Wegweiser – Predigt zu Johannes 3,22-30 von Nico Szameitat

Wegweiser – Predigt zu Johannes 3,22-30 von Nico Szameitat
3,22-30

Das Tote Meer stirbt. Der berühmte See mit dem unglaublich hohen Salzgehalt schrumpft immer mehr. Jedes Jahr fällt der Wasserspiegel um einen Meter. Das Wasser hat sich längst vom Ufer entfernt, so dass man weite Wege von der Böschung über Salzkrusten zurücklegen muss, wenn man ans Wasser will. Schiffsgerippe liegen auf dem Trockenen. Stege führen weit über dem Boden ins Nichts, enden irgendwo in der Luft.
Schuld ist der Jordan, der einzige Zufluss, der von Norden her im Toten Meer mündet. Jedes Jahr zweigen die Menschen mehr Wasser vom Jordan ab, um ihre Felder zu bewässern. Dafür leiten sie ihre restlichen Abwässer ein, so dass nur ein kleines Abwasserrinnsal das Tote Meer schließlich erreicht. Zwar gibt es im Toten Meer keinen Abfluss. Aber jedes Jahr verdunstet durch die Sonne die gleiche Menge an Wasser und zurück bleiben die Salzkrusten.
Unbeeindruckt davon pilgern die Menschen weiter an den Jordan zu einer der Taufstellen von Johannes dem Täufer. Denn da gibt es heute verschiedene Angebote, wo das gewesen sein könnte. Am beliebtesten sind inzwischen die Tauforte weiter nördlich, wo das Wasser noch reichlich und frisch ist und man noch immer wunderbar taufen kann. Denn wer will schon in einem Abwasserrinnsal nahe dem Toten Meer getauft werden?
Obwohl es nicht unwahrscheinlich ist, dass eben dort der Taufort des Johannes war.

Hier ist der Ort. Hier ist die Stätte. Johannes, die Worte seines Vaters im Ohr.
Hier ist die Stätte. Hier ist der Ort, wo sie hindurch zogen, unsere Väter.
Von drüben kamen sie. Aus der Wüstenzeit. Ein Menschenleben lang zogen sie seit Ägypten durch die Wüste. Von drüben kamen sie. Dort am anderen Ufer tat Josua den ersten Schritt in das Morgen. Und die Wasser des Jordans stauten sich. Und trockenen Fußes zogen unsere Väter ein in das gelobte Land. Das ganze Volk kam hier an. Hier begann das Gelobte Land.
Hier ist die Stätte. Hier ist der Ort. Schau die zwölf Steine, das Zeichen des Josua.
Er richtete sie hier auf. Hier war der Ort des Durchzugs, die Stätte des Einzugs. Angesichts von Jericho, der Ort der Ankunft, die Stätte der Erfüllung.

Und Johannes wählte diesen Ort seiner Erinnerung, angesichts von Jericho, knapp oberhalb des Salzsees, bei den Steinzeichen des Josua und schickte hier die Menschen durchs Wasser: „Gott wird die Wasser für euch nicht mehr aufhalten! Ihr müsst durch die Wasser hindurch. Und auch ich werde euch keine Brücken bauen oder euch über das Wasser tragen. Ihr müsst hindurch. Lasst eure Lasten und Sünden hier und zieht durch das Wasser hinaus in ein neues Leben. Zieht aus eurem engen Land, wo doch kein Milch und Honig fließt, zieht hinaus!“
Und Johannes taufte die Menschen durch das Wasser hindurch, zurück in die Welt.

Die Jünger des Johannes sind frustriert. Erst hat ein Pharisäer sie in eine unbequeme Diskussion verwickelt, die zu keinem Ende kam. Und dann erfahren sie auch noch, dass Jesus von Nazareth ein Stückchen weiter oberhalb am Jordan ebenfalls angefangen hat zu taufen.
Es ist für sie schon schlimm genug, dass an jeder zweiten Jordankurve – und der Jordan hat viele Kurven! – ein anderer Scharlatan die Leute im Wasser untertaucht. Aber dieser Jesus, dem ihr Meister sozusagen die Füße geküsst und ihn den Christus genannt hat, ausgerechnet der macht jetzt Konkurrenz. Ist das der Dank dafür? Hier ist der Ort! Hier ist die Stätte! Hier bei dem Steinzeichen des Josua. Nicht da oben, bei diesem Christus! Aber ihren Meister Johannes scheint das gar nicht zu stören. Der scheint sich über den Konkurrenten auch noch zu freuen.

Ich bewundere Johannes. Seine Aufgabe ist es, für die Ankunft Jesu schon mal alles vorzubereiten. Die Leute einzustimmen, schon mal zu predigen, die Leute zu taufen. Und dann kommt der Auftritt Jesu und Johannes nimmt sich zurück. Er macht Platz, schickt die Menschen eins weiter. Johannes ist der Vorläufer. Er ist der Wegweiser, der am Wegrand stehen bleibt. Er ist die Vorgruppe, die trotz der Jubelrufe der Fans die Bühne verlässt, um dem Haupt-Act Platz zu machen. Johannes ist der Trauzeuge, der die Ringe dabei hat, der eine halbe Stunde vorher noch schaut, ob in der Kirche alles vorbereitet ist, und der den Ablauf der Hochzeitsfeier geplant hat. Aber er ist nicht der Bräutigam, er ist nicht der Haupt-Act und er ist nicht das Ziel.

Lutherstadt Wittenberg im Jahr des Reformationsjubiläums. Ich gehe an den Luthersocken und Lutherpralinen vorbei und schlängele mich durch die Häuserzeilen durch zur Stadtkirche. Durch das Portal geht es ein paar Stufen hinunter, nach rechts durch die grünen Bankreihe und da steht er: Der berühmte Altar von Lucas Cranach, auf dem die Sakramente mit den Reformatoren dargestellt sind. Mich beeindruckt vor allem das schmale Bild unten. In einem kahlen langgestreckten Raum ist in der Mitte Christus am Kreuz zu sehen, mit wehendem Lendentuch. Ganz links in dem Raum ist die Gemeinde zu sehen, mit Frauen und Kindern. Und ganz rechts in dem Raum Martin Luther, der mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Christus in der Mitte zeigt. Um ihn geht es und um nichts anderes.
Und auf einmal erinnere ich mich an einen anderen Altar. Und in Gedanken wandere ich 800 Kilometer weiter südwestlich ins Elsass. Und aus Wittenberg wird Colmar, aus der Stadtkirche wird das Museum Unterlinden, aus Lucas Cranach wird Matthias Grünewaldt. Und da steht der Altar in derselben Aufteilung, nur düsterer. Im Mittelbild blutet und leidet Christus am Kreuz vor einem schwarzen Himmel. Links vom Kreuz die Frauen in Tränen. Rechts vom Kreuz Johannes der Täufer, der mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Christus in der Mitte zeigt. Um ihn geht es und um nichts anderes.
Luther wäre der ganze Personenkult, der um ihn in diesem Jahr getrieben wird, höchst zuwider. Luther weist auf Christus. Johannes weist auf Christus. Und damit weisen sie von sich selbst weg.

Manchmal habe ich den Eindruck, unserer Kirche könnte etwas johanneische Demut ganz gut zu Gesicht stehen. Auch die Kirche ist nicht der Bräutigam, nicht der Haupt-Act und nicht das Ziel.
In der kleinen Vorortgemeinde war man stolz auf die Thomasmesse, die man dort schon seit Jahrzehnten regelmäßig feierte: Ein Gottesdienst mit Angeboten zur persönlichen Segnung, Salbung und Gebet. Allerdings ließen die Besucherzahlen mit den Jahren immer weiter nach. Als dann die Innenstadtgemeinde im städtischen Kulturzentrum einen GoSpecial ins Leben rief, war der Argwohn groß: Ausgerechnet in derselben Stadt machen die Konkurrenz. Ist das der Dank für gute Nachbarschaft? Hier ist der Ort! Hier ist die Stätte! Hier bei dem Steinzeichen des Josua. Ich sage nur: „johanneische Demut“…

Die großen Kirchen schrumpfen. Wir werden immer weniger Menschen. Und wir werden auch immer weniger Geld haben. Wir werden uns verändern. Aber das muss nicht schlecht sein. Stege, die wir jahrzehntelang betreten haben, enden inzwischen längst im Nichts, irgendwo in der Luft. Und manches Kirchenschiff liegt als Schiffsgerippe schon lange auf dem Trockenen. Klammert euch doch nicht fest an den alten Steinzeichen des Josua! An den alten Steinhäusern, ob es Kirchen sind, Pfarrhäuser oder Gemeindehäuser. Sucht neue Wasserfurten. Schaut nur zwei Flusskurven oder Straßenkurven weiter! Vielleicht wartet Christus gerade dort.

Als ich die Stadtkirche verlasse, wandere ich links die Fußgängerzone hinunter Richtung Lutherhaus. Dahinter erhebt sich ein kleiner grüner Hügel: der Bunkerberg, der ein begehbares Kunstwerk geworden ist. Die Spazierwege auf dem Hügel gehen über in Stege, die weit über den Hügel hinausreichen und irgendwo in der Luft zwischen den Bäumen enden. Das Besondere an den Stegen ist, dass sie innen und außen verspiegelt sind. Wer die Stege betritt, sieht auf einmal überall seine Füße, links, rechts, vorne. Dazwischen die Füße von all den anderen, von Männern, Frauen, Jugendlichen, Kindern. Man schaut irgendwie nur noch auf gespiegelte Füße.
Wenn man aber über die Balustrade blickt, sieht man die anderen Stege, die in der Umgebung verschwinden, weil sie ja Hügel, Bäume und Büsche widerspiegeln. Aber man sieht auch über den Balustraden der anderen Stege, über der gespiegelten Natur, die staunenden und lachenden Köpfe der Menschen da drüben. Die Wittenberg-Stege enden nicht im Nichts. Sie enden in der Welt. Und sie nehmen die Welt auf mit einem Staunen und einem Lachen.
Und das sind die Wege, die ich mir auch für unsere Kirche wünsche. Wege, die hinausziehen in das Leben. Sie enden in der Welt. Und sie nehmen die Welt auf mit einem Staunen und einem Lachen.

Amen.

Perikope
18.06.2017
3,22-30

Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster - Predigt zu Johannes 16,5-15 von Caroline Warnecke

Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster - Predigt zu Johannes 16,5-15 von Caroline Warnecke
16,5-15

„Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster.“
Und ein leichter Wind strömt ins Zimmer und bringt frische Luft mit, und das tut jetzt gut. Frische Luft, dieser leichte Wind, das geöffnete Fenster. Und Licht. Und der Duft von den Lindenblüten. In den Gardinen schwingt ein sanftes Wehen hin und her, und draußen singen ein paar Vögel, sonst ist es still. „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“. Und jetzt wird es anders weitergehen. Aber vorher ist auch viel gewesen.

Liebe Gemeinde,
der Predigttext für heute am Pfingstsonntag steht im Johannesevangelium, im 16. Kapitel.
Jesus spricht zu seinen Jüngern:
 Jetzt aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und niemand von euch fragt mich: Wo gehst du hin?  Doch weil ich dies zu euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauer.
 Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, werde ich ihn zu euch senden.  Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht; über die Sünde: dass sie nicht an mich glauben;  über die Gerechtigkeit: dass ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht seht;  über das Gericht: dass der Fürst dieser Welt gerichtet ist.
 Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen.  Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in aller Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen.  Er wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er's nehmen und euch verkündigen.  Alles, was der Vater hat, das ist mein. Darum habe ich gesagt: Er nimmt es von dem Meinen und wird es euch verkündigen.

Liebe Gemeinde,
ja, es ist viel gewesen und jetzt wird es anders weitergehen.

Jesus sagt seinen Jüngern, dass er weggehen wird. Die gemeinsame Zeit ist vorbei, und die Jünger ahnen, dass sie nicht mitgehen können und zurückbleiben. Traurig sind sie und vermutlich auch ratlos. Was will er uns sagen? Was hat das alles zu bedeuten? Warum soll es gut für uns sein, dass er weggeht? Warum überhaupt? Und womit versucht er uns hier zu trösten?
Große Worte fallen in traurige Menschenherzen: „der Tröster“, „Sünde“, „Gerechtigkeit“ und „Gericht“, „Der Geist und die Wahrheit.
Wer traurig und ratlos ist, wer sich fragt, wie es jetzt eigentlich weitergehen soll, wird sowas kaum hören und aufnehmen können. Und so ist es oft beim Abschied: Abschiedsworte können sehr klar und sehr deutlich sein und einen gleichzeitig völlig verwirren. Sie können die ganze Wahrheit aussprechen und einen gleichzeitig völlig im Unklaren lassen. Später, manchmal erst sehr viel später, mit Abstand und Zeit versteht man dann und begreift und bringt die Dinge zusammen, entdeckt den verborgenen Sinn.

Zu Pfingsten also diese Worte, die doch eher still und nachdenklich daherkommen.
Kein feuriges Brausen vom Himmel, keine Feuerzungen, nix Verrücktes, auch nichts Verzücktes, keine Köpfe voll süßem Wein, keine Ekstase, kein Zungenreden, auch nicht Geistausgießung für alle, keine großartige Erweckung und auch kein pfingstlicher Gemeindezuwachs, keine Massentaufe, kein „Happy Birthday, liebe Kirche“ und nicht Hunderttausende, die singen und beten wie auf dem Kirchentag.
Ein stiller und nachdenklicher Text. Man könnte auch sagen „Vom Kommen und Gehen“. Denn zwischen den großen Worten schwingen wie in einem sanften Wehen diese anderen Worte hin und her und sie bringen Bewegung mit: weggehen, fragen, gehen und kommen, senden, leiten, reden und hören, verkündigen und auftun.
„Vom Kommen und Gehen“ oder besser „Vom Gehen und Kommen“? Denn hier geht ja erstmal einer und verweist auf das, was kommt. Und das ist ja auch unsere Erfahrung: erst wenn etwas weg ist, wenn etwas zu Ende gegangen ist, wenn etwas vorbei ist, ist Platz für das Neue.
Wir müssen uns nicht wie die Jünger von Jesus verabschieden. Die haben mit ihm gelebt und die müssen verkraften, dass er nicht mehr da ist. Aber wir müssen uns in unserem Leben auch immer wieder auf Abschiede einstellen und haben auch schon viele erlebt.

- Die Kinder gehen aus dem Haus, und auch wenn sie nicht weg sind, kommen sie anders zurück. Und jetzt gerade nach dem Abi, wo sie aufbrechen und losziehen  – da wird es viele Abschiedsszenen geben. Mütter und Väter. Es ist so viel gewesen, und nun wird alles anders.  
- Es gibt Trennungen, die auf andere Weise zusetzen und schmerzen. „Die haben sich getrennt“ hören wir. „Die haben sich auch getrennt.“ flüstern wir uns zu.  Menschen verlassen einander, verlassen den anderen, den Partner, die Kinder, die Familie.
-  Wir beenden eine Lebensphase und gehen in eine andere, auch da bleibt manches zurück.
Das Ende einer Freundschaft. Der Abschied von einer langen Beziehung. Unser Körper, der uns zeigt, wie begrenzt wir leben, und der Tod mit all seinen Vorboten und seinen Schrecken, mit der Trauer, die er hinterlässt.
„Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“.
Und ein leichter Wind strömt ins Zimmer und bringt frische Luft mit und das tut jetzt gut. Diese frische Luft, dieser leichte Wind, das offene Fenster. Und das Licht. Und jetzt wird es anders weitergehen. Auch wenn so viel gewesen ist. Wir verabschieden das, was nicht bleiben kann und lassen gehen, was gehen will und gehen muss.
Auch in anderer Weise erleben wir gerade, dass etwas zu Ende geht. Verbindungen und Bündnisse, die bisher Bestand hatten, werden brüchig. Die Weltordnung verändert sich auf dramatische und vor allem auch auf unberechenbare Weise. Die anderen und wir hier in Europa. Sicherheiten gehen verloren. „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, sind ein Stück weit vorbei…“ (Merkel). Dieses Zitat hat in der letzten Woche ja einiges aufgewirbelt, aber auch einiges klar gestellt.
Und mittendrin unsere Kirche, in ihrer langen Geschichte, aber auch in ihrer Verantwortung. Wohin wird sie sich entwickeln? Wovon müssen wir uns verabschieden? Was ist mit den vielen Gemeinden, landauf, landab, die mit aller Kraft, manchmal auch mit allerletzter Kraft versuchen, das Bisherige zu halten und als Gemeinde verlässlich zu bleiben? Welche Stimme, welche Rolle wird unsere Kirche in Zukunft spielen. Es gehen so viele und es kommen so wenige. Auch hier Trauer- und Abschiedsprozesse. Wir können nicht mehr alle besuchen, nicht mehr alles anbieten, nicht alles erhalten. Und das zu begreifen und auch anzunehmen, fällt schwer und tut weh. Was wird da jetzt kommen?   
„Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“.
Und ein leichter Wind strömt ins Zimmer und bringt frische Luft mit und das tut jetzt gut… Und jetzt wird es anders weitergehen. Wir öffnen uns am offenen Fenster für das, was kommt. Für das Neue, das hereinweht, für die Ideen, die uns zufliegen – und fangen schon mal an, heute zu tun, was erst morgen oder übermorgen möglich scheint.

Das mit dem geöffneten Fenster ist übrigens ein Buchtitel. „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“, ein Buch von der Autorin Susann Pasztor1. Manche haben es vielleicht gelesen. Ein Buch, das ein schweres Thema aufnimmt, und es sehr gefühlvoll und würdig, aber auch sehr humorvoll verarbeitet. Der Abschied vom Leben. Die Zeit, die noch bleibt. Eine Sterbebegleitung mit ungewöhnlichen, geradezu wunderbaren Wendungen. Ein letzter Weg, auf dem noch so viel Neues passiert, und keiner hätte das je für möglich gehalten. Da geht jemand, aber da kommt auch jemand. Für die einzelnen Menschen, um die es hier geht, öffnen sich völlig neue Perspektiven.

„Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“.
Der Ausblick, den Jesus seinen Jüngern durch das offene Fenster seines Abschieds zeigt, ist erstmal nur ein Name: Der Tröster. Der Geist der Wahrheit. Aber dieser Name ist mit Jesus auf Engste verbunden. Es ist nicht irgendein Geist, der kommen wird und weht, wo er will. Der Geist der Wahrheit und des Trostes ist kein anderer als sein Geist. Der Geist, in dem Jesus selbst gelebt und gewirkt hat, der ihn selber geführt und geleitet hat auf seinem Weg durch diese Welt und ihre Abgründe. Es ist sein Geist und der seines Vaters, der Geist Gottes. Wie eine Taube kam er bei seiner Taufe herab und ließ ihm sagen „Du bist mein lieber Sohn…“ (Mk 1,11). Und dieser Geist lag auf ihm, um den Armen das Evangelium  zu verkündigen und den Gefangenen, dass sie frei sein sollen und den Blinden, dass sie sehen sollen und um die Zerschlagenen in die Freiheit zu entlassen…(Lk 4,16ff). Und das haben die Jünger dann ja schon auch hautnah erleben können: diese Umbrüche. Dieses Neue, was da in ihre kleine Welt kam. Die Erfahrung, dass es weitergeht, obwohl erstmal nichts danach aussah. Sie waren dabei als das Leben wieder zu leuchten begann und ein frischer Wind über die Gesichter zog und die Augen wieder froh wurden. Und das werden sie beim Abschied jetzt auch nochmal sehen und erinnern können: die Bilder, die Begegnungen, diese vielen Geschichten. Weißt du noch? Weißt du noch, wie er das Brot teilte. Wie alle satt wurden. Und wir hatten ja nichts. Wie ruhig er blieb, als das Boot anfing zu kentern.
Durch das geöffnete Fenster also doch nochmal ein Blick zurück:
Nein, wir sind nicht die ersten, die uns fragen, wie es weitergeht und was jetzt kommen wird. Wir sind die ersten, denen bange wird angesichts einer unsicheren Zukunft.
Der Geist Gottes hat eine lange Geschichte.
Sie beginnt, als alles begann, als der Geist Gottes noch über den Wassern schwebte und alles wüst, chaotisch war und leer: Der Geist Gottes und seine schöpferische Kraft.
Die Propheten, die beseelt und gesandt von diesem Geist hingewiesen haben auf das, was schief läuft und ungerecht ist: der Geist Gottes und seine warnende Kraft.
Die Menschen, die sich haben inspirieren lassen, über all die Jahrhunderte, die Mystikerinnen, die Liederdichter, Paul Gerhardt auch Luther und das, was wir mit den 500 Jahren Reformation dieses Jahr feiern: Der Geist Gottes und seine erneuernde Kraft.
Am geöffneten Fenster sagt uns Jesus darum auch das: der, der kommen wird, war schon da. Er kommt und geht. Sie geht und kommt. Er wird auch in Zukunft wehen, wo er will, aber er bleibt. Und da ist sie ganz verlässlich, die Heilige Geistkraft Gottes. Von Ewigkeit zu Ewigkeit.  

„Und dann steht einer auf...“.
Jesus ist auferstanden und hat uns das Fenster des Lebens und der Zukunft weit geöffnet. Und jetzt stehen wir da und schauen in die Welt. Und ein frischer Wind strömt durch unsere Herzen und wir richten uns auf. Und das tut jetzt gut. Diese Zuversicht, diese Aussicht. Und dabei wird uns bestimmt auch etwas einfallen. Diese Redewendung bewahrt ja sehr schön, wie das mit den Einfällen so ist: die kann man nicht planen oder sich vornehmen. „Da wird uns etwas einfallen“, heißt ja auch, da wird uns etwas zufallen, da wird etwas in uns einfallen. 
Pfingsten können wir nicht machen. Pfingsten sind wir ganz und gar Empfangende – wie immer, wenn es um das Wesentliche geht. Da können wir nur die Fenster weit aufmachen und die Hände ausbreiten und unsere Herzen öffnen und unsere Ohren spitzen, denn was zukünftig sein wird, wird er uns verkünden, der Heilige Geist.

Und wenn wir jetzt singen, dann können wir ja einfach mal so tun, als ob hier in der Kirche alle Fenster offen stehen und ihn so herbeibitten und zu uns singen: „O Heilger Geist, kehr bei uns ein und lass uns deine Wohnung sein…“ (EG 130)
Amen.

 

1 Susann Pásztor, Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster, Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2017

Perikope
04.06.2017
16,5-15

Den leeren Raum füllen - Predigt zu Johannes 16,5-15 von Kathrin Nothacker

Den leeren Raum füllen - Predigt zu Johannes 16,5-15 von Kathrin Nothacker
16,5-15

Samirs Eltern sind kurz vor seiner Geburt aus dem Libanon geflohen. Die Familie lebt in Deutschland. Samir erlebt eine Kindheit wie andere Kinder: er wächst in einer behüteten Familie auf. Deutsche und libanesische Kultur vermischt sich. Als er acht Jahre alt ist, verschwindet sein Vater von einem Tag auf den anderen. Er ist vom Erdboden verschluckt. Die Schlüssel hat er zuhause am Schlüsselbrett gelassen. Er hat nichts mitgenommen. Morgens aus dem Haus gegangen, am Abend nicht mehr nach Hause gekommen. Für immer verschwunden.

Das spurlose Verschwinden des Vaters prägt sich tief in Samirs Kinderseele ein. Alles um ihn herum atmet den Geist und die Erinnerungen an den Vater. Der Verlust wiegt schwer. Das Weggehen fühlt sich an wie ein immerwährender Verrat. Die Fragen drehen sich im Kreis. Die Antworten fehlen. Samir ist traumatisiert.

 

Weggehen heißt Abschied, Verlust, Trauer, Traurigkeit – manchmal Trauma. Weggehen bedeutet für die Gehenden und die Zurückbleibenden meistens nichts anderes als Schmerz.

Jesus sagt:

Jetzt aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und niemand von euch fragt mich: Wo gehst du hin? Doch weil ich das zu euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauer. Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden. [...] Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen. Er wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er's nehmen und euch verkündigen. Alles, was der Vater hat, das ist mein. Darum habe ich gesagt: Er wird's von dem Meinen nehmen und euch verkündigen. (Joh 16, 5-15)

 

Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden.

 

Liebe Gemeinde, wenn wir jetzt die Kirche verlassen würden, auf die Straße gingen und die vorbeikommenden Menschen fragten, was es denn mit dem christlichen Pfingstfest auf sich habe, ich weiß nicht, welche Antworten wir bekämen. Ob überhaupt eine. Wenn wir dann sagen würden, Pfingsten feiere das Weggehen Christi und das Kommen des Geistes, würden uns Menschen vielleicht wirklich fassungslos anschauen.

Aber genau das ist es, was wir an Pfingsten feiern: Christus geht weg und der Geist der Wahrheit, der Geist des Trostes kommt. Mit Jesu Weggehen, mit der Tatsache, dass er sich den Menschen nach seiner Auferstehung entzieht, öffnet sich erst einmal ein großer, leerer Raum. Es ist ein Trauma.

Jesus, der wie kein anderer mit den Menschen unterwegs war, der Blinde sehend und Lahme gehend gemacht hat, der Tote und Totgesagte ins Leben zurückgeholt hat, der zu den „Outcasts“ gegangen ist und seinen schlimmsten Feinden vergeben hat – man hat ihn zum Schweigen gebracht, seine Spuren verwischt, seine sterblichen Überreste verscharrt.

Manche haben dann erzählt, er sei auferstanden, sie haben ihn gesehen, Gott habe ihn ins Leben zurückgeholt. Mit manchen habe er danach das Brot geteilt, anderen seine Wunden gezeigt.

Aber nur manchen. Viele spüren Leere, Verlassenheit, Trauer. Da ist ein großer leerer Raum.

Wie bei Samir. Nach dem Weggang des Vaters trösten ihn nicht die Freunde, nicht der väterliche Freund, nicht die Mutter. Der Vater fehlt. Er hat ihm erzählt von den Zedern des Libanon, er hat ihm die Lieder seiner eigenen Kindheit vorgesungen, er hat mit ihm Schiffe aus Walnussschalen gebastelt und sie auf das imaginäre Mittelmeer geschickt. Niemand und nichts kann den Vater ersetzen. Die Leere ruft ein Leben lang körperliche Schmerzen hervor.

 

Jesus sagt: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht

weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden. (Joh 16,7)

Der Messias, der Heilsbringer geht, zieht sich aus dieser Welt zurück. Ein ungeheurer Gedanke. Unser Gott nimmt sich zurück und sagt: Im Loslassen werdet ihr stark sein, im Verlieren werdet ihr gewinnen, im Abschiednehmen Neues empfangen.

Das Neue ist der Geist der Wahrheit: Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten. (Joh 16,13a)

 

Ein Raum öffnet sich, der durch Jesu Weggehen leere Raum füllt sich mit dem Tröstergeist, dem Geist der Wahrheit. Wie kann man diesen Geist verstehen, wie kann man ihn fassen? Vielleicht gar nicht. Vielleicht jeder und jede von uns ganz anders. Es ist wie mit unserem Glauben. Manchmal ist er stark und groß, manchmal ganz klein und verzagt, manchmal wissen wir nicht, was wir beten sollen, manchmal zweifeln wir an Gott und seiner Macht und manchmal durchströmt uns tiefe Gewissheit: Gott ist da und geht mit.

Der Geist der Wahrheit wird kommen und wird uns in alle Wahrheit leiten, so sagt es Jesus. Er wird den leeren Raum füllen, den wir mitunter schmerzlich empfinden: weil ein Mensch gegangen ist, den wir liebten, weil ein Lebensabschnitt zu Ende gegangen ist, weil wir uns von einem Ort verabschieden müssen, der uns Heimat war, oder von Überzeugungen, die uns Sicherheit gaben.

Wahrheit hat in der Bibel etwas damit zu tun, dass ich mich auf etwas verlassen kann. Dass ich vertrauen kann, dass ich mich binde – an Christus und sein Wort. Es geht beim biblischen Wahrheitsbegriff nicht um etwas Absolutes, um etwas Objektivierbares. Nicht um eine nachprüfbare Übereinstimmung von Sachverhalt und Intellekt. Wahrheit ist Glaube und Treue, Freiheit und Bindung. Wahrheit ist Geschenk.

 

Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten. (Joh 16,13a)

Pfingsten feiert das Kommen des Geistes. Und wenn es der Geist der Wahrheit ist, der kommt und um den wir bitten, dann gönnt er uns und allen anderen Wahres. Ich finde es in den Fundamentalismen unserer Zeit einen ungeheuer tröstlichen Gedanken, dass ich mit dem Geist der Wahrheit auch anderen Wahres gönnen kann. Ich kann und darf mich – Gott sei Dank – an Christus und sein Wort binden. An den Christus, der von sich selbst gesagt hat. Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. (Joh 14,6a) Dieser Christus ist seit Pfingsten in Bewegung, zieht sich zurück, kommt wieder, geht mit. Ist selber der Weg. Auf ihn vertraue ich, an ihm halte ich fest – nicht an meinem eigenen Standpunkt.

Pfingsten, Fest des religiösen Besitzverzichts. Pfingsten gibt dem „Haben“ den Abschied und feiert die Offenheit für ein Leben mit dem Geist Gottes. Und diesen Geist besitzen wir nicht ein für allemal – wie manche meinen, die religiöse oder pseudo-religiöse Wahrheit zu besitzen – dieser Geist ist mit uns auf dem Weg, immer in Bewegung, immer im Werden, im Abschiednehmen und Wiederfinden, in der Leere und in der Fülle.

 

Martin Luther hat das Leben in Gottes Geist so beschrieben: „Das Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht eine Gesundheit, sondern ein Gesundwerden, nicht ein Sein, sondern ein Werden, nicht eine Ruhe, sondern eine Übung. Wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber. Es ist noch nicht getan oder geschehen, es ist aber im Gang und im Schwang. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg.“

Zwanzig Jahre später macht sich Samir auf und reist in den Libanon, um das Rätsel des Verschwindens seines Vaters zu lösen. Er meint, im Land der Zedern eine Antwort zu finden auf die bohrende Frage, wo sein Vater hingegangen ist. Samir wird hineingenommen in eine verworrene Familiengeschichte und in das dramatische Schicksal des Nahen Ostens. Wäre der Vater nicht weggegangen, hätte er niemals verstanden, was das Heimatland der Eltern geformt und geprägt und verletzt hat. Wäre der Vater nicht weggegangen, hätte Samir nicht all die Menschen getroffen, die mit ihm verwandt oder seelenverwandt waren, nicht seine Großmutter und nicht seinen Bruder.

Samirs Geschichte ist übrigens nachzulesen in dem großen Roman von Pierre Jerewan: „Am Ende bleiben die Zedern“.

Weggehen heißt Abschied, Verlust, Trauer, Traurigkeit – manchmal Trauma. Weggehen bedeutet für die Gehenden und die Zurückbleibenden meistens nichts anderes als Schmerz. So habe ich anfangs gesagt.

Weggehen, liebe Brüder und Schwestern, liebe pfingstliche Gemeinde, heißt aber auch: Der leere Raum füllt sich mit dem Geist, dem Geist der Wahrheit, dem Tröster. Das Weggehen ist die Voraussetzung, dass Neues kommen kann: neue Erkenntnis, neue Menschen, neues Leben.

Möge Gottes Geist in unserem Leben einkehren, die leeren Räume füllen und die gefüllten leerfegen. Möge Gottes Geist uns beleben und erfrischen, uns trösten und erneuern.

Komm, Gott, Schöpfer, Heiliger Geist. Amen.

 

Perikope
04.06.2017
16,5-15

Jesus als Aufklärer - Predigt zu Joh 16,5-15 von Reinhardt Schmidt-Rost

Jesus als Aufklärer - Predigt zu Joh 16,5-15 von Reinhardt Schmidt-Rost
16,5-15

Jetzt aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und niemand von euch fragt mich: Wo gehst du hin? Doch weil ich dies zu euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauer. Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, werde ich ihn zu euch senden. Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht; über die Sünde: dass sie nicht an mich glauben; über die Gerechtigkeit: dass ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht seht; über das Gericht: dass der Fürst dieser Welt gerichtet ist. Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in aller Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen. Er wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er's nehmen und euch verkündigen. Alles, was der Vater hat, das ist mein. Darum habe ich gesagt: Er nimmt es von dem Meinen und wird es euch verkündigen. (Joh 16,5-15)

 

Liebe Gemeinde,

der Abschied wird zum neuen Anfang.

Drei Jahre waren sie mit ihm gezogen, Simon und Andreas, Johannes und Jakobus, die zwölf Jünger, die namentlich genannt werden. Aber es waren sicher noch einige mehr, die mit Jesus, ihrem Lehrer, in Galiläa unterwegs waren, die seine Worte gehört und weitergetragen hatten. Und Frauen waren sicher auch dabei.

Die zwölf waren wohl der engste Kreis, auch wenn die Zahl zwölf für die zwölf Stämme Israels stehen mag, also eine zeichenhafte Zahl ist.

Der Abschied wird zum neuen Anfang.

Jesus spürt, dass seine Zeit in dieser Welt zu Ende geht, dass ihn die politisch Maßgebenden verfolgen und ihn umbringen werden. Deshalb versucht er seine Jünger auf die Zeit danach, nach seinem Tod, vorzubereiten.

Ihr seid zwar traurig, wenn ich nicht mehr bei euch bin, aber es ist gut für euch, dass ich weggehe, denn dann kann ich euch den Tröster, meinen Geist, senden.

Das klingt nur im ersten Moment merkwürdig. Näher besehen ist es ein ganz normaler Vorgang auch unter Menschen: Wenn uns ein Mensch verlässt, mit dem wir sehr vertraut zusammen gelebt haben, dann sind wir traurig, aber er hinterlässt uns auch einen tiefen Eindruck. Und je intensiver wir zusammengelebt haben, umso lebendiger bleibt uns ein geliebter Mensch gegenwärtig mit allem, was er uns bedeutete.

 

Wie oft sagt man über einen Menschen, an den wir uns lebhaft und gern erinnern: Hat sie nicht immer so schön erzählt? Oder erinnert ihr euch noch an seine witzigen Sprüche? Oder sie konnte so gut zuhören und so treffend raten. Oder auch: So wie mein Lehrer möchte ich auch einmal predigen können.

 

Erst recht bei der Intensität, mit der Jesus mit seinen Jüngern zusammengelebt hat. Wie sollte da sein Geist nicht in ihnen weiterwirken? Aber vor allem und viel mehr: Er hat ihnen eine ganz neue Sichtweise vermittelt, einen ganz neuen Blick auf das Leben gegeben, das werden sie nicht mehr vergessen. Das hat sie geprägt, das war die Wirkung des Heiligen Geistes in ihrem Leben – und diese Prägung haben sie mit einer Kraft der Überzeugung weiter gegeben, dass diese Eindrücke auch auf uns gekommen sind und bis in unsere Tage weiterwirken. Und wir geben sie auch selbst weiter.

 

Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht;

über die Sünde: dass sie nicht an mich glauben;

über die Gerechtigkeit: Dass ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht seht;

über das Gericht: dass der Fürst dieser Welt gerichtet ist. (Joh 16,8-11)

 

Was Jesus seinen Jüngern vermitteln wollte und weiterhin bis in unsere Zeit vermittelt – und durch uns weiter – ist eine Klärung ihres Denkens, eine Aufklärung.

Sünde ist, dass ihr euch nicht zu mir halten wollt, Gerechtigkeit, dass ich und der Vater eins sind, Gericht aber heißt, dass der Fürst dieser Welt gerichtet ist.

Das muss man noch einmal ganz langsam überdenken: Sünde ist kein Kavaliersdelikt und kein Verstoß gegen ein Gebot göttlicher oder weltlicher Herrscher, keine Unterlassungssünde, sondern Entfernung von Gott, dem Gott, den Johannes als die Liebe beschreibt, als Gnade und Wahrheit.

Es ist in diesem Zusammenhang bedenkenswert, was ein Soziologe unserer Tage, Gerhard Schulze, über die Sünde schreibt:

„In der christlichen Theologie tritt mit Luther das eigentlich schon viel ältere Prinzip der Rechtfertigung allein durch den Glauben mit neuer Kraft an die Stelle des archaischen Prinzips der Werkgerechtigkeit. Was sich alle Religionen seit eh und je unter Sünde vorgestellt haben, wird damit unwichtig. Dieser in der protestantischen Theologie fest etablierten Position stimmt auch die katholische Theologie zu, wenn auch eher zögernd und fast hinter vorgehaltener Hand.“ (Gerhard Schulze, Sünde, München 2005, S.129)

Sünde ist für Jesus ein Beziehungsgeschehen, Gottferne, so wie wenn ich mich zu Menschen nicht bekennen würde, denen ich freundschaftlich oder verwandtschaftlich verbunden bin.

Und Gerechtigkeit? Sie ist für Jesus kein abstrakter Wert, sondern die unsichtbare Einheit von Vater und Sohn, die der Geist Gottes den Menschen immer wieder durch das Wort vermittelt. Ein ungewöhnlicher Gebrauch des Wortes Gerechtigkeit, aber für Johannes in seinem Evangelium und seinen Briefen typisch. Gerecht ist die richtige Auffassung von Gott und seinem Gesandten, dass sie eine geistige Einheit sind.

Gerechtigkeit als Einheit von Vater und Sohn bedeutet Gericht und Gnade.

Es wird erfahrbar sein, was gerecht ist. Die Menschen werden Gottes Gerechtigkeit nicht okkupieren können, sie können nicht über sie verfügen. Denn Gottes Geist weht, wo er will. Und wenn Gott als Vater anerkannt wird, dann ist natürlich auch der Fürst dieser Welt gerichtet, nämlich als Gewalttäter verurteilt, gerichtet von Gott als dem Guten Hirten aller Menschen, der durch Wort und Geist wirkt.

Jesus weiß, was er seinen Jüngern zumutet, welchen Bewusstseinswandel er verlangt. Und so fügt er gleich hinzu:

Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in aller Wahrheit leiten. (Joh 16,12f)

Hier ereignet sich eine Form von Emanzipation, von erwachsenem Glauben, von Selbständigkeit und Verantwortlichkeit. Denn in jeder Zeit muss die Gnade und die Gerechtigkeit Gottes neu buchstabiert werden. Auf der Grundlage von Gnade kann der Mensch seinem Unrecht ins Auge sehen. Er ist nicht vernichtet, wenn Gott „der Welt“ die Augen öffnet.Er überlebt die „Aufklärung“, weil der Fürst dieser Welt bereits gerichtet ist.

Auch für uns, für jede neue Generation ist das Evangelium eine Zumutung. Es verlangt einen Bewusstseinswandel, der uns nur durch Gottes Geist und Wort zufließen kann. Der Geist der Wahrheit muss uns in die Wahrheit leiten, wir können als Menschen die Wahrheit nicht herbeizwingen. Und diese Orientierung durch den Geist muss jeden Tag wieder geschehen und sie geschieht auch immer wieder.

Wir erleben die heilsamen Wirkungen des Geistes in vielen Situationen:  Bei der Aufhebung der Sprachverwirrung zwischen Fremden, und in Familien, bei der Schlichtung von Konflikten in der Arbeitswelt und zwischen den Generationen. Der Geist wirkt zur Aufhebung der Verständigungsschranken unter den Religionen und zur Aufhebung der Rassentrennung, denn Gottes Geist mildert die Angst vor dem anderen, der mich zu bedrohen scheint. (Von diesen Wirkungen des Heiligen Geistes sprach auch Erzbischof Thabo Makgoba aus Kapstadt im Abschlussgottesdienst auf dem Kirchentag am vergangenen Sonntag.) Wir können Gottes Geist jeden Tag neu spüren und erfahren aus Worten der Bibel, aber auch aus vielen alten und neuen Liedern[1]. Eine Strophe aus einem Lied aus der Schweizer Reformation, von Ambrosius Blarer nimmt die Motive unseres Predigttextes besonders treffend auf:

Wie mit dem Vater und dem Sohn
du eins bist in des Himmels Thron
im ewgen Liebesbunde,
also mach uns auch alle eins,
dass sich absondre unser keins,
nimm weg der Trennung Sünde
und halt zusammen Gottes Kind,
die in der Welt zerstreuet sind
durch falsche G'walt und Lehre,
dass sie am Haupt fest halten an,
loben Christus mit jedermann,
suchen allein sein Ehre. (EG 127,5 – Ambrosius Blarer)

Da ist die Einsicht der Jünger Jesu für die Reformationszeit neu ausgesprochen: Sünde ist eine Trennung von Gott, keine einzelne Tat. Und sie ist überwunden durch Gnade, wir mit der Dreieinigkeit Gottes verbunden in einem ewigen Liebesbund.

Das helfe uns Gott täglich zu glauben und aus diesem Glauben zu leben. Amen.

 

1 I  EG 127, bes. Str.5 u. 6., EG 132. EG 136

Perikope
04.06.2017
16,5-15

KIRCHENTAG – ELBWIESEN – LUTHER und JESUS – Predigt zu Johannes 7,37-39 von Axel Denecke

KIRCHENTAG – ELBWIESEN – LUTHER und JESUS – Predigt zu Johannes 7,37-39 von Axel Denecke
7,37-39

1.
Heute ist Kirchentag – die große Abschlussveranstaltung in Wittenberg. An die 100.000 Menschen oder gar noch mehr sollen in dieser Stunde auf den Elbwiesen zusammen kommen. Hoffentlich geht alles gut, in diesen Tagen von Manchester und anderswo. Es wird, so vermute ich, viel von Martin Luther erzählt werden, von seinem „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ in Worms anno 1521, von seinem Leitwort: „Der Christ ist (im Glauben) ein freier Mensch und niemanden untertan. … Und der Christ ist (in der Liebe) ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan“. Große Worte, die wir noch längst nicht eingeholt haben, denn wir hinken dem allem noch meilenweit hinterher.

„Luther wollte mehr“, lautet daher die Parole von Eugen Drewermann, dem ehemals katholischen Priester, der seiner Kirche Adieu gesagt hat und – ohne offiziell Protestant zu werden – sich ganz Luther und der “Freiheit eines Christenmenschen“ zu verschreiben. Er bezeichnet die nicht die ominösen 95 Thesen anno 1517 vor oder neben der Schlosskirche zu Wittenberg als Beginn der Reformation, sondern eben das Wort, das Luther so oder ähnlich auf dem Reichstag zu Worms vor Karl. V gesagt haben soll. „Hier stehe ich – ich kann nicht anders – Gott helfe mir“. Ein einfacher kleiner Mönch gegen die ganze geballte katholische Macht, auch gegen die Gewalt des Kaisers, ja der ganzen Welt. Ein Einzelner mutig gegen alle. (Nur nebenbei: Ich denke, Eugen Drewermann findet sich da selbst sehr wieder. Er ist ja auch ein Einzelner, der der geballten Macht der katholischen Kirche Paroli geboten hat, es immer noch tut).

Nicht umsonst wird ja gesagt: Luther entdeckt die unbedingte Selbst-Verantwortung des einzelnen Individuums. Keiner kann mir in meinem Glauben (ein freier Mensch bin ich und niemandem untertan) rein reden. Keine kirchliche Autorität, weder damals katholisch noch heute protestantisch und lutherisch. Ich höchst selbst bin „reichsunmittelbar“ (so hat es einst Helmut Thielecke aus Hamburg gesagt) zu Gott, bin allein und nur allein für meinen Glauben und auch für mein Leben verantwortlich.
Er also, der kleine Mönchen mit seinem unbändigen Glauben gegen den Rest der Welt, gegen Kirche und Kaiser und gegen wen auch immer, auch gegen die innerprotestantischen Konkurrenten, die es bald gab.
Das ist Reformation. Daran wird - so hoffe ich - heute (jetzt gerade) in Wittenberg erinnert.

2.
Nun kann man solch eine extrem individualistische Haltung von Luther (auf mich als Einzelnen kommt es an) je nach Geschmack naiv und stur oder auch hochmütig, selbstverliebt und überdreht oder auch weltfern und versponnen oder eben auch mutig und glaubenskonsequent finden. Vielleicht ist ja bei Luther von allem etwas dabei gewesen. Wie kommt er aber dazu, so konsequent zu glauben, sich von keiner äußeren Autorität beirren zu lassen, wirklich „reichsunmittelbar“ zu Gott zu sein, keine Mittlerinstanz zwischen ihm und Gott dazwischen. Wie kommt er dazu? Und vor allem: Wie können auch wir dazu kommen, wenn wir denn in seiner Tradition stehen wollen, versuchen, stehen zu wollen?

3.
Dazu kann uns der heutige Predigttext weiter helfen. Jesus – so hat es der Evangelist Johannes komponiert – kommt zum ersten Mal in seinem Leben nach Jerusalem, in die Metropole des offiziellen Glaubens. Jesus, in den Augen der Kirchenmächtigen der damaligen Welt auch nur ein ungelehrter einfacher „Mönch“ aus dem gottverlassenen Nazareth oder Wittenberg oder sonst wo im Abseits der großen Welt. Die Parallelen fallen schon auf. Dieser Jesus tritt also im Tempel (in der Peterskirche in Rom), in der Hochburg des offiziellen von allem mit Kopfnicken gut geheißenen Glaubens auf und predigt „vollmächtig“. Vollmächtig (so Matthäus in der Bergpredigt) aus Gott heraus „und nicht wie unsere Schriftgelehrten“, die die offizielle Lehre verwalten. Vollmächtig, d.h., vom Geist Gottes bevollmächtigt, nicht aus eigener Vollmacht heraus, sondern aus einer Vollmacht, die ihm von Gott verliehen ist. Ich kann auch sagen: Aus der Vollmacht Gottes heraus, die Jesus bei der Taufe am Jordan glaubt von Gott empfangen zu haben. „Du bist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“, wie es bei Markus heißt. Jesus also vollmächtig, er allein gegen alle anderen. Die Menschen müssen etwas von seiner inneren Vollmacht gespürt haben, sonst hätten sie sich nicht im Pro und Contra mit ihm so auseinander gesetzt. Vollmächtig, aus Gott heraus, reichsunmittelbar zu Gott. Kein Mensch, keine Tradition, keine offizielle Lehre dazwischen. So predigte Jesus damals auf seiner ersten Reise nach Jerusalem, zum Laubhüttenfest, eines der wichtigsten Feste der damaligen Judenheit.

4.
Und was sagt er da am Ende? „Wenn jemand dürstet, komme er zu mir und trinke. Wer an mich glaubt, aus dessen Leibe werden Ströme lebendigen Wasser fließen“. Wie kann Jesus das sagen? Ist er – ich wiederhole jetzt, das was ich grad eben von Luther sagte - ist er naiv und stur oder hochmütig und überdreht oder weltfern und versponnen oder einfach nur mutig und konsequent in seinem Glauben an Gott? Ich denke, es ist das Letzte. Bevollmächtigt von Gott – so empfindet er sich jetzt, nach dem umwerfenden Erlebnis seiner Taufe – bevollmächtigt von Gott tritt er auf, klar und konsequent und unbeirrt und redet selbst vollmächtig, ausgestattet mit Vollmacht. Also, nicht aus sich selbst heraus, weil er ein so toller und glaubensstarker Mensch ist, sondern eben weil er bevollmächtigt ist von Gott selbst, mit dem Geist Gottes ausgestattet, der ihm diese vollmächtige Predigt erst ermöglicht.

„Wenn jemand dürstet, so komme er zu mir und trinke“. Es geht hier natürlich um den Lebensdurst, den jeder hat, es geht darum, dass mein Leben einen inneren Sinn erhält, dass ich Zweck und Ziel meines Lebens erkenne. Das lernt ihr bei mir, sagt Jesus, nur bei mir. Denn Gott hat mich auserwählt. In der Taufe bin ich von ihm adoptiert worden, Euch das zu sagen. Ich kann gar nicht anders, als es zu tun, ich muss es tun, sonst würde ich Gott ungehorsam sein. Also: „Hier steh ich – ich kann nicht anders – Und Gott wird mir helfen“.

„Orientiert euch an Jesus“, werden später kluge Nachfolger von ihm sagen. Orientiert euch an seinem Leben, an seinem Lebensstil, ja und am Ende auch am Stil seines Sterbens, also an seinem ganzen Leben, an seinen Worten und noch mehr an seinen Taten. Lebt so, wie er gelebt hat, dann gelingt euer Leben. Und da kann keiner dazwischen reden und euch mit klugen theologischen Weisheiten (sei es von den Schriftgelehrten damals oder, von Kirchenfürsten heute) beirren. „Wenn jemand  dürstet, so komme er zu mir und trinke“.

Ja, das ist ein Aufruf an die Menschen damals und natürlich auch an uns heute. Und da Frage an uns ist: Trinken wir denn bei Jesus? Nehmen wir ihn auf zu uns, gar in uns, so das “Ströme lebendigen Wassers“ aus unseren Glauben heraus entstehen, Ströme des Rechts und der Gerechtigkeit einer nie versiegenden Quelle, wie es einst schon der Prophet Amos (Kap5,21-24) gesagt hat? Diese Frage zu stellen, heißt gleichzeitig auch, sie im Normalfall mit NEIN zu beantworten. Denn sehe ich mich um, in mir selbst und bei anderem, so sehe ich weit und breit recht wenig davon. Und das hat leider auch seinen Grund.

Unser kurzer Predigttext schließt mit den Worten. „Das sagte Jesus aber in Bezug auf den Geist, den alle empfangen sollten, welche an ihn glaubten. Denn den (heiligen) Geist gab es (damals zu Lebzeiten Jesu) noch nicht, weil Jesus noch nicht verherrlicht (also gestorben und im Geist auferstanden) war“: Also: Nach Jesu Tod und mit seiner Auferstehung ins Leben der gläubigen Menschen sollen diese den Geist Gottes empfangen, so wie ihn Jesus bei der Taufe empfing. Und mit diesem Geist Gottes, dem Stellvertreter Jesu und Helfer der Menschen, sollen, dürfen ja müssen gläubige Menschen im Geiste Jesus auftreten, sollen, dürfen, ja müssen sie reden wie er, handeln wie er, die Welt gestalten wie er. Das ist toll, das ist anspruchsvoll, leider ist es zu anspruchsvoll.

Denn Frage an uns: Sind wir das denn? Und die eindeutige Antwort. Wir sind es nicht, wohl kaum einer von uns. Wir bleiben meilenweit hinter diesem Anspruch zurück. Aus uns fließen nicht Ströme lebendigen Wassers, so dass keinem mehr dürstet. Wir sind trotz unsres bekennenden Glaubens leider – Gott sei‘s geklagt -- recht mittelmäßig, ja dürftig. Dabei ist uns doch der Geist Gottes zugesagt. Jesus sagte am Ende seines Lebens selbst zu seinen Jüngern (und  sicher auch Jüngerinnen). Wenn ich mal fort bin, so kommt der Geist als mein Stellvertreter auf euch, dringt in euch ein und dann könnt ihr reden und handeln und lebenwie ich. Pfingsten  ist ja dann das Fest wo er der Geist Gottes auf alle Gläubigen verschwenderisch ausgegossen wurde. Wir haben ja die Chance und auch die Aufgabe, in seinem Sinne zu handeln, zu reden, zu leben. Doch wir tun es leider nicht oder eben im besten Sinne, viel zu wenig, Gott sei‘s geklagt.

5.
Und da sind wir eben am Ende wieder bei Luther und bei der Reformation. „Hier stehe ich – ich kann nicht anders – Gott helfe mir“ Und weiter „Der Christ ist (im Glauben) ein freier Mensch und niemanden untertan. Der Christ ist (in der Liebe) ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan“.- Das ist, Wort für Wort, Jesus pur. So hätte er aus seinem unbändigen Vertrauen auf Gott, seinem liebenden Vater, auch reden können. An dieser Stelle sind Luther und Jesus, so sehr sie auch vieles trennt, so sehr Luther niemals an die Glaubenskraft Jesu herankommt, so sehr er das auch selbst weiß und sich über sich beklagt - doch an dieser Stelle sind sie identisch. Der Christ, ja jeder Mensch ist „reichsunmittelbar“ zu Gott und keine Kirche, kein Priester, kein Bischof, kein Schriftgelehrter, kein neunmal kluger Theologe hat ihm da dazwischen zu reden.

Diese Einsicht hat Luther sich hart erkämpft im Ringen mit Gott, bis er den gnädigen Gott für sich entdeckt hat, der ihn nicht strafen will ob alle seiner falschen Taten und seines Irrglaubens, sondern der ihn beflügeln, ermuntern anstacheln will zu einem Gott wohl gefälligen Leben in dieser Welt. „Es ströme aber wie Wasser das Recht und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“ (Amos 5,24), wie es 700 Jahre vor Jesu bereits der Prophet Amos ausgedrückt hat, auch er ein Reformator seiner Zeit, der sich mit König und Priesteraristokratie als einfacher Viehhirt und Maulbeerbaumzüchter (Amos 7,14) angelegt hat: Ja, eine klare Linie führt vom Viehhirten Amos aus der Provinz zum Zimmermannssohn Jesus aus der Provinz hin zum kleinen Mönch der Provinz aus Wittenberg.

Und wohin führt diese Linie heute weiter? Wo können wir sie heute entdecken? Jetzt gerade in Wittenberg auf den Elbwiesen, wenn 100.000 Menschen die schönen Worte von Frau Käßmann oder Herrn Bedforth-Strohm oder wen auch immer lauschen? Hoffentlich! Ich würde es mir sehr wünschen. Und ich sage jetzt nicht: Leider nicht. Denn ich vertraue darauf, dass der Geist Jesu auch heute in Wittenberg sein Wesen treibt, dass er die Menschen, die da reden und singe und spielen mit Vollmacht erfüllt und dass sie alle zusammen vollmächtig wie Jesus von Gottes Liebe zu uns allen Zeugnis ablegen. Ach was, nicht nur Zeugnis ablegen, sondern diese Liebe Gottes auch leibhaft wahr werden lassen, mitten unter uns.

Das ist dann Reformation heute. Reformation unserer Herzen, Reformation unseres Handelns. Vielleicht gar Reformation unseres Glaubens.

Perikope
28.05.2017
7,37-39

Wiedersehen im Herzen – Predigt zu Johannes 16,16-23 von Elisabeth Tobaben

Wiedersehen im Herzen – Predigt zu Johannes 16,16-23 von Elisabeth Tobaben
16,16-23

Liebe Gemeinde,

„Normalerweise“ steht auf einem Patenschein zu lesen, dass jemand Mitglied dieser oder jener Kirchengemeinde ist und das Recht hat, ein Patenamt auszuüben.
Das klingt sehr formalistisch und rechtlich.
Auf dem Formular einer Patin für die Taufe der kleinen E. am vorigen Sonntag in unserer Inselkirche fand ich einen hinreißenden Zusatz: „Wir wünschen Frau N. für diese schöne Aufgabe die richtigen Worte und angemessene Begleitung, um mit ihrem Patenkind einen guten, gelingenden Weg zu gehen, der einladend auf Gott und seine in der Taufe versprochene Liebe weist.“ Das hat mich sehr angerührt.
Mitgehen, auf Gottes Liebe hinweisen, zum Glauben einladen – kann man schöner beschreiben, worum es in der Gemeinde geht?
Zum Glauben einladen, auf die Liebe Gottes hinweisen, mitgehen - das ist auch die Absicht des Verfassers des Johannesevangeliums (Joh 20,31).
Aus seinem Buch ist uns heute ein Text zum Nachdenken vorgeschlagen ist, er steht im 16. Kapitel:

Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen. Da sprachen einige seiner Jünger untereinander: Was bedeutet das, was er zu uns sagt: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen; und: Ich gehe zum Vater? Da sprachen sie: Was bedeutet das, was er sagt? Noch eine kleine Weile? Wir wissen nicht, was er redet. Da merkte Jesus, dass sie ihn fragen wollten, und er sprach zu ihnen: Danach fragt ihr euch untereinander, dass ich gesagt habe: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen? Wahrlich, ich sage euch, ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll sich in Freude verwandeln. Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist. Auch ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. Und an jenem Tage werdet ihr mich nichts fragen. (Joh 16,16-23)

Das ist nun allerdings ziemlich eigenartig.
Was soll das? Ein Abschnitt aus den Abschiedsreden Jesu, mitten in der österlichen Festzeit? Ist das Absicht, dass ich sofort wieder mit den Bruchstücken meiner Lebensgeschichte konfrontiert werde, Assoziationen habe, die die Schattenseiten und das Düstere, Schmerzen und Traurigkeit hervorholen? Irgendwie ärgerlich. Kann man denn nicht einmal im Jahr, wenigstens in der Osterzeit, über Freude nachdenken, ohne sofort wieder ausgebremst zu werden?
Ich merke: Ich brauche Abstand. Historischen Abstand.
Durch die Verse aus dem Johannesevangelium scheinen sich für mich fast wie von selbst verschiedene Ebenen übereinander zu schieben. Bilder gehen wie in Überblendtechnik ineinander über. Als Leserin kann ich eintauchen in verschiedene Zeiten und Situationen, Länder und Gemeinden, Sprachen und Religionen.
Farben und Gerüche, Geräusche und Stimmen mischen sich in meiner Vorstellung, vermischen sich mit meinen Hoffnungen und Träumen , Ängsten und Traurigkeiten.
Bilder sind mir vor Augen, auf denen Jesus mit seinen Jüngern unterwegs ist durch Galiläa, vor Ostern natürlich. Er predigt, er lehrt, wie so oft in den letzten Jahren, während sie mit ihm unterwegs waren.
Aber heute klingt es irgendwie anders, was er sagt, rätselhaft, unverständlich. Denn Jesus hält Abschiedsreden. Ausführlich.
Er führt lange Gespräche mit den Jüngern, will sie offensichtlich nicht zu sehr erschrecken, aber doch vorbereiten darauf, dass sie sich bald ohne ihn werden zurechtfinden müssen in dieser Welt. Ein schwieriger Versuch!
Können sie ihn denn überhaupt verstehen? Ahnen sie, was kommen wird? Werden sie vielleicht versuchen, zu verhindern, dass Jesus nach Jerusalem geht? Werden sie versuchen, ihn herauszufordern, damit er endlich die Macht ergreift, die Römer vertreibt und für Ordnung und Frieden sorgt?
Judas ist schon dabei, es zu versuchen und wird grandios damit scheitern.
In diesem kurzen Auszug aus den Abschiedsreden Jesu liegt der Tenor aber eher darauf, dass seine Zuhörer*innen verwirrt sind. Überfordert. Sie wagen noch nicht einmal, ihn selbst zu fragen: „Wie meinst du das, was du da sagst? Warum werden wir dich eine Zeit lang nicht sehen? Was hast du denn vor? Willst du uns etwa im Stich lassen?“
Sie erörtern erst einmal untereinander, ohne ihn, was er wohl gemeint haben könnte.
Jesus aber ahnt ihre Fragen, spricht von kommender Traurigkeit, heulen und schreien würden sie, sagt er. Sie würden der Schadenfreude der Verfolger ausgesetzt, die froh sein werden, wenn sie es endlich geschafft haben, den Störenfried Jesus zu beseitigen, nicht mehr gestört werden in ihren festgefahrenen religiösen Bahnen. Keine schöne Perspektive!
Wird es leichter, das zu verstehen, durchzuhalten, durch das Stichwort von der „kurzen Zeit“, der „kleinen Weile“?
Nach dem Motto: ist ja nicht so schlimm, es dauert gar nicht lange?

Auch ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. (Joh 16,22)

Wiedersehensfreude? Woher soll sie denn kommen?
Und was ist überhaupt Freude? Man kann sie schließlich nicht verordnen wie ein Medikament. Wie alle Emotionen ist sie entweder einfach da, oder sie will sich nicht einstellen. Sie ist auch längst nicht so eindeutig, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte.
Freude kann zu Freudensprüngen führen, zum ausgelassenen Jubel, aber genauso zu Tränen.
Jubilate?!
Kann eigentlich keine Anordnung sein, kein Befehl: Jubelt! Freut euch!
Am nächsten kommt dem vielleicht der Satz: „Ich möchte dir eine Freude machen!“
Denn das heißt auch: „Du bist mir wichtig, ich möchte etwas dazu beitragen, dass es dir gut geht.“
Freude hat ganz entscheidend mit Beziehung zu tun, mit Liebe.
„Ich werde euch wiedersehen“, sagt Jesus und damit hängt die Freude zusammen, die er ankündigt.
Und jetzt –kurz vor Pfingsten- liegt es nahe, den Geist Gottes ins Spiel zu bringen als Urheber der Freude, der zeigt, dass man –„Wiedersehen“ sehr viel umfassender betrachten kann.

Der Evangelist Johannes hat den Entschluss gefasst, seine gesammelten Texte für seine Gemeinden zu Papier zu bringen und zu veröffentlichen. Jetzt –so stelle ich mir vor- sitzt er und diktiert seine Überlegungen einem Schreiber, vielleicht an einem plätschernden Brunnen in einem orientalisch gestalteten Innenhof einer Karawanserei, in einem Zelt in der Wüste, vielleicht in einem Haus in Ephesus...
Er spricht über seine Deutung dessen, was er gesammelt und gelesen hat über Jesus.
Das Ziel ist völlig klar, er benennt es auch selbst zum Schluss seines Buches:
„Diese (Zeichen) sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das ewige Leben habt in seinem Namen.“ (Joh 20,31)
Johannes möchte vor allem seine Begeisterung für Jesus von Nazareth, für den auferstandenen Christus, für den Messias mit Menschen teilen, die in einem ganz anderen Kulturkreis groß geworden sind. Die Griechisch sprechen und nicht Aramäisch (wie Jesus), ganz andere religiöse Wurzeln haben und trotzdem verstehen sollen, worauf es ihm ankommt.
„Wie mache ich das bloß?“ fragt er sich, beginnt einen Satz, verwirft ihn wieder, beginnt neu, versucht es noch einmal.
Welche Zeichen Jesu soll ich aufnehmen in mein Büchlein, fragt er sich, welche sind so aussagekräftig, dass sie meine Leserinnen und Leser überzeugen werden? Welche sind eher eine Doppelung, welche vielleicht zu zweideutig und missverständlich?
Und Johannes erzählt aus dem Leben Jesu, so, als wären seine Leserinnen und Leser gerade eben noch dabei gewesen, als wären sie selbst die Adressaten der Abschiedsreden, gut achtzig bis neunzig Jahre nach Ostern.
Und dann: Gottesdienst in der johanneischen Gemeinde des zweiten Jahrhunderts:
Die versammelte Gemeinde singt wie immer am zweiten Sonntag im Osterfestkreis den 66. Psalm:
„Jauchzet dem Herrn alle Welt, lobsingt zur Ehre seines Namens, rühmt ihn herrlich!
Sprecht zu Gott: Wunderbar sind deine Werke, deine Feinde müssen sich beugen vor deiner großen Macht...“ (Ps 66,1-3)
Der Text des Evangelisten Johannes ist fertig und wird im Gottesdienst verlesen, so wie früher die Texte der Propheten.
„...eine kleine Weile werdet ihr mich nicht sehen...“ sagt Jesus, „ihr werdet weinen und klagen und traurig sein...“
Sie nicken einander zu, das kennen sie, so lange warten sie nun schon darauf, dass Jesus wiederkommen möge, ohne dass sie sich wirklich vorstellen könnten, wie das gehen soll.
Reicht das an historischem Abstand?
Und das Bild von der Geburt, das sich ja nahezu von selbst zu erschließen scheint?
Jedenfalls in europäischen Breiten. Mit Schrecken lese ich: „In einigen östlichen Ländern wird die Geburt eines Mädchens von der gramgebeugten Mutter und ihren Freundinnen mit Trauer und Tränen vernommen. Die Geburt eines Knaben aber begrüßt man als gutes Omen und feiert sie ausgelassen.“[1] Somit wird dem Bild die vermeintliche Selbstverständlichkeit genommen.
Es löst den Gedanken an eine Freude aus, die insofern dann schon ganz anders ist, die jeden in den Blick nimmt. Wahrnimmt.
„Ich werde euch wiedersehen...“ sagt Jesus.
Nicht nur mit den Augen, viel mehr mit dem Herzen, mit der Seele, mit seinem ganzen Sein nimmt er dich wahr!
Die gestörte Beziehung wird umgekrempelt. Eine gestörte Beziehung , in der nur bestimmte Menschen zählen, Männer, Erfolgreiche, Kraftstrotzende. Gesehen werden, einmal richtig wahrgenommen werden, was kann das alles verändern.
Die chilenische Dichterin Gabriela Mistral schreibt in einem Liebesgedicht: „Wenn du mich anblickst, werd’ ich schön, schön wie das Riedgras unterm Tau...“[2]
Und nun zu wissen: Jesus blickt mich an, liebevoll. Er sieht mich wirklich. Das bewegt, beflügelt, öffnet, lässt Freude wachsen.
„Jesus, meine Freude...“.
Analysieren? Erklären? Vielleicht kann man es in der Tat nur singen.
Ich stehe im Chor, ruhige, tiefe Klänge der Instrumente, „langsam und mit Ausdruck“ – wir setzen ein mit: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.“ - Brahms-Requiem.
Was hat man dem armen Komponisten nicht alles vorgeworfen – unchristlich sei sein Requiem, keine wirklich christliche Begräbnismusik, weil das Wort „Christus“ im Text nicht vorkomme. Weil er auf das „Dies irae“ verzichtet habe und kein Horrorszenarium für die Ungläubigen komponiert!
Mit Worten habe ich versucht, im Programmheft dazu beizutragen, das Tröstliche dieser Musik und der Textzusammenstellung hervorzuheben.
Nun singt der Sopran: „Ihr habt nun Traurigkeit, aber ich will euch wiedersehen und euer Herz soll sich freuen und eure Freude soll niemand von euch nehmen.“ (Joh 16,22)
Mit einer ungeheuren Leichtigkeit singt sie es. Geradezu schwebende Melodien, wunderschöne fast sphärische Klänge. Und der Chor singt darunter – wie ein Fundament- den Text der Jahreslosung 2016 : „Ich will euch trösten wie einen seine Mutter tröstet.“
Amen.

 

[1] Georg M. Lamsa, Die Evangelien in aramäischer Sicht (zitiert nach Beutler-Lotz in: Holiletische Monatshefte 6, S.353).

 

[2] Zitiert bei Barbara Hanusa, Predigtstudien  I 2004/2005, S.272.

Perikope
07.05.2017
16,16-23