieses Kreuz wäre alles nichtig und sinnlos. Die Theologen des neuen Testamentes suchten nach Worten und Bildern, um das Geschehen am Kreuz zu verstehen und zu deuten. Wie sollte man  den Menschen damals erklären was das Kreuz bedeutet. Dass es etwas ganz anderes war als das, was vor Augen lag, nämlich das schmähliche Scheitern Jesu als Verbrecher am Kreuz. Paulus gebraucht das Bild der Versöhnung, im Johannes Evangelium ist vom Lamm Gottes die Rede und der Hebräerbrief spricht von Christus als dem Hohepriester, dem Mittler zwischen Mensch und Gott, dem Vermittler zwischen der ewigen Welt und unserer Welt. Immer geht es darum die Befreiung von Schuld und  Gottes Sieg über den Tod, und das offensichtliche schreckliche Ende Jesu zusammen zu denken und zusammen zu verstehen.  Jesus so der Verfasser des Hebräerbriefes ist der Vermittler zwischen uns und Gott. Bei Gott ist Leben und Heil und Christus bringt dieses Leben aus der göttlichen Welt auf die Erde, nicht nur in seinen Worten und Taten sondern in seinem Tod, der kein Scheitern ist sondern in Wahrheit ein Sieg. Er opfert sich selber um die Sünden der Welt davon zu tragen, aufzuheben und zunichte zu machen.

Dahinter steht eine für uns Heutige merkwürdig anmutende Vorstellung. Einer muss sterben, damit die Sünde aufgehoben wird. In vielen alten Religionen gibt es diese Vorstellung. Um die Sünden und die Schuld der Menschen wegzunehmen, muss meistens ein Tier geopfert werden. Diese Vorstellung  ist uns auf den ersten Blick  fremd und sie will nicht so recht zu dem Gott passen von dem Jesus erzählt hat. Unser Gott braucht keine blutigen Opfer, weder von Menschen noch von Tieren. Gott muss nicht gut gestimmt werden. Gott ist gut gestimmt gegen uns. Er liebt uns ohne Wenn und Aber. Und trotzdem gibt es auch bei uns heutigen Menschen die Erfahrung, dass etwas nicht stimmt. Nicht stimmt mit uns und dieser Welt. Die Bibel nennt das Sünde es ist die Erfahrung, dass es Dinge gibt, die nicht in Ordnung sind, die nicht gut sind und die Gott auch nicht gut heißen kann und die er auch nicht einfach so weglieben kann. Das sind die wirklich furchtbaren Verbrechen, das ist der Holocaust an den Juden und an den Sinti und Roma, das ist Mord und Gewalt, Vergewaltigung und Amokläufe, das ist aber auch der schnelle Besuch im Bordell,  der Hass, der sich in meinem Herzen eingenistet hat, die Lüge , die mich vergiftet. Und um noch eins drauf zu setzen es ist auch der Kaffee den ich trinke und die Schokolade die ich esse, für deren Anbau Menschen geschunden werden und nicht gerecht entlohnt. Und es sind die Tierversuche, die für Medizin aber auch die für den neuen Lippenstift. Wenn wir einmal anfangen all das Böse und Schlechte auf zu zählen dann können  wir gar nicht mehr aufhören. Es ist wie eine Flut. Und es gibt in unserer Welt so viele Opfer und manchmal wissen wir gar nicht ob die Täter nicht in Wahrheit auch Opfer sind. Das ist eine unglaubliche Ansammlung an Schrecken und Schlechten und das von alters her bis heute vom Nordpol bis nach Australien, von Ost nach West von oben und unten. Was für ein furchtbares Elend. Und was passiert nun damit? Wie können wir damit leben? Wie kann unsere Erde bestehen ohne an all diesem Gift zu zerbrechen? Das ist die große Frage. Und das ist auch die große Sehnsucht, dass es einmal keine Opfer mehr geben muss und keine Täter, dass es einmal gut wird mit uns und mit der Welt. Jesus ist es, der es aushält an unserer Stelle, der Mittler, der das aushält und wegtragen will. Jesus ist ein für alle Mal erschienen so der Verfasser des Hebräerbriefes und hat mit seinem Tod etwas gänzlich Neues und Unglaubliches getan. Er hat das Böse, die Schuld ausgehalten an unsere Stelle damit wir nicht an unserer Schuld zugrunde gehen müssen. Keiner soll mehr zugrunde gehen immer ist Vergebung und Neuanfang möglich. Und dass passiert durch Christus, der zwischen dem Himmel und der Erde hin und her geht, der vermittelt, der vom Himmel gekommen ist um uns den Himmel zu öffnen, um uns den Eintritt in den Himmel zu vermitteln. Und er nimmt das ganze Böse auf seine  Schulter und zerbricht daran. Es ist nicht so dass Gott seinen Sohn opfert und schlachten lässt. Nein, Christus opfert sich selber aus freien Stücken, um uns den Weg in den Himmel zu öffnen. In manchen unserer Gesangbuchliedern zur Passionszeit tauchen andere Bilder auf. Und die sind erstaunlich beharrlich in unseren Köpfen ja sogar in den Köpfen vieler Menschen, die sich sonst gar  nicht mit dem Christentum identifizieren. Es ist das Bild eines zornigen Gottes und um seinen Zorn zu besänftigen, opfert er seinen eigenen Sohn. Aber so ist Gott nicht. Gott ist ein Feind des Bösen und er leidet so sehr an diesem Bösen, weil er will dass wir leben und so wirft er sein Leben in die Waagschale in einem Sohn und bekämpft das Böse und die Gewalt mit Gewaltverzicht und Vergebung. Noch am Kreuz sagt er: Vergib Ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.  Und weil Gott Gott ist und größer und stärker als all das Unrecht als all das Schlimme, darum bleibt Christus nicht im Tod. Der Tod kann ihn nicht halten. Der Mittler Christus lebt und geht in die Herrlichkeit Gottes ein und wenn er wieder kommt,  kommt er zu uns allen, die auf sein Heil warten, nicht um uns zu bestrafen sondern  zum Heil.  D.H. in all dieser Flut des Bösen, der Sünde, der Gewalt können wir leben ohne verzweifeln zu müssen. Uns und aller Welt ist es bestimmt, dass die Sünde ein Ende hat, dass unsere Schuld uns nicht den Boden unter den Füßen wegzieht. Und deshalb macht es viel Sinn, dass wir heute Abendmahl feiern. Denn diese Geschehen am Kreuz und an Ostern, die Vergebung und die Chance zu Neuanfang, sie wurzeln in der Überwindung des Bösen am Kreuz.  Was damals ein für alle Mal geschah das reicht bis zu uns hier in die Kirche und es reicht auch noch weit hinein in die Zukunft. Im Abendmahl lädt Gott uns ein und in Wein und Brot kommt er und spricht uns das zu, was Christus für uns erreicht hat. Vergebung der Schuld und Neubeginn. Jedes Abendmahl ist die ausgestreckte Hand Gottes. Alles ist gut und vergeben. Du darfst leben und neu anfangen. Immer wieder neu. Keiner ist mehr da, der dir ewig vorrechnet was du getan hast. Und du musst es dir auch nicht selber immer wieder vorrechnen.

Im Abendmahl wird Versöhnung spürbar, sichtbar. Da stehen wir mit all den Scherben und Brüchen und werden entlastet von Gott. Da stehen wir und Gott reicht uns die Hand und sagt: Du darfst weiterleben, getrost und unverzagt und natürlich scheitern und dann eben doch auch wieder neu anfangen.

Und was ist mit  all dem was sonst noch am Kreuz gelandet ist. All das, was nie jemand bereut. All die furchtbaren  Morde und Schrecken der Weltgeschichte. All dieser Unrat.  All das tägliche Elend, all die unbelehrbaren und unbekehrbaren, all die die tief verstrickt sind in ihre unseligen Lebensgeschichten? Als Christen glauben wir, dass auch das in Ordnung kommt. Ganz am Ende der Zeiten werden auch die zur Einsicht kommen, die nichts einsehen und bereuen wollen und dann kann Gott auch ihnen verzeihen. Dann kann Gott auch darüber seinen Mantel der Vergebung legen, Ohne diese Perspektive wären wir unendlich arm. Aber wie das gehen soll, das wollen und müssen wir Gott überlassen und darauf vertrauen, dass er es schon recht macht und dass seinen Weisheit größer ist als unsere und seine Liebe tiefer als alles was wir ausloten können. Amen.

Perikope
30.03.2018
9,15.26b-28

Opfer sind passé – Predigt zu Hebräer 9,(11-14)15(16-26a).26b-28 von Peter Haigis

Opfer sind passé – Predigt zu Hebräer 9,(11-14)15(16-26a).26b-28 von Peter Haigis
9,(11-14)15(16-26a).26b-28

Tanzverbote?

Alle Jahre wieder … ist nicht nur Weihnachten, sondern auch Ostern. Alle Jahre wieder geht dem Osterfest die Passionszeit voraus, die sozusagen im Karfreitag gipfelt. Und alle Jahre wieder hebt um diesen Tag eine merkwürdige Debatte an, ob gesetzliche Tanzverbote an Karfreitag Sinn machen oder nicht. Auch in diesem Jahr wird es Leute geben, die kaum größere Lust verspüren, als ausgerechnet an diesem Tag des Jahres ihrem Tanzvergnügen nachzugehen. Wo Verbote sind, da regt sich eben auch die Lust, diese zu missachten oder zu übertreten – vielleicht sogar noch umso mehr.

Ich persönlich bin diese Debatte leid. Wir leben in einer Gesellschaft, in der ohnehin jede und jeder in seiner Freizeit tun und lassen kann, was er will. Wer mit der christlichen Tradition von Passion und Ostern etwas anfangen kann, der wird an Karfreitag vielleicht Gottesdienste und Meditationen oder Andachten besuchen, vielleicht auch ein Konzert, die Aufführung einer Passionsmusik oder ähnliches. Wer damit absolut nichts anfangen kann, wird diesen Tag anders gestalten und vielleicht – warum nicht? – Tanzen gehen. Jeder nach seiner Fasson!

Ist es so einfach? So beliebig? Einen kleinen Haken hat die Sache freilich: Noch ist der Karfreitag ein staatlich geschützter Feiertag. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass das Anliegen, das hinter diesem christlichen Feiertag steht, auch als gesamtgesellschaftlich relevant aufgefasst werden kann. Und in der Tat: Man muss keineswegs Christ sein, um den Sinn von Karfreitag zu verstehen. Im Kern geht es an diesem Tag darum, dass wir in einer Welt leben, die ohne die Beschädigung menschlichen Lebens und ohne Opfer offenbar nicht auskommt. Und das ist beschämend! Karfreitag kann eine Chance sein, hier innezuhalten und darüber nachzudenken, warum dies so ist oder auch möglicherweise so sein muss bzw. wie wir mit derlei Beschädigungen und Opfern umgehen wollen. Eine Chance, nicht mehr und nicht weniger – und die verdient es, im Trubel der übrigen 364 Tage im Jahr mit ihrem Rummel nicht unterzugehen.

Wer trotzdem lieber tanzen will oder muss – bitte! Man kann niemanden zu Anstand und Respekt gegenüber denen zwingen, die das Leben eben nicht als unversehrt ansehen oder gar erleben. Aber dann wenigstens hinter verschlossenen Türen!

 

Opfer

Im religiösen Sinne von „Opfer“ zu reden, ist aus der Gewohnheit gekommen. Wir kennen „Mordopfer“, „Unfallopfer“ etc. und wir „opfern“ allenfalls unsere Zeit, unser Geld oder unsere gute Laune. Dieser gewandelte Sprachgebrauch hat mit einer veränderten Lebenswirklichkeit zu tun. Beides, die veränderte Lebenswirklichkeit wie der gewandelte Sprachgebrauch, trennt uns von der Zeit, vom Lebensort und von den Gewohnheiten, die der Verfasser des Hebräerbriefs und seine Adressaten kennen. Und es ist gut, dass wir diesen Abstand haben, denn er ist ganz im Sinne des Hebräerbriefs – wie wir gleich noch sehen werden. Genau genommen hat der Hebräerbrief seinen Anteil an der Abschaffung religiöser Opfervorstellungen und damit auch an der Abschaffung der Opferpraxis.

Zu der Zeit, als der Hebräerbrief abgefasst wurde, war das religiöse Opferwesen im höchsten Maße alltagspräsent, unter anderem im Jerusalemer Tempelkult, aber auch in heidnischen Zusammenhängen im weiten römischen Weltreich. Es wurde geopfert, um die Götter zu beeinflussen, um sie milde zu stimmen. Es wurde geopfert, um Gott zurückzugeben, was ihm gehört an Leben. Und es wurde geopfert – so insbesondere im Judentum –, um vor Gott eine Sühneleistung zur Vergebung von Schuld und Sünde zu erbringen. Der Opferdienst im Jerusalemer Tempel stand – ganz abgekürzt formuliert – in der Funktion, Gemeinschaft zwischen dem Menschen und Gott zu ermöglichen. Der Mensch war in und durch Sünde verunreinigt und von Gott in seiner Heiligkeit und vollendeten Reinheit getrennt. Hier schloss das Opferwesen die Kluft und überbrückte den Graben. Die Priester im Tempel vollzogen dies in ihren täglichen Opfern mit den individuell dargebrachten Opfergaben und der Hohepriester vollzog es einmal im Jahr stellvertretend für das ganze Volk.

 

Gott und menschliches Leiden

Der Verfasser des Hebräerbriefes, den wir übrigens nicht namentlich kennen, schreibt an Gemeinden judenchristlicher Herkunft und er steht beim Blick auf die Frage „Opfer – ja oder nein?“ vor einem nicht gerade kleinen Problem. Eines ist ihm jedenfalls klar und daran soll nicht gerüttelt werden: Jesus ist der Christus; er ist der Sohn Gottes. Dieses Bekenntnis, das Christen zu Christen macht, ist ihm eine unaufgebbare Voraussetzung. Doch dieser Jesus von Nazareth starb am Kreuz einen blutigen und schmachvollen Foltertod. Warum? Wie lässt sich das mit seiner Gottessohnschaft zusammenbringen? Welchen Sinn sollte sein Tod haben, wenn er nicht einfach nur grausames und willkürliches Schicksal ist?

Eine Möglichkeit wäre es, den Tod Jesu, also den Tod des Sohnes Gottes, als Selbsthingabe zu verstehen. Das läge dann ganz auf der Linie von Weihnachten und der Menschlichkeit Gottes. Gott ist in Jesus den Menschen ganz nahe gekommen. Er ist sozusagen „einer von uns“ geworden, hat „Fleisch und Blut“ angenommen, wie es traditionell heißt – damit die Menschen Gott besser verstehen und damit Gott die Menschen versteht, gewissermaßen von innen heraus. Dabei ist Gott nicht nur das Schicksal eingegangen, das mit jedem menschlichen Leben verbunden ist, nämlich zu scheitern, zu leiden und zu sterben. Er ist zugleich das Risiko eingegangen, missverstanden bzw. überhaupt nicht verstanden und erkannt zu werden – und genau aus diesem Grund dann auch an Leib und Leben bedroht zu werden. Man kann sagen – und Jesu Tod so deuten: in ihm hat sich Gott selbst bis ins tiefste menschliche Martyrium hinein erniedrigt.

 

Christus als der ultimative Hohepriester

Das wäre – wie gesagt – eine Möglichkeit. Der Verfasser des Hebräerbriefes wählt jedoch einen anderen Weg. Er interpretiert Jesu Tod vom Opfergedanken her. Und auch hier ergeben sich wiederum unterschiedliche Möglichkeiten: So könnte man z.B. Jesus selbst als den Gegenstand verstehen, der geopfert wird. Ein Gedanke, der übrigens an anderen Stellen des Neuen Testaments auftaucht: Jesus als Opferlamm. Doch auch hier schlägt der Verfasser des Hebräerbriefs eine andere Richtung ein: Bei ihm ist Jesus Christus selbst der Hohepriester.

Wenn wir dem Gedankengang des Verfassers des Hebräerbriefes genau folgen, merken wir, dass er sich selbst zu diesem – offenbar ganz neuen und originellen – Gedanken erst durchringen muss. Deshalb steht zunächst noch die etwas schiefe Parallele im Raum, dass der Hohepriester bei seinem Opferritus natürlich nicht sein eigenes Blut vergießt, sondern das von Opfertieren, während Jesus bei seinem Tod am Kreuz sein eigenes Blut vergießt, das dann als viel wertvoller erachtet wird als das Blut eines jeden Opfertieres.

Entscheidend ist für den Verfasser des Hebräerbriefes aber gar nicht so sehr das Blutritual, sondern etwas anderes. Das wird am Ende unseres Abschnittes deutlich: Entscheidend ist für ihn, dass Jesus Christus wie ein Hohepriester für uns Menschen bei Gott einsteht – als Fürsprecher der Menschen vor Gott.

Damit verändert sich aber noch etwas anderes ganz entscheidend: Opfer, wie sie bislang praktiziert wurden, mussten immer wieder neu vollzogen werden, Jahr für Jahr oder auch Monat für Monat bzw. Woche für Woche. Denn immer wenn die Sünde erneut zwischen Mensch und Gott trat (also ständig), musste sie auch wieder neu aus der Welt geschafft und die Reinigung vollzogen werden – durch Opferungen. Das „Opfer“ Christi dagegen ist einmalig und unwiederholbar. Es genügt, dass Jesus Christus einmal dieses höchste und größte und in seiner Art einzigartige Opfer vollzogen hat und nun zum immerwährenden Fürsprecher und Anwalt der Menschen vor Gott geworden ist, denn als Sohn Gottes ist er Gott ja nahe wie niemand sonst.

Alles, was wir bislang erlebt haben, war die ständige Wiederholung der Opferungen im Tempel. Doch nun geht der Blick direkt in den Himmel. Mit der alten Opferpraxis ist Schluss. Der Mensch hat sie nicht mehr nötig. Jesus, der Mensch gewordene Gottessohn, tritt für den Menschen vor Gott ein – ohne weitere Opfer.

 

Opfer sind passé

Nach dem Tod Jesu Christi bedarf es keiner Opfer mehr – jedenfalls nicht im religiösen Sinn. Aus Gottes Perspektive ist die Opferung von Lebendigem – zu welchem Zweck und für welche Sünde auch immer – ein- für allemal passé. Wenn das aber vor Gott gilt, sollte es nicht umso mehr vor und unter uns Menschen gelten? Sollten Opfer nicht auch in dieser Welt passé sein?

Das würde zunächst bedeuten, dass es uns verboten ist, menschliches Leben zu opfern. Dann sollten wir es aber auch nicht so nennen, denn die Sprache verrät uns. Dass sich Soldaten im Kriegseinsatz „opfern“, ist widersinnig. Schlimm genug, wenn sie dabei ihr Leben lassen müssen – aber es für einen höheren Zweck quasi veredeln zu wollen, ist verquer. Umgekehrt müssen wir uns eher fragen, was mit und an unserem Leben schief läuft, wenn es derlei scheinbarer „Opfer“ bedarf. Wenn überhaupt, dann sind „Opfer“ ein Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmt mit der Art und Weise, wie wir leben. Spätestens nach Jesu Tod also sind „Opfer“ ein Skandal – wenn sie es nicht schon zuvor waren und eben erst spät in der Geschichte der Menschheit durch den Anfang, der mit Karfreitag einsetzt, als solch ein Skandal erkennbar wurden.

Was im Blick auf den Tod von Soldaten im Kriegseinsatz gilt, stellt sich an anderen Bereichen unseres Lebens nicht anders dar: „Opfer“ in der Medizin oder für pharmazeutische Forschung? Verkehrstote als „Unfallopfer“? „Opfer“ einer terroristischen Gewalttat? Immer zeigt das Wort „Opfer“ eigentlich nur an, dass etwas mit unserem Leben nicht stimmt. Denn wenn es „Opfer“ gibt oder scheinbar geben muss, so ist das unerträglich.

Ebenso unerträglich sind die „Opfer“ einer Erdbeben- oder Flutkatastrophe. In diesem Fall wird sich unsere Klage und unser Protest möglicherweise auch gegen Gott richten – im Namen Jesu Christi, der doch allem Opferwesen ein Ende gemacht hat. Im Angesicht derartig schrecklicher Ereignisse fragen wir uns nach dem Sinn solch einen Todes. Möglicherweise entdecken wir über diesem Fragen auch unser eigenes schuldhaftes Handeln und Planen, denn dass Menschen bei Erdbeben unter den Trümmern von Häusern begraben werden oder in Wasserfluten umkommen, ist zum Teil auch menschengemacht. Oft trifft es die Armen, die sich das teure Bauland nicht leisten können und in gefährlichen Flussmündungsgebieten ansiedeln müssen oder die sich keine stabilen Häuser zu bauen vermögen…

„Opfer“ sind immer skandalös und unerträglich, auch wenn es vielfach unvermeidlich ist, von „Opfern“ zu sprechen. Sie zeigen uns an, wo etwas mit unserem Leben nicht stimmt. Und das gilt sicherlich nicht nur für menschliches Leben; es gilt auch für das Leben von Tieren. Selbst wenn das religiöse Opferwesen mit Tieropfern ausgedient hat, so gibt es heute dennoch sinnlose Massenschlachtung und Massenkeulung von Tieren. Und wir müssen uns kritisch fragen: Welcher Lebensstil rechtfertigt solches Massensterben?

Opfer sind passé! Vor Gott, aber auch vor den Menschen. Wo sie geschehen und wo wir von ihnen sprechen, ist unser Leben beschädigt und schreit nach Heilung. Amen.

 

Perikope
30.03.2018
9,(11-14)15(16-26a).26b-28