Wann reißt der Himmel auf? – Predigt zu Jesaja 63 von Peter Schuchardt
Liebe Schwestern und Brüder,
in diesen Tagen ist der Himmel über Nordfriesland immer wieder einmal wolkenverhangen. Grau und schwer hängen die Wolken. Ich gucke immer wieder einmal nach einer kleinen Lücke, durch die ein Sonnenstrahl fällt. Aber ich finde keine. Kein schönes Wetter. Ich weiß: Das ist nun mal so. Aber ich wünsche mir doch, dass der Himmel endlich aufreißt und die Sonne alles in ihr helles Licht taucht.
Für manch einen von euch, liebe Schwestern und Brüder, ist das eine Lebenssehnsucht. Da sind es nicht nur ein paar Tage im Spätherbst, die ein bisschen aufs Gemüt drücken. Da geht es um das ganze Leben, das in grau gehüllt ist. Ein Leben, in das kaum ein Lichtstrahl fällt. Ein Leben, in dem Freude und Glück wie Fremdwörter klingen, wie aus einer anderen Sprache. Und immer wieder geht der Blick umher nach ein bisschen Licht in diesem Grau. In einem Lied fragt die Gruppe Silbermond: Wann reißt der Himmel auf, wann fällt auch in mein Leben etwas von dem himmlischen Glanz? Das Lied erzählt von dem Mann, der sich Tag für mit Tag den 1000 Kreuzen herumquält. So viel hat er zu tragen. Aber so sehr er sich auch anstrengt, jeder Tag gleitet ihm aus seiner Hand. Und da ist die junge Frau in Berlin, die durch alle sozialen Netze fällt. Drogen bringen ihr die Illusion von ein wenig Ruhe und Wärme, aber das ist nur ein kurzer Rausch. Noch nie fiel ihr etwas in den Schoß. Immer musste sie kämpfen. Sie fragt sich jeden Tag neu: Ist nicht irgendwo da draußen `n bisschen Glück für mich?
Das Leben dieser beiden ist in schwere graue Wolken gehüllt. Aber sie geben nicht auf. Denn tief in ihnen ist die Sehnsucht wach: Es muss doch noch etwas anderes geben. Zum Leben gehört auch die Freude, das Lachen und das Licht. Und darum fragen sie sich: Wann reißt der Himmel auf, auch für mich? Diese Frage verbindet sie mit manchen von euch, liebe Schwestern und Brüder. Wann reißt der Himmel auf, auch für mich? So viel Trauer, so viel Angst umgibt dich. So viele Sorgen fressen deine Lebensfreude auf. Wann hört das auf? Wann geht auch für dich der Himmel auf?
Wenn du so fragst, dann ist in dir eine der großen Lebensquellen. Und diese Lebensquelle ist die Hoffnung. Hoffnung heißt ja immer: Es muss nicht so bleiben wie es ist. Nun kann Hoffnung ein vages Versprechen sein. Vielleicht wird es einmal anders. Der große Philosoph Ernst Bloch spricht von dem Prinzip Hoffnung. Aber das ist doch ein bisschen wenig, wenn ich nur darum auf Veränderung hoffe, weil sich sonst eh nie was ändert. Für uns Christen verspricht Gott selber uns diese Hoffnung. Er wird dafür sorgen, dass es anders wird. Die Welt mit ihren oft so unwürdigen Zuständen muss nicht so bleiben wie sie ist. Dein Leben mit dem tiefgrauen Es-bleibt-sowieso-alles-wie-es-ist kann sich ändern. Viele von uns wissen: Es ist unglaublich schwer, diese Welt zu verändern. Und es ist unglaublich schwer, das eigene Leben zu ändern. Gott aber hat die Macht dazu. Und seine Macht ist die Macht der Liebe. Sie ist das einzige, was unsere Welt zum Guten hin verändern kann. Darum wenden sich Menschen immer wieder durch die Jahrtausende hindurch an Gott und bitten ihn: Hilf uns. Reiß den Himmel auf! Auch das Volk Israel hat in seiner langen Geschichte an dieser Hoffnung festgehalten. Davon erzählen die Verse aus dem Propheten Jesaja, die der Predigttext für heute sind:
Gott, so schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, HERR, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name. Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten, wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten, und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! Auch hat man es von alters her nicht vernommen. Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.
Hier wendet sich das ganze Volk an Gott. Es sind Worte voller Klage: Sieh doch, Gott, wie schlecht es uns geht! Und genau darin steckt die große Hoffnung: Du allein, Gott, kannst doch unsere Lage ändern. Und so bittet das Volk Gott den Herrn: Reiß doch den Himmel auf. Komm herunter zu uns auf die Erde und verändere mit deiner großen Macht endlich unser Leben. Die Völker sollen vor dir erzittern, Gott, wenn du Furchtbares tust, dass wir nicht erwarten. Die Hoffnung auf Gott verbindet sich hier mit der Vorstellung: Wenn Gott kommt, der große gewaltige Gott, dann werden Berge zerfließen, dann werden die Völker zittern. Ja, dann wird alles anders werden.
Liebe Schwestern und Brüder, Gott hat den Himmel zerrissen. Aber so ganz anders, als wir Menschen es uns denken und erträumen. Er hat den Himmel zerrissen in einer dunklen Nacht in Bethlehem. Gott ist auf die Erde gekommen. Aber nicht als der gewaltige Gott, vor dessen Zorn sogar die Berge zerfließen. Gott kommt als ein kleines Kind in einem Stall in Bethlehem in unsere Welt. Die Macht, die seitdem in dieser Welt wirkt, ist seine Liebe. Diese Liebe verändert die Herzen der Menschen. Und das ist viel gewaltiger und eindrucksvoller als geschmolzene Berge! Denn Gottes Liebe schafft Leben und nicht Zerstörung. Ja, Gott handelt so ganz anders als wir es von ihm erwarten und in unseren engen Grenzen erträumen. Der Liederdichter Gerhard Schöne hat das in seinem Lied „Jesu meine Freude“ wunderbar auf den Punkt gebracht:
Du warst eingemauert
Du hast überdauert
Lager, Bann und Haft
Bist nicht totzukriegen;
Niemand kann besiegen
Deiner Liebe Kraft
Wer dich foltert und erschlägt
Hofft auf deinen Tod vergebens
Samenkorn des Lebens
Jesus, Freund der Armen
Groß ist dein Erbarmen
Mit der kranken Welt
Herrscher gehen unter
Träume werden munter
Die dein Wort erhellt
Und wenn ich ganz unten bin
Weiß ich dich an meiner Seite
Jesu, meine Freude
Wann reißt der Himmel auf für mich? Gott hat ihn doch schon längst aufgerissen. Und seitdem fällt sein himmlischer Lichtstrahl in das Leben jedes Menschen. Niemand ist zu gering und zu verachtet. Gottes Liebe leuchtet auch in die dreckigen Gossen hinein, in denen die liegen, die schon längst von allen anderen aufgegeben worden sind. Gott aber gibt niemanden auf. Selbst durch das Grau deiner Angst und deiner Traurigkeit dringt sein Licht. Und wo sein Licht scheint, wächst Hoffnung. Die Adventszeit ist Hoffnungszeit.
Nun gehen wir wieder gemeinsam auf das göttliche Licht zu. Denn wir gehen ja nach Bethlehem. Alle Kerzen, die wir in dieser Zeit entzünden, alle Sterne, die in unseren Kirchen und zu Hause leuchten, erzählen uns von der Sehnsucht: Komm doch in unser Leben, Gott. Und zugleich erzählen sie uns von Gott, der uns sagt: Ich bin doch schon da. Ich halte die Sehnsucht wach in euch. Das Leben muss nicht so bleiben. Diese Welt wird nicht so bleiben. Denn von der Krippe strahlt das helle Licht der göttlichen Liebe hinein in diese Welt. Und dadurch verändert sie sich. Jeden Tag mehr und mehr. Wir sehen so viel Grau in der Politik, durch Kriege, durch Missgunst und Neid. Aber das ist nicht alles. Denn das ist nicht die Welt, wie Gott sie will. Dagegen strahlt sein helles Licht. Es beginnt in einer Nacht fernab der großen Weltpolitik. Aber seitdem ist sein Leuchten nicht aufzuhalten. Davon erzählt uns der Advent. Gott schenke uns allen ein offenes Herz in dieser Zeit. So kann sein Licht in unser Herz und in unser Leben kommen. Selbst an diesen grauen wolkenverhangenen Tagen. Selbst wenn dein ganzes Leben so in grau eingehüllt ist. Gott sei Dank.
Amen
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„Zimtsterne am offenen Himmel“ – Predigt zu Jesaja 63, 15-19b & 64,1-3 von Wolfgang Grosse
Ach du meine Güte, liebe Gemeinde,
wo ist da der Advent? In unserer heimeligen Zeit zwischen Dunkelheit und Licht. Zeit, in der es warm ums Herz wird. Zimt-duftende Tage. Leuchtender Schein. Mit den Liebsten Vielleicht, und schönem Tee und Gebäck. Der Weihnachtsmarkt. Die Adventsfeiern.
Advent ist doch schön …
Der heutige Predigttext spricht eine andere Sprache. Seien wir ehrlich: Da ist ja nun wirklich Nichts gut für den Propheten. Er geht vor ca. 2500 Jahren durch die Straßen und schaut in die Gesichter der Menschen. Er sieht: keine adventlich-weihnachtliche Beleuchtung und Vorfreude, kein Friede, keine Hoffnung, keine Liebe, sondern Not und Elend. Sein Volk ist fern der Heimat. In der Verbannung. Nichts ist gut. Gar nichts. Der Prophet selbst ist am Ende. Er kann nicht mehr. Ein unbändiger Schrei: “Wo bist du mit deiner Macht? Wo ist deine Barmherzigkeit, Gott? Reiß endlich den Himmel auf! Komm herab!”
DAS in unserem Advent. Ein Schrei in unsere Heimeligkeit hinein. Oh!
Aber, liebe Gemeinde: ein Schrei voller Hoffnung! Voller Liebe! Voller Glauben! Wenn nicht du Gott, wer sonst? … (Pause)
Ach du meine Güte, liebe Gemeinde, Schon der 2. Advent! Ich komme gar nicht hinterher. Gar nichts gut! Dabei ist dieses Jahr die Adventszeit sowieso schon so kurz. Sie wissen schon: 4. Advent ist gleichzeitig Hl. Abend. Immerhin: der Adventskranz steht bei mir auf dem Tisch. Frische Zimtstangen auf dem Kaminsims für den Duft. Mein Herrnhuter Stern leuchtet seit einer Woche in die Nacht. Ja natürlich mit Zeitschaltuhr. Sonst würde ich es wohl nicht schaffen jeden Abend. Die Nachbarn freut’s jedenfalls. Frau Meyer von gegenüber grüßt wieder auffallend freundlich.
Aber ich bin ehrlich: ich bin noch nicht wirklich angekommen in dieser Zeit des Advents. Bei Frau Meyer leuchten Schwibbögen in jedem Fenster, die Büsche vorm Eingang tragen Lichterketten, die Haustür ziert ein schöner Kranz, und im Garten habe ich auch schon ihren beleuchteten Rentier-Schlitten entdeckt. Ich weiß, über Geschmack lässt sich streiten … Aber ein bisschen neidisch bin ich auf Frau Meyer schon. Bei ihr ist Advent. Diese heimelige Zeit … sie wissen schon ... Diese Zeit voller Hoffnung. Voller Liebe. Voller Glauben. Wenn nicht du Gott, wer sonst? Gestern Abend habe ich es versucht auf die Schnelle. Ich war tatsächlich kurz auf dem Weihnachtsmarkt. Ein Hauch von Zimt wehte mir in die Nase. 19 Uhr war’s geworden.
Ein Posaunenchor spielte zufällig „Oh Heiland reiß die Himmel auf.“ Ich erinnerte die 4. Strophe: „Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt? O komm, ach komm vom höchsten Saal, komm, tröst uns hier im Jammertal.“ Manchmal bin ich ja gefühlsduselig. Da schossen mir für einen Moment die Tränen in die Augen. Ich hätte es so gerne hinausgeschrien in meine kleine Welt: „Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt? Zumindest in meiner? Hey, Gott!“ Oder auch mit dem Propheten: “Wo bist du mit deiner Macht? Wo ist deine Barmherzigkeit, Gott? Reiß endlich auf den Himmel! Komm herab!” ...
Dann entdeckte ich ihn. Er stand etwas abseits. Allein. Schaute. Lauschte. Regungslos. Still. Eigentlich ein ganz normaler Weihnachtsmarktbesucher. Ungefähr mein Alter. Um die 50. Sogar in Anzug und Mantel. Aber: Ein Rollkoffer vor sich. Eine große Umhängetasche. 2 und 2 Plastiktüten in jeder Hand. Alle Last krümmte seinen Rücken. Unsere Blicke trafen sich. Ich ging auf ihn zu. Ein Lächeln huschte über sein unrasiertes Gesicht. Leuchtende Augen. Wir sahen uns. Sahen uns an. „Advent?“ fragte er? „Hmm, ja. Irgendwie schon. Ich versuche es wenigstens“, entgegnete ich. „Ich auch.“ Minuten vergingen.
“Wo bist du mit deiner Macht? Wo ist deine Barmherzigkeit, Gott? Reiß endlich auf den Himmel! Komm herab!” „Danke“, sagte er in die merkwürdige Stille hinein. „Wofür?“ rutschte es mir hinaus. „Dafür. … Ich heiße Jens-Peter Neuhaus.“ „Wolfgang. Wolfgang Grosse.“ Wieder verging eine gefühlte Ewigkeit, in der wir nebeneinander standen. „Kein Advent Zuhause?“ fragte er mich unverblümt. „Doch schon. Adventskranz und Stern und so …“, ziemlich überrascht und deshalb fast stammelnd kam es aus mir heraus. „Hmm, ich merke schon … Sie warten auch, oder?“ fragte er. Er spürte scheinbar meine Unsicherheit ob der Frage. Dann begann er zu erzählen.
„Ich bin hier aufgewachsen in Bremen. Ist meine Heimatstadt. Dritter Sohn einer echt bremisch-bürgerlichen Familie. Meine ersten beiden Brüder haben Karriere gemacht. Abitur habe ich aber auch, dann eine Lehre bei 'ner Bank. Nebenher noch Fortbildungen und so. Mittlere Führungsebene. Sie wissen schon.“ „Hmm, ja“, erwiderte ich. Ehrlicherweise hätte ich „Nein“ sagen müssen. Ich weiß viel zu wenig darüber. „Dann kam natürlich auch Familie. Liebe Frau. Ganz groß die Hochzeit. Sie kennen doch die Kirche in … , oder? … Na, egal, Dann ein Kind und so. Alles prima. Mein Haus, mein Auto, mein Garten.“„Ja, schon klar. Es war alles gut.“
„Ja. War! Bis vor 3 Jahren. Dann kam die sog. betriebsbedingte Kündigung. Man kann auch Einsparung sagen. Letztendlich Arbeitslosigkeit. Von da an ging’s bergab. Ich war 49. Zu teuer für den Banken-Markt mit meiner Erfahrung und Ausbildung. Wir konnten das Haus nicht halten. Mussten dann das Auto verkaufen. Schließlich ist meine Frau mit unserem Sohn gegangen. Der Lebensstandard war nicht mehr ihrer. Bekommen sie dann mal ‘ne Wohnung. Meinen Sohn habe ich vor einem Jahr das letzte Mal gesehen. Schließlich wurde ich auch noch von meiner Familie geächtet. Regelrecht verbannt. Rausgeschmissen. Von meinen Brüdern. Selbst meine Eltern kennen mich nicht mehr. Looser, so sagt man doch heute, oder?“
“Wo bist du mit deiner Macht? Wo ist deine Barmherzigkeit, Gott? Reiß endlich auf den Himmel! Komm herab!” „Scheisse!“ Etwas anderes fiel mir nicht mehr ein … und dachte: was rege ich mich über meine nicht vorhandene Weihnachtsdeko auf … „Und wo leben Sie jetzt?“ „Nicht auf der Straße. Meine Würde habe ich mir bewahrt. Noch. Und etwas Erspartes. Jeden Abend in ein billiges Hotel hinterm Bahnhof. Verbannung sozusagen. 30€ die Nacht mit Frühstück. Die Diakonie bezuschusst das Hotel für solche „Fälle“ wie mich. Abend für Abend. Ab 20 Uhr kann ich da sein.“ „Hmm, Advent? Warten?“ frage ich.
Er antwortet: “ ‘Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt? O komm, ach komm vom höchsten Saal, komm, tröst uns hier im Jammertal.’ Ich hab‘ früher mal im Kirchenchor gesungen. Tenor. Ich kenne das Lied. Aber soll ich es echt hier auf dem Weihnachtsmarkt laut hinaus schreien? Wozu? Wer hört mich? … Ich muss dann mal los. 20 Uhr. Sonst ist kein Raum mehr in der Herberge.“ Er schaut mich an. Reicht mir die Hand. „Danke. Advent für Sie“ sagt er. „Und für Sie. Hoffentlich auch wieder mit dem Kind“, antworte ich. „Ja. er hat mich eingeladen. Weihnachten. Ich darf zu ihm kommen.“ Er lächelt.
„Ja, Gott hört Sie“, sage ich.
“Wo bist du mit deiner Macht? Wo ist deine Barmherzigkeit, Gott? Reiß endlich auf den Himmel! Komm herab!”
Ich sehe ihn an. Er weiß was ich meine. Meine Fragen, die Fragen des Propheten, es sind auch seine Fragen. Er hat schon eine kleine Antwort bekommen. Von dem Sohn. Vielleicht größer als wir Beide es gerade wissen. Ich werde es wohl nie erfahren. Ich schaue ihm hinterher, wie er am Rande des Weihnachtsmarktes vollbepackt davon zieht. Auf dem Weg sein. Voller Hoffnung. Voller Liebe. Voller Glauben. Er geht auf einmal aufrecht. Dreht sich um. Leuchtende Augen. Wenn nicht du Gott, wer sonst? Ich bleibe noch einen Moment stehen. Die Lichter. Der Glanz. Die Fröhlichkeit. Sie haben einen trüben Schimmer bekommen.
Mein Fotografenauge aber sagt mir: Das Leuchten erzählt vom Kontrast.
Gerade das ist Advent. Dieses Noch-Nicht und Doch-Schon. Dieser Moment ... ist wichtig. In der Dunkelheit das kommende Licht wahrnehmen. Schatten und Licht ergeben erst das Ganze. Der Moment des Fotos. Wenn ich den Auslöser drücke und die Gegenwart Eins wird mit Gott. Der Moment ist … Voller Hoffnung. Voller Liebe. Voller Glauben. Wenn nicht du Gott, wer sonst? Der Moment ist Gott.
Ich komme nach Hause, in Gedanken verfangen. Schlage die Autotür zu, drehe mich um … und stolpere fast über Frau Meyer. „Huch Herr Pastor, so stürmisch?“ „Ja, Frau Meyer. Noch unterwegs so spät?“ „Ach, ich sah sie gerade kommen.“ Sie hätte auch sagen können: Ich stehe seit Stunden am Fenster und warte, dass sie kommen. „Feierabend. Der Advent kann kommen!“ Komisch, dass mir gerade so ein Satz einfällt. „Och, das ist schön, Herr Pastor.“ Sie spricht das Wort „Pastor“ immer so wunderbar bremisch breit aus, dass es wie „Pasta“ klingt … „Ich hab‘ da was für Sie und ihre liebe Frau.“ Stolz streckt sie mir den Arm entgegen. In der dunklen Nacht sehe ich nicht viel, aber ... Gibt es Zufälle? In diesem Moment reißt der seit Tagen graue, norddeutsche Himmel auf, das Mondlicht durchbricht die Wolkendecke.
“Wo bist du mit deiner Macht? Wo ist deine Barmherzigkeit, Gott? Reiß endlich auf den Himmel! Komm herab!”
Jetzt sehe ich es. Es knistert. Es duftet. Voller Hoffnung. Voller Liebe. Voller Glauben. Wenn nicht du Gott, wer sonst? Die Tüte leuchtet in dunkler Nacht. Oder besser: der Inhalt.
ZIMTSTERNE AM OFFENEN HIMMEL!
Können Zimtsterne das wirklich machen? Machen, dass für mich an diesem Abend Advent wird? Oder hat Gott nicht doch seine Finger im Spiel … den Himmel ein klein wenig aufgerissen?
Oh, Heiland, reiß den Himmel auf … Gewaltige Dinge geschehen, manchmal in so kleinen Begegnungen, die so groß werden können, dass Zimtsterne die Welt verändern. Voller Hoffnung. Voller Liebe. Voller Glauben.
So klein, wie das Kind in der Krippe damals. Gott ganz klein, wie jedes Kind, für alle die hoffen. Licht in der Dunkelheit. Kontrast. Menschenwürde. Aufrechter Gang. Begegnung.
Er kommt. Voller Hoffnung. Voller Liebe. Voller Glauben. Wenn nicht du Gott, wer sonst? Kommt? Advent.
Amen.
Lied: EG 7 „Oh Heiland, reiß die Himmel auf“
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Ein anderer Advent – Predigt zu Jesaja 63,15-19b; 64,1-3 von Norbert Stahl
Süßer die Kassen nie klingen
15% auf alle Weihnachtsartikel. 20% Rabatt auf den gesamten Einkauf - mit Ausnahme rezeptpflichtiger Arzneimittel und Zuzahlungen. Gutschein für eine hochwertige Parkscheibe. So klingt es hinter den Türchen eines Adventskalenders, der mir in diesen Tagen ins Haus flatterte. Rabatte und Geschenkaktionen aller Orten. Viele Geschäfte haben die gesamte Adventszeit hindurch jeden Wochentag bis 22 Uhr geöffnet. An den Adventssamstagen bis 24 Uhr. So viel zur besinnlichen Adventszeit. Immer verlockender, immer massiver werden wir angegangen. Es geht um unser Geld. Um Konsum. Um Umsatz und Gewinn. Die Verballhornung von Süßer die Glocken nie klingen" hat Recht: "Süßer die Kassen nie klingen, als zu der Weihnachtszeit!" Mit Jesaja klage ich:
"Ach Gott, sieh doch herab von deiner heiligen herrlichen Wohnung! Warum lässt du uns abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken?"
Am 25. November
Sie wollten einfach nur ein besseres Leben für sich. Einfach nur in Sicherheit sein. Einen Beruf erlernen können. Mit dem Verdienst die Familie zu Hause unterstützen. In ihrer Heimat hatten sie keine Chance. Korruption, Gewalt, Niedergang. Das Leben war zu Ende, bevor es begonnen hatte. Also hatten sie die Schlepper bezahlt. Beinah ihr gesamtes Vermögen hatten sie hergegeben. Ihre Leichen wurden vor Libyen an den Strand gespült. Ungefähr 30. Darunter auch Kinder. Am 25. November war das. Am Ende dieses Jahres werden es fast 1.500 Ertrunkene sein. Wir sind auf dem besten Wege, uns an diese Zahlen zu gewöhnen. Mitten im Advent 2017. Mit Jesaja klage ich: "Ach Gott, sieh doch herab von deiner heiligen herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? … Warum lässt du uns abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken? … Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, … dass dein Name kund würde und die Völker vor dir zittern müssten!"
Schmetterlingsflieder
Es ist ein schöner Sommertag. Ich mache einen Besuch bei meinen Schwiegereltern. Vor dem Haus blüht wie jedes Jahr ein ausladender Sommerflieder. Ich verharre einen Moment. Der Strauch heißt nicht umsonst Schmetterlingsflieder. In früheren Jahren war er umschwärmt von dutzenden von Schmetterlingen. Vielleicht sehe ich einen schönen? Ich muss lange warten. Dann endlich nähert sich ein hübscher Falter. Aber eben nur ein einziger. In den Nachrichten höre ich: Dramatischer Rückgang bei Fluginsekten. 75% weniger Tiere in den vergangenen 25 Jahren. Autos sind auch nach langen Autobahnfahrten noch sauber. Pestizide, Herbizide und Überdüngung machen den Insekten den Garaus. Der Bundeslandwirtschaftsminister trifft gegen alle Widerstände eine einsame Entscheidung. In diesem Advent 2017. Erst sterben die Bienen, dann der Mensch.
"Ach Gott, sieh doch herab von deiner heiligen herrlichen Wohnung! Warum lässt du uns abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken? … Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab!"
Meine Klage
Liebe Gemeinde,
die Klage Jesajas hat mich motiviert, in meine eigene Zeit und Gesellschaft zu blicken. Ich habe mich anstecken lassen von Jesaja. Und auch wenn unsere gesamtgesellschaftliche Situation mit der der Israeliten zur Zeit Jesajas nicht vergleichbar ist – Grund zur Klage gibt es auch heute. Klagen hat ja etwas Befreiendes. Ich kann Gott es wenigstens sagen, woran ich leide: An der Oberflächlichkeit, an der Unmenschlichkeit, an der Gleichgültigkeit, an der Gier. Auch wenn ich nicht gleich eine Lösung habe und erwarte. Beklagen darf ich es. Gott hält das aus. Er hat es auch bei Jesaja ausgehalten. Und die Israeliten hatten wahrlich Grund zur Klage:
Israels Klage
Sie waren vertrieben worden aus ihrer Heimat. Sie mussten im Land der Feinde leben. Jerusalem und der schöne Tempel lagen in Trümmern. Die Israeliten sind tief traurig und enttäuscht. An anderer Stelle beschreiben sie ihre Situation so: "Unsere Widersacher haben dein Heiligtum zertreten. Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest. ... Jerusalem ist zerstört. Alles, was wir Schönes hatten, ist zunichte gemacht."(63,18f; 64,9) Das ist wirklich krass. Die Israeliten hatten alles verloren, was ihnen lieb und teuer war. Das beklagen sie. Zu Recht. Und sie klagen an: Gott selbst. Über ihrem Elend und darüber, dass sie in die Irre gegangen sind: "Warum lässt du uns, Herr, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht mehr fürchten."(63,17) Diese Anklage ist freilich verräterisch. Die Israeliten geben damit auch eine Selbstbeschreibung ab: Sie waren abgeirrt, sie haben ihr Herz verschlossen, sie haben es an Gottesfurcht fehlen lassen. Sinniger wäre es also, sich mehr an die eigene Nase zu fassen. Sich zu selbstkritisch zu besinnen und umzukehren.
Buße und Fasten
Früher war die Adventszeit einmal eine solche Zeit selbstkritischer Besinnung. Eine Zeit, in der man sich bewusst fragte: Was war falsch? In den vergangenen Wochen, im vergangenen Jahr? Wo habe ich es an der Liebe zu meinen Mitmenschen fehlen lassen? Was bin ich mir und anderen schuldig geblieben? Wo muss ich mich ändern? Und die Adventszeit war eine Zeit des Fastens. Eine Zeit also, in der man nicht bereits die Weihnachtsfreuden und das Festessen vorwegnahm. Heute kann man die Spekulatius und die Gänse an Weihnachten ja schon nicht mehr sehen, weil man einfach schon zu viel davon gegessen hat, bevor das eigentliche Fest beginnt. Darin, die alten Bräuche von Besinnung und bewusstem Verzicht wieder zu beleben, läge eine Chance. Advent und Weihnachten könnten neuen Tiefgang gewinnen!
Mein Anteil am Ganzen
Das wäre auch eine gute Antwort auf meine anfänglichen Klagen. Ja, es tut mir gut, das alles einmal aussprechen und beklagen zu dürfen. Ich bin dankbar, dass ich meine Ratlosigkeit nicht in mich reinfressen muss, sondern auch einmal in solche Worte fassen darf. Das hat etwas Befreiendes. Ich verschaffe mir Luft. Nun kann ich fragen, was mein Anteil daran ist, dass es so ist, wie es ist. Wo lasse ich mich mitreißen vom Konsumrausch? Wo mache ich unkritisch mit bei dem, was alle tun? Wo bin ich gleichgültig gegenüber dem Leid und Elend anderer? Wo bin ich zu leise, wenn andere behaupten "Das Boot ist voll!" Wo bin ich zu geizig einen angemessenen Preis zu zahlen für gutes Essen, für faire Produkte? Fair für Mensch und Tier. Dass es so ist wie es ist, liegt ja auch an mir.
"Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab" - ja, führest herab mir ins Herz! Auf dass ich ehrlich werde vor mir selbst. Auf dass ich bereit werde zum Verzicht. Auf dass ich die Apathie überwinde und fähig werde zur Solidarität mit Mensch und Tier. Und auf diese Weise so viel gewinne: Tiefgang und Wahrhaftigkeit. Einen ganz neuen Genuss, weil nicht alles schon mehrfach vorweggenommen ist. Und Menschlichkeit. Und eine Kultur der Hilfsbereitschaft und Güte. Und ein neues Verhältnis zu meinem Gott.
Der andere Advent
Gott sei Dank: viele Menschen sind schon auf diesem Weg. Es gibt nicht nur die kommerziellen Weihnachtsmärkte. Es gibt auch jene, bei denen die ortsansässigen Vereine für ihre oder eine andere gute Sache sammeln und spenden. Es gibt die Vielen, die mit Kranken und Leidenden Advent feiern - im Krankenhaus oder in Alten- und Pflegeheimen. Es gibt immer noch tausende, die in Flüchtlingsinitiativen die Fremden willkommen heißen und sie begleiten. Es gibt ihn: den anderen Advent. Übrigens auch buchstäblich: In Form eines Kalenders, der inzwischen in einer Auflage von 650.000 Exemplaren erscheint.
Gott sei Dank, es gibt ihn, den anderen Advent! Jenen der mich zu einer neuen Begegnung führt mit mir selbst, mit den anderen und mit Gott.
Amen.
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Wir ernten, was wir säen? - Jesaja 58; 7-12 von Katrin Berger
Man erntet, WIE VIEL man sät. Wer viel sät, erntet mehr, wer zu viel säht, erntet immer noch viel, nur wer da kärglich sät, der wird auch kärglich ernten (2. Kor 9,6-15).
Oder?
Man erntet, wie viel man sät! Wer viel ernten will, muss viel säen, muss etwas weg-, ab-, verlorengeben, um zu gewinnen.
Säen und Ernten, Geben und Nehmen. Ernten und säen. Nehmen und geben. Wenn-Dann. Ein Kreislauf. Des Jahres, des Lebens.
Man erntet, WO man sät. Im eigenen Garten, auf dem Boden, den man kennt. Man erntet, wo man sät. Das ist Leistungsgesellschaft. Das ist Gerechtigkeit.
Oder?
Auf dem beackerten Feld, nicht irgendwo in der fremden Welt. Nicht da wo die Steine und die Disteln sind und der Wind die Saat davonweht. (Mk 4,3-20).
Man erntet, WAS man sät. Aus Weizenkörner erwachsen Weizenähren. Aus Liliensamen werden Lilienblüten. Wer Vertrauen wagt, gewinnt Hoffnung. Wer Liebe lebt, bringt Frieden auf die Welt.
Wer barmherzig handelt, heilt. Regelmäßiger Gottesdienst bewirkt Gottesnähe.
Oder?
Man erntet, WIE VIEL und WO und WAS man sät! Zumindest wenn man die gewünschte Pflanzen mit rechtem Maß auf den geeigneten Boden sät … und dann alles nach Plan gedeiht.
Aber es gedeiht ja nicht immer nach Plan. Manchmal kommen doch Vögel und picken die Saat weg. Manchmal bleibt der Regen aus oder die Sonne scheint zu stark.
ERNTEKLAGE.
Manchmal gedeiht das Leben nicht nach Plan. Und die Saat der Nachbarn geht in deinem Garten auf. Und deine trägt bei unbekannten Menschen Früchte (aber weder sie noch du bemerken es)
Manchmal gedeiht das Leben nicht nach Plan. Und man erntet, was andere gesät haben. Vor Jahren.
ERNTEDANK.
Manchmal gedeiht das Leben nicht nach Plan. Und man erntest nicht, wie man gesät hast. Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. (Psalm 126, 5) Manchmal gedeiht das Leben nicht nach Plan.
ERNTEPROPHETIE.
Manchmal gedeiht das Leben nicht nach Plan, Dann wird Vertrauen missbraucht, auf dem Weltmarkt mit Nahrungsmitteln spekuliert, Dann wird Liebe getötet,
und dem Selbstschutz geopfert. Dann wird Barmherzigkeit ausgenutzt - obwohl sie wird wohl eher beneidet in diesen Tagen- , wenn Asyl gewährt wird, und dadurch die Angst wächst.
Dann dient der Gottesdienst leider „nur“ einem selbst, im Sprechen des Gebets, das die eigenen Nöte auswendig wiederholt, im Singen des Liedes, so gewohnt,
im Lesen der eigenen Überzeugungen in den heiligen Büchern und vielleicht sogar im Verzicht auf die Welt und das Leben da draußen. So wächst Gemeinde selten.
ERNTEKLAGE.
Und doch haben wir in Levern so viel geerntet. Wir haben so viel geerntet, das wir nicht gesät haben, soviel hat uns Menschen und unsere Gemeinde am Leben gehalten.
Erntedank feiere ich heute für meine drei Jahre in Levern. Ich habe hier einen Garten geschenkt bekommen,und manchmal unter Tränen gesät. Ich habe geerntet, was andere gesät haben,
aber auch dort gesät, wo Gott allein weiß, ob und wann eine Saat aufgeht. Aber wirklich mehr als manchmal gedieh das Leben nach Plan.
ERNTEDANK.
Aber auch: Soviel haben wir gesät, und doch so wenig geerntet. Manchen guten Boden haben wir verloren, manche Menschen allein gelassen und enttäuscht. Ich auch.
Nur wenig neuen Boden haben wir beackern können, manchmal hat uns einfach die Kraft gefehlt, manchmal auch die Struktur, die Richtung und Perspektive.
Gott hat uns gefehlt, glaube ich. „Wo warst du und wo bist du, Gott?“
ERNTEKLAGE.
Dann haben wir weiter gemacht, wie vorher. So dass es irgendwie noch ganz gut weiterging mit uns. Wir haben gehofft, dass das reicht. Aber mit den anderen sind wir nur kleine Schritte weitergekommen.
Wir haben „gemacht und getan“1, aber die Ernte ist kärglich! Wie viel mehr Menschen engagieren sich ehrenamtlich in unserer Kirche? Wie viel mehr Menschen besuchen unsere Gottesdienste und Veranstaltungen?
Wie viel mehr haben wir als Gemeinde Levern der Region Stemwede und ihren Menschen gedient im letzten Jahr? Es ist nicht mehr, manchmal sogar weniger. Oder?
ERNTEKLAGE in Levern,
eine Woche nach der Wahl in Deutschland.
Wie vor vielen Jahren in Jerusalem, wie in Jesaja steht:
,,Warum haben wir „gemacht und getan“, aber du siehst es nicht an? Wir haben uns gedemütigt, aber du erkennst es nicht an!" (Jes 58, 3)
Und Gott antwortet beim Propheten Jesaja:
„Soll das etwa ein „Machen und Tun“ sein, wie ich es mir aussuche: Ein Tag, an dem sich die Menschen demütigen? Sollen sie den Kopf hängen lassen, sich in Sack und Asche betten? Wird etwa so etwas ein „Machen und Tun“ genannt und ein Tag, der Gott gefällt? (Jes 58, 5). Ist nicht eher dies ein „Machen und Tun“, wie es mir gefällt:
Fesseln des Unrechts öffnen, (…), Misshandelte als Freie entlassen, (…)? Geht es nicht darum? Mit Hungrigen dein Brot zu teilen, umherirrende Arme ins Haus zu führen! Wenn du Leute nackt siehst, bekleidest du sie, vor denen, die zu dir gehörten versteckst du dich nicht“ (Jes 58, 5-7)
ERNTEPROPHETIE.
Wenn du so säst, dann erntest du meine Nähe.„Dann wird dein Licht wie die Morgenröte hervorbrechen, eilends wächst deine Wunde zu.
Dann wird deine Gerechtigkeit vor dir hergehen, der Glanz Gottes sammelt dich auf.
Dann wirst du rufen, und Gott wird dir antworten. Du schreist um Hilfe, und Gott wird sagen: ,,Hier bin ich!" (Jes 58, 8-9)
Wenn du so säst, dann erntest du Gottes Nähe.
„Wenn du aus deiner Mitte das Joch wegräumst, das Fingerzeigen und die üble Nachrede, und wenn du dich ganz den Hungrigen hingibst und die Niedergedrückten sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufstrahlen, deine Dunkelheit wird wie der Mittag sein. Dann wird dich Gott beständig leiten, den unbändigen Durst deiner Lebenskraft stillen und deine müden Knochen wieder munter machen. Dann wirst du wie ein bewässerter Garten sein und wie eine Wasserquelle, deren Wasser nicht täuschen. Dann werden deine Leute die Trümmer der Vorzeit aufbauen und die Grundmauern von Generationen wieder aufrichten. Du wirst heißen: ›Lückenschließerin‹ und ›die die Pfade wiederherstellt zum Bleiben‹. (Jes 58, 9-12)
ERNTEPROPHETIE.
Wenn du so säst, erntest du Gottes Nähe.
Immer noch: Säen und Ernten, Aber anders: Geben und Nehmen. Ernten und sähen. Wieder Wenn-Dann. Ein Kreislauf, aber anders. Und mit Unterbrechung.
Wieder: Säen und ernten, aber nicht im eigenen Garten, nicht auf dem eigenen Feld, sondern wirklich bei den anderen in ihrer Welt. Dort wo Unrecht passiert:
Land enteignet, Menschen entrechtet werden. und wie Sklaven gehalten auf Plantagen. Um unseren Kaffee, unsere Schokolade, unser Coltan aus den Bergen für unsere Smartphones zu ernten, während drum herum der Krieg tobt und die Vergewaltigungen. Wenigstens ein wenig FairTrade säen. Die Menschen dort sind nicht nur Jesu Brüder und Schwestern, es sind auch unsere. Wieder säen, aber etwas anderes ernten. Lichtwerden und Heilsein.
Strahlend vor Glück und ganz und gar. „Dann wird deine Gerechtigkeit vor dir hergehen und der Glanz Gottes sammelt dich auf.“ (Jes 58, 8)
Wieder: Säen und ernten, aber ohne zu berechnen, wieviel man säen muss, um genügend Ernte zu haben im nächsten Jahr. Säen, ohne zu wissen, was man erntet, weil Gott beim FairTrade alles verwandelt.
Die Grundmauern von Gottes Stadt wieder aufbauen, Grundrechte säen für alle für sehr lange. Lücken in diesen Mauen ausbessern, jedes Leben schützen vor den Angriffen derer, die mehr Gott, mehr Stadt, mehr Land, mehr Rechte, mehr Geld, mehr „Ich und meine Angst“ für sich wollen. Die Wege in Gottes Land ausbessern und nie damit aufhören. Immer wieder, im Frühling, im Sommer, im Herbst, im Winter. Denn es gibt viele Wege und nicht nur eine Einbahnstraße. Und jeder Weg ist kompliziert und verschlungen, weil man aus unterschiedlichsten Richtungen in die Stadt kommen muss, sonst ist der Weg für manche zu lang und für manche zu kurz.
Gottes Gerechtigkeit mit einzusäen, heißt, säen in Ewigkeit und manchmal auch schnell Spott und Schmerz zu ernten. Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. (Psalm 126, 5).
Ein Kreislauf, aber anders, sehr lang, und mit Unterbrechung.
Gottes Gerechtigkeit mit einzusäen geht nicht ohne Gemeinschaft,
nicht immer wieder Sonntags schon davon zu ahnen, schon davon schmecken und sich daran stärken. Die Verheißung gilt, Gott ist da, in jedem Gottesdienst.
Ohne Wenn-Dann, ohne Bedingung.
,,Weil es dann nicht auf dich ankommt, nicht auf uns, sondern nur auf Gott." (Jes 58, 13-14)
Mögen wir so leben: Sie und ihr hier, ich woanders. Leben, in Glück und mit Gott und ganz und gar mehr ernten wollen als Existenzsicherung. Säen ohne Angst vor Verwandlung,
ohne den Boden oder die Pflanze besitzen zu wollen, ohne die schnellen Ernte zu erwarten. Säen auch mit Klage manchmal, aber auch mit Dank und Unterbrechung und nicht ohne der Prophetie Jesaja zu glauben:
„Dann wird dein Licht wie die Morgenröte hervorbrechen, eilends wächst deine Wunde zu.
Dann wird deine Gerechtigkeit vor dir hergehen, der Glanz Gottes sammelt dich auf.
Dann wirst du rufen, und Gott wird dir antworten. Du schreist um Hilfe, und Gott wird sagen: »Hier bin ich!«. Dann wird dich Gott beständig leiten, den unbändigen Durst deiner Lebenskraft stillen und deine müden Knochen wieder munter machen.
Dann wirst du wie ein bewässerter Garten sein und wie eine Wasserquelle, deren Wasser nicht täuschen. (Jes 58, 8-10)
In diesem Säen und Glauben stärke und bewahre euch Gott.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft,
bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.
1 ! Statt Fasten kann man unsere religiöse Praxis m. E. besser als „Machen und Tun“ beschreiben. Deshalb ersetze ich im Folgenden „Fasten“ durch „Machen und Tun“.
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Begründete Hoffnung – Predigt zu Jesaja 29, 17-24 von Martin Weeber
Kann man ohne Hoffnung leben? Kann man leben ohne die Aussicht, dass sich die Dinge, die schwer sind und belastend, irgendwann und irgendwie zum Besseren kehren? Es ist auf jeden Fall furchtbar traurig, ohne Hoffnung leben zu müssen. Menschen brauchen Hoffnung.
Von einer großen Hoffnung redet der heutige Predigttext aus dem Buch des Propheten Jesaja:
Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden. Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels. Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen. Darum spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob: Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen, und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen. Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – ihre Kinder – in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten.Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen. (Jes, 29,17-24)
Alles wird besser, alles wird gut werden. Der Prophet spricht diese Worte in eine hoffnungslose Zeit hinein. Er redet zu Landsleuten, die furchtbar leiden unter schlimmen Zuständen:
Tyrannei, Krieg, Unterdrückung, Unrecht, Not. Ich könnte jetzt erklären, wie die damalige Situation war im Lande Israel. Aber das ist gar nicht nötig: Tyrannen, Spötter, Unheil, Unrecht.
Das gibt es auch heute noch in so vielen Gegenden der Welt. Und alle, die leiden unter den Tyrannen und Spöttern, unter dem Unheil und dem Unrecht, die hoffen darauf, dass sich die Dinge zum Besseren wenden, dass die Tyrannen und Spötter ihre Macht verlieren und dass heilvolle und gerechte Verhältnisse einkehren.
Hoffnung vermag Menschen eine unglaubliche Energie zu verleihen. Ich stelle mir vor:
Ein junger Mensch in Afrika. In seiner Heimat hat er schlechte Aussichten. Er macht sich auf den Weg durch die Wüste, Richtung Mittelmeer. Er weiß ziemlich genau, welche Gefahren ihn erwarten.
Er weiß, dass er sich auf Menschen verlassen muss, die an ihm als Person überhaupt kein Interesse haben. Sie sind nur an seinem Geld interessiert. Es rührt sie nicht, wenn er beinahe verdurstet.
Protestiert er, setzt es Schläge. Und geht die Überfahrt schief – es ist ihnen egal: „So what?“ „Was soll’s?“ Und trotzdem macht er sich auf den Weg: Wochenlang, manchmal monatelang unterwegs.
Was ihn antreibt, ist die Hoffnung. Die Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa.
Hoffnung gibt uns Menschen Kraft. Hoffnungslosigkeit macht uns schwach.
Wenn eine keine Hoffnung mehr hat, dann gibt sie sich auf. Manche sagen, Depressionen seien die Krankheit unserer Zeit. Und die Hoffnungslosigkeit gehört zu den markantesten Gesichtszügen der Depression: „Es wird ja doch nicht mehr besser.“
Der Prophet sieht die Lage anders:
„Es wird alles besser werden. Es wird alles gut werden.“
Das ist für ihn eine Botschaft, die von Gott selber herkommt:
„Darum spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob: Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen, und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen.“
Es ist Gott selber, der die Dinge in die Hand nehmen wird. Gott selber zeigt sich dem Propheten Jesaja als Grund der Hoffnung. Gott ist kein Gott, vor dem man Angst haben müsste.
Respekt: ja, aber keine Angst. Wir sollen auf Gott hoffen. Gott will die Dinge zum Besseren wenden.
Gut ist es, wenn man das von Gott erwartet, wenn man Gott das zutraut. Der Apostel Paulus im Neuen Testament findet eine wunderschöne Formulierung: Er bezeichnet Gott als „Gott der Hoffnung“.
Ein Leben ohne Hoffnung ist ein trauriges Leben. „Guter Hoffnung sein“: Das war einmal ein Ausdruck für’s Schwanger sein. Vor lauter Untersuchungen und Kontrollen und Diagnosen fällt es heute manchmal gar nicht mehr so leicht, einfach „guter Hoffnung“ zu sein.
Ohne Hoffnung können wir kaum leben.
Freilich: Hoffnung kann auch enttäuscht werden. Wer hätte das nicht schon erlebt:
Man erhofft sich irgendetwas Schönes – und dann stellt es sich als enttäuschend heraus.
Der Urlaub nicht so schön wie erhofft. Das Essen nicht so gut wie erwartet.
Oder viel gravierender: Der Mensch, von dem ich mir so viel erwartet habe, erfüllt diese Erwartungen in keiner Weise. Das gehört auch zu den Lektionen des Lebens: Dass man lernt, mit enttäuschten Hoffnungen umzugehen.
Weil sie enttäuscht werden kann, hat die Hoffnung einen zweischneidigen Ruf:
Einerseits sagt man: „Du darfst die Hoffnung nie aufgeben.“ Andererseits heißt es im Sprichwort:
„Hoffen und Harren hält manchen zum Narren.“
Gar nicht so einfach ist das mit der Hoffnung.
Ich denke noch einmal an die hoffnungsvollen Worte des Predigttextes – und wieder fällt mir der Apostel Paulus ein: „Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.“ (Römer 15, 13)
Gott ist ein „Gott der Hoffnung“: Heißt das auch, dass Gott selber Hoffnungen hat und Hoffnungen hegt? Und können Gottes Hoffnungen auch enttäuscht werden? Was erhofft Gott sich selber? Was erhofft Gott sich von uns Menschen? Und wie geht Gott damit um, dass wir seine Hoffnungen so oft enttäuschen? Es gibt Zeiten, da gönne ich es mir, keine Nachrichten anzuschauen oder anzuhören.
Auch die Zeitung lese ich dann nicht. Wenn ich es dann wieder tue und es mir vor Augen führe, was in der Welt so alles an Bösem geschieht, dann ist die Sache für mich ziemlich klar:
Wir Menschen werden den Hoffnungen nicht gerecht, die Gott in uns setzt.
Andererseits ist mir aber durch den Verzicht auf den Konsum der Nachrichten auch wieder vor Augen getreten, wie viel Grund wir doch haben, ein hoffnungsvolles Leben zu führen:
Kinder werden geboren und wachsen heran. Der Wechsel der Jahreszeiten geschieht in großer Ruhe:
Auf den Winter folgt der Frühling, auf die Finsternis der Morgen. Die Generationen folgen aufeinander – und die jungen Leute sind sympathisch, freundlich und wohlwollend. Es wird beileibe nicht alles immer schlechter. Ich höre den Erzählungen alter Menschen zu und erfahre, unter welchen Grobheiten und Herzlosigkeiten sie einst gelitten haben. Froh und dankbar bin ich dann, dass man sich heutzutage doch sehr viel mehr darum bemüht, freundlich mit den Schwächen der Menschen umzugehen. Ich lebe gerne in unserer Zeit (auch wenn ich es durchaus sehe, wo die Probleme liegen). Es gibt doch viele Gründe, unsere Welt grundsätzlich hoffnungsvoll zu betrachten.
Begründete Hoffnung.
Interessanterweise führt auch Gott Gründe dafür an, dass wir uns seine hoffnungsvolle Sicht auf die Welt zu eigen machen sollen. Er verweist nicht einfach nur darauf, dass er alles lenkt und in Händen hält. Er verweist auf ein ganz spezielles „Werk seiner Hände“.
Wenn wir dieses Werk betrachten, dann soll uns das davon überzeugen, dass wir Grund haben, Gottes Zusagen zu vertrauen.
Darum spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob: Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen, und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen. Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – ihre Kinder – in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten. Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.
Auf die Kinder sollen wir schauen!
Dann wird unser Herz voller Hoffnung werden.
Die Kinder sind dasjenige Werk der Hände Gottes, auf dessen Überzeugungskraft Gott am meisten setzt, wenn er uns zur Hoffnung anstiften will:
Jedes Kind sollen wir betrachten als einen Beweis der Güte Gottes.
Gut, wenn uns am Anblick der Kinder dann aufgeht, dass es durchaus noch andere Hinweise darauf gibt, dass die Hoffnung auf Gott eine begründete Hoffnung ist.
Und wunderbar, wenn eine Hoffnung in uns aufkeimt, die es wagt, sich vorzustellen, dass Gottes Güte hinausreicht über das Leben, wie wir es kennen.
Ein letzter Gedanke: Ich rechne damit, dass etlichen unter Ihnen das alles nicht einleuchtet.
Sie bleiben skeptisch. Wie wäre es dann mit folgender Überlegung: Lasst uns einfach um unserer Kinder willen die Welt hoffnungsvoll anschauen. Und lasst uns unsere Kinder möglichst lange verschonen mit unserem Wissen über all das Leid und Unglück in der Welt. Es gibt meines Erachtens eine moralische Pflicht dazu, die Welt hoffnungsvoll zu betrachten. Sonst wird man verrückt.
Noch besser ist’s freilich, wenn es Gott gelingt, eine wirklich starke Hoffnung in unser Herz zu pflanzen!
„Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.“
Amen
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Ich werde weiter träumen – Predigt zu Jesaja 29,17-24 von Stephanie Höhner
Ich will nicht aufhören zu träumen. Von einer Welt, in der es anders ist.
Doch es fällt mir schwer, damit nicht aufzuhören.
Ich hoffe auf eine Welt, die anders ist als diese hier:
Dann sollst du erniedrigt werden und von der Erde her reden und aus dem Staube murmeln, dass deine Stimme sei wie eines Totengeistes aus der Erde, und deine Rede wispert aus dem Staube. (Jes 29,4)
Er hat alles verloren. Das schöne Haus mit dem lauschigen Innenhof. Die Teller mit den blaugrünen Ornamenten. Seine Lieblingsschürze, seine Backstube und den täglichen Weg dorthin. Seine Freunde und Nachbarn und die geselligen Abende mit ihnen bei Wein und Oliven.
Er hat noch viel mehr verloren. Seinen Glauben an Gerechtigkeit. Seine Hoffnung auf Hilfe. Seine Zukunft.
Er hat den Boden unter seinen Füßen verloren. Jetzt wohnt er auf fremdem Boden, weit weg von Zuhause.
Neues Land. Neue Sprache. Neue Nachbarn. Am Anfang ist alles fremd. Die Nachbarn. Die Wohnung. Das Essen. Die Sprache.
Denn wie ein Hungriger träumt, dass er esse – und wenn er aufwacht, so ist sein Verlangen nicht gestillt; und wie ein Durstiger träumt, dass er trinke – wenn er aber aufwacht, ist er matt und durstig. (Jes 29,8)
Sie hat alles verloren. Das gemeinsame Kaffeetrinken morgens im Stehen. Den Urlaub am Gardasee, in dem kleinen, gelben Haus. Das Seriengucken an verregneten Samstagen. Die Grillabende mit den Nachbarn auf dem Balkon. Die Weihnachtsgans der Schwiegermutter. Das Aufregen über seine Socken in der Küche. Ihr Zuhause. Ihre Liebe. Ihr Leben.
Jetzt sitzt sie allein in einer neuen Wohnung, auf einem neuen Sofa. Die Nachbarn kennt sie nicht. Urlaub macht sie dieses Jahr im Harz. Morgens wacht sie alleine auf und abends schläft sie alleine ein. Sie hat den Glauben an die Liebe verloren. Die Liebe ihres Lebens.
Starrt hin und werdet bestürzt, seid verblendet und werdet blind!
Ich habe das Staunen verloren. Den Glauben an gute Nachrichten. Ich habe verlernt, entsetzt zu sein. Elendsradiomeldung. Kriegszeitungsberichte. Terrorbildschirm. Jeden Tag auf´s neue. Ich habe meinen Zorn verloren. Bin taub geworden für die Elendsradiomeldung, blind für Kriegszeitungsbericht und Terrorbildschirm. Hinter Schleier ziehen die Nachrichten an mir vorbei. Ob gute oder schlechte – ich höre sie nicht mehr. Ich sehe sie nicht mehr. Ich glaube nicht mehr an sie.
Die Welt liegt in Trümmern, die Stadt, das Leben, die Liebe.
Unter all dem Schutt sind die Träume begraben. Der Glaube und die Hoffnung – ich finde sie nicht mehr.
Ich habe schon so manches verloren und einiges davon wieder gefunden. Manches wurde ersetzt. Irgendwo blieb eine Lücke.
Es tut weh, etwas zu verlieren. Es war nicht die eigene Entscheidung, etwas aufzugeben oder zurück zu lassen. Andere haben entschieden, dass es nicht mehr geht. Oder es passiert einfach so. Manchmal schleichend. Und dann ist es weg. Dann sind Zuhause und Freunde verloren, die Hoffnung und das Mitgefühl.
Ein Haus kann ersetzt werden, aber es ist nicht mehr sein Haus.
Eine neue Liebe kann wachsen, aber es ist nicht mehr diese Liebe, es ist eine andere.
Und irgendwo bleibt immer eine Lücke.
Es geht nicht nur das Haus verloren, die Nachbarschaft, der tägliche Weg zur Arbeit. Es geht nicht nur der gemeinsame Urlaub verloren, die Familienfeiern. Es geht das Leben verloren, das Leben, wie es gerade war. Es geht das Vertrauen verloren. Das Vertrauen, dass das Leben beständig und sicher ist. Dass die Liebe ewig bleibt. Dass es gut werden wird in der Zukunft.
Und manchmal geht auch die Hoffnung verloren. Darauf, dass es wieder gut werden kann. Darauf, dass sich die Lücke schließt. Darauf, dass ich etwas Neues finde.
Dann liegen Hoffnung, Glaube, meine Träume unter Schutt vergraben, dicke Steine und Platten erdrücken sie.
Ich möchte wieder träumen können. Von einer Welt, in der jemand wieder zu Hause ist, auch wenn es ein fremdes Land ist. In der er wieder Nachbarn hat und mit ihnen isst und trinkt und von morgen träumt und das kein Alptraum ist.
Ich möchte wieder träumen können. Von einer Welt, in der jemand wieder lieben kann, auch wenn sie die eine Liebe verloren hat. In der sie wieder lebt, auch wenn es allein ist.
Ich möchte wieder träumen können. Von Radiomeldungen über grenzenlose Länder, Zeitungsbildern, auf denen aus Trümmern Häuser gebaut werden, in denen Menschen leben und lieben.
Ich möchte träumen können wie Jesaja, als er alles verloren hat: Seine Nachbarn, sein Haus, sein Land. Er hat den Boden unter seinen Füßen verloren, lebt jetzt auf fremden Boden.
Doch er hört nicht auf zu träumen:
Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden.
Im Schatten der Bäume werden sie sitzen bei Wein und Oliven, sein frisch gebackenes Brot essen. Brot aus dem Weizen der eigenen Felder. Obst von den Bäumen im Garten. Abends werden sie in ihren neuen Häusern schlafen, ohne Bombenhagel und Kriegsgetöse.
Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus der Dunkelheit und Finsternis sehen; und die Elenden werden wieder Freude haben am Herrn.
Sie werden sehen in die Gesichter fröhlicher Menschen, die zusammen feiern, an langen Tischen im Garten mit bunten Lampions. Sie werden Hand in Hand am Fluss entlang spazieren und morgens lange bei Kaffee und Toast zusammen sitzen. Sie werden liebe Worte hören, ein zartes „Gute Nacht“ und „Ich bin für dich da.“
Und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten.
Bomben und Gewehre werden verstummen, Machthaber werden Macht verlieren und Soldaten ihre Helme ablegen. Aus den Trümmern von gestern werden Häuser von morgen gebaut. Auf den Schlachtfeldern weiden Schafe. Das Schlauchboot auf dem Mittelmeer gehört zum Badeurlaub. In den Klassenzimmern lernen Mädchen und Jungen zusammen das Einmaleins. Zeitungen schreiben Geschichten vom neuen Leben. Richter sprechen Recht nach den Gesetzen. Nachbarn feiern zusammen, alle bringen etwas mit: Ihre Sprache, ihr Essen, ihre Geschichten.
Und ich werde wieder hinsehen und hinhören, ich werde gerne hinsehen und hinhören und mich berühren lassen vom Leben. Von meinem eigenen und dem anderer. Egal woher sie kommen, wo sie wohnen, wen sie lieben.
Bis dahin halte ich die Augen offen und versuche aus dem Dunkeln jetzt schon kleine Triebe der neuen Wälder zu entdecken.
Und ich sehe ihn mit seinen neuen Freunden an einem Tisch sitzen, er hat Brot gebacken und sie essen es einfach aus der Hand.
Ich sehe sie im lichten Fichtenwald wandern, Rast machen in einem Café bei Milchkaffee und Käsekuchen. Ihr neues Sofa zu Hause hat bereits den ersten Rotweinfleck und daneben stapeln sich die Krimibücher.
Im Radio höre ich immer noch Elendsmeldungen, sehe Terrorbilder. In all dem Nachrichtenrausch halte ich inne und werde traurig.
Ich will nicht aufhören zu träumen von einer Welt, die anders ist als diese.
Darum spricht der Herr, der Abraham erlöst hat: Wohlan, es ist noch eine kleine Weile. Amen.