„Andreas , der andere Jünger, Ben und Frida und …“ – Predigt über Johannes 1,35-42 von Jochen Riepe
I
Ein Spruch , der einem gefällt … ein Satz , der hängen geblieben ist … ein Wort , das mich getroffen hat . ,,Wo wohnst du?“ – ,‚Woran glaubst du?“. Und sie kamen und sahen, wo er wohnte und sie blieben jenen Tag bei ihm. ,,Bleiben“ – über Nacht , bed and breakfast , einen Sommer lang , ein ganzes Leben …
II
„Konfirmation“ - im Fernsehen, im Fernsehspiel am Freitagabend1. Ohne seine Eltern einbezogen oder informiert zu haben lässt Ben, 15 Jahre alt, sich taufen. Vielleicht haben seine Freunde ihn zum Unterricht mitgenommen, vielleicht war es die nette Pastorin oder der offene Großvater, vielleicht auch so etwas wie ein innerer Drang, ein Muss. In einem religiös neutralen Elternhaus aufgewachsen hat er sich entschieden, zur Gemeinde Jesu zu gehören und sich bald konfirmieren zu lassen. Ohne großes Bohai, eher still, aber wohl mit dem guten Gefühl: So ist es für mich richtig. Ben ist nun ein evangelischer Christ und als er vom Taufgottesdienst heim kommt und seinen überraschten, verstörten Eltern berichtet , ist für ihn das alles ziemlich ‚cool‘ - unsensationell und zugleich konsequent.
III
Ben … und nun Andreas und der ‚andere Jünger‘ … ‚und sie kamen und sahen, wo er wohnte und blieben jenen Tag bei ihm‘. Nachfolge Jesu. Was bringt den Stein ins Rollen? Für die beiden Johannes-Jünger ist es zunächst das Zeugnis ihres alten Lehrers, des Täufers, der Jesus sieht und den gewaltigen , soz. aus der Fülle der Sprache Israels schöpfenden, Satz spricht: ,,Siehe, das Lamm Gottes“. Keine langen Vorhaltungen, kein aufdringliches Zureden, vielmehr die unausweichliche Weitergabe einer Erkenntnis und persönlichen Einsicht: ,,Der ist es.“ ,,Lamm Gottes“ – mit diesem Christus-Bild ruft Johannes Gottes Geschichte mit seinem Volk auf, Gottes Verheißungen, die Schuld der Menschen, aber eben auch die Vergebung der Sünden. „Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns“ (Joh 1,14). Alle Hoffnungen, alle Lasten werden konkret und leibhaftig in diesem einen.
IV
Kann ein alter Lehrer einen solchen Einfluß auf seine Schüler haben, dass sie gleichsam von selbst gehen und sich dem anderen zuwenden? Für den Evangelisten jedenfalls ist der Täufer darin das Vorbild, der Inbegriff eines Lehrers, dass er im entscheidenden Augenblick sich selbst zurücknehmen kann: „Jener muss wachsen, ich aber abnehmen“ (Joh 3,30), wird er bald sagen und vielleicht darf man etwas spekulieren : Ist es nicht so, dass Erkenntnis , Rat und Wort von uns Älteren erst dann gehört werden, wenn diese Selbstzurücknahme bei den Jüngeren gespürt wird ? Wer abtritt, bewusst und überzeugend, gereift in der Erkenntnis, dass Neues kommt, betritt zugleich einen weiten Raum des Gesprächs, und es ist, als hätten Andreas und der andere Jünger eben darin die Freiheit gefunden, dem neuen Lehrer zu folgen. Es gibt einen, bei dem man glauben und sprechen lernen kannst, ja : muß ! „Was hier geschieht“, steht unter der ‚Notwendigkeit des göttlichen dei‘2.
V
Andreas, der andere Jünger, Ben und Frida und ich komme auch mit … Wo wohnst du? Woran glaubst du? Ein Wort, in dem man wohnen kann, das meinem Leben Raum gibt …
Aber, es gibt doch so viele „Worte“ oder „Wörter“, Sätze und Sprüche!! Bens Eltern und besonders sein Stiefvater stellen dann soz. die Gretchenfrage unserer Zeit: Muß es denn das Christentum sein? Evangelische Kirche, dass hört sich in unserer liberalen, weltoffenen, aufgeklärten Familie nach Engführung oder gar Engstirnigkeit an! Und in einer gemeinsamen „Zelt- Übernachtungsaktion“, in dieser seltsam-vertrauten Mischung aus Nähe und Abstand, führt der Zweit-Vater dem Sohn die Fülle der Möglichkeiten, den Reichtum spirituellen Lebens von Katmandu über den Heiligen Berg Kailash bis zu den „Kraftorten“ im Kaschmir vor Augen. Sollen wir nicht erst einmal verreisen und dies alles kennenlernen? Was suchst du ? Weißt du denn, was du suchst? Und bevor du dich soz. heimisch-provinziell entscheidest, solltet du den Welthorizont abschreiten. Die Fülle der Möglichkeiten. Und überhaupt: Muß man sich denn entscheiden, wir leben doch ohne feste Bindung auch ganz gut…
VI
Ihr habt es noch im Ohr, liebe Gemeinde: „Was sucht ihr?“, so fragt auch er, das „Lamm Gottes“, der neue Lehrer, den sie bald den „Messias“ nennen werden. Jesus bremst soz. die „Überlauf-Bewegung“ der Johannes-Jünger leicht ab, er konfrontiert, unterbricht, um dann selbst jene Notwendigkeit zu erfahren, der Andreas und sein Freund folgen: „Rabbi , wo hast du deine Bleibe ?“ Wo wohnst du? Nicht wahr, sie suchen, ja ,aber soz. nicht fixiert in sich selbst, im ‚Sumpf‘ der eigenen Motive und Sehnsüchte. Sie wollen seinen Ort, seine Bleibe, sein Wort kennenlernen und sich damit in gewisser Weise, ja, „auseinandersetzen“ .
Es gibt einen Lehrer. Es gibt einen Rabbi, bei dem man sprechen und glauben lernen kann : Ist er glaubwürdig ? Kann man ihm folgen? Ist das ‚Lamm Gottes‘ ein ‚guter Hirte‘? Ist sein Wort Gottes Wort oder eigener Dünkel? Nachfolge, Jünger Jesu werden und Glied seiner Gemeinde werden, dies folgt einer gewissen göttlichen Logik und Ordnung (und jeder Glaubende weiß hinterher, dass es gar nicht anders ging!). Dieser Weg folgt auch den Stimmen der Väter, ihrem Rat und ihrer Orientierung. Aber beides braucht zugleich den Willen zum Lernen, zum Aneignen, zum Verstehen und Sprechen. Eine Vorgabe will doch erworben sein. Jesus heißt bei Johannes Logos, Wort, und oft ist dies übersetzbar mit: ein Raum der Begegnung, in dem man Hören, Sprechen, Streiten, Lieben lernen kann.
VII
Das wusste auch die Erfinderin von Ben, die Autorin Beate Langmaack , die für die ARD das Drehbuch zur „Konfirmation“ schrieb. Mag Bens Umfeld, mögen seine Eltern, sein Stiefvater, einen weiten, freigeistigen Horizont haben, mögen sie heute in Nepal und morgen im Kaschmir zu Gast sein und einen „intuitiven Tourismus“ (B. Strauß) in Sachen Religion pflegen. Fülle aber und große Leere liegen manchmal nah beieinander. Ben jedenfalls sucht das Konkrete, ein kenntliches Gegenüber, eine Person wie die „wilde“ Frida, die ihn herausfordert. Er braucht eine Gruppe, die ihn trägt und Neues erprobt – Konfirmandenfreizeiten, sage ich nur und ihr wisst Bescheid! – und dann, ja, dann braucht, „benötigt“ er ein Wort, einen Satz in Gestalt des guten alten Konfirmationsspruches.
Ist das Druck? Not ? Qual der Wahl oder höhere Notwendigkeit ? Da mögen wir lächeln und doch weiß jeder oder fast jeder evangelische Christ, wie gerade ein solches Wort unser Innerstes beschäftigen und irritieren, ja, aufstören oder auch im Gespräch mit Eltern und Paten sich uns wunderbar erschließen kann. „Es gibt eine Notwendigkeit, die nicht zwingt, sondern befreit‘3. Darum heißt es ja auch: Solch ein Satz ist die ganze Bibel, Gottes ganze Befreiungs- und Verheißungsgeschichte „für dich persönlich“. Bens filmischer Weg zur Konfirmation ist immer wieder unterbrochen oder erleuchtet oder aufgeschreckt durch bekannte Bibelverse , die er – die Bibel in der Hand – bedenkt und mit Frida bespricht : ‚Und nähme ich die Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer …‘
VIII
„Wo wohnst du?“ – „Kommt und seht“ , sagt daraufhin Jesus und nimmt sie mit „und sie kamen und sahen , wo er wohnte, und sie bleiben jenen Tag bei ihm“.
Bleiben … bei ihm , dem Lehrer, dem Messias, dem Lamm Gottes … one night , bed and breakfast , einen Sommer lang , ein ganzes Leben … Kommen und sehen … Besser kann man vielleicht das , was wir Christen ‚Glauben‘ nennen, nicht wiedergeben : Kommen , sehen , erproben, es wagen , im Gespräch zu bleiben . Mit ihm , dem Lehrer , dem „Mystagogen“ , das Haus des Glaubens, das Haus der Sprache erkunden und die wunderbare Erfahrung machen dürfen , wie hier göttliche und menschliche Notwendigkeit und Freiheit einander halten oder zusammenwachsen.
Natürlich : Für manche bleibt es eine Art one-night-stand, andere bleiben zum Frühstück, noch andere kehren immer mal wieder ein. Auch im Haus des Wortes gibt es viele Möglichkeiten, eben „viele Wohnungen“ (Joh 14,2). Was wurde aus Andreas und dem anderen Jünger? Was wird aus Ben und Frida? Ja, und was wird aus mir ?
IX
Konfirmation. Befestigung. Bekräftigung. Bestärkung. Ein Ja zum Ja. Woran glaubt Ben denn nun? Wo wohnt er? Die nette Pastorin wird ihm das Wort zusprechen, das er sich selbst ausgesucht hat. Dass er in ihm „ein-und ausgehe“ (Joh 10,9), es sich anverwandle und seine Wohnung im Haus des Glaubens finden kann.
1 I ARD 16.6.17 Regie : S.Krohmer / Drehbuch : B. Langmaack (innerhalb der ARD-Reihe : Woran glaubst du ?)
2 I H. Thyen , Das Johannesevangelium , 2005, S.129
3 I P. Strasser , Journal der letzten Dinge, 1998, S.64
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Der Freund des Bräutigams – Predigt zu Johannes 3,22-30 von Matthias Wolfes
Darnach kam Jesus und seine Jünger in das jüdische Land und hatte daselbst sein Wesen mit ihnen und taufte. Johannes aber taufte auch noch zu Enon, nahe bei Salim, denn es war viel Wasser daselbst; und sie kamen dahin und ließen sich taufen. Denn Johannes war noch nicht ins Gefängnis gelegt. Da erhob sich eine Frage unter den Jüngern des Johannes mit den Juden über die Reinigung. Und sie kamen zu Johannes und sprachen zu ihm: Meister, der bei dir war jenseit des Jordans, von dem du zeugtest, siehe, der tauft, und jedermann kommt zu ihm. Johannes antwortete und sprach: Ein Mensch kann nichts nehmen, es werde ihm denn gegeben vom Himmel. Ihr selbst seid meine Zeugen, daß ich gesagt habe, ich sei nicht Christus, sondern vor ihm her gesandt. Wer die Braut hat, der ist der Bräutigam; der Freund aber des Bräutigams steht und hört ihm zu und freut sich hoch über des Bräutigams Stimme. Diese meine Freude ist nun erfüllt. Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen. (Joh 3,22-30, Luther Jubiläumsbibel 1912)
Liebe Gemeinde,
der Täufer Johannes ist gewiss keine der neutestamentlichen Gestalten, die man unbedingt als Sympathieträger bezeichnen muß. Er ist in seinem ganzen Charakter harsch, ein Eigenbrötler, etwas Fanatisches mag auch von ihm ausgehen. Er steht für diejenigen, die sich ausschließlich einer einzigen Sache hingeben und dabei engstirnig wirken. Man kann sich nicht leicht vorstellen, dass ein solcher Mensch Anhänger gefunden hat, und zwar selbstdenkende Anhänger. So kann es auch nicht ausbleiben, dass unter dem Eindruck der Tauftätigkeit Jesu im Johannes-Kreis Unruhe ausbricht. Sie scheinen irritiert zu sein und möchten wissen, wie sich die beiden Täufer, Johannes und Jesus, zueinander verhalten. Vielleicht tun sie das auch in der Absicht, sich ihrerseits neu zu orientieren.
Gerade diesem mürrischen Johannes aber gelingt nun in seiner Auskunft auf diese Frage ein sehr schönes Bild. Zunächst hören wir die naheliegenden Hinweise auf die schlechthinnige Abhängigkeit eines jeden Menschen von Gott, der „alles“ gibt, also auch geistliche Kraft und Autorität. Auch fehlt nicht die bereits bekannte Selbstbeschreibung. Er, Johannes, ist der Vorausgesandte. Seine Aufgabe besteht darin, dem Anderen den Weg zu bahnen und dann, wenn dieser gekommen sein wird, sein eigenes Wirken als vollendet zu betrachten. Das ist nun geschehen, und deshalb ist auch „meine Freude nun erfüllt“. „Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen.“ (Joh 3,29b f)
Inmitten dieser Sätze aber steht noch ein weiterer: „Wer die Braut hat, der ist der Bräutigam; der Freund aber des Bräutigams steht und hört ihm zu und freut sich hoch über des Bräutigams Stimme.“(Joh 3,29) Dieses Bild spricht mich am meisten aus unserem Text an. Mir scheint, dass hier das Wesen von Freundschaft ausgesprochen worden ist. Ein Freund ist derjenige, der sich am Wohlergehen, am Glück und auch dem Wachstum eines Anderen freut. Er ist ihm gegenüber selbstlos, und zwar intuitiv oder auch der Absicht nach, denn mit der Selbstlosigkeit ist es keine so ganz einfache Sache. Wichtig ist: Es geht ihm nicht um sich in diesem Verhältnis, sondern um den Anderen. Er ist bei ihm, er „steht und hört“, das heißt: er ist auf ihn ausgerichtet, nimmt ihn wahr und sucht ihn in allen seinen Äußerungen recht zu verstehen. Indem der Andere sich äußert oder einfach auch nur er selbst ist, „freut“ er sich an ihm.
I.
Zunächst wollen wir einen Blick auf den Zusammenhang werfen, in dem diese Auskunft des Täufers steht. Es sind ja vielfach starke Figuren, die uns in den Evangelien begegnen. Jesus ist der alles umstrahlende Mittelpunkt. Um ihn herum halten sich viele weitere Personen, Männer (die Jünger) und Frauen, auf. Daneben gibt es eine ganze Reihe weiterer, die punktuell auftauchen. So schildert der Evangelist Johannes unmittelbar zuvor das Gespräch Jesu mit einem der „Obersten unter den Juden“ (Joh 3,1), dem Pharisäer Nikodemus.
Meist ergibt sich das jeweilige Verhältnis aus der Darstellung der Evangelisten. In unserem Text aber spricht die handelnde Person selbst aus, wie sie sich ihre Rolle im Blick auf Jesus vorstellt. Und da greift der Sprecher auf dieses Bild vom Freund des Bräutigams zurück. Warum gerade ein Bräutigam? Die Antwort liegt wohl auf der Hand: Wer selbst bereits geheiratet hat, der weiß, daß dieser Moment der Eheschließung einer der Höhepunkte des Lebens ist. Das gilt für den Bräutigam genauso wie für die Braut. Die Situation, in der man eines von beidem ist, ist das Ergebnis eines meist langen und intensiven Geschehens. Der Tag der Hochzeit selbst ist aufgeladen mit allen möglichen Elementen der Bedeutsamkeit, von den Gästen, der Örtlichkeit, der Kleidung bis hin zu den Erwartungen, aber auch der eigenartigen Erleichterung und zugleich der großen Anspannung.
In solch einer Situation nun befindet sich gerade derjenige, von dessen Freund im Bild des Täufers die Rede ist. Er ist der Freund eines Mannes, der in diesem Augenblick einen Höhepunkt seines Lebens erlebt. Und gerade jetzt, als es einem Anderen offenkundig sehr gut geht, gelingt es dem Freund ihm Freund zu sein. Ohne irgendwelche Missgunst, ohne Hintergedanken, ohne Neid, kann er ihm zur Seite stehen, seine Bekundungen des Glücks wahrnehmen und sich daran freuen, daß es ihm gut geht und wohl ist.
II.
„Lebe lang und gedeihe.“ „Live long and prosper.“ Dieses große Segenswort (vgl. Num 6,24) ist auch die Zusammenfassung der Haltung und Gedanken, die einen Freund beseelen, wenn seine Freundschaft wahrhaftig ist. Wir leben in einer Welt der Missgunst, der falschen Gedanken und des Neides, davon kann man sich jeden Tag zur Genüge überzeugen. Freundschaft ist daher eine Form des Widerstandes gegen die Wirklichkeit der Welt.
Mir scheint, dass die Figur des „Freundes des Bräutigams“ uns durchaus und mit Kraft eine Art Vorbild sein kann. Ein Freund ist derjenige, von dem ich weiß, daß ich ihm vertrauen kann. Ich kann ihm anvertrauen, was mich bedrängt. Vielleicht nicht immer alles, aber ich weiß: Das, was ich ihm anvertraue, findet bei ihm Gehör und Verständnis. Er ist mir ja zugewandt, er kann gar keinen falschen Gebrauch von meinen Mitteilungen machen.
Wem aber könnten wir auf diese Weise vertrauen? Wem könnten wir uns in unbeschränkter Offenheit anvertrauen? Wem die Wahrheit unserer selbst zumuten? Das muss man durchaus fragen. Freundschaft ist ein sehr hohes Gut. Sie ist selten und wertvoll. Wer in der Lage ist, jemandem in diesem Sinne seinen Freund nennen zu können, darf sich glücklich schätzen. Das Licht fällt in dieser Sache aber auch auf uns selbst zurück: Denn das Vorhandensein oder eben auch das Fehlen eines solchen Freundes ist der beste Beweis für den Charakter einer Person. Eines treuen Freundes, denn man muss realistisch sein: Freunde sind Menschen, die unsere Fehler, Schwächen und Schattenseiten kennen, ohne uns ihretwegen zu verurteilen und denen wir deshalb dennoch vertrauen können. Freunde sind Menschen, die sich trauen, einen zu ermahnen, zu korrigieren. Sie sind diejenigen, die ein offenes Wort mit einem sprechen und denen er das auch zugesteht. Die aber auch da sind, wenn wir nicht Mahnung brauchen oder Bemängelung und Korrektur, sondern Hilfe, Trost und Beistand. Auf deren stützenden Arm wir rechnen können. Ein Freund wäre da, in der letzten Stunde, im letzten Augenblick, und er würde sagen: „Ich hab’ Dich lieb.“
III.
Nun lassen Sie uns aber zum Ende auch noch jene Wendung machen, die auf uns selbst geht. Wir wollen hier nicht fragen, ob wir einen solchen Freund haben oder aufgrund der Beschaffenheit unserer selbst überhaupt haben können. Sondern wir fragen, was wir tun können, um uns unsererseits freundschaftsfähig zu machen. Es geht nicht nur darum, einer bestimmten Person gegenüber ein Freund zu sein und nun das eigene Verhalten in dieser ganz bestimmten Konstellation zu beurteilen oder auch zu korrigieren.
Es geht auch darum, auf eine Weise sich zu verhalten, die es anderen allererst möglich macht, Vertrauen zu uns zu fassen. Und da wird es dann sehr konkret. Leider besteht unter uns Menschen eine starke Neigung über andere zu sprechen, die nicht anwesend sind. Dabei fällen wir leicht Urteile oder wenigstens Meinungsäußerungen, die, hätten wir sie ins Angesicht der betreffenden Person hinein auszusprechen, ganz unverantwortlich wären und die wir dann auch gewiss niemals von uns geben würden. Und allein da beginnt schon das Problem.
Ich meine, dass der erste Schritt auf dem Weg, von dem hier die Rede ist – nämlich freundschaftsfähig zu werden –, darin besteht, überhaupt gegen die Neigung anzugehen, anderen im Modus der Kritik zu begegnen. Es ist die Macht des Negativen, einer destruktiven, aus der nichts Gutes kommen kann, die in so überwältigender Intensität unser ganzes Fühlen und Denken, unser Tun und Lassen bestimmt. Wie viel wäre gewonnen, wenn es uns gelänge, an dieser Stelle wachsamer uns selbst gegenüber zu sein. Dann würden wohl auch viele der unbedachten, der peinlichen und bisweilen auch regelrecht zerstörerischen Bekundungen unterbleiben, die wir so leichtfertig von uns geben und die zu bedauern uns dann hinterher reichlich Gelegenheit gegeben ist, wenn wir gewissenhaft sind.
In diesem Sinne wäre die erste Übung auf dem Weg des Freund-werden-Könnens ein gerütteltes Maß an Selbstkontrolle. Der Gewinn bestünde darin, dass uns sehr rasch deutlich wird, wie viel Energie wir in der Auseinandersetzung mit den anderen permanent verlieren. Gelassenheit, diese große, geradezu zauberhafte Chiffre des gelungenen Lebens, kann sich überhaupt erst dann am Horizont unserer eigenen Erwartungen einstellen, wenn wir es wirklich schaffen, jene Kraft der schlechten Verneinung abzubauen. Wir hätten selbst davon den größten Gewinn, und in diesem Sinne darf man hier durchaus auch etwas nützlichkeitsorientiert sprechen.
Wie bewundernswert sind dagegen all jene, denen solche Übungen gar nicht auferlegt sind. Die einfach aus sich selbst heraus dem Anderen offen und freimütig sich darbieten können. Diese Menschen gibt es. Es ist eine große innere Stärke, die sie zu solcher Offenheit befähigt. Ob der Täufer Johannes einer dieser Charaktere gewesen ist, kann man schwer beurteilen. Er hat aber die Idee davon doch deutlich genug formuliert. Und auch das ist bedeutsam. Er wusste, um was es sich handelt bei dem „Freund des Bräutigams“.
Amen.
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Wegweiser – Predigt zu Johannes 3,22-30 von Nico Szameitat
Das Tote Meer stirbt. Der berühmte See mit dem unglaublich hohen Salzgehalt schrumpft immer mehr. Jedes Jahr fällt der Wasserspiegel um einen Meter. Das Wasser hat sich längst vom Ufer entfernt, so dass man weite Wege von der Böschung über Salzkrusten zurücklegen muss, wenn man ans Wasser will. Schiffsgerippe liegen auf dem Trockenen. Stege führen weit über dem Boden ins Nichts, enden irgendwo in der Luft.
Schuld ist der Jordan, der einzige Zufluss, der von Norden her im Toten Meer mündet. Jedes Jahr zweigen die Menschen mehr Wasser vom Jordan ab, um ihre Felder zu bewässern. Dafür leiten sie ihre restlichen Abwässer ein, so dass nur ein kleines Abwasserrinnsal das Tote Meer schließlich erreicht. Zwar gibt es im Toten Meer keinen Abfluss. Aber jedes Jahr verdunstet durch die Sonne die gleiche Menge an Wasser und zurück bleiben die Salzkrusten.
Unbeeindruckt davon pilgern die Menschen weiter an den Jordan zu einer der Taufstellen von Johannes dem Täufer. Denn da gibt es heute verschiedene Angebote, wo das gewesen sein könnte. Am beliebtesten sind inzwischen die Tauforte weiter nördlich, wo das Wasser noch reichlich und frisch ist und man noch immer wunderbar taufen kann. Denn wer will schon in einem Abwasserrinnsal nahe dem Toten Meer getauft werden?
Obwohl es nicht unwahrscheinlich ist, dass eben dort der Taufort des Johannes war.
Hier ist der Ort. Hier ist die Stätte. Johannes, die Worte seines Vaters im Ohr.
Hier ist die Stätte. Hier ist der Ort, wo sie hindurch zogen, unsere Väter.
Von drüben kamen sie. Aus der Wüstenzeit. Ein Menschenleben lang zogen sie seit Ägypten durch die Wüste. Von drüben kamen sie. Dort am anderen Ufer tat Josua den ersten Schritt in das Morgen. Und die Wasser des Jordans stauten sich. Und trockenen Fußes zogen unsere Väter ein in das gelobte Land. Das ganze Volk kam hier an. Hier begann das Gelobte Land.
Hier ist die Stätte. Hier ist der Ort. Schau die zwölf Steine, das Zeichen des Josua.
Er richtete sie hier auf. Hier war der Ort des Durchzugs, die Stätte des Einzugs. Angesichts von Jericho, der Ort der Ankunft, die Stätte der Erfüllung.
Und Johannes wählte diesen Ort seiner Erinnerung, angesichts von Jericho, knapp oberhalb des Salzsees, bei den Steinzeichen des Josua und schickte hier die Menschen durchs Wasser: „Gott wird die Wasser für euch nicht mehr aufhalten! Ihr müsst durch die Wasser hindurch. Und auch ich werde euch keine Brücken bauen oder euch über das Wasser tragen. Ihr müsst hindurch. Lasst eure Lasten und Sünden hier und zieht durch das Wasser hinaus in ein neues Leben. Zieht aus eurem engen Land, wo doch kein Milch und Honig fließt, zieht hinaus!“
Und Johannes taufte die Menschen durch das Wasser hindurch, zurück in die Welt.
Die Jünger des Johannes sind frustriert. Erst hat ein Pharisäer sie in eine unbequeme Diskussion verwickelt, die zu keinem Ende kam. Und dann erfahren sie auch noch, dass Jesus von Nazareth ein Stückchen weiter oberhalb am Jordan ebenfalls angefangen hat zu taufen.
Es ist für sie schon schlimm genug, dass an jeder zweiten Jordankurve – und der Jordan hat viele Kurven! – ein anderer Scharlatan die Leute im Wasser untertaucht. Aber dieser Jesus, dem ihr Meister sozusagen die Füße geküsst und ihn den Christus genannt hat, ausgerechnet der macht jetzt Konkurrenz. Ist das der Dank dafür? Hier ist der Ort! Hier ist die Stätte! Hier bei dem Steinzeichen des Josua. Nicht da oben, bei diesem Christus! Aber ihren Meister Johannes scheint das gar nicht zu stören. Der scheint sich über den Konkurrenten auch noch zu freuen.
Ich bewundere Johannes. Seine Aufgabe ist es, für die Ankunft Jesu schon mal alles vorzubereiten. Die Leute einzustimmen, schon mal zu predigen, die Leute zu taufen. Und dann kommt der Auftritt Jesu und Johannes nimmt sich zurück. Er macht Platz, schickt die Menschen eins weiter. Johannes ist der Vorläufer. Er ist der Wegweiser, der am Wegrand stehen bleibt. Er ist die Vorgruppe, die trotz der Jubelrufe der Fans die Bühne verlässt, um dem Haupt-Act Platz zu machen. Johannes ist der Trauzeuge, der die Ringe dabei hat, der eine halbe Stunde vorher noch schaut, ob in der Kirche alles vorbereitet ist, und der den Ablauf der Hochzeitsfeier geplant hat. Aber er ist nicht der Bräutigam, er ist nicht der Haupt-Act und er ist nicht das Ziel.
Lutherstadt Wittenberg im Jahr des Reformationsjubiläums. Ich gehe an den Luthersocken und Lutherpralinen vorbei und schlängele mich durch die Häuserzeilen durch zur Stadtkirche. Durch das Portal geht es ein paar Stufen hinunter, nach rechts durch die grünen Bankreihe und da steht er: Der berühmte Altar von Lucas Cranach, auf dem die Sakramente mit den Reformatoren dargestellt sind. Mich beeindruckt vor allem das schmale Bild unten. In einem kahlen langgestreckten Raum ist in der Mitte Christus am Kreuz zu sehen, mit wehendem Lendentuch. Ganz links in dem Raum ist die Gemeinde zu sehen, mit Frauen und Kindern. Und ganz rechts in dem Raum Martin Luther, der mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Christus in der Mitte zeigt. Um ihn geht es und um nichts anderes.
Und auf einmal erinnere ich mich an einen anderen Altar. Und in Gedanken wandere ich 800 Kilometer weiter südwestlich ins Elsass. Und aus Wittenberg wird Colmar, aus der Stadtkirche wird das Museum Unterlinden, aus Lucas Cranach wird Matthias Grünewaldt. Und da steht der Altar in derselben Aufteilung, nur düsterer. Im Mittelbild blutet und leidet Christus am Kreuz vor einem schwarzen Himmel. Links vom Kreuz die Frauen in Tränen. Rechts vom Kreuz Johannes der Täufer, der mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Christus in der Mitte zeigt. Um ihn geht es und um nichts anderes.
Luther wäre der ganze Personenkult, der um ihn in diesem Jahr getrieben wird, höchst zuwider. Luther weist auf Christus. Johannes weist auf Christus. Und damit weisen sie von sich selbst weg.
Manchmal habe ich den Eindruck, unserer Kirche könnte etwas johanneische Demut ganz gut zu Gesicht stehen. Auch die Kirche ist nicht der Bräutigam, nicht der Haupt-Act und nicht das Ziel.
In der kleinen Vorortgemeinde war man stolz auf die Thomasmesse, die man dort schon seit Jahrzehnten regelmäßig feierte: Ein Gottesdienst mit Angeboten zur persönlichen Segnung, Salbung und Gebet. Allerdings ließen die Besucherzahlen mit den Jahren immer weiter nach. Als dann die Innenstadtgemeinde im städtischen Kulturzentrum einen GoSpecial ins Leben rief, war der Argwohn groß: Ausgerechnet in derselben Stadt machen die Konkurrenz. Ist das der Dank für gute Nachbarschaft? Hier ist der Ort! Hier ist die Stätte! Hier bei dem Steinzeichen des Josua. Ich sage nur: „johanneische Demut“…
Die großen Kirchen schrumpfen. Wir werden immer weniger Menschen. Und wir werden auch immer weniger Geld haben. Wir werden uns verändern. Aber das muss nicht schlecht sein. Stege, die wir jahrzehntelang betreten haben, enden inzwischen längst im Nichts, irgendwo in der Luft. Und manches Kirchenschiff liegt als Schiffsgerippe schon lange auf dem Trockenen. Klammert euch doch nicht fest an den alten Steinzeichen des Josua! An den alten Steinhäusern, ob es Kirchen sind, Pfarrhäuser oder Gemeindehäuser. Sucht neue Wasserfurten. Schaut nur zwei Flusskurven oder Straßenkurven weiter! Vielleicht wartet Christus gerade dort.
Als ich die Stadtkirche verlasse, wandere ich links die Fußgängerzone hinunter Richtung Lutherhaus. Dahinter erhebt sich ein kleiner grüner Hügel: der Bunkerberg, der ein begehbares Kunstwerk geworden ist. Die Spazierwege auf dem Hügel gehen über in Stege, die weit über den Hügel hinausreichen und irgendwo in der Luft zwischen den Bäumen enden. Das Besondere an den Stegen ist, dass sie innen und außen verspiegelt sind. Wer die Stege betritt, sieht auf einmal überall seine Füße, links, rechts, vorne. Dazwischen die Füße von all den anderen, von Männern, Frauen, Jugendlichen, Kindern. Man schaut irgendwie nur noch auf gespiegelte Füße.
Wenn man aber über die Balustrade blickt, sieht man die anderen Stege, die in der Umgebung verschwinden, weil sie ja Hügel, Bäume und Büsche widerspiegeln. Aber man sieht auch über den Balustraden der anderen Stege, über der gespiegelten Natur, die staunenden und lachenden Köpfe der Menschen da drüben. Die Wittenberg-Stege enden nicht im Nichts. Sie enden in der Welt. Und sie nehmen die Welt auf mit einem Staunen und einem Lachen.
Und das sind die Wege, die ich mir auch für unsere Kirche wünsche. Wege, die hinausziehen in das Leben. Sie enden in der Welt. Und sie nehmen die Welt auf mit einem Staunen und einem Lachen.
Amen.
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30.07.2017 - 7. Sonntag nach Trinitatis
16.07.2017 - 5. Sonntag nach Trinitatis
Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster - Predigt zu Johannes 16,5-15 von Caroline Warnecke
„Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster.“
Und ein leichter Wind strömt ins Zimmer und bringt frische Luft mit, und das tut jetzt gut. Frische Luft, dieser leichte Wind, das geöffnete Fenster. Und Licht. Und der Duft von den Lindenblüten. In den Gardinen schwingt ein sanftes Wehen hin und her, und draußen singen ein paar Vögel, sonst ist es still. „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“. Und jetzt wird es anders weitergehen. Aber vorher ist auch viel gewesen.
Liebe Gemeinde,
der Predigttext für heute am Pfingstsonntag steht im Johannesevangelium, im 16. Kapitel.
Jesus spricht zu seinen Jüngern:
Jetzt aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und niemand von euch fragt mich: Wo gehst du hin? Doch weil ich dies zu euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauer.
Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, werde ich ihn zu euch senden. Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht; über die Sünde: dass sie nicht an mich glauben; über die Gerechtigkeit: dass ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht seht; über das Gericht: dass der Fürst dieser Welt gerichtet ist.
Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in aller Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen. Er wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er's nehmen und euch verkündigen. Alles, was der Vater hat, das ist mein. Darum habe ich gesagt: Er nimmt es von dem Meinen und wird es euch verkündigen.
Liebe Gemeinde,
ja, es ist viel gewesen und jetzt wird es anders weitergehen.
Jesus sagt seinen Jüngern, dass er weggehen wird. Die gemeinsame Zeit ist vorbei, und die Jünger ahnen, dass sie nicht mitgehen können und zurückbleiben. Traurig sind sie und vermutlich auch ratlos. Was will er uns sagen? Was hat das alles zu bedeuten? Warum soll es gut für uns sein, dass er weggeht? Warum überhaupt? Und womit versucht er uns hier zu trösten?
Große Worte fallen in traurige Menschenherzen: „der Tröster“, „Sünde“, „Gerechtigkeit“ und „Gericht“, „Der Geist und die Wahrheit.
Wer traurig und ratlos ist, wer sich fragt, wie es jetzt eigentlich weitergehen soll, wird sowas kaum hören und aufnehmen können. Und so ist es oft beim Abschied: Abschiedsworte können sehr klar und sehr deutlich sein und einen gleichzeitig völlig verwirren. Sie können die ganze Wahrheit aussprechen und einen gleichzeitig völlig im Unklaren lassen. Später, manchmal erst sehr viel später, mit Abstand und Zeit versteht man dann und begreift und bringt die Dinge zusammen, entdeckt den verborgenen Sinn.
Zu Pfingsten also diese Worte, die doch eher still und nachdenklich daherkommen.
Kein feuriges Brausen vom Himmel, keine Feuerzungen, nix Verrücktes, auch nichts Verzücktes, keine Köpfe voll süßem Wein, keine Ekstase, kein Zungenreden, auch nicht Geistausgießung für alle, keine großartige Erweckung und auch kein pfingstlicher Gemeindezuwachs, keine Massentaufe, kein „Happy Birthday, liebe Kirche“ und nicht Hunderttausende, die singen und beten wie auf dem Kirchentag.
Ein stiller und nachdenklicher Text. Man könnte auch sagen „Vom Kommen und Gehen“. Denn zwischen den großen Worten schwingen wie in einem sanften Wehen diese anderen Worte hin und her und sie bringen Bewegung mit: weggehen, fragen, gehen und kommen, senden, leiten, reden und hören, verkündigen und auftun.
„Vom Kommen und Gehen“ oder besser „Vom Gehen und Kommen“? Denn hier geht ja erstmal einer und verweist auf das, was kommt. Und das ist ja auch unsere Erfahrung: erst wenn etwas weg ist, wenn etwas zu Ende gegangen ist, wenn etwas vorbei ist, ist Platz für das Neue.
Wir müssen uns nicht wie die Jünger von Jesus verabschieden. Die haben mit ihm gelebt und die müssen verkraften, dass er nicht mehr da ist. Aber wir müssen uns in unserem Leben auch immer wieder auf Abschiede einstellen und haben auch schon viele erlebt.
- Die Kinder gehen aus dem Haus, und auch wenn sie nicht weg sind, kommen sie anders zurück. Und jetzt gerade nach dem Abi, wo sie aufbrechen und losziehen – da wird es viele Abschiedsszenen geben. Mütter und Väter. Es ist so viel gewesen, und nun wird alles anders.
- Es gibt Trennungen, die auf andere Weise zusetzen und schmerzen. „Die haben sich getrennt“ hören wir. „Die haben sich auch getrennt.“ flüstern wir uns zu. Menschen verlassen einander, verlassen den anderen, den Partner, die Kinder, die Familie.
- Wir beenden eine Lebensphase und gehen in eine andere, auch da bleibt manches zurück.
Das Ende einer Freundschaft. Der Abschied von einer langen Beziehung. Unser Körper, der uns zeigt, wie begrenzt wir leben, und der Tod mit all seinen Vorboten und seinen Schrecken, mit der Trauer, die er hinterlässt.
„Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“.
Und ein leichter Wind strömt ins Zimmer und bringt frische Luft mit und das tut jetzt gut. Diese frische Luft, dieser leichte Wind, das offene Fenster. Und das Licht. Und jetzt wird es anders weitergehen. Auch wenn so viel gewesen ist. Wir verabschieden das, was nicht bleiben kann und lassen gehen, was gehen will und gehen muss.
Auch in anderer Weise erleben wir gerade, dass etwas zu Ende geht. Verbindungen und Bündnisse, die bisher Bestand hatten, werden brüchig. Die Weltordnung verändert sich auf dramatische und vor allem auch auf unberechenbare Weise. Die anderen und wir hier in Europa. Sicherheiten gehen verloren. „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, sind ein Stück weit vorbei…“ (Merkel). Dieses Zitat hat in der letzten Woche ja einiges aufgewirbelt, aber auch einiges klar gestellt.
Und mittendrin unsere Kirche, in ihrer langen Geschichte, aber auch in ihrer Verantwortung. Wohin wird sie sich entwickeln? Wovon müssen wir uns verabschieden? Was ist mit den vielen Gemeinden, landauf, landab, die mit aller Kraft, manchmal auch mit allerletzter Kraft versuchen, das Bisherige zu halten und als Gemeinde verlässlich zu bleiben? Welche Stimme, welche Rolle wird unsere Kirche in Zukunft spielen. Es gehen so viele und es kommen so wenige. Auch hier Trauer- und Abschiedsprozesse. Wir können nicht mehr alle besuchen, nicht mehr alles anbieten, nicht alles erhalten. Und das zu begreifen und auch anzunehmen, fällt schwer und tut weh. Was wird da jetzt kommen?
„Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“.
Und ein leichter Wind strömt ins Zimmer und bringt frische Luft mit und das tut jetzt gut… Und jetzt wird es anders weitergehen. Wir öffnen uns am offenen Fenster für das, was kommt. Für das Neue, das hereinweht, für die Ideen, die uns zufliegen – und fangen schon mal an, heute zu tun, was erst morgen oder übermorgen möglich scheint.
Das mit dem geöffneten Fenster ist übrigens ein Buchtitel. „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“, ein Buch von der Autorin Susann Pasztor1. Manche haben es vielleicht gelesen. Ein Buch, das ein schweres Thema aufnimmt, und es sehr gefühlvoll und würdig, aber auch sehr humorvoll verarbeitet. Der Abschied vom Leben. Die Zeit, die noch bleibt. Eine Sterbebegleitung mit ungewöhnlichen, geradezu wunderbaren Wendungen. Ein letzter Weg, auf dem noch so viel Neues passiert, und keiner hätte das je für möglich gehalten. Da geht jemand, aber da kommt auch jemand. Für die einzelnen Menschen, um die es hier geht, öffnen sich völlig neue Perspektiven.
„Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“.
Der Ausblick, den Jesus seinen Jüngern durch das offene Fenster seines Abschieds zeigt, ist erstmal nur ein Name: Der Tröster. Der Geist der Wahrheit. Aber dieser Name ist mit Jesus auf Engste verbunden. Es ist nicht irgendein Geist, der kommen wird und weht, wo er will. Der Geist der Wahrheit und des Trostes ist kein anderer als sein Geist. Der Geist, in dem Jesus selbst gelebt und gewirkt hat, der ihn selber geführt und geleitet hat auf seinem Weg durch diese Welt und ihre Abgründe. Es ist sein Geist und der seines Vaters, der Geist Gottes. Wie eine Taube kam er bei seiner Taufe herab und ließ ihm sagen „Du bist mein lieber Sohn…“ (Mk 1,11). Und dieser Geist lag auf ihm, um den Armen das Evangelium zu verkündigen und den Gefangenen, dass sie frei sein sollen und den Blinden, dass sie sehen sollen und um die Zerschlagenen in die Freiheit zu entlassen…(Lk 4,16ff). Und das haben die Jünger dann ja schon auch hautnah erleben können: diese Umbrüche. Dieses Neue, was da in ihre kleine Welt kam. Die Erfahrung, dass es weitergeht, obwohl erstmal nichts danach aussah. Sie waren dabei als das Leben wieder zu leuchten begann und ein frischer Wind über die Gesichter zog und die Augen wieder froh wurden. Und das werden sie beim Abschied jetzt auch nochmal sehen und erinnern können: die Bilder, die Begegnungen, diese vielen Geschichten. Weißt du noch? Weißt du noch, wie er das Brot teilte. Wie alle satt wurden. Und wir hatten ja nichts. Wie ruhig er blieb, als das Boot anfing zu kentern.
Durch das geöffnete Fenster also doch nochmal ein Blick zurück:
Nein, wir sind nicht die ersten, die uns fragen, wie es weitergeht und was jetzt kommen wird. Wir sind die ersten, denen bange wird angesichts einer unsicheren Zukunft.
Der Geist Gottes hat eine lange Geschichte.
Sie beginnt, als alles begann, als der Geist Gottes noch über den Wassern schwebte und alles wüst, chaotisch war und leer: Der Geist Gottes und seine schöpferische Kraft.
Die Propheten, die beseelt und gesandt von diesem Geist hingewiesen haben auf das, was schief läuft und ungerecht ist: der Geist Gottes und seine warnende Kraft.
Die Menschen, die sich haben inspirieren lassen, über all die Jahrhunderte, die Mystikerinnen, die Liederdichter, Paul Gerhardt auch Luther und das, was wir mit den 500 Jahren Reformation dieses Jahr feiern: Der Geist Gottes und seine erneuernde Kraft.
Am geöffneten Fenster sagt uns Jesus darum auch das: der, der kommen wird, war schon da. Er kommt und geht. Sie geht und kommt. Er wird auch in Zukunft wehen, wo er will, aber er bleibt. Und da ist sie ganz verlässlich, die Heilige Geistkraft Gottes. Von Ewigkeit zu Ewigkeit.
„Und dann steht einer auf...“.
Jesus ist auferstanden und hat uns das Fenster des Lebens und der Zukunft weit geöffnet. Und jetzt stehen wir da und schauen in die Welt. Und ein frischer Wind strömt durch unsere Herzen und wir richten uns auf. Und das tut jetzt gut. Diese Zuversicht, diese Aussicht. Und dabei wird uns bestimmt auch etwas einfallen. Diese Redewendung bewahrt ja sehr schön, wie das mit den Einfällen so ist: die kann man nicht planen oder sich vornehmen. „Da wird uns etwas einfallen“, heißt ja auch, da wird uns etwas zufallen, da wird etwas in uns einfallen.
Pfingsten können wir nicht machen. Pfingsten sind wir ganz und gar Empfangende – wie immer, wenn es um das Wesentliche geht. Da können wir nur die Fenster weit aufmachen und die Hände ausbreiten und unsere Herzen öffnen und unsere Ohren spitzen, denn was zukünftig sein wird, wird er uns verkünden, der Heilige Geist.
Und wenn wir jetzt singen, dann können wir ja einfach mal so tun, als ob hier in der Kirche alle Fenster offen stehen und ihn so herbeibitten und zu uns singen: „O Heilger Geist, kehr bei uns ein und lass uns deine Wohnung sein…“ (EG 130)
Amen.
1 Susann Pásztor, Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster, Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2017
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Den leeren Raum füllen - Predigt zu Johannes 16,5-15 von Kathrin Nothacker
Samirs Eltern sind kurz vor seiner Geburt aus dem Libanon geflohen. Die Familie lebt in Deutschland. Samir erlebt eine Kindheit wie andere Kinder: er wächst in einer behüteten Familie auf. Deutsche und libanesische Kultur vermischt sich. Als er acht Jahre alt ist, verschwindet sein Vater von einem Tag auf den anderen. Er ist vom Erdboden verschluckt. Die Schlüssel hat er zuhause am Schlüsselbrett gelassen. Er hat nichts mitgenommen. Morgens aus dem Haus gegangen, am Abend nicht mehr nach Hause gekommen. Für immer verschwunden.
Das spurlose Verschwinden des Vaters prägt sich tief in Samirs Kinderseele ein. Alles um ihn herum atmet den Geist und die Erinnerungen an den Vater. Der Verlust wiegt schwer. Das Weggehen fühlt sich an wie ein immerwährender Verrat. Die Fragen drehen sich im Kreis. Die Antworten fehlen. Samir ist traumatisiert.
Weggehen heißt Abschied, Verlust, Trauer, Traurigkeit – manchmal Trauma. Weggehen bedeutet für die Gehenden und die Zurückbleibenden meistens nichts anderes als Schmerz.
Jesus sagt:
Jetzt aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und niemand von euch fragt mich: Wo gehst du hin? Doch weil ich das zu euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauer. Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden. [...] Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen. Er wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er's nehmen und euch verkündigen. Alles, was der Vater hat, das ist mein. Darum habe ich gesagt: Er wird's von dem Meinen nehmen und euch verkündigen. (Joh 16, 5-15)
Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden.
Liebe Gemeinde, wenn wir jetzt die Kirche verlassen würden, auf die Straße gingen und die vorbeikommenden Menschen fragten, was es denn mit dem christlichen Pfingstfest auf sich habe, ich weiß nicht, welche Antworten wir bekämen. Ob überhaupt eine. Wenn wir dann sagen würden, Pfingsten feiere das Weggehen Christi und das Kommen des Geistes, würden uns Menschen vielleicht wirklich fassungslos anschauen.
Aber genau das ist es, was wir an Pfingsten feiern: Christus geht weg und der Geist der Wahrheit, der Geist des Trostes kommt. Mit Jesu Weggehen, mit der Tatsache, dass er sich den Menschen nach seiner Auferstehung entzieht, öffnet sich erst einmal ein großer, leerer Raum. Es ist ein Trauma.
Jesus, der wie kein anderer mit den Menschen unterwegs war, der Blinde sehend und Lahme gehend gemacht hat, der Tote und Totgesagte ins Leben zurückgeholt hat, der zu den „Outcasts“ gegangen ist und seinen schlimmsten Feinden vergeben hat – man hat ihn zum Schweigen gebracht, seine Spuren verwischt, seine sterblichen Überreste verscharrt.
Manche haben dann erzählt, er sei auferstanden, sie haben ihn gesehen, Gott habe ihn ins Leben zurückgeholt. Mit manchen habe er danach das Brot geteilt, anderen seine Wunden gezeigt.
Aber nur manchen. Viele spüren Leere, Verlassenheit, Trauer. Da ist ein großer leerer Raum.
Wie bei Samir. Nach dem Weggang des Vaters trösten ihn nicht die Freunde, nicht der väterliche Freund, nicht die Mutter. Der Vater fehlt. Er hat ihm erzählt von den Zedern des Libanon, er hat ihm die Lieder seiner eigenen Kindheit vorgesungen, er hat mit ihm Schiffe aus Walnussschalen gebastelt und sie auf das imaginäre Mittelmeer geschickt. Niemand und nichts kann den Vater ersetzen. Die Leere ruft ein Leben lang körperliche Schmerzen hervor.
Jesus sagt: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht
weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden. (Joh 16,7)
Der Messias, der Heilsbringer geht, zieht sich aus dieser Welt zurück. Ein ungeheurer Gedanke. Unser Gott nimmt sich zurück und sagt: Im Loslassen werdet ihr stark sein, im Verlieren werdet ihr gewinnen, im Abschiednehmen Neues empfangen.
Das Neue ist der Geist der Wahrheit: Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten. (Joh 16,13a)
Ein Raum öffnet sich, der durch Jesu Weggehen leere Raum füllt sich mit dem Tröstergeist, dem Geist der Wahrheit. Wie kann man diesen Geist verstehen, wie kann man ihn fassen? Vielleicht gar nicht. Vielleicht jeder und jede von uns ganz anders. Es ist wie mit unserem Glauben. Manchmal ist er stark und groß, manchmal ganz klein und verzagt, manchmal wissen wir nicht, was wir beten sollen, manchmal zweifeln wir an Gott und seiner Macht und manchmal durchströmt uns tiefe Gewissheit: Gott ist da und geht mit.
Der Geist der Wahrheit wird kommen und wird uns in alle Wahrheit leiten, so sagt es Jesus. Er wird den leeren Raum füllen, den wir mitunter schmerzlich empfinden: weil ein Mensch gegangen ist, den wir liebten, weil ein Lebensabschnitt zu Ende gegangen ist, weil wir uns von einem Ort verabschieden müssen, der uns Heimat war, oder von Überzeugungen, die uns Sicherheit gaben.
Wahrheit hat in der Bibel etwas damit zu tun, dass ich mich auf etwas verlassen kann. Dass ich vertrauen kann, dass ich mich binde – an Christus und sein Wort. Es geht beim biblischen Wahrheitsbegriff nicht um etwas Absolutes, um etwas Objektivierbares. Nicht um eine nachprüfbare Übereinstimmung von Sachverhalt und Intellekt. Wahrheit ist Glaube und Treue, Freiheit und Bindung. Wahrheit ist Geschenk.
Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten. (Joh 16,13a)
Pfingsten feiert das Kommen des Geistes. Und wenn es der Geist der Wahrheit ist, der kommt und um den wir bitten, dann gönnt er uns und allen anderen Wahres. Ich finde es in den Fundamentalismen unserer Zeit einen ungeheuer tröstlichen Gedanken, dass ich mit dem Geist der Wahrheit auch anderen Wahres gönnen kann. Ich kann und darf mich – Gott sei Dank – an Christus und sein Wort binden. An den Christus, der von sich selbst gesagt hat. Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. (Joh 14,6a) Dieser Christus ist seit Pfingsten in Bewegung, zieht sich zurück, kommt wieder, geht mit. Ist selber der Weg. Auf ihn vertraue ich, an ihm halte ich fest – nicht an meinem eigenen Standpunkt.
Pfingsten, Fest des religiösen Besitzverzichts. Pfingsten gibt dem „Haben“ den Abschied und feiert die Offenheit für ein Leben mit dem Geist Gottes. Und diesen Geist besitzen wir nicht ein für allemal – wie manche meinen, die religiöse oder pseudo-religiöse Wahrheit zu besitzen – dieser Geist ist mit uns auf dem Weg, immer in Bewegung, immer im Werden, im Abschiednehmen und Wiederfinden, in der Leere und in der Fülle.
Martin Luther hat das Leben in Gottes Geist so beschrieben: „Das Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht eine Gesundheit, sondern ein Gesundwerden, nicht ein Sein, sondern ein Werden, nicht eine Ruhe, sondern eine Übung. Wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber. Es ist noch nicht getan oder geschehen, es ist aber im Gang und im Schwang. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg.“
Zwanzig Jahre später macht sich Samir auf und reist in den Libanon, um das Rätsel des Verschwindens seines Vaters zu lösen. Er meint, im Land der Zedern eine Antwort zu finden auf die bohrende Frage, wo sein Vater hingegangen ist. Samir wird hineingenommen in eine verworrene Familiengeschichte und in das dramatische Schicksal des Nahen Ostens. Wäre der Vater nicht weggegangen, hätte er niemals verstanden, was das Heimatland der Eltern geformt und geprägt und verletzt hat. Wäre der Vater nicht weggegangen, hätte Samir nicht all die Menschen getroffen, die mit ihm verwandt oder seelenverwandt waren, nicht seine Großmutter und nicht seinen Bruder.
Samirs Geschichte ist übrigens nachzulesen in dem großen Roman von Pierre Jerewan: „Am Ende bleiben die Zedern“.
Weggehen heißt Abschied, Verlust, Trauer, Traurigkeit – manchmal Trauma. Weggehen bedeutet für die Gehenden und die Zurückbleibenden meistens nichts anderes als Schmerz. So habe ich anfangs gesagt.
Weggehen, liebe Brüder und Schwestern, liebe pfingstliche Gemeinde, heißt aber auch: Der leere Raum füllt sich mit dem Geist, dem Geist der Wahrheit, dem Tröster. Das Weggehen ist die Voraussetzung, dass Neues kommen kann: neue Erkenntnis, neue Menschen, neues Leben.
Möge Gottes Geist in unserem Leben einkehren, die leeren Räume füllen und die gefüllten leerfegen. Möge Gottes Geist uns beleben und erfrischen, uns trösten und erneuern.
Komm, Gott, Schöpfer, Heiliger Geist. Amen.
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Jesus als Aufklärer - Predigt zu Joh 16,5-15 von Reinhardt Schmidt-Rost
Jetzt aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und niemand von euch fragt mich: Wo gehst du hin? Doch weil ich dies zu euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauer. Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, werde ich ihn zu euch senden. Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht; über die Sünde: dass sie nicht an mich glauben; über die Gerechtigkeit: dass ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht seht; über das Gericht: dass der Fürst dieser Welt gerichtet ist. Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in aller Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen. Er wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er's nehmen und euch verkündigen. Alles, was der Vater hat, das ist mein. Darum habe ich gesagt: Er nimmt es von dem Meinen und wird es euch verkündigen. (Joh 16,5-15)
Liebe Gemeinde,
der Abschied wird zum neuen Anfang.
Drei Jahre waren sie mit ihm gezogen, Simon und Andreas, Johannes und Jakobus, die zwölf Jünger, die namentlich genannt werden. Aber es waren sicher noch einige mehr, die mit Jesus, ihrem Lehrer, in Galiläa unterwegs waren, die seine Worte gehört und weitergetragen hatten. Und Frauen waren sicher auch dabei.
Die zwölf waren wohl der engste Kreis, auch wenn die Zahl zwölf für die zwölf Stämme Israels stehen mag, also eine zeichenhafte Zahl ist.
Der Abschied wird zum neuen Anfang.
Jesus spürt, dass seine Zeit in dieser Welt zu Ende geht, dass ihn die politisch Maßgebenden verfolgen und ihn umbringen werden. Deshalb versucht er seine Jünger auf die Zeit danach, nach seinem Tod, vorzubereiten.
Ihr seid zwar traurig, wenn ich nicht mehr bei euch bin, aber es ist gut für euch, dass ich weggehe, denn dann kann ich euch den Tröster, meinen Geist, senden.
Das klingt nur im ersten Moment merkwürdig. Näher besehen ist es ein ganz normaler Vorgang auch unter Menschen: Wenn uns ein Mensch verlässt, mit dem wir sehr vertraut zusammen gelebt haben, dann sind wir traurig, aber er hinterlässt uns auch einen tiefen Eindruck. Und je intensiver wir zusammengelebt haben, umso lebendiger bleibt uns ein geliebter Mensch gegenwärtig mit allem, was er uns bedeutete.
Wie oft sagt man über einen Menschen, an den wir uns lebhaft und gern erinnern: Hat sie nicht immer so schön erzählt? Oder erinnert ihr euch noch an seine witzigen Sprüche? Oder sie konnte so gut zuhören und so treffend raten. Oder auch: So wie mein Lehrer möchte ich auch einmal predigen können.
Erst recht bei der Intensität, mit der Jesus mit seinen Jüngern zusammengelebt hat. Wie sollte da sein Geist nicht in ihnen weiterwirken? Aber vor allem und viel mehr: Er hat ihnen eine ganz neue Sichtweise vermittelt, einen ganz neuen Blick auf das Leben gegeben, das werden sie nicht mehr vergessen. Das hat sie geprägt, das war die Wirkung des Heiligen Geistes in ihrem Leben – und diese Prägung haben sie mit einer Kraft der Überzeugung weiter gegeben, dass diese Eindrücke auch auf uns gekommen sind und bis in unsere Tage weiterwirken. Und wir geben sie auch selbst weiter.
Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht;
über die Sünde: dass sie nicht an mich glauben;
über die Gerechtigkeit: Dass ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht seht;
über das Gericht: dass der Fürst dieser Welt gerichtet ist. (Joh 16,8-11)
Was Jesus seinen Jüngern vermitteln wollte und weiterhin bis in unsere Zeit vermittelt – und durch uns weiter – ist eine Klärung ihres Denkens, eine Aufklärung.
Sünde ist, dass ihr euch nicht zu mir halten wollt, Gerechtigkeit, dass ich und der Vater eins sind, Gericht aber heißt, dass der Fürst dieser Welt gerichtet ist.
Das muss man noch einmal ganz langsam überdenken: Sünde ist kein Kavaliersdelikt und kein Verstoß gegen ein Gebot göttlicher oder weltlicher Herrscher, keine Unterlassungssünde, sondern Entfernung von Gott, dem Gott, den Johannes als die Liebe beschreibt, als Gnade und Wahrheit.
Es ist in diesem Zusammenhang bedenkenswert, was ein Soziologe unserer Tage, Gerhard Schulze, über die Sünde schreibt:
„In der christlichen Theologie tritt mit Luther das eigentlich schon viel ältere Prinzip der Rechtfertigung allein durch den Glauben mit neuer Kraft an die Stelle des archaischen Prinzips der Werkgerechtigkeit. Was sich alle Religionen seit eh und je unter Sünde vorgestellt haben, wird damit unwichtig. Dieser in der protestantischen Theologie fest etablierten Position stimmt auch die katholische Theologie zu, wenn auch eher zögernd und fast hinter vorgehaltener Hand.“ (Gerhard Schulze, Sünde, München 2005, S.129)
Sünde ist für Jesus ein Beziehungsgeschehen, Gottferne, so wie wenn ich mich zu Menschen nicht bekennen würde, denen ich freundschaftlich oder verwandtschaftlich verbunden bin.
Und Gerechtigkeit? Sie ist für Jesus kein abstrakter Wert, sondern die unsichtbare Einheit von Vater und Sohn, die der Geist Gottes den Menschen immer wieder durch das Wort vermittelt. Ein ungewöhnlicher Gebrauch des Wortes Gerechtigkeit, aber für Johannes in seinem Evangelium und seinen Briefen typisch. Gerecht ist die richtige Auffassung von Gott und seinem Gesandten, dass sie eine geistige Einheit sind.
Gerechtigkeit als Einheit von Vater und Sohn bedeutet Gericht und Gnade.
Es wird erfahrbar sein, was gerecht ist. Die Menschen werden Gottes Gerechtigkeit nicht okkupieren können, sie können nicht über sie verfügen. Denn Gottes Geist weht, wo er will. Und wenn Gott als Vater anerkannt wird, dann ist natürlich auch der Fürst dieser Welt gerichtet, nämlich als Gewalttäter verurteilt, gerichtet von Gott als dem Guten Hirten aller Menschen, der durch Wort und Geist wirkt.
Jesus weiß, was er seinen Jüngern zumutet, welchen Bewusstseinswandel er verlangt. Und so fügt er gleich hinzu:
Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in aller Wahrheit leiten. (Joh 16,12f)
Hier ereignet sich eine Form von Emanzipation, von erwachsenem Glauben, von Selbständigkeit und Verantwortlichkeit. Denn in jeder Zeit muss die Gnade und die Gerechtigkeit Gottes neu buchstabiert werden. Auf der Grundlage von Gnade kann der Mensch seinem Unrecht ins Auge sehen. Er ist nicht vernichtet, wenn Gott „der Welt“ die Augen öffnet.Er überlebt die „Aufklärung“, weil der Fürst dieser Welt bereits gerichtet ist.
Auch für uns, für jede neue Generation ist das Evangelium eine Zumutung. Es verlangt einen Bewusstseinswandel, der uns nur durch Gottes Geist und Wort zufließen kann. Der Geist der Wahrheit muss uns in die Wahrheit leiten, wir können als Menschen die Wahrheit nicht herbeizwingen. Und diese Orientierung durch den Geist muss jeden Tag wieder geschehen und sie geschieht auch immer wieder.
Wir erleben die heilsamen Wirkungen des Geistes in vielen Situationen: Bei der Aufhebung der Sprachverwirrung zwischen Fremden, und in Familien, bei der Schlichtung von Konflikten in der Arbeitswelt und zwischen den Generationen. Der Geist wirkt zur Aufhebung der Verständigungsschranken unter den Religionen und zur Aufhebung der Rassentrennung, denn Gottes Geist mildert die Angst vor dem anderen, der mich zu bedrohen scheint. (Von diesen Wirkungen des Heiligen Geistes sprach auch Erzbischof Thabo Makgoba aus Kapstadt im Abschlussgottesdienst auf dem Kirchentag am vergangenen Sonntag.) Wir können Gottes Geist jeden Tag neu spüren und erfahren aus Worten der Bibel, aber auch aus vielen alten und neuen Liedern[1]. Eine Strophe aus einem Lied aus der Schweizer Reformation, von Ambrosius Blarer nimmt die Motive unseres Predigttextes besonders treffend auf:
Wie mit dem Vater und dem Sohn
du eins bist in des Himmels Thron
im ewgen Liebesbunde,
also mach uns auch alle eins,
dass sich absondre unser keins,
nimm weg der Trennung Sünde
und halt zusammen Gottes Kind,
die in der Welt zerstreuet sind
durch falsche G'walt und Lehre,
dass sie am Haupt fest halten an,
loben Christus mit jedermann,
suchen allein sein Ehre. (EG 127,5 – Ambrosius Blarer)
Da ist die Einsicht der Jünger Jesu für die Reformationszeit neu ausgesprochen: Sünde ist eine Trennung von Gott, keine einzelne Tat. Und sie ist überwunden durch Gnade, wir mit der Dreieinigkeit Gottes verbunden in einem ewigen Liebesbund.
Das helfe uns Gott täglich zu glauben und aus diesem Glauben zu leben. Amen.
1 I EG 127, bes. Str.5 u. 6., EG 132. EG 136