„Ganz ungetröstet bin ich nicht“ - Predigt zu Johannes 5,24-29 von Ruth Conrad

„Ganz ungetröstet bin ich nicht“ - Predigt zu Johannes 5,24-29 von Ruth Conrad
5,24-29

„Ganz ungetröstet bin ich nicht“

In diesem Gottesdienst denken wir an unsere Toten, an die Menschen, die wir im letzten Jahr verloren haben. Ein Text aus dem Johannesevangelium will uns trösten in unserer Trauer. Ich lese Johannes 5, die Verse 24-29:

Jesus spricht: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen. (25) Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören werden, die werden leben. (26) Denn wie der Vater das Leben hat in sich selber, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in sich selber; (27) und er hat ihm Vollmacht gegeben, das Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist. (28) Wundert euch darüber nicht. Denn es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden (29) und werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.

Der Tod,
liebe Gemeinde,
der Tod ist für uns, die wir zurückbleiben,
ein großes Erschrecken.
Eine tiefgehende Erschütterung.
Einem Erdbeben gleich fräst er sich durch unser Leben.
Ein naher Mensch geht weg und wir bleiben zurück.
Wir sehen ihn leiden,
sehen sein Ringen mit dem Tod,
erleben, wie er schwächer und schwächer wird,
wie er dem Leben entgleitet und wir müssen es zulassen.
Müssen ihn weggehen lassen.
Wir werden gezwungen, ihn loszulassen.
Ihn freizugeben.
Und wir werden nicht gefragt.
Manchmal dürfen wir nicht einmal Abschied nehmen.
Dann, wenn der Tod wie ein Wegelagerer ins Leben fällt.
Plötzlich, unerwartet, ohne Vorwarnung.
So wie letzte Woche in Paris.
Und wir – , wir bleiben zurück.
Allein.
Vertrieben aus unseren bisherigen Gewissheiten.
Unser Lebenshaus wirkt seltsam verwaist.
So viele Räume stehen leer.
So viel Vertrautes funktioniert nicht mehr.
Die zwei gleichen Tassen beim Frühstück, ja, die aus dem letzten Sommerurlaub, sie wirken so deplatziert.
Und wer macht jetzt morgens das Müsli?
Wer holt die Zeitung hoch?
Wer bringt den Müll runter und hängt die Wäsche auf?
Der gemeinsame Kleiderschrank ist plötzlich völlig überdimensioniert und die Ferienwohnung viel zu teuer für nur eine Person.
Der Tod vertreibt uns aus unseren Gewohnheiten, aus unserem Alltag.
Er zwingt uns in neue Rollen und neue Gewohnheiten.
Wir müssen uns neu finden: Wer sind wir? Wie wollen wir jetzt leben? Wie können wir jetzt leben? Halten unsere Freunde und Verwandte unsere Trauer und unseren Schmerz aus? Oder müssen wir weitere Verluste ertragen?
Manchmal tauchen auch dunkle Erinnerungen auf.
In die Trauer mischt sich Schmerz.
Wie gerne würden wir manch böses Wort zurückholen, abfällige Gesten rückgängig machen und gäben viel darum, wir hätten nicht so oft gestritten, nicht so viel gearbeitet, sondern mehr gefeiert, mehr gemeinsame Zeit verbracht.
Uns dämmert: Manchmal waren wir ungerecht. Hatten so wenig Verständnis und Zeit für unsere nächsten Menschen, für ihre Eigenheiten, ihre Geschichte.
Im Tod beginnt eine Frau zu verstehen, dass ihr Mann die vielen Stunden der Zurückgezogenheit im Hobbykeller, an denen sie immer rumgemäkelt hatte, dass er sie für seinen Seelenfrieden gebraucht hat. Dass er deshalb oft zwischen ihr und der Tochter oft ausgleichen konnte, wo sie eher in den Konflikt ging.
Im Tod beginnt der Sohn zu verstehen, warum der Vater ihn als Kind so unverhältnismäßig streng behandelt hat. Plötzlich vermag er die Seelengeister zu sehen, die den Vater gejagt haben. Er findet Behandlungsunterlagen einer schlimmen Depression. Die Strenge war eine Überlebensstrategie.  
Manchmal müssen wir im Tod die Weggegangen neu sehen lernen.
Wir erfahren Dinge, die wir nicht unbedingt wissen wollten und die unsere gemeinsame Geschichte umdeuten.

Ob wir uns neu sehen oder den anderen:
Im Tod erfahren wir neue Wahrheiten.
Verborgenes kann zu Tage treten.
Plötzlich spüren wir in uns eine Liebe, von der wir nicht wussten, dass sie noch so lebendig ist.
Plötzlich nehmen wir eine Fremde war, die uns erschrecken lässt.Ja,
liebe Gemeinde,
der Tod ist für uns, die wir zurückbleiben,
ein großes Erschrecken.
Eine tiefgehende Erschütterung.
Ein Erdbeben.
Jesus spricht davon, dass der Tod einem „Gericht“ gleicht.
Verborgenes, Unbekanntes wird offenbar und lässt sich nicht länger leugnen.
Wir können nicht entrinnen.
Wir werden nicht nach unserer Zustimmung gefragt.
Es hat etwas Endgültiges.
Ja, der Tod ist für uns, die wir zurückbleiben, ein Erschrecken.
Er gleicht einem Gericht.Gott sei Dank aber,
liebe Gemeinde,
Gott sei Dank,
ist das nicht das Einzige und vor allem nicht das Letzte, was Jesus über den Tod sagt.
Im Glauben, sagt Jesus, im Glauben ist der Tod immer auch ein Hindurchgehen durch das Gericht des Todes. Ein Hindurchgehen zum Leben. Zum ewigen Leben. Weil der Glaube um das Unverlierbare und um die Ewigkeit der Liebe weiß.
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören werden, die werden leben.
Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben.

Jesus Worte – das sind Worte jener tiefen Wahrheit über uns Menschen, dass wir alle, Tote und Lebende, geborgen sind in der ewigen Gnade Gottes.
Jesus Worte – das sind Worte jener tiefen Liebe zu uns Menschen, die sich selbst in den Tod gegeben hat, um uns in eben dieser Erschütterung nahe zu sein und um uns zur Auferstehung zu begleiten.
Jesu Worte – das sind Worte jener tiefen Hoffnung für uns Menschen, dass am Ende der Tage Gott ein Taschentuch in die Hand nimmt und alle Tränen von unseren Augen abwischen wird, alle Traurigkeit und Schmerz aufheben wird, seine Hand auf unsere gebeugten Schultern legen wird und sagen: Siehe, ich mache alles neu. Es ist gut.
Jesu Worte – das sind Worte jenes tiefen Glaubens, dass das Leben nicht mit dem Tod und nicht mit dem Gericht endet, sondern am Ende eingeht zu Gott und darin neu wird – ewiges Leben.
Jesu Worte – sie verbinden uns mit Gott, mit der Ewigkeit seiner Liebe und so verbinden sie auch uns und unsere Verstorben miteinander.
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören werden, die werden leben.
Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben.


Manchmal,
liebe Gemeinde,
manchmal beginnen wir zu spüren:
Nicht nur die Toten gehen hindurch zum Leben.
Auch wir, die wir zurückbleiben, fühlen uns in unserem Schmerz und mitten in aller Erschütterung mit dieser Ewigkeit des Lebens und der Unvergänglichkeit dieser Liebe verbunden.
In einer schlaflosen Nacht, in der die Erinnerung uns übermannt und der Schmerz uns aufzuzehren droht, da steigt in uns ein stummes Gebet auf. Wir spüren: Gerade jetzt sind wir „in Rufweite zu Gott“ (Norbert Hummelt).
In schweren Tagen, wenn die Einsamkeit in unser Leben einzuziehen droht, da machen wir die Erfahrung: Wir sind „von guten Mächten wunderbar geborgen“ (Dietrich Bonhoeffer).
Und die guten Mächte haben ein ganz menschliches Gesicht:
Die Nachbarin, die ein nettes Kaffeekränzchen ins Leben ruft. Jeden Mittwoch, gleicher Ort, gleiche Torte. Eine neue Gewohnheit. Sie tut gut. Sie lenkt ab. Sie heitert auf.
Der Kollege, der einem eine Dauerkarte fürs Stadion besorgt. Jeden Samstag, gleicher Ort, gleiches Leiden mit dem eigenen Verein. Eine neue Gewohnheit. Sie tut gut. Sie lenkt ab. Sie aktiviert.
Die Nichte, die zum Studium in eine ferne Stadt zieht, lädt ein: Komm doch her, mach‘ eine Reise. Hier gibt es viel zu sehen. Es tut gut. Es lenkt ab. Man kommt in Bewegung.
Und manchmal sind es auch die kleinen Dinge des Alltags, in denen uns der Trost der Ewigkeit, der Trost Gottes berührt:
Ein prächtiger Sonnenuntergang,
das Blühen des Rosenstrauches,
das stille Flackern einer Kerze,
der Duft von frischen Äpfeln.
So hat es der Dichter Johannes Kühn einmal formuliert:
„Totenlieder summend bin ich wach,
Äpfel duften im Zimmer.
Ganz ungetröstet bin ich nicht“.

Der Tod,
liebe Gemeinde,
der Tod ist ein großes Erschrecken.
Eine tiefgehende Erschütterung.
Einem Erdbeben gleich fräst er sich durch unser Leben.
Unser bisheriges Leben, seine Gewohnheiten und all das Vertraute – es gerät auf den Prüfstand. Gleich einem Gericht.
Doch das ist nicht das Letzte.
Denn wir und unsere Verstorbenen, wir gehen hindurch, durch den Tod, durch das große Erschrecken, durch das Gericht. Wir hören die Stimme Jesu, seine Worte und fühlen uns verbunden mit der Unvergänglichkeit der Liebe Gottes.
Wir spüren:
Hier ist der Trost der ganzen Welt,
darauf sie all ihr Hoffnung stellt.
Wenn wir zum Tode erschrecken – ganz ungetröstet sind wir nicht.
In dieser Zuversicht stärke uns Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus.
Amen
 

Literatur:
Norbert Hummelt, Totentanz. Gedichte, Darmstadt: Luchterhand 2007, 9f. („Allerheiligen“).
Johannes Kühn, Ganz ungetröstet bin ich nicht. Gedichte. Hg. v. Irmgard und Benno Rech, München: Carl Hanser, 2007, 61 („Herbstbild“)

 

Perikope
22.11.2015
5,24-29

Leben aus dem Hören - Predigt zu Johannes 5,24-29 von Klaus Pantle

Leben aus dem Hören - Predigt zu Johannes 5,24-29 von Klaus Pantle
5,24-29

Leben aus dem Hören

24 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.

25 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören werden, die werden leben. 26 Denn wie der Vater das Leben hat in sich selber, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in sich selber; 27 und er hat ihm Vollmacht gegeben, das Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist.

28 Wundert euch darüber nicht. Denn es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden 29 und werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.

„Möge uns der Tod lebendig finden und das Leben uns nicht tot.“ Dieser Graffiti-Slogan bringt auf den Punkt, wovon Jesus hier redet: 24 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.

Es geht nicht um mein Weiterleben nach dem Tod. Es geht um mein Leben hier und jetzt. Lebe ich hier und jetzt ein lebendiges oder ein totes Leben? Was Jesus hier pointiert zum Ausdruck bringt, das führt er der Geschichte, die er unmittelbar davor erzählt, aus (5, 1-18). Zu dem Gelähmten, der schon 38 Jahre lang am Teich Bethesda lebendig tot herumliegt und alle Hoffnung hat fahren lassen, weil er es nie ohne Hilfe zu rettenden Wasser schaffen würde, sagt Jesus einfach: „Steh auf und nimm dein Bett und geh!“ (5, 8). Diese Geschichte erzählt von einer Auferweckung mitten im Leben aus einer selbstzerstörerischen Situation, in der der Leidende nur um sich selbst und sein Leiden kreist. Und sie erzählt zugleich von einer Befreiung aus der tödlichen Macht eines Konkurrenzsystems, das den Hilflosen keine Chance lässt. „Es ist eine Auferweckung gegen alle Wahrscheinlichkeit, die Eröffnung einer Beziehung, die das Leben zum Leben macht“ (Hans-Martin Gutmann).

An einem Tag, an dem wir unserer Verstorbenen gedenken, ist das nicht schwer zu begreifen. Denn wenn wir auf das Leben derjenigen, die von uns gegangen sind blicken und auf unser Leben mit ihnen, dann sehen wir das Schöne und das Gelungene und das Erfüllte darin. Aber eben auch das Misslungene und das Vergebliche und das Verpasste. An dem Vergangenen können wir nichts mehr ändern. Aber für die Gegenwart und für die Zeit, die uns bleibt, können wir aus Jesu Worten lernen. Sie können uns helfen, unseren Blick dafür zu schärfen, wie wir hier und jetzt und in den Tagen, die kommen sinnvoll leben und miteinander gut umgehen können.

In einer neulich veröffentlichten Untersuchung wurde festgestellt, dass die Hälfte aller alten Menschen den Zeithorizont der ihnen noch verbleibenden Jahre falsch einschätzt. Ein Drittel der Betagten unterschätzen die Zeit, die ihnen noch bleibt. Das verleitet sie dazu, dass sie sich in der Konsequenz selbst von manchen noch offenen Lebensmöglichkeiten abschneiden. Andere, Jüngere, tun das im Umgang mit ihnen auch, wenn sie zu viel über deren Ende und das danach sinnieren, anstatt mit ihnen geistesgegenwärtig zu leben.

Auf die ihm eigene sarkastische Art thematisiert der serbisch-jüdische Schriftsteller David Albahari, der selbst schon lange mit einer schweren Krankheit lebt, diesen Zusammenhang immer wieder. In kurzen Miniaturen wie der folgenden hält er sich selbst und anderen einen Spiegel vor:

„Der Mann, der jahrelang Angst hatte, sein linker Arm würde gelähmt, und der eines Tages einen Schlaganfall bekam, wodurch er tatsächlich gelähmt blieb, kommt seitdem nicht von dem Gedanken los, dass ihm das nur deswegen zustieß, weil er sich jahrelang vorstellte, es würde ihm eines Tages zustoßen.“

„Nur wer nicht in der Zeit, sondern in der Gegenwart lebt, ist glücklich.“ (Ludwig Wittgenstein). Es geht um das Ewige im Jetzt. Die Toten sind wir selbst, wenn wir gefangen bleiben in unserer Lebens- oder Zukunftsangst. Tote sind wir, wenn wir uns fesseln lassen an das, was war, wenn wir zu sehr um uns selbst kreisen und die Zeit, die uns bleibt, nicht auskaufen. Das gilt für die Zeit, die uns für uns selbst bleibt genauso wie für die Zeit, die uns miteinander geschenkt ist. Unser Körper stirbt ab, wenn ihm belebende Beziehungen zu anderen Menschen fehlen. Unser Geist erlahmt und unsere Seele erkaltet, wenn unser Kontakt zur Quelle ewigen Lebens gestört ist.

Jesus sagt: 25 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören werden, die werden leben. 26 Denn wie der Vater das Leben hat in sich selber, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in sich selber; 27 und er hat ihm Vollmacht gegeben, das Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist.

Entscheidend ist, was ich höre. Entscheidend ist, auf wen ich höre und worauf ich höre.

„Wörter können alles. Die können schikanieren und die können schonen und die können einen besetzen und die können einen leerräumen“ (Herta Müller).

Wir leben in einer Welt des andauernden öffentlichen Erregungszustandes und des permanenten Geplappers. Die Wirklichkeit wird zugetextet. Gefühle und Erfahrungen, Fragen und Ratlosigkeit, Trauer, Schmerz- und Glückserfahrungen werden überspült von seichtem, sinnfreiem oder unappetitlichen Geschwätz. Man muss nicht alles sagen, was man meint, „doch wohl noch sagen zu dürfen“. Man braucht sich das auch nicht anzuhören. Gelegentlich ist es besser, alle Kanäle abzustellen, in sich zu gehen und die Stille zu suchen. Aus der Stille heraus kann ich wieder neu hören. Entscheidend ist, dass ich gut höre und genau hinhöre: dass ich höre auf das, was Sinn gibt – Sinn für mich und Sinn für andere.

Ob ich scheitere in meinem Leben oder ob mir etwas gelingt, das habe ich nicht immer selbst in der Hand. Aber gelegentlich hängt es davon ab, worauf ich höre. „Tot oder lebendig“ – ich bin, worauf ich höre. „Ewiges Leben“, Sinn-erfülltes Leben wird finden, wer auf die Stimme des Sohnes Gottes hört, sagt Jesus. Denn: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben und alles in Fülle haben sollen“ (Johannes 10, 10). Die an mich glauben, sollen, „nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Johannes 3, 16), weil Gott sie und ihre Welt liebt, weil er sie vorbehaltlos und bedingungslos liebt. Deshalb können sie frei leben, hier und jetzt, in seiner ewigen Gegenwart. Im Hören auf seine Stimme lösen sich alle ichbezogenen Gefühle und Gedanken auf. Druck und Zwang verschwinden. Ich werde frei und leer -  um von ihm erfüllt zu werden, von seinem Geist, von seiner Energie, von seiner Fülle, von unerschöpflicher Lebenskraft. „Wer Ohren hat, der höre“ (Matthäus 11,15). Im Hören auf ihn öffnet sich eine andere Welt als unsere dauererregte Welt der Geschwätzigkeit und des Ressentiments, des Konkurrenzdrucks und des Leistungszwangs. Im Hören auf ihn öffnet sich die Welt der Freundlichkeit Gottes und der Zärtlichkeit Jesu. Im Hören auf ihn öffnet sich eine andere Welt als die der Gewalt und des Todes. Im Hören auf ihn öffnet sich die Welt des Unerhörten.

28 Wundert euch darüber nicht. Denn es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden 29 und werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.

Hinter den Tod kommen wir mit unserem Denken nicht. Dazu braucht es Bilder, unerhörte Sprachbilder, die unseren irdischen Horizont aufzureißen. Unser Verstand kann dieses Unerhörte nicht durchdringen. Wir können Jesu Sprachbilder nur hören und darüber staunen.

Was wir begreifen ist unsere böse und gewalttätige Lebenswirklichkeit. Das Morden in Paris, die Bürgerkriege im Nahen und Mittleren Osten und die dadurch ausgelösten Fluchtbewegungen sind erschütternd. All das wird hier nicht ausgeblendet. Was wir hören, ist, dass all das zu Gottes Wirklichkeit in eine Relation gestellt wird. Diejenigen, die über Leichen gehen, werden nicht das letzte Wort behalten, sagt diese Stimme: Gott wird das letzte Wort behalten.

Unerhörte Wörter, Worte der Hoffnung, nie gesehene Bilder der Rettung: Sie können wirken. Das weiß selbst ein Agnostiker wie Ludwig Wittgenstein: „Nehmen wir an, jemand machte das zu seiner Lebensregel: den Glauben an das Jüngste Gericht. Was immer er tut, es schwebt ihm dabei vor. Nun denn, wie können wir wissen, ob wir sagen sollen, er glaubt, dass das Jüngste Gericht stattfinden wird, oder er glaubt es nicht? Ihn zu fragen ist nicht genug. Er wird vermutlich sagen, dass er Beweise hat. Er hat jedoch vielmehr das, was man einen unerschütterlichen  Glauben nennt. Und der wird sich nicht beim Argumentieren oder beim Appell an die gewöhnliche Art von Gründen für den Glauben an die Richtigkeit von Annahmen zeigen sondern vielmehr dadurch, dass er sein ganzes Leben regelt.“

Darum geht es. Um nicht mehr und nicht weniger. Um die Haltung, die aus dem Hören solch unerhörter Worte folgt. Darum, dass sie unser Leben regeln. Es geht um die Gewissheit, die sich nicht aus Wissen und Erfahrung speist, sondern die aus diesem aus dem Hören geregelten Leben selbst Erfahrungen hervorbringt – Erfahrungen der Fülle.

Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, dessen Verdienste um die juristische Aufarbeitung der deutschen Verbrechen an den Juden jüngst in zwei Kinofilmen gewürdigt wurden, kämpfte in den 1950-iger und 60-iger Jahren um Aufklärung und Gerechtigkeit schon hier und jetzt. Er kämpfte darum, obwohl er isoliert war und bekämpft und bedroht wurde. Er, (gebürtiger Stuttgarter, Abiturient am hiesigen Eberhard-Ludwigs-Gymnasium), Rückkehrer aus der Emigration nach dem 2. Weltkrieg, deutscher Jude, Schwuler, Sozialdemokrat, bezahlte dafür einen hohen Preis: den nahezu totaler sozialer Isolation und persönlicher Einsamkeit. Aber sein Kampf war erfolgreich. Auf sein Betrieben hin wurde Adolf Eichmann gefangen und begann im Jahre 1963 in Frankfurt der Auschwitz-Prozess. Kurz vor seinem Tod im Jahre 1968 schrieb er: „Der praktisch tätige Mensch hält es mit dem Prinzip Hoffnung, mag er auch selbstkritisch sich mitunter des Gefühls nicht erwehren können, es könnte eine Lebenslüge sein.“ Und weiter: „Selbst wenn die Hoffnung tatsächlich eine Lebenslüge ist – ohne sie wäre die Unmenschlichkeit in der Welt nicht zu überwinden.“

Glaubende haben es hier vielleicht etwas leichter. Denn sie können sich im Vertrauen auf seine Stimme darauf verlassen, dass sie in einem überzeitlichen göttlichen Horizont existieren. Darin sind sie in allem Leben, Lieben, Leiden und Sterben aufgehoben. Gerade deshalb kann dieser Glaube, den Jesu Worte in uns auslöst, uns die Lebensenergie und die Lebenszuversicht geben, die wir brauchen, um ganz im Hier und Jetzt „ewig“ zu leben. Dieser Glaube gibt uns die Kraft, um in diesem Leben Haltung bewahren.

 

Perikope
22.11.2015
5,24-29

"Kein Goldenes Kalb hat je Sicherheit erzeugt" - Predigt zu Johannes 16,33 von Renke Brahms

"Kein Goldenes Kalb hat je Sicherheit erzeugt" - Predigt zu Johannes 16,33 von Renke Brahms
16,33

Liebe Gemeinde!

Die Welt scheint aus den Fugen geraten! So viele Meldungen und Bilder über Krieg und Gewalt, von vertriebenen und flüchtenden Menschen erreichen unsere Häuser und unsere Herzen. Die Sicherheiten scheinen zu zerbröckeln. Das Gefühl der Unsicherheit wächst

Ich stimme in das Gebet des Psalmbeters ein: "Herr, tu ein Zeichen, dass Du´s gut mit mir - mit uns - mit den Menschen - meinst." Ich stelle mir vor, wie viele Menschen auf ihre Weise so beten, so seufzen, so rufen und schreien. In verschiedenen Sprachen, ob zu Allah oder dem Gott der Bibel. Dieser Ruf, diese Sehnsucht nach Zeichen des Friedens eint sie alle.

Wie aber könnten sie aussehen - die Zeichen des Friedens - Zeichen einer gerechten Welt? Ich will jedenfalls nicht hereinfallen auf die Zeichen der Stärke, der Macht oder Gewalt. Kein Goldenes Kalb, keine Macht der Welt, keine Ideologie, keine Armee hat je Frieden gebracht. Und kein Zaun und keine Mauer haben je Sicherheit erzeugt.

Jesus wischt die Angst nicht weg

Ich bin froh und getröstet, dass ich dem glauben darf, der so kräftige Zeichen gesetzt hat für Gewaltlosigkeit und Versöhnung, für Nächstenliebe und Feindesliebe. Er nimmt mich mit, wenn ich zweifle, wenn ich ratlos bin oder mich ohnmächtig fühle.

Er gewinnt das Vertrauen der Skeptikerinnen und vermeintlichen Realisten  - so wie er Thomas gewonnen hat, der so oft fälschlicherweise der Ungläubige genannt wird.

Frieden ist das Ziel. Alles, was Jesus sagt und tut, hat das eine große Ziel des Friedens - des umfassenden Schalom Gottes. Der Mann aus Nazareth ist selbst das Zeichen des Friedens. Auf ihn zu hören, ihm zu folgen, an ihm sich zu orientieren, seinen Zeichen zu folgen, bringt uns dem Frieden näher.

Der erste Schritt auf dem Weg zum Frieden ist der realistische Blick auf die Welt, in der wir leben. "In der Welt habt ihr Angst." Ja, so ist es! Und Jesus wischt die Angst nicht weg.

Seid mutig, unverzagt, beherzt!

Allen Grund zur Angst haben die Menschen, die in diesen Tagen in Aleppo, Mossul, Donezk oder anderen Orten ausharren und nicht sicher sind, ob sie den nächsten Tag erleben. Allen Grund zur Angst haben die Frauen und Männer, die vor Gewalt fliehen, haben die Kinder, die nichts anderes erleben als Krieg. Angst haben die Menschen an den Küsten Libyens, wenn sie auf das nächste Boot warten, das sie nach Europa bringen soll.

Der Friedensbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Schriftfuehrer der Bremischen Evangelischen Kirche, Renke Brahms

 

Müssen wir Angst haben, wenn diese Menschen zu uns kommen? Unser Land hat in der Geschichte schon weit größere Zahlen von Flüchtenden aufgenommen. Aber natürlich gibt es auch unter uns, in unseren Gemeinden Menschen, die Angst oder zumindest Sorge haben. Darüber muss wieder und wieder gesprochen werden - dafür muss auch Raum sein. Denen aber, die mit der Angst der Anderen ihr eigenes Süppchen der Fremdenfeindlichkeit und eines Rechtsextremismus kochen wollen, müssen wir kräftig widerstehen!

In der Welt habt ihr Angst. Aber .... Ich ärgere mich in der Regel über ein "Aber". Oft genug kommt es von den Bedenkenträgern, die sich gegen Veränderungen sperren. Ein solches "Aber" will ich nicht hören.

Bei Jesus ist es der Einspruch gegen eine Angst, die lähmt. "Aber seid getrost...!" Dieses "Aber" höre ich gerne. Was Martin Luther mit dem schönen Wort "getrost" übersetzt, kann auch heißen: "Lasst euch nicht lähmen von Angst! Seid mutig, unverzagt, beherzt!"

Bonhoeffer: "Friede muss gewagt werden."

Man möchte es denen zurufen, die auf ihren Wegen nach Europa sind. Verliert nicht den Mut! Ihr habt schon so viel gewagt!

Und man möchte es den Vielen zurufen, die sich für die Flüchtenden engagieren, ihre Portmonaies und ihre Häuser öffnen, in den Unterkünften helfen und sich in Behörden und Institutionen mühen, damit die Menschen menschenwürdig unterkommen. Danke! Und hört nicht auf! Verliert nicht den Mut!

Und man möchte es denen zurufen, die sich für den Frieden einsetzen - überall dort, wo sie verantwortlich sind: in Politik, Kirche und Zivilgesellschaft. Hört nicht auf! Verliert nicht den Mut! Seid beherzt!

Dietrich Bonhoeffer hat gesagt: "Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muss gewagt werden."

Es gibt keinen Frieden auf dem Weg einer Sicherheit, die meint, sich in Europa abschotten zu müssen. Wer nur die eigene Sicherheit meint und nicht auch die der Flüchtlinge, wer nur um den eigenen Wohlstand fürchtet - der tanzt schon wieder kräftig um das Goldene Kalb.

Pathetischer Schmus oder naiver Leichtsinn?

Wer meint, den Frieden sichern zu können mit immer mehr und ausgefeilten Waffen, lässt sich blenden vom brüchigem Zeichen der Stärke und der Macht. Wie aber kann Frieden gewagt werden? Vielleicht müssen wir, um eine Antwort darauf zu finden, noch tiefer in die Botschaft Jesu eintauchen.

 "...aber seid getrost - seid mutig, seid zuversichtlich, seid beherzt - denn ich habe die Welt überwunden." Jesus sagt nicht: "Ich werde die Welt überwinden, irgendwann, vielleicht mit meinem Tod oder der Auferstehung." Er sagt: "Ich habe die Welt überwunden." Mit jedem Zeichen, das er tut, mit jedem Menschen, den er heilt, mit jedem Kind, dem er Brot zu essen gibt, mit jedem, der zweifelt und doch neues Gottvertrauen gewinnt - mit jedem dieser Menschen überwindet er die Welt.

Mit jeder Geste der Versöhnung, mit jedem Streit, den wir schlichten, mit jedem Menschen, dem wir Zuflucht geben, mit jedem Menschen, den wir vor dem Hungertod bewahren und mit jedem Menschen, den wir trösten, setzen wir Zeichen des Friedens und  überwinden wir die Welt der Gewalt, der Ungerechtigkeit und des Todes.

Und wer nun meint, dies sei nur pathetischer Schmus oder naiver Leichtsinn, muss sich die Frage gefallen lassen, wo wir denn wären ohne diese kleinen die Welt verändernden Schritte. Wo wären wir denn, wenn nicht die wenigen Menschen vor 30 Jahren in Erfurt und Leipzig angefangen hätten, für den Frieden zu beten. Daraus wurde eine friedliche und gewaltlose Revolution und die Mauer fiel. Wo wären wir denn, wenn sich nicht ehemalige Feinde nach dem Zweiten Weltkrieg die Hände gereicht und sich Völker versöhnt hätten. Und wo wären wir in Südafrika, in Ruanda - wenn nicht Menschen Frieden und Versöhnung gewagt hätten.

So leicht, so offen, so tragfähig wünsche ich mir meine Kirche

Und wo kämen wir denn hin, wenn es keine Vereinten Nationen gäbe, wenn es nicht möglich wäre, über nachhaltige Entwicklung und die Rettung des Klimas zu verhandeln und damit an die Wurzeln der Konflikte zu gehen und endlich, endlich die Ursachen zu bekämpfen - zugegeben mühsam ist es und oft noch nicht ausreichend.

Wir dürfen die kleinen Schritte nicht schmähen und uns ihrer nicht schämen. Glauben wir doch unserem eigenen Glauben und dem, der uns zuruft: Seid getrost, mutig, unverzagt, beherzt und wagt den Frieden! So überwinden wir die Welt.

Ein schönes Zeichen, liebe Gemeinde! Gottes offene Gesellschaft - nicht verborgen oder versteckt und geschlossen, sondern zugänglich für alle. Und ein tragfähiger Grund: Gottes Gegenwart und Glanz mitten unter uns.

So leicht, so offen, so tragfähig wünsche ich mir meine Kirche. So wünsche ich mir eine offene Gesellschaft, in der die verschiedensten Menschen in Frieden zusammenleben. So wünsche ich mir eine Welt, in der Frieden gewagt und Gewalt überwunden wird. So wünsche ich mir eine Welt, in der auf gewaltfreie Konfliktlösung gesetzt wird.

"Barmherziger Gott: Tu ein Zeichen an uns, dass du' s gut mit uns meinst! So beten wir zu dir voller Sehnsucht mit den Vielen auf dieser Erde. Und wir erkennen Zeichen deiner Güte und deines Friedens. Lass uns darauf achten und daraus Kraft schöpfen. Amen."

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus.

Amen.

Perikope
08.11.2015
16,33

Predigt zu Johannes 5,24-30 von Jasper Burmester

Predigt zu Johannes 5,24-30 von Jasper Burmester
5,24-30

Liebe Gemeinde -

wo verläuft die Grenze unseres Lebens? Wo endet das Leben, wo beginnt der Tod? Viele unter uns haben das Erreichen und Überschreiten dieser Grenze erlebt, als ein Ihnen naher Mensch starb. Die Endlichkeit unseres Lebens, die Begrenztheit unserer Zeit und unserer Kräfte wurde Ihnen dabei erschreckend oder auch erlösend und befreiend deutlich.

In für uns vielleicht recht ungewohnter Weise spricht Jesus im Johannesevangelium über diese Grenze zwischen Leben und Tod, ja, er definiert sie in gewisser Weise neu und jedenfalls anders, als wir es in unserem eigenen Erleben wohl tun. Ich lese aus dem 5. Kapitel die Verse 24-30:

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurch gedrungen. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören werden, die werden leben. Denn wie der Vater das Leben hat in sich selber, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in sich selber; und er hat ihm Vollmacht gegeben, das Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist.

Wundert euch darüber nicht. Denn es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden und werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts. Ich kann nichts von mir aus tun. Wie ich höre, so richte ich und mein Gericht ist gerecht; denn ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.

Jesus zeigt eine ganz andere Grenze zwischen tot und lebendig auf: „Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und ist vom Tod zum Leben hindurch gedrungen.” Hier bestimmt nicht ein biologisches Verfallsgeschehen, hier bestimmt er, bestimmt sein Wort die Grenze zwischen Tod und Leben. Sein Wort hören und glauben bewirkt Leben, und dann gleich: ewiges Leben. Es nicht hören, überhören, weghören, nicht glauben bewirkt vielleicht nicht  den Tod, wohl aber das Gericht.

Liebe Gemeinde -

diese Worte können uns erschrecken. Sie passen so gar nicht zu dem Bruder Jesus, den wir gerne hören und an dessen heilende Wohltaten wir gerne denken. Ein Richter, der dereinst Rechenschaft von jedem von uns fordert, ist nicht die Botschaft, die wir gerne hören. Dabei sprechen wir es Sonntag für Sonntag im Glaubensbekenntnis aus: „von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten“. Es handelt sich also keineswegs um eine Randnotiz, sondern um einen der Kerngedanken unseres Glaubens.

Das Ende von Zeit und Welt und die Auferweckung der Toten zusammen mit dem Gericht, mit einer Scheidung von Gut und Böse zu denken ist im gegenwärtigen Protestantismus ein selten gehörter Gedanke. So gibt es zum Beispiel kaum Literatur zu dieser Textstelle und in den branchenüblichen Predigtvorbereitungsbüchern kommt dieser Abschnitt, obwohl regulärer Predigttext zum Totensonntag, nicht vor.

Hier spricht nicht Jesus, unser Menschenbruder, der zur allgemeinen Geschwisterlichkeit anstiftet, auf den wir den Gottessohn weitgehend reduziert haben, sondern der Christus „sitzend zur Rechten Gottes“, der unser Richter zu sein beansprucht. Ob er dabei auch unser Retter sein wird, bestimmt er allein, souverän und endgültig. Heil oder Unheil, Leben oder Gericht liegen so in seinem Richterspruch beschlossen.

Wir hören gerne, dass Gott sich in seinem Sohn uns gnädig und freundlich zuwendet. Dazu sagen wir herzlich „Ja“. Aber dass sich derselbe zugleich als unser Richter auch von uns abwenden könnte - da protestiert das religiöse Denken, das sich Gott und Jesus so zurecht gestutzt hat, wie man sie gerne haben möchte. Das „Ja“ wird gehört, das aber auch mögliche „Nein“ wird überhört, verdrängt.

Wenn wir aber diese Spannung zwischen Liebe und Gerechtigkeit aufheben, schaffen wir uns einen Abgott, der viel mit unseren Wünschen und begreiflichen Sehnsüchten zu tun hat, aber wenig mit der - eigentlich doch auch für uns noch verbindlichen - Überlieferung des Neuen Testaments. Das alles ist dann nicht heiß und nicht kalt, sondern lau. Wir nehmen den tröstenden Worten „Gnade“ und „Liebe“ ihre Kraft, wenn es nur das „Ja“ und nicht auch ein mögliches „Nein“ gibt.

Wenn es völlig gleichgültig wäre, ob wir Gutes oder Böses tun, weil am Ende sowieso nur ein „Ja“ herauskommen darf, so nähme das denen, die sich in ihrem Leben als Opfer erfahren und erlitten haben, jede Hoffnung auf so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit.

Dieses sind unbequeme, ungemütliche Gedanken: Dass das Leben nicht natürlicherweise, ja geradezu zwangsläufig gelingen muss, sondern auch verfehlt werden könnte. Oder dass es gelebte und dabei vergeudete Lebenszeit geben kann, wobei es nicht so sehr darum geht, etwas im Leben verpasst zu haben, sondern das Leben selbst versäumt, vertan zu haben. Und dass es nicht gleichgültig ist, wie wir uns verhalten in Worten und Taten, im Schweigen und Unterlassen, ob wir mit anderen oder auch uns selber gut oder böse umgehen.

Das aber geschieht – wir wissen es, wir erleiden es, wir dulden es, wir sehen dem ohnmächtig oder gleichgültig zu. Sollte es deshalb auch Gott, sollte es Christus gleichgültig sein?

Ich bin als Notfallseelsorger einer Frau begegnet, die das ganz offen für sich selbst so sagte: „Wissen Sie, ich habe mein Leben versoffen.“ Und sie erzählte mir auch von ihrem Vater, der seiner kleinen Tochter Zigaretten auf ihrer Brust ausgedrückt hat. Ich lese in der Zeitung vom Flüchtling aus Syrien, der erleben muss, dass auch sein Folterer in Assads Diensten und als Flüchtling Asyl beantragt hat. Wir alle sehen im Fernsehen die unerträglichen Provokationen der rechten verbalen und tätlich werdenden Brandstifter – 30 Schläger gegen 2 Flüchtlimge. Wie kommen wir darauf, dass es nicht darauf ankäme, was wir tun, was wir lassen?

Diese Gedanken, liebe Gemeinde, sind auch für mich selbst nicht angenehm und gemütlich, sondern erschreckend. Es kommt darauf an, was ich tue, wie ich rede, wo ich schweige, wo ich mich ängstlich oder gar feige oder auch nur bequem heraus halte. Ich werde, so sagt mir dieser Text, zu einer Zeit, die Gott allein bestimmt, wie jeder andere Mensch gefragt werden, gerichtet werden. Aber erst wenn ich mich auch in diesen unangenehmen Schattenseiten ernst nehme, gewinnen Worte wie „Gnade“, und „angenommen sein“ ihre tröstende und heilende Kraft zurück.

Wenn wir uns diesem Erschrecken stellen und es aushalten, dass es eben nicht egal ist, was wir in und mit unserem Leben machen, dann können wir auch das andere hören, was in diesen Worten Jesu steckt: Dass sie ein starker Ruf zum Leben sind!

Denn es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden und werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.

Es geht dabei nicht um die Erregung von Furcht, sondern um das Leben, das volle, gelebte, erfüllte Leben. Es werden nicht Leben und endgültiger Tod, sondern Leben und Gericht gegenüber gestellt.

Wer Gutes getan hat, wer Böses getan hat: die Worte, die Johannes verwendet, sind mit Überlegung gewählt – beim „Gutes tun” ist das Wort „tun” dasselbe, mit dem Gottes schöpferisches Handeln beschrieben wird und beim „Böses tun”, wird für „Tun” ein ganz anderes Wort gebraucht, eines, das man mit geschäftigem Treiben übersetzen könnte, und das niemals in Verbindung mit Gott gebraucht wird. Auch das Böse, das da so geschäftig betrieben wird, ist eher etwas, was mit Gott nichts im Sinn hat, im Sinne von nichtig, wertlos, untauglich, gewöhnlich. Da ist die Unterscheidung, die Krisis des Gerichts.

Mit Gericht ist in der Bibel aber nicht Abrechnung und Verhängung von Strafe gemeint, sondern die Schaffung von Recht, die Behebung von Schaden und die Wiederherstellung des Heiles und des Gottesfriedens, des Schalom.

Das Ziel des Gerichtes ist das Leben. Darum ist der Sohn, darum ist Christus der Richter, darum hat Gott ihm das Gericht übertragen, weil er die Sünde aller, das Nicht-in-Gott-Getane aller Menschen in seinem Tod getragen und in seiner Auferstehung verwandelt und ins Leben geführt hat.

Amen, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurch gedrungen. Das Leben haben - darum geht es. Ein Ruf zum lebendigen, unverstellten, intensiven Leben. Aus dem Tod zum Leben durch gedrungen, zum Leben auferstanden - welch ein Leben-Wollen wird da spürbar, eine Sehnsucht, ein Wunsch nicht erstickt und erdrückt, eingeengt zu sein. Vielleicht reicht es, das irgendwann einmal erlebt zu haben: Das Leben, das sich in einem erfüllten Augenblick überwältigend ereignet: Im Erleben einer grandiosen Landschaft, beim Betrachten eines Bildes, im Hören, in der liebenden Begegnung mit einem Menschen, um dem Tod gegenüber solch erfüllten Erleben sein Gewicht vielleicht nicht zu nehmen, aber doch zu mindern.

Ein starker Ruf ins Leben sind diese Worte Jesu aber auch darum, weil die Zeit der Entscheidung nicht der Sankt-Nimmerleins-Tag ist, sondern das hier und jetzt. Was dermaleinst sein wird, entscheidet sich im Leben, also jetzt und hier, in unserem Umgang mit diesem Geschenk, das manchmal ja auch Last sein kann.

Auf drei Dinge kommt es dabei an: Ob wir es leben oder versäumen, ob wir verantwortungsvoll mit anderen und uns umgehen und ob wir uns im Leben und Sterben dem anvertrauen, der uns das alles gab als Gabe und Aufgabe: Gott, der uns in Christus vor diese alles entscheidende Frage stellt: Vertrauen wir ihm und hören ihn?

Amen

Konsultierte Literatur:

- Siegfried Schulz, NTD 4

- Yorick Spiegel z.St. in Assoziationen Bd. 1

- Günter Brakelmann z.St. in Textspuren Bd. 1

- Welt am Sonntag vom 1.11.2015

 

Perikope
22.11.2015
5,24-30

Predigt zu Johannes 11, 1-4; 17-27; 40-45 von Reiner Kalmbach

Predigt zu Johannes 11, 1-4; 17-27; 40-45 von Reiner Kalmbach
11,1-4;17-27;40-45

Die Gnade Gottes unseres Vaters, die Liebe Jesu unseres Herrn und die lebensspendende Kraft des Heiligen Geistes seien mit uns allen. Amen.

Wir stehen, wie man so schön sagt, „mitten im Leben“. Wir arbeiten, planen unsere Ferien, wir haben Freunde und eine Familie, wir bewegen uns, wie auf einer Strasse, auf beiden Seiten Leitplanken, in der Mitte die weisse Linie, immer nach vorne. Das alles gibt uns den Anschein einer gewissen Sicherheit. Dass uns ein Ereignis ganz plötzlich und „unverhofft“ aus der Bahn werfen könnte, wissen wir, aber wir verdrängen es nur zu gerne...

In Europa ist jetzt Erntezeit, Erntedank-Zeit, hier bei uns in Argentinien beginnt der Frühling, die ersten Tulpen und Narzissen blühen, die Obstbäume verbreiten den Duft nach Leben, nach Aufbruch. Wer mag da an den Erzfeind des Lebens denken...

An einem Sonntagnachmittag bin ich unterwegs zu einem Gottesdienst in einer entfernten Filialgemeinde mitten in den patagonischen Anden. Da meldet sich mein Handy, in einer Gegend in der es eigentlich gar keinen Empfang haben sollte. Mein ältester Sohn ist dran und teilt mir mit, dass vor wenigen Stunden mein Onkel, ebenfalls Pfarrer, bei einem Autounfall tödlich verunglückte. Da ich sehr früh meinen eigenen Vater verloren hatte, war dieser Onkel ein Leben lang eine Art Ersatzvater für mich. Es war, als stürzte ich in einen Abgrund. Eine tiefe Traurigkeit, ein unglaublicher Schmerz breitete sich in mir aus. Und in einer Stunde sollte ich von der Kanzel aus das Evangelium verkündigen. Ich konnte nicht einmal zur Beerdigung fahren, mein Onkel lebte 3500 km entfernt, weit im Norden Argentiniens. Ich wäre auf jeden Fall „zu spät“ gekommen. Am nächsten Tag rief ich meine Tante an, wollte ihr etwas tröstendes sagen, aber ich brachte kein Wort heraus, ich konnte nur noch weinen. Dann tröstete mich die Tante, sie erzählte mir von seinem unerschütterlichen Glauben an die Auferstehung, von einem Gefühl der Geborgenheit, wie er es immer wieder selbst formulierte, und ich spürte diesen Glauben auch in ihr, diese Gewissheit die ihren Grund nur in einem tiefen Gottvertrauen haben konnte.

Ja, darum soll es heute gehen, um das Leben und die vielen Tode, die fast nie, wie wir es uns wünschen, als ein guter Freund durch die offene Haustüre hereinkommen, sondern fast immer wie ein Einbrecher durch die verschlossene Hintertüre.

Ich habe diesen Abschnitt schon so oft gelesen, auch ein paar mal über ihn gepredigt, sicherlich gehört er zu den „populärsten“ Geschichten aus dem Neuen Testament. Und noch immer bin ich tief bewegt...

Textlesung: Johannes 11, 1 – 4; 17 – 27; 40 - 45


1. Mitten im Leben klopft es an die Tür.

Hier wird der Tod nicht beschönigt, hier wird er so dargestellt, wie er ist. Wie viele ähnliche Situationen gehen uns durch den Sinn! Diese einfachen Worte nehmen uns mithinein, „mitten im Leben“. Unser ältester Sohn, noch klein, ein Baby, der Pseudokrupp der ihn schon seit Monaten plagt (und die Eltern zur schieren Verzweiflung bringt) scheint diesmal so schlimm wie noch nie..., hinzu kommt noch eine Lungenentzündung..., mitten im Leben, mitten in der Nacht..., der Arzt kann nicht kommen, er ist bei einem anderen Notfall, also fahren wir ins Krankenhaus und – hätten keine Minute länger warten dürfen -.

Der Bruder ist schwer erkrankt, die beiden Frauen tun, was getan werden muss: sie rufen nach dem „Arzt“. Gleich soll er kommen, Eile tut Not! Der Freund ist schlimm dran... Wir predigen von der Kanzel die Auferstehung, gleichzeitig sterben unsere Lieben. Jesus könnte eingreifen, aufhalten, tut es aber nicht. Er lässt sich Zeit, kommt wann es ihm in den Kram passt. Sein bester Freund ist dem Tode nahe und er hat keine Eile. Das ist fast schon grausam. Er tut nicht das, was wir wollen..., wir wollen, ich will..., dass..., sofort! Der Arzt, wo bleibt er denn!?

Als Jesus schliesslich ankommt, liegt Lazarus schon vier Tage im Grab. Damit ist die Grenze überschritten, innerhalb derer nach damaliger Überlieferung der Vorgang des Sterbens noch umkehrbar wäre. Man glaubte, dass die Seele sich noch drei Tage lang in der Nähe aufhalte. Nun aber ist es zu spät. Modern gesprochen: nun kann es keine Zweifel mehr geben, es handelt sich nicht um einen klinischen Tod. Die Beschreibung ist so realistisch, dass man den Tod förmlich riechen kann.

Dann kommt es zur Begegnung zwischen Jesus und Martha. In ihren Worten liegen nicht nur Schmerz und Trauer. Ich höre da auch einen Vorwurf heraus. Wer könnte sie nicht verstehen!?

Aber da ist noch etwas, etwas das sie vielleicht selbst nicht verstehen kann: Martha traut Jesus mehr zu, als die heilenden Fähigkeiten eines aussergewöhnlichen Rabbis. Was viele seiner Wunderheilungen betrifft, stand Jesus in guter jüdischer Tradition. Nein, in Martha schwingt noch ein anderer Ton mit: über aller Trauer, all dem tiefen Schmerz, auch dem Vorwurf, steht ihr Glaube, sie glaubt, wo es nichts mehr zu glauben gibt: „Aber auch jetzt weiss ich: was du bittest von Gott, das wird Gott dir geben.“ „Es kostet dich nur ein Wort!“ Was geschieht da? Martha verlässt die Trauergemeinde, etwas das man nicht tut, und läuft jenem entgegen, der dem Tod die Macht aus den Händen reissen kann. Die Trauernden im Haus „verneigen“ sich vor dem Tod und seiner Macht. Es ist die Anerkennung seiner Herrschaft. Damit gibt sich diese Frau nicht zufrieden. „Was kann das schon für ein Trost sein, wenn man den nicht kennt, der dem Tod die Macht genommen hat...?“, hörte ich einmal auf einer Beerdigung, das ging mir durch Mark und Bein. „Dein Bruder wird auferstehen.“

Was ist damit gemeint?

 

2. Die Lehre und der lebendige Glaube

Ja, was ist damit gemeint? Auch Martha kommt etwas durcheinander, auch sie greift auf das zurück, was sie im Konfirmandenunterricht gelernt (haben könnte). „Natürlich glaube ich an die Auferstehung, wo denkst du hin!?“ Und das ist auch nicht falsch!, ganz im Gegenteil: Lehre und Tradition sind wichtig, sie helfen uns eine Verbindung herzustellen zwischen unserer Lebenswirklichkeit und unseren geistlichen Fragen und Zweifeln. Aber man kann die Konfistunden intus haben und trotzdem untröstlich sein.

Und so spitzt sich die Situation zu, Jesus bringt das Thema auf den Punkt. „Dein Bruder wird auferstehen“, ¿bezieht sich das auf die Rückkehr aus dem Tode ins alte, irdische Leben? Dann müsste man Lazarus eigentlich bedauern, denn ihm stünde ja das Leiden eines zweiten Sterbens bevor. Nein, was mit Lazarus geschieht, hat nichts mit dem Glauben an die Auferstehung zu tun. „Dein Bruder wird auferstehen.“, ist eine Feststellung, sie weißt weit über unsere irdische Wirklichkeit hinaus und doch gleichzeitig auf den der da zu spät zu kommen scheint. „Ich bin es!, ich bin die Auferstehung und das Leben...“ Und da ist es wieder, das zentrale Thema des Evangeliums, ja der ganzen Bibel: an IHM kommen wir nicht vorbei, an Jesus!

Die meisten Menschen glauben an ein „Leben“ danach. Jeder hat seine eigene Vorstellung vom „ewigen Leben“, die einen eingebettet in kirchliche Lehr-und Glaubenssätze, die anderen begeistern sich für fernöstliche Vorstellungen vom „danach“, oder „immer wieder“. Es gibt also so etwas wie eine allgemeine und globale Auferstehungssehnsucht.

Hier wird all das, was und woran wir glauben, an Jesus ausgerichtet. Er ist das Nadelöhr, in ihm wird alles aufgehoben, in ihm wird die Macht des Todes gebrochen.

Ich bin das, was ihr sucht, ersehnt, erhofft!, sucht es nicht woanders und sucht es nicht ohne mich, an mir vorbei! Indem ihr an mich glaubt, habt ihr es! Ein alter Mann aus unserer Gemeinde sagte mir einmal: „ein ewiges Leben ohne Christus wäre die Hölle, eine Auferstehung in eine Wirklichkeit ohne ihn..., dann würde ich lieber den ewigen Tod bevorzugen...“


3. „...nur über meine Leiche!“

Ja, genau das ist es: jenseits aller Zeichen die Jesus tut, die durch und in ihm geschehen, führt ihn sein Weg unaufhaltsam auf seinen eigenen Tod zu. Dort am Kreuz liefert sich Gott selbst jener Macht aus, die sogar die Zeit in ihren Händen zu halten scheint. Jesús, verlassen von den Menschen, Jesus verlassen von seinen Freunden, Jesus von sich selbst verlassen, Jesus, vollkommen (im wahrsten Sinne des Wortes!) ausgeliefert, ohne die geringste Verteidigung, die totale Resignation!

Und jetzt das Entscheidende: während Lazarus zum irdischen Leben wieder erwacht, also seinen letzten Tod noch vor sich hat, ist Jesus der Erste derer, die in die Ewigkeit, also absolute Zeitlosigkeit, auferstehen. Jesus kam nicht in die vergängliche, kränkelnde, chaotische Weltwirklichkeit zurück. Er ist die Tür durch die wir einst eintreten werden in jene Wirklichkeit nach der wir uns so sehr sehnen. Also: nur über „seine Leiche“, am Kreuz, d.h. an Jesus kommen wir nicht vorbei!

Warum ist das so wichtig?, weil das ewige Leben ein Leben in Gemeinschaft mit Gott ist. Und weil Jesus der menschgewordene Schöpfergott ist. In Christus sein heisst also, in  Gemeinschaft mit Gott, dem Schöpfer und Erhalter unseres Lebens. Wenn wir also in Christus sind, haben wir heute schon Anteil an jenem Leben das die Macht des Todes nicht mehr fürchten muss. Mein Grossvater lehrte mich: „...glauben ist nichts anderes, als wirklich alles, alle Sorgen und Zweifel, alle Fragen, alle Ängste und Hoffnungen, in Gottes gute Hände legen...“, also auch meine Hoffnung auf Auferstehung.

Jesu Machttat in Bethanien ist „Zeichen“, Botschaft: Christus lässt, die er liebt, nicht im Tode. Er selber ist die Auferstehung und das Leben.

„Glaubst du das?“, das ist das Kleingedruckte, das wir gerne übersehen. Aber darin steht immer das entscheidend Wichtige. Es geht darum, ob wir uns wirklich, von ganzem Herzen auf Jesus einlassen können und wollen. Bleibt es bei auswendig gelernten Glaubenssätzen, oder trifft mich deren Inhalt – und damit Jesu Worte -, in meiner Existenz?

Martha, die Frau, die schon längst, vielleicht ohne es zu begreifen, über die Tradition, Ritus und Lehre hinaus glaubt, jene Frau, die sich, wenn es darauf ankommt, nicht um Formen kümmert, sagt: „Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes...“

Der Christus, der Sohn Gottes, der vom Himmel in die Welt gekommene, steht vor Martha. Wer sonst könnte das Leben und die Auferstehung sein?

Amen

Perikope
20.09.2015
11,1-4;17-27;40-45

Predigt zu Johannes 11,1-4.17-27.40-45 von Angelika Volkmann

Predigt zu Johannes 11,1-4.17-27.40-45 von Angelika Volkmann
11,1-45

Marthas Initiation
Glaubst du das wirklich? Liebe Gemeinde, so bin ich zu dieser Geschichte schon oft gefragt worden. So etwas Spektakuläres! Ein Toter steht auf! Wo ist die Sensationspresse? - Unsere Toten bleiben in ihren Gräbern, so sehr wir auch manchmal wünschen, dass sie vor unseren Augen auferstehen, dass sie einfach wieder kommen – vor allem, wenn jemand jung sterben musste.
Ja, die Seele wünscht sich das in ihrem großen Schmerz. Die Seele möchte die Unerbittlichkeit der Trennung aufheben, ja!
Und doch: wenn jemand wirklich aus seinem Grab wieder lebendig heraus käme: wären wir nicht entsetzt? Wollten wir das wirklich?
Was uns der Evangelist Johannes hier erzählt, ist nicht harmlos.
Ich sehe es so: Martha wächst an diesem Ereignis über sich hinaus. Manche Glaubenserfahrungen werden aus extremen Situationen geboren. Es öffnet sich ihr eine tiefere Ebene des Glaubens, als sie bisher kannte. Und sie verschließt sich diesem Geschehen nicht, obwohl es sie alles kostet, ihm zu vertrauen. Jesus.
Es ist eine Initiation. Jesus führt sie über eine Grenze zu einer neuen, erschütternden und befreienden Erkenntnis. 
Sie ist voller Schmerz. Lazarus ist tot. Ihr geliebter Bruder! Seit vier Tagen schon. Nie mehr würde sie mit ihm sprechen können, ihn berühren können. Nie mehr würde sie seinem Blick begegnen. Wir können uns vorstellen, wie Martha mit Gott gerungen hat:
“Warum hast du ihn mir genommen! Warum? Er war doch noch so jung!“
Und jetzt kommt Jesus. Jetzt! Wo alles zu spät ist! Martha geht ihm entgegen, nicht ohne Vorwurf: „Jesus! Wenn du nur hier gewesen wärest! Alles hätte ich dir zugetraut, alles! Du hättest ihn retten können! Warum kommst du so spät! Ich habe mein Leben verloren!“
Jetzt kann Jesus nicht mehr helfen. Martha ist verzweifelt, doch sie ist eine starke Frau, auch stark im Glauben. Sie weiß dass Jesus Gott für sie bitten kann. Sie glaubt, dass Gott sie auch in ihrer Trauer festhalten wird.
Da sagt Jesus zu ihr: „Dein Bruder wird auferstehen.“  Ja, das weiß Martha, klug und theologisch gebildet, wie sie ist: „Ja, er wird auferstehen am jüngsten Tage“, so antwortet sie Jesus. Doch sie vermisst ihn jetzt!

Ich werde mich fügen müssen.
Ich weiß, dass ich kein Mirakel von Jesus erwarten kann.
Und das tue ich auch nicht.
Oft hatten sie theologische Gespräche geführt. Auch darüber, dass Gott nicht immer das Leid von den Menschen fernhält. Dass es kein leidfreies Leben gibt. Sie ist nicht vermessen. Sie ist realistisch und lebensklug. Sie weiß, dass die Verwesung schon eingesetzt hat.
Ihr starker Glaube ist im besten Sinne demütig.

Doch Jesus will sie weiter führen. Wenn Martha denkt, dass er sie darin bestätigt, dass sie sich zu fügen hat, dann hat sie sich getäuscht. Er sagt nicht: „Du musst Lazarus loslassen.“  Er schaut sie lange an. Und dann spricht er diese Worte: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt.“ Martha erfasst es noch nicht. Aber sie spürt diese besondere Atmosphäre, sie spürt, dass dieser Moment allergrößte Bedeutung hat für ihr Leben. Jesus enthüllt ihr ein Geheimnis. „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt.“
Was heißt das??
Jesus sagt: „Es gibt neues Leben! Nicht erst am Ende der Tage. Nein, Hier und Heute. Jetzt. Glaubst du das?“

Diese Frage schlägt bei Martha ein. Sie ist wie vom Donner gerührt. Sollte es am Ende doch noch eine Chance geben für Lazarus, für sie?
Es ist, als ob sich zwei Stimmen in ihr streiten. Ihr bisheriger Glaube sagt: Martha, erwarte nicht zu viel! Bleibe realistisch! Du sollst Gott nicht versuchen! Du kannst doch nicht so etwas für dich beanspruchen!
Und auf eine bisher für sie noch unbekannte Weise hört sie die Stimme Jesu Christi: Martha, es geht nicht um Verschonung vor Leid! Es geht hier nicht um die Erfüllung deiner Wünsche! Es geht um etwas anderes. Es geht darum, dass du erkennst, wer ich bin. Dass ich Gottes Sohn bin! In mir ist Gott gegenwärtig! Hier und heute wird dem, der an mich glaubt, ein von Gottes Nähe erfülltes und bleibendes Leben geschenkt. Der Tod stellt für mich keine Grenze dar!

Martha zittert innerlich. Es kommt ihr vor wie ein Sprung ins Wasser. Es kommt ihr vor, als ob sie eine unüberwindliche Schwelle überschreitet, ein Tabu bricht. Sie braucht äußersten Mut.
Jesus schaut sie an – und in seiner Frage: „Glaubst du das?“ schwingt mit, dass er es ihr zutraut, über diese Grenze hinauszuwachsen. Er hat sie in diese Situation geführt. Sie hört ihn sagen: „Du hast dein Leben nicht verloren.“

Und Martha vertraut und bekennt  mit dem Mut der Verzweiflung und zugleich in äußerstem Vertrauen: „Ja, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn des lebendigen Gottes!“ Sie ruft es in völligem Vertrauen, dass Jesus alles kann – und sie ruft diese Worte in großer Demut, die nicht berechnet, nichts fordert. Sie überlässt sich voll und ganz.

Liebe Gemeinde,
wir wissen wie diese Geschichte weitergeht. Wir wissen, dass das Ungeheuerliche geschieht. Martha erlebt an diesem Tag, dass Jesus ihren Toten Bruder Lazarus aus seinem Grab herausruft. Er ist wirklich Gottes Sohn! Gott ist es, der einen Menschen ins Leben ruft. Er vergisst niemanden, auch nicht, wenn jemand stirbt. Bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da – so haben wir mit dem 139. Psalm gebetet. Die Toten leben in der Nähe Gottes!  Gott weiß um jede Einzelheit, jedes Wort auf jeder Zunge jedes Menschenlebens. Er liebt seine Geschöpfe.  Er kennt sie mit Namen.
„Lazarus, komm heraus!“  ruft Jesus.
Und zugleich ist er der, der Martha ruft. „Martha, komm heraus! Komm heraus aus deiner Verzweiflung! Aus der Höhle deines Kummers! Aus deinem Eindruck, du hättest dein Leben verloren. Das hast du nicht!“

Lazarus lässt sich rufen. Martha lässt sich rufen. Martha erlebt, dass ihr Bruder lebt. Sie hat ihr Leben nicht verloren. Sie erlebt Leben in Fülle.

Liebe Gemeinde, mit dieser Geschichte zeigt uns Johannes, wer Jesus ist. Jesus Christus spricht diese Worte auch zu uns: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Er fragt auch uns: „Glaubst du das?“ Und vielleicht geht es uns sogar ähnlich wie Martha, dass wir da eine Grenze in uns spüren, die wir nicht leicht überschreiten können.
Doch wir werden dazu ermutigt!

Seht die Welt mit den Augen Gottes! Der Tod ist nicht so mächtig, wie er sich gebärdet! Unsere Toten sind nicht tot: sie leben! Sie sind aufgehoben bei Gott, in seinem Licht. Sie sind uns doch nur vorausgegangen. Ja, das glaube ich. So antworte ich, wenn ich zu dieser Geschichte gefragt werde.
Liebe Gemeinde: nichts geht verloren.
„Das Jenseitige ist nicht das unendlich Ferne, sondern das Nächste“, schreibt Dietrich Bonhoeffer.1 Leben in Fülle ist wirklich unter uns. Und sei es unter Tränen. Wir bleiben mit unseren Lieben verbunden. Wir müssen die Hoffnung nicht aufgeben. Auch nicht all die Hoffnungen und Träume, die wir womöglich  schon begraben haben – sie haben ihren Platz bei Gott und eines Tages werden wir sie erleben: die Lösung von verfahrenen Situationen, das ersehnte gegenseitige Verständnis, das wir so entbehrt haben, Nähe anstelle von Beziehungsabbrüchen, Erfüllung all dessen, worauf wir aus Liebe verzichtet haben, Heilung aller Verletzungen, endlich anerkannt zu sein, gesehen zu werden, verstanden zu werden. Und wenn wir dann vom Glauben, dass es eines Tages so sein wird hinüberfinden zu dem Glauben, dass es in Gottes Reich bereits jetzt so ist , dann haben wir den Schritt getan, den Martha getan hat. Dann schauen wir anders auf alle Dinge. Liebevoller auf unsere Mitmenschen, gnädiger auf uns selbst, hoffnungsvoller auf das Elend in der Welt. Dann erleben wir eine Fülle, die unserer Seele gut tut und die uns niemand nehmen kann. Hier und Heute. Ist das nicht ungeheuerlich?
Amen.

1 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW Band 8, 1998, S. 551
 

Perikope
20.09.2015
11,1-45

Predigt zu Johannes 6,1-15 von Eberhard Schwarz

Predigt zu Johannes 6,1-15 von Eberhard Schwarz
6,1-15

1 Danach fuhr Jesus weg über das Galiläische Meer, das auch See von Tiberias heißt.
2 Und es zog ihm viel Volk nach, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat.
3 Jesus aber ging auf einen Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern.
4 Es war aber kurz vor dem Passa, dem Fest der Juden.
5 Da hob Jesus seine Augen auf und sieht, dass viel Volk zu ihm kommt, und spricht zu Philippus: Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben?
6 Das sagte er aber, um ihn zu prüfen; denn er wusste wohl, was er tun wollte. 7 Philippus antwortete ihm: Für zweihundert Silbergroschen Brot ist nicht genug für sie, dass jeder ein wenig bekomme.
8 Spricht zu ihm einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus:
9 Es ist ein Kind hier, das hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische; aber was ist das für so viele?
10 Jesus aber sprach: Lasst die Leute sich lagern. Es war aber viel Gras an dem Ort. Da lagerten sich etwa fünftausend Männer.
11 Jesus aber nahm die Brote, dankte und gab sie denen, die sich gelagert hatten; desgleichen auch von den Fischen, soviel sie wollten.
12 Als sie aber satt waren, sprach er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrigen Brocken, damit nichts umkommt.
13 Da sammelten sie und füllten von den fünf Gerstenbroten zwölf Körbe mit Brocken, die denen übrig blieben, die gespeist worden waren.
14 Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus tat, sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll.
15 Als Jesus nun merkte, dass sie kommen würden und ihn ergreifen, um ihn
zum König zu machen, entwich er wieder auf den Berg, er selbst allein. 


Einer ist reich
und einer ist arm,
einer erfriert
und einer hat's warm.

Einer stiehlt
und einer kauft,
einer schwimmt oben
und einer ersauft.

Einer riecht gut
und einer stinkt,
einer fährt weg
und einer winkt.

Einer hat Überfluss
und einer hat Sorgen,
einer kann schenken
und einer muss borgen.

Einer hat Hunger
und einer hat Brot.
Einer lebt noch
und einer ist tot.

Auszählreime der österreichischen Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger, liebe Gemeinde. Kinderverse, die nichts als die Wahrheit sagen in einer Welt, in der tagtäglich ausgezählt wird und ausgesondert.

Einer ist reich
und einer ist arm,
einer erfriert
und einer hat's warm.

Heute, an diesem Morgen ist das nicht so. An diesem 7. Sonntag nach Trinitatis wird nicht ausgezählt; heute wird nicht sortiert. Heute, so Johannes, haben alle Brot. Heute sind wir einander keine Fremdlinge, sondern Mitbürgerinnen und Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen. Heute hören wir eine Erzählung, in der der lebendige Gott selber zu Tisch bittet. Und alle werden satt. Und keiner hat Hunger. Und keiner ist tot.

Es ist eine wundersame Geschichte vom Lebendigsein, die uns das Johannesevangelium erzählt: Satt werden – von so gut wie nichts. Fünftausend zehren von dem, was ein Kind in seinen Händen hält: zwei „Fischlein“ – „Opsaria“ auch im Griechischen eine Verkleinerungsform.

Zwei winzige Fische und fünf Gerstenbrote. Das Billigste vom Billigen. Und trotzdem: aus diesem ‚Fast-Nichts‘ quillt förmlich der Überfluss. Fünftausend werden satt. Zwölf Körbe brechend voll bleiben übrig. Sie könnten stehen für so vieles: für zwölf Jünger, für zwölf Stämme, für das ganze Volk, sie könnten stehen für die Gemeinschaft der Menschen, für dieses große ‚Alle‘. Und sie tun es auch! Und aus der Ferne weht zu uns herüber die uralte Melodie zum Lob des großen Hirten: „Du bereitest vor mir einen Tisch … und schenkest mir voll ein“.

Liebe Gemeinde,
das Johannesevangelium nennt diese Wundergeschichte ein Zeichen. Sieben solcher Zeichen gibt es im vierten Evangelium. Zeichen, das sind Signale, die wie im Straßenverkehr auf etwas Anderes hinweisen. Sie wollen sagen: Sieh genau hin und du wirst sehen: durch dieses Brot- und Fischvermehrungswunder hindurch siehst Du ein anderes, größeres, elementareres Wunder.

Die Menschen, die mit Jesus am See und auf dem Berg sind, ahnen das sehr wohl! Sie spüren, dass es etwas Großes ist, als sie miteinander essen; als alle satt werden, als alle leben. Als keiner aussortiert ist. Und sie sagen auch, was sie empfinden: „Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll“.

Nur: sie sehen nicht weit genug. Sie deuten dieses Zeichen zu klein. Und Jesus entzieht sich ihrer Deutung. Er entweicht auf den Berg, er selbst allein.

Was meint „Zeichen“ bei Johannes? Bereits das erste Zeichen, das Weinwunder zu Kana, beginnt mit einem Paukenschlag. Es ist nicht weniger als der Auftakt der messianischen Zeit, die Ermöglichung der Hochzeit, des Lebensfestes, des Überflusses an Gabe und zugleich die Vorwegnahme des Ostermorgens. Seht ihr nicht? Begreift ihr nicht? Versteht ihr, wer da ist, der Wasser in Wein wandelt, der mit Freude füllt? Der Schöpfer kommt in die Zeit. Der Logos hat sich inkarniert. Mit seiner schöpferischen Fülle und Freiheit ist er menschlich bei euch und mitten unter euch. Er heilt, er macht sehend, er macht satt, er weckt vom Tod auf!

In diesen alltäglichen Begegnungen, in diesen Menschengesten, in diesem zerbrechlichen Leben Jesu von Nazareth erscheint das wahre und große Leben, geschieht Ungeheuerliches, erscheint die schöpferische Freiheit Gottes selber.

Es war Goethe auf seiner italienischen Reise, der modernen Bildungsreise schlechthin, der in der Kirche San Giorgio in Rom mitleidigst und staunend zugleich vor zwei riesigen Wänden stand: beide je 30 Fuß lang und 20 Fuß hoch. Und auf der einen Wandseite war die Speisung mit Manna aus dem ersten Teil der Bibel abgebildet.

Und auf der anderen diese Zeichenerzählung von den fünf Broten und den zwei Fischen. Diese großen Bilder, meint Goethe, seien zwar wunderbar ausgeführt.
Aber was seien das bloß für Motive!? Warum bloß so kleinkarierte  Geschichten: Wie hungrige Menschen über ein bisschen Brot herfallen. Es müsse wohl eine Folter für diese großen Künstler gewesen sein, solche banalen Armseligkeiten zu malen und bedeutsam zu machen.

Einer hat Überfluss
und einer hat Sorgen,
einer kann schenken
und einer muss borgen.

Aber Johannes lehrt uns: gerade in diesen banalen Armseligkeiten begegnet der Herr des Lebens.

Philippus, der Jünger Philippus, steht in unserer Geschichte für die Perspektive des reisenden Goethe. ‚Es kostet unglaublich viel, diese Menschen satt zu bekommen‘, sagt er zu Jesus: „Für zweihundert Silbergroschen Brot ist nicht genug für sie, dass jeder auch nur ein wenig bekomme“. So viel haben wir nicht. Es ist völlig aussichtslos. Und es ist Andreas, der Bruder des Simon Petrus, der das bestätigt: Das, was wir haben, zwei kleine Fische und fünf Gerstenbrote, reicht nirgendwo hin.

Einer hat Hunger
und einer hat Brot.
Einer lebt noch
und einer ist tot.

So ist das eben. … Nein, so ist es eben nicht!

Bei Johannes lesen wir, dass in dieser Begegnung, keiner aussortiert wird und keiner tot ist. Und die Sorge, der alte Dämon, wird sprachlos. Und da sind Menschen, die haben gefunden, was sie nährt und satt macht. Mehr noch: was sie verbindet. Und sie ahnen: das ist der, den sie am liebsten ergreifen und festhalten möchten, um ihn zum Brotkönig zu machen. Er macht sie satt!

Aber er entzieht sich, er geht auf den Berg, weil sie nicht verstehen, wofür dieses Brotwunder, wofür er selber steht.

"Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von dem Brot gegessen habt und satt geworden seid," (Joh 6,26) wird er wenig später zu ihnen sagen. Ihr begreift nicht, wer euch in mir begegnet: Nicht die Gabe, sondern der Geber selber in seiner Größe und Freiheit.  

Zwei Jahrhunderte nach Goethe, beschreibt der ungarische Jude und Nobelpreisträger Imre Kertész, wie eine Brot-Armseligkeit durchsichtig werden kann auf ein Großes hin. In einer seiner Erzählungen, die immer wieder um seine Erfahrungen als Junge in Buchenwald kreisen, erinnert er sich an den Moment, an dem er zu essen bekommt. Oder genauer, an den Moment, in dem er todkrank und auf einer Bahre liegend bei der Essensverteilung im Lager übergangen wird. Warum sollte man einem sterbenden Kind noch etwas geben? Sinnlos.

Ein anderer bekommt seine Ration. Im Lager nennen sie ihn den „Herrn Lehrer“. Und das sterbende Kind sieht, dass der Herr Lehrer jetzt eine doppelte Chance hat zu überleben. Und dass es selber von den anderen aufgegeben ist.

Einer stiehlt
und einer kauft,
einer schwimmt oben
und einer ersauft.

Aber dann tut dieser Lehrer etwas völlig Unvernünftiges und Gefährliches: Er tritt noch einmal heraus aus den Reihen der Häftlinge unter den Augen der SS und unter der Gefährdung seines eigenen Lebens. Und er gibt diesem Jungen seine Ration zurück. Und niemand versteht es. Und alle halten ihn für verrückt. Warum macht er das? Warum rettet er nicht seine eigene Haut? Warum verdoppelt er nicht seine eigenen Lebenschancen. Und Kertész sagt: Es gibt für diese Tat keine andere Erklärung außer der des Wunders und der Freiheit.

Sehen wir, welches Große sich darin zeigt?

Sehen die Menschen, wer ihnen in Jesus begegnet?

Was sollen sie sehen? Was sollen wir sehen? Einer der Ausleger des Johannesevangeliums hat erklärt, dieses ganze Buch mit seinen Reden und Geschichten, sei so etwas wie ein Palimpsest. Ein Palimpsest ist ein Papyrus oder eine Buchseite, die früher schon einmal beschrieben war und die man abgewaschen oder abgeschabt hat, um sie dann wieder neu zu beschreiben. Papyrus ist kostbar. Aber trotz dieses Wiederbeschreibens erkennt man noch den darunter liegenden alten Text.

Und so ist es auch hier. Unter dieser Brot- und Fischvermehrungsgeschichte liegen andere bedeutende biblische Texte, die wir heute mithören und mitlesen können. Einer davon ist die alte Wüstenerzählung Israels vom Himmelsbrot, vom Manna. Gott befreit sein Volk. Gott ernährt sein Volk in der Wüste. Er verlässt Israel nicht.

Und wieder ein Text ist die Abendmahlserzählung der anderen Evangelien – sie schimmert hindurch: Und Jesus nahm die Brote, dankte und gab sie ihnen … Und wir hören den 23. Psalm wie die Hintergrundmelodie des Ganzen: Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. ‚Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser‘.

„Es war aber viel Gras an dem Ort“, sagt das Johannesevangelium wie beiläufug. Aber es ist nicht nebensächlich. Ja, da ist viel Gras: wir sind auf einer grünen Aue. Dorthin führt uns Jesus.

Er führt uns dorthin, wo die Welt voller Wunder ist. In den Raum der Freiheit Gottes. Wo auf felsigem Boden Wein wächst, wo aus Sand Butter und Brot wird, wo aus einem Stück Materie ein Mensch wird. Wo wir dem Geheimnis des Lebens begegnen. Wo die Vernunft ins Stocken gerät. Und wo, genau besehen, alles Staunen ist.

Mehr noch: diese Zeichengeschichte führt uns allem voran zu einem Menschen, der mit seinem ganzen Wesen Überfluss ist und Geschenk. Sie führt uns zu einem, in dem wir Gott selber begegnen. Und der deshalb nicht etwa nur ein Brotkönig oder ein Prophet einer besseren Welt ist, sondern der den Menschen selber Brot ist. Fünftausend werden satt! Dieser Mensch verkörpert leibhaftig die biblischen Verheißungen von der Güte und Nähe Gottes. Er ist das wahre Überflusswunder.

Er ist es, weil er uns unseres Lebens und Gottes gewiss macht. Weil er uns gegen die Vernunft, die uns sagt: ihr werdet sterben, seinerseits sagt: Ihr werdet leben. Mehr noch: Weil er die Kraft hat, uns jetzt und alle Tage an Hoffnung reich zu machen und lebendig zu halten.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.


Literatur:
Christine Nöstlinger, Auszählreime (http://www.lyrikline.org/de/gedichte/auszaehlreime-1420#.VaJhavm3q2s)
Imre Kertesz, Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, Berlin 1992

 

Perikope
19.07.2015
6,1-15

Predigt in vier Bruchstücken - zu Johannes 6,1-15 - von Christine Hubka

Predigt in vier Bruchstücken - zu Johannes 6,1-15 - von Christine Hubka
6,1-15

Predigt in vier Bruchstücken

Vorbemerkung:
Ich nehme auf die Kanzel ein Fladenbrot mit und breche es während der Predigt in vier Stücke.

Möglich wäre, zwischen den „Bruchstücken“ kurz Musik zu spielen

1In jenen Tagen fuhr Jesus weg über das Galiläische Meer, das auch See von Tiberias heißt.
2Und es zog ihm viel Volk nach, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat.
3Jesus aber ging auf einen Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern.
4Es war aber kurz vor dem Passa, dem Fest der Juden.
5Da hob Jesus seine Augen auf und sieht, dass viel Volk zu ihm kommt, und spricht zu Philippus: Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben?
6Das sagte er aber, um ihn zu prüfen; denn er wusste wohl, was er tun wollte.
7Philippus antwortete ihm: Für zweihundert Silbergroschen Brot ist nicht genug für sie, dass jeder ein wenig bekomme.
8Spricht zu ihm einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus:
9Es ist ein Kind hier, das hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische; aber was ist das für so viele?
10Jesus aber sprach: Lasst die Leute sich lagern. Es war aber viel Gras an dem Ort. Da lagerten sich etwa fünftausend Männer.
11Jesus aber nahm die Brote, dankte und gab sie denen, die sich gelagert hatten; desgleichen auch von den Fischen, soviel sie wollten.
12Als sie aber satt waren, sprach er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrigen Brocken, damit nichts umkommt.
13Da sammelten sie und füllten von den fünf Gerstenbroten zwölf Körbe mit Brocken, die denen übrig blieben, die gespeist worden waren.
14Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus tat, sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll.
15Als Jesus nun merkte, dass sie kommen würden und ihn ergreifen, um ihn zum König zu machen, entwich er wieder auf den Berg, er selbst allein. Joh 6,1-15
***

Das Brot wird gebrochen. In viele Stücke.
Bruchstücke von Brot machen satt.
Ich nehme diese Geschichte und ihre Botschaft so wie das Brot
in die Hand, breche sie und reiche euch die Bruchstücke.
Gebe Gott, dass sie satt machen, wie das gebrochene Brot im Evangellium.

Das erste Stück

Bevor man etwas anfängt, ist es ist gut, die Kosten zu überschlagen.
Der Apostel Philippus kann rechnen und hat es durchkalkuliert:

Geschätzte 200 Silbergroschen, also 200 Tageslöhne, wären nötig,
um diesen vielen ein Abendessen zu geben.

Man kann das auch anders ausrechnen:
200 Menschen von diesen geschätzten 5000 Anwesenden müssten jeweils
einen Tageslohn zur Verfügung stellen.
Oder
400 Menschen von diesen geschätzten 5000 müssten jeweils
einen halben Tageslohn zur verfügung stellen.
Oder
800 Menschen von diesen geschätzten 5000 müssten jeweils
einen viertel Tageslohn zur Verfügung stellen.
Oder
1600 Menschen einen achtel Tageslohn.
Oder
3200 Menschen einen sechzehntel Tageslohn.

Aber niemand von denen, die anwesend sind,
haben irgend etwas, so scheint es, in ihren Taschen.
Weder einen ganzen Tageslohn noch einen sechzehntel Tageslohn.
Der Kollektenteller bleibt leer.

Das zweite Bruchstück

Da ist ein Kind.
Das Kind hat keinen Tageslohn, es ist wohl noch nicht im arbeitsfähigen Alter.
Aber es hat 5 Brote und 2 Fische.

Wieso hat das Kind etwas in seiner Tasche und alle die anderen,
die vielen Erwachsenen, haben nichts?
Wer ist dieses Kind, das im Vergleich zu allen anderen so unsäglich reich ist?

Als ich ein Kind war, haben wir uns unterhalten über unser Taschengeld.
Wie viel bekommst du?
Wie viel kriegst du?
Wir haben verglichen und geschaut, gestaunt über viel und wenig.
Wir waren auch ein bisschen neidig,
wenn jemand doppelt oder dreimal so viel bekommen hat.
Was musst du dafür kaufen? Ach so, da sind die Schulsachen dabei.
Da muss man natürlich anders rechnen,
als wenn das Taschengeld nur für Vergnügungen auszugeben ist.

Als ich ein Kind war, wusste ich nicht, wieviel mein Vater verdient.
Meine Mutter wusste es auch nicht.
Das bestgehütete Geheimnis meiner Großmütter, die im gleichen Haushalt lebten,
war die Höhe ihrer kleinen Witwenrente.
Nie und nimmer hätten sie jemandem verraten,
welchen Betrag der Geldbriefträger ihnen am Monatsersten ins Haus bringt.

Wer etwas hat, sei es Geld oder Besitz, spricht nicht darüber.
Die anderen könnten ihn oder sie sonst für reich halten.
Niemand will reich sein in diesem Land.
Reich sein macht Angst.
Die anderen könnten neidig werden.
Sie könnten versuchen, mir das Meine wegzunehmen.

Kinder freuen sich über das, was sie haben:
Schau, ich habe eine neue Uhr.
Die hat mir die Oma zum Geburtstag geschenkt.
Ich habe ein neues Handy für mein Zeugnis bekommen.
Die Freude an dem, was ein Kind hat, steigt, wenn andere es zu sehen bekommen.
Wenn eines meiner Enkelkinder, sagen wir, eine Tafel Schokolade bekommt,
kommt automatisch die Frage: Kriegen die anderen auch eine,
oder muss diese hier für uns drei reichen?
Je nachdem, wie die Antwort ausfällt, geht es mit der Schokolade weiter.

„Wer hat etwas mit, das wir zusammenlegen können?“
So stelle ich mir vor, haben die Jünger in die Menge hinein gefragt.
Und das Schweigen, das auf diese Frage antwortete, stell ich mir auch vor.
Verlegen schauen die Leute zu Boden.
Manche zucken leicht mit den Schultern.
Manche tun so, als hätten sie nicht verstanden.
Sie stehen ja ganz  hinten, da muss man nicht jedes Wort verstehen.
Der Wind verweht ja das eine und das andere Wort.
Da wird wohl mancher reflexartig die Hände in den Hosensack gesteckt haben,
und sein Kleingeld oder auch das große fest umklammert haben.

Und dann eine kleine helle Stimme:
Ich hab was. Fünf Brote und zwei Fische.
Das vorlaute Kind. Naseweis ist es. Es muss noch viel lernen.
Es muss lernen so zu tun, als würde es nicht merken,
was jetzt nötig ist.
Es muss noch lernen, zu denken und zu sagen:
Wieso gerade ich?
Wieso soll gerade ich in diese Situation etwas einbringen?
Da sind doch so viele andere.
Die sollen erst einmal was tun. Vielleicht mache ich dann mit.
 
Ich breche das 3. Stück ab

Es geht sich nicht aus.
Es kann sich nicht ausgehen.
Die Vernunft sagt es uns. Die Erfahrung lehrt es uns.
Wer es nicht glaubt, kann ja nachrechnen:

Fünf Brote. Zwei Fische. Geteilt durch ganz viele.
Durch fünftausen oder fünfhundert.
Das geht einfach nicht. Da hat dann keiner mehr was davon.
Oder meinetwegen nur durch fünfzig geteilt.
Das geht sich auch nicht aus.
Bei fünf kann man darüber reden:

Fünf Brote, zwei Fische. Da werden fünf schon satt.
Festmahl ist es dann aber immer noch nicht.
Denn wir fünf essen dann mehr trockenes Brot als saftigen Fisch.
Weil das Saftige, das Gschmackige das ist ja nur bescheiden vorhanden.
Zwei Fische für fünf Leute. Spärlich, spärlich ist das.
Eigentlich gehört zu einer anständigen Mahlzeit pro Person ein Brot und ein Fisch.

Also: Wir haben selber nicht genug, wir fünf, wenn man das genau betrachtet.
Darum nehmen wir jetzt die fünf Brote und die zwei Fische und schauen,
dass wir weiter kommen.
Wir ziehen uns irgendwohin zurück, wo die anderen nicht so schnell nachkommen.
Dort werden wir dann unser kärgliches Mahl einnehmen.
Niemand hat etwas davon, wenn auch wir hungrig bleiben.

Viertes und letztesBruchstück

Am Ende des Gottesdienstes werden wir gebeten,
etwas in die Kollekte zu geben.
Für das eine oder das andere Projekt österreichweit.
Das ist die sogenannte Pflichtkollekte.
Für die Arbeit der eigenen Gemeinde, das ist die freie Kollekte.

Beim Schlusslied oder beim Orgelnachspiel kramen wir in unseren Taschen.
Wieviel gebe ich in die Kollekte?
Bei mir hängt es schon davon ab, was damit geschehen wird.
Für manches mag ich mehr geben.
Für manches gebe ich weniger.

Schaut einmal euch selber und anderen zu, wie wir das machen,
Geld in die Kollekte werfen.
Wir halten den Schein oder die Münzen verborgen in der Hand.
Möglichst unauffällig legen wir sie ins Körbchen ein.
Niemand soll sehen, wie viel oder wie wenig ich diesmal gebe.

Vor kurzem habe ich einen Gottesdienst gemeinsam mit der Ghanaischen Gemeinde mitgefeiert.
Dort in Afrika wird Kollekte ganz anders gegeben.
Mitten im Gottesdienst wurde ein Tischchen mit eine Korb vor den Altar gestellt.
Die Leute, wir alle, haben uns in einer langen Reihe aufgestellt.
Unter Musik – der Chor hat gesungen - sind wir durch die Kirche getanzt.
Vorbei an dem Tischchen mit dem Korb.
Ganz offen und vor aller Augen haben wir unsere Gabe in den Korb gelegt.
Dann sind wir zurück auf unsere Plätze – natürlich im Tanzschritt.

Das ganze hat bei der vollen Kirche eine gute viertel Stunde gedauert.
Danach war die Atmosphäre energiegeladen, fröhlich, voller Kraft.
Alles wäre möglich gewesen nach diesem Gottesdienst.
Jeder Hilfsbedürftige hätte bekommen, was er braucht.
Wir haben uns reich gefühlt.
Gemeinsam sind wir reich.

So stelle ich mir vor, ist es damals dort am Ufer des Sees auch gewesen.
Irgend wer hat das Eis gebrochen.
Da lag ein großes Tuch am Boden,
die Leute sind vorbeigegangen, vielleicht haben sie ja auch getanzt,
und haben ihren Beitrag auf das Tuch gelegt.

Am Ende war da genug für alle.
Und wenn ihr mich fragt, wäre dieses Ende der Geschichte,
das nachhaltigere Wunder.
Denn kein Hungriger wird heute davon satt,
dass Jesus damals einen Brotzauber gemacht hat.
Wenn er aber einen Herzenszauber, ein Herzenswunder gemacht hat,
dann kann er das unter uns täglich wieder machen.

Und dafür sei Gott Lob und Preis in Ewigkeit.

 

Perikope
19.07.2015
6,1-15

Predigt zu Johannes 6,1-15 von Andreas Pawlas

Predigt zu Johannes 6,1-15 von Andreas Pawlas
6,1-15

Jesus fuhr weg über das Galiläische Meer, das auch See von Tiberias heißt. Und es zog ihm viel Volk nach, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat. Jesus aber ging auf einen Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern. Es war aber kurz vor dem Passa, dem Fest der Juden. Da hob Jesus seine Augen auf und sieht, dass viel Volk zu ihm kommt, und spricht zu Philippus: Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben? Das sagte er aber, um ihn zu prüfen; denn er wusste wohl, was er tun wollte. Philippus antwortete ihm: Für zweihundert Silbergroschen Brot ist nicht genug für sie, dass jeder ein wenig bekomme. Spricht zu ihm einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus: Es ist ein Kind hier, das hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische; aber was ist das für so viele? Jesus aber sprach: Lasst die Leute sich lagern. Es war aber viel Gras an dem Ort. Da lagerten sich etwa fünftausend Männer.
Jesus aber nahm die Brote, dankte und gab sie denen, die sich gelagert hatten; desgleichen auch von den Fischen, soviel sie wollten. Als sie aber satt waren, sprach er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrigen Brocken, damit nichts umkommt. Da sammelten sie und füllten von den fünf Gerstenbroten zwölf Körbe mit Brocken, die denen übrig blieben, die gespeist worden waren.
Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus tat, sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll. Als Jesus nun merkte, dass sie kommen würden und ihn ergreifen, um ihn zum König zu machen, entwich er wieder auf den Berg, er selbst allein.

Liebe Gemeinde!

Wenn heutzutage Menschen diesen Bericht von Jesus hören, dann bleiben deren Gedanken vielfach an der rein technischen Frage hängen, wie das wohl funktionieren kann, dass Jesus eine solche große Volksmenge mit fünf Broten und zwei Fischen speisen konnte - immerhin 5000 Mann, Frauen und Kinder nicht dazugerechnet. Und am Schluss konnte davon dann ja sogar noch soviel übrig bleiben! Unglaublich! Ja, im wahrsten Sinne des Wortes unglaublich finden viele dieses Ereignis heute. Allerdings muss das nicht an diesem Ereignis selbst liegen, sondern eher daran, dass es gerade gegenwärtig - im Gegensatz zu anderen Zeiten unserer Weltgeschichte - nicht populär ist, an Wunder zu glauben. Und darum verwendet man viel Ideen darauf, diese Geschichte vernünftig zu erklären. Das soll nicht gehen? Aber bitte schauen wir doch einmal auf einen solchen Versuch: So könnte man ja z.B. sagen, dass die Leute damals, als sie sahen, dass der kleine Junge wirklich begann, alles auszuteilen, was er mit hatte, ihre Vorräte, die sie selbstverständlich mitgebracht hatten, genauso auszupacken und genauso miteinander zu teilen. Und nach solcher rein vernünftigen Erklärung wäre dann an dem Speisungs-Bericht überhaupt nichts physikalisch Unerklärliches und Wunderbares – oder in gewisser Hinsicht etwa doch? Denn könnte man das nicht vielleicht doch als ein Wunder ansehen, wenn man in einer so großen Volksmenge das Essen tatsächlich miteinander teilte? Heute wäre so etwas auf jeden Fall ein Wunder, wenn endlich alle auf der Welt miteinander teilen würden, die Satten und die Hungrigen. Denn oft kann man lesen, dass es offenbar Nahrungsmittel genug gibt auf dieser Welt. Ja, bei uns manchmal sogar so viel, dass jährlich Tonnen über Tonnen weggetan werden. Wenn darum alle das Mitgebrachte teilten, dann könnte das einerseits ganz vernünftig klingen, aber andererseits könnte dabei doch etwas Wunderbares hindurchschimmern zur Sättigung der Hungrigen.

Aber merkwürdigerweise ist nun bei Johannes gar nicht die Rede von Hungersnot oder Armut und schon gar nicht davon, dass ich etwa nur ein rechter Christ sein kann, wenn ich die Weltnahrungsmittelversorgung durch allgemein verordnetes Teilen oder auf andere Weise organisiere.

Aber wie könnte das auch nur etwas daran ändern, dass das eine so wichtige Aufgabe ist, die Welt mit Brot zu versehen, die Leute ausreichend mit Nahrung zu versorgen, in unserer Zeit, wo ein Drittel der Menschheit hungert! Und uns kommt dabei natürlich sofort die segensreiche Arbeit von „Brot für die Welt“ vor Augen!

Aber es geht ja nicht nur um solche weltweite Perspektive. Denn widmen wir nicht wirklich zu Recht viel Zeit unseres Lebens der Aufgabe, durch richtige Berufsausübung für uns und unsere Familie den Lebensunterhalt zu verdienen und dann vielleicht sogar noch anderen helfen und beistehen zu können? Also: was für ein wichtiges Thema ist das tägliche Brot für uns alle!

Und dennoch ist im Bericht des Evangelisten weder von diesem Mühen um das tägliche Brot die Rede und schon gar nicht von Hungersnot oder Armut. Denn die Menge, die mit Jesus gezogen ist, hätte ja in die Dörfer und Gehöfte gehen können, um sich Unterkunft und Verpflegung zu beschaffen. Oder vielleicht hätte man ja auch einfach einmal das Abendbrot ausfallen lassen können. Manchmal wird das sogar ärztlich empfohlen und schadet überhaupt nichts. Und wegen eines ausgefallenen Abendbrotes nun ein so gewaltiges Wunder? Wäre das nicht ein Bisschen überzogen? Und hätte nicht sogar mancher auch denken können: „Will ich mir etwa diese heilige Stunde mit unserem Herrn und Heiland Jesus Christus mit Gedanken an das Essen entweihen?“ oder „Wie kann ich jetzt an Essen denken, wo jetzt in dieser wunderbaren Stunde alles, was mich krank macht, bedrückt oder quält, durch Gottes heilsame Nähe gut wird? oder „Wie kann ich an Essen denken, wenn ich jetzt ganz nahe bei Jesus Christus erfahre, wie alle Tränen abgewischt werden, wie Trauer und Todesfurcht ein Ende haben und alle Sehnsucht erfüllt wird?“ –

Und ich finde das keine abwegigen Gedanken. Aber warum hat Jesus Christus ihnen dennoch Speise gereicht und sie gesättigt? Ob das damit zu tun hat, dass Jesus genau weiß, dass ich so manches Gute und Wichtige zwar gut hören und sehen kann, dass ich es aber erst so richtig begreife, wenn ich hautnahe Erfahrungen mit ihm gesammelt habe, wenn ich es also hautnah mit meinen Fingern begriffen und betastet mit Lippen und Zunge gefühlt und geschmeckt habe, wohl etwa so wie ein kleines Kind, das ja auch alles erst mit seinen Fingern und mit Lippen und Zunge begreifen und betasten muss, damit es richtig versteht?

Ja, ich denke, es kann wirklich helfen, allen Trost, alle Erlösung vom Leid von Jesus Christus zu erwarten, wenn ich tatsächlich auf der Zunge spüre und im Magen fühle, wie gut er es mit mir meint! Welche große Bedeutung hat es daher in der Christenheit, miteinander das Hl. Abendmahl zu feiern. Und bitte jetzt nicht vergessen, dass dieser Bericht von der Speisung der 5000 kurz vor dem Passafest handelt, also dem Urbild der Abendmahlsfeier.

Ja, es hilft uns wirklich in unserem Glauben, wenn wir erfahren dürfen, wie wir von Christus nicht nur seelisch erbaut und aufgerichtet, sondern auch körperlich gestärkt werden. Und das alles nicht sparsam, sondern in Überfülle geschenkt, ohne dass es verdient worden oder notwendig wäre, ohne irgendein Anspruch darauf - eben genauso wie bei der Speisung der 5000. Und außerdem hätte es doch sein können, dass bei der Fülle der Menschen, die sich um Jesus herumdrängten, viele ihn selbst gar nicht sehen oder hören konnten. Jedoch dieses kleine Zeichen des liebevoll weitergereichten Brotes das dürfte sicherlich jeder als Zeichen der Verkündigung Jesu von der überwältigenden Macht der Liebe Gottes verstehen.

Es kann natürlich sein, dass uns manches einfach zu klein oder zu banal ist, um dort Gottes Wirken entdecken zu wollen oder um dort Christus um Hilfe zu bitten. Jedoch, wenn ich es noch nicht einmal in kleinen Dingen übe, mich auf Christus zu verlassen, und dass mir in ihm Gottes Güte wirklich nahe ist, wie will ich das dann in großen Dingen tun, wenn es tatsächlich um Leben oder Tod geht? Nein, Glauben lebt nicht nur von der Gewissheit, am Ende aller Zeiten von Christus empfangen und getröstet, gehalten und vollendet zu werden, sondern wir sollen und dürfen doch bereits jetzt mit Leib und Seele zu Christus zu gehören und bereits jetzt alle Bereiche unseres Lebens durch ihn erfüllen und wachsen lassen. Und wir dürfen uns fest darauf verlassen, dass das auch wirklich geschieht. Vielleicht nicht immer so, wie wir uns das erhoffen oder ausrechnen, aber in Gottes Namen geschieht es.

Muss es darum verwundern, dass die Leute damals von Jesus ganz fasziniert waren? Muss es darum verwundern, dass sich die Leute damals wohl sagten: Wenn wir diesen Jesus immer bei uns hätten, wenn wir diesen Jesus zu unserem König machen würden, zum Präsidenten oder Kanzler, dann würde es uns gut gehen! Dann hätten wir ausgesorgt! Und wirklich, was sollte daran wohl verkehrt sein? Und dennoch geht alles ganz anders aus als erwartet.

Denn was man hätte erwarten können, nicht nur von jedem Volkstribun, sondern von jedem verantwortlichen Politiker, wenn ihn da mit einem Male eine breite Strömung des Volkes für sich haben wollte, wenn man ihn da an die Spitze setzen, ihn eben zum König machen wollte? Man hätte doch erwarten können, dass Jesus sich da wie ein normaler Politiker freuen würde und sagen: Das ist meine Chance! Jetzt habe ich es geschafft!

Aber was tut da Jesus Merkwürdiges? Wir lesen bei Johannes: Als Jesus nun merkte, dass sie kommen würden und ihn ergreifen, um ihn zum König zu machen, entwich er wieder auf den Berg, er selbst allein.

Aber warum tut er das denn? Denn wenn man ihn zum König machen wollte und nicht irgendeinen üblen Scharlatan, so wäre das doch eine Riesen-Chance! Was könnte er da nicht alles erreichen - zum Wohl der Menschen genauso wie auch zur Ehre Gottes! Aber warum zieht er sich trotzdem zurück? Etwa aus tugendhafter Bescheidenheit? Wie rein menschlich klingt das! Oder will er damit ausdrücken, dass Brot, Macht und Ansehen grundsätzlich nicht alles auf dieser Welt sind? Das kann ich mir nicht vorstellen, denn natürlich bleiben wir als Menschen auf dieser Welt auf Brot, Macht und Ansehen angewiesen. Und unsere christliche Aufgabe bleibt es allemal, hungernden Menschen Brot zu geben.

Aber offenbar ist der, der von Gott her kommt, und offenbar ist das Heilige, das von Gott her kommt, mehr und ganz anderes als Brot, Macht und Ansehen.

Vielfach dürfen wir davon etwas ahnen, wenn wir uns genauso wie Jesus im ganz persönlichen Zwiegespräch mit unserem Gott zurückziehen. Vielfach dürfen wir davon etwas ahnen, wenn wir genauso wie Jesus alle Dinge dieser Welt, die uns bewegen und fesseln wollen, hinter uns lassen und allein auf Gott schauen – um dann zu erfahren, wie uns Gottes Güte ganz nah kommt und unsere Seele satt wird, und das nicht knapp und kärglich, sondern üppig und übermäßig, genauso wie bei der Speisung der 5000. Darum könnte doch diese überreiche Speisung durchaus verstanden werden als kleines, begrenztes Zeichen für Gottes weitaus reichere, überwältigende ewige Güte. Und von genau der hat Jesus gepredigt und genau die will uns einschließen, umhüllen und durchdringen jetzt und ewig. Gott sei Dank! Amen.
 

Perikope
19.07.2015
6,1-15

Predigt zu Johannes 3, 1-8+16 von Helmut Dopffel

Predigt zu Johannes 3, 1-8+16 von Helmut Dopffel
3,1-8+16

Liebe Gemeinde,

es ist eine der Nächte, die man nicht vergisst. Und manchmal habe ich das Gefühl, ich sei dabei gewesen und könne mich erinnern an die beiden Männer, die da nachts zusammensitzen, auf der Terrasse hinter dem Haus vielleicht oder auf dem Dach oder auf einer Bank im Garten, mit einem Glas Rotwein vor sich auf dem Tisch. Es ist lau, wie in einer Sommernacht in Italien, der Wind weht sanft und lässt ab und an ein paar Zweige rascheln, oder sind es die kleinen Tiere der Nacht? Der Mond wirft silbernes Licht, am Himmel glänzen die Sterne. Die beiden Männer reden. Nicht über das, worüber Männer üblicherweise reden, Alltag, Politik, Sport, Frauen, Geld, sie lästern nicht und spielen keine Machtspielchen. Es sind die großen Dinge, die Dinge hinter den Dingen, über die sie reden, sie wollen den Dingen auf den Grund gehen, woher komme ich und wohin gehe ich, wie gelingt mein Leben, wo ist die Liebe, wie kann ich mein Leben ändern, wie kommt der Mensch zum Leben, und vielleicht geht es da im Kern immer um dasselbe, um die eine große Frage des Lebens. Wo gibt es das, für uns, für uns Männer vor allem, wo haben die großen Dinge, die großen Themen, die großen Fragen, die großen Erfahrungen ihren Platz und ihren Ort in unserem Leben?

Es ist eine Nacht, die man nicht vergisst. Und wenn man viele Jahre später an diese Nacht zurückdenkt und sich erinnert, dann weiß man nicht mehr genau, was eigentlich geredet wurde. Aber dass es wichtig war, ungeheuer wichtig, das weiß man noch, als sei es gestern gewesen. Man erinnert sich an einzelne Worte und Bilder, die schwebend durchs ganze Leben mit einem gehen, wie der Wind. Und man erinnert sich an das Gefühl, das da war, wie ich mich gefühlt habe in jener Nacht, und dass das bis heute mich begleitet, eine Ahnung vom Leben hinter dem Leben, und dass damit etwas Neues begann.

Nikodemus ist nicht irgendwer. Er ist eine Führungspersönlichkeit, ein Gelehrter vielleicht, Mitglied des Obersten Gerichts, sicher sehr reich und angesehen, ein Promi. Er kommt zu Jesus in der Nacht. Will er nicht gesehen werden? Weiß er um die besondere Qualität der Nachtgespräche? Will er mit Jesus allein sein, ungestört und ohne Ablenkung reden können? Alles ist möglich. Er kommt zu Jesus in der Nacht, und er ist sympathisch offen und ehrlich und legt die Karten sofort auf den Tisch: Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen, denn sonst könntest du nicht die Zeichen tun, die du tust. Welche Zeichen? Heilungen, Wunder, Worte, Wirkungen? Das bleibt offen, wie so vieles in dieser Geschichte. Aber klar ist: Nikodemus legt die Karten auf den Tisch, er blufft nicht, er gibt Jesus die Ehre und Würde, die ihm zustehen, er anerkennt, dass Jesus etwas Besonderes ist und bringt, das er selbst nicht hat und ist. Von Gott. Diese Offenheit und Wertschätzung eröffnet das Gespräch, und das ist nicht nur klug, sondern führt direkt zum Kern der Sache.

Und nun reden sie, die beiden Männer in der Nacht über die großen Fragen. Diese Fragen haben es an sich, dass sie sich nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten lassen, mit So oder anders, plus oder minus. Sie sind sehr einfach, diese Fragen, und auch die Antworten sind am Ende sehr einfach, aber da liegt etwas dazwischen, und sind es überhaupt Antworten? Jemand sagt etwas Kluges, und wir denken: Ist alles richtig und nachvollziehbar, aber trifft es irgendwie nicht, liegt irgendwie daneben. Und eine andere Antwort lässt vieles offen, und doch spüren wir, wissen wir: Ja, darin liegt etwas, darin liegt Wahrheit, auch wenn ich sie nicht ganz verstehen. Das setzt mich auf eine Spur, das hilft mir weiter. Und dann, vielleicht erst später, sehe ich, verstehe ich, werden mir die Augen geöffnet.

An solchen Erfahrungen merken wir: es gibt verschiedene Arten der Wahrheit. Es gibt die Wahrheit des Faktischen, der Tatsachen, klar zu sagen, zu beweisen, zu zählen vielleicht, zu überprüfen. Und es gibt die Wahrheit des Lebens, die Wahrheit hinter den Fakten und Tatsachen und Dingen. Diese Wahrheit liegt im Verborgenen und muss ans Licht kommen, heraustreten, so dass wir plötzlich sehen, was wir bisher nicht gesehen haben, eine Erkenntnis, eine Einsicht, die plötzlich da ist, und wir wissen nicht so recht woher sie kommt und wohin sie führt. Aber ich sehe einen Menschen anders als vorher. Ich sehe mich selbst anders. Ich sehe einen Faden in meinem Leben, den ich bisher nicht sehen konnte. Ich sehe einen Weg vor mir. Ich spüre eine Liebe, für die ich bisher taub war. Es ist, als könnten wir den Wind plötzlich spüren. Und ich weiß, wenigstens in diesem Augenblick: Das ist die Wahrheit. Das ist das Leben.

Jesus antwortet dem Nikodemus:

„Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.“

Ist das eine Antwort auf diese würdigende Gesprächseröffnung? Oder reden die beiden aneinander vorbei? Diesen Eindruck kann man ja schon haben, dass die beiden aneinander vorbeireden, dass sie verschiedene Sprachen sprechen, und mir geht es jedenfalls so, dass ich das beinahe quälend finde, wie schwer die beiden sich miteinander tun, oder besser: Wie schwer sich Nikodemus mit Jesus tut. Oder antwortet Jesus doch, zwar nicht direkt, aber dafür auf die heimliche, leise Frage, die in der Aussage des Nikodemus steckt, sozusagen die Frage in der Frage, und Jesus hört sie? Die Frage: Wenn du von Gott kommst und göttliche Zeichen in diese Welt setzt, wenn du ein Lehrer von oben bist – was wird denn nun anders? Wie veränderst du die Welt? Wie veränderst du mich? Wie und was lehrst du denn?

Denn: Wenn einer von Gott kommt, sozusagen Gott in diese Welt hineinträgt, dann muss die Welt doch anders werden! Dann muss diese dunkle, unverständliche, elende Welt doch hell, klar und glückselig werden? Dann muss ich zweifelhafte, abgründige, mir selbst oft unverständliche Gestalt doch hell, klar, liebevoll und glückselig werden!

Und da sind Nikodemus und Jesus nun ganz beieinander. Und ich glaube, wir sind da auch ganz nah dabei.

Jesus antwortet sehr wohl auf diese Frage in der Frage. Aber was für eine Antwort! Nur wer von neuem und von oben geboren wird kann das Reich Gottes sehen, kann also sehen und spüren und erfahren, wie Gott wirkt in dieser Welt, und was Gott an mir und für mich und – vielleicht - auch durch mich tut.

Von neuem geboren werden: Sozusagen von der Rückseite her können wir das ganz gut verstehen: Wir sind alt geworden – wir selbst, aber vielleicht auch unsere Gesellschaft, vielleicht sogar diese Welt. Der Lack ist ab. Wir haben viele Entscheidungen getroffen, die manches möglich und vieles unmöglich gemacht haben und unseren Lebensweg festlegen. Die Dinge sind nun wie sie sind, das Leben ist nun wie es ist, das Alter schreitet fort, die Zeit ist nicht umkehrbar und verschlingt am Ende alles. Gerade deshalb schießt immer wieder die Sehnsucht hoch, nochmals zurückgehen zu können an diesen und jenen Punkt und die Dinge anders zu machen. Vielleicht sogar ganz zurückkehren zu können, zum allerersten Anfang, zu unserer Geburt, und noch einmal neu anfangen können und alles neu machen, ja selbst ganz neu werden. Nochmals neu zu werden – wie ein Kind. Meint Jesus das? Von neuem geboren zu werden, das Leben noch einmal geschenkt zu bekommen, und alle Möglichkeiten vor sich?

Das geht nicht, sagt Nikodemus trocken. Das kann keiner. Das kann nicht einmal Gott. Und wenn, dann wäre das neue Leben doch wie das alte, nur anders.

Und es ist einfach richtig, dass wir das nicht können, so wenig wie wir die Antworten auf die großen Fragen nicht selbst geben, ja nicht einmal finden können. Denn wir sind Fleisch. Die Antwort heißt deshalb auch nicht: Du musst dich ändern, du musst dein Leben ändern. Die Antwort, die Jesus gibt, lautet: Ein Wind muss kommen, Feuer, Geist, und dich umfassen, vielleicht sogar packen und hinreißen. Du kannst die Antwort nicht finden, du kannst sie dir schon gar nicht geben, die Antwort muss dich finden, sie muss zu dir kommen. Und sie kommt zu dir. Denn das ist schon die Antwort: gefunden sein, berührt sein, das Sausen hören. Der Wind, der Geist, das Feuer ist da.

Jesus wird als Lehre angefragt. Was lehrt er? Keine Fakten über die Welt. Auch nicht theologisches Wissen. Auch keine geistlichen Wege und Übungen. Lehren geht ja, im heutigen Verständnis, weit über Fakten und Wissen und Üben hinaus. Die Leiterin einer Kindertagesstätte erklärte mir vor wenigen Tagen: Wenn die Kinder in die Schule kommen müssen sie nicht lesen können, nicht einmal Buchstaben. Aber sie müssen in der Lage sein, einen Vorgang selbst für sich zu organisieren. Selbstständigkeit, gar Selbstmächtigkeit sind die Schlüsselworte heute – und nicht erst heute, wenn wir die großen pädagogischen Texte der Vergangenheit lesen.

Jesus lehrt etwas anderes, und deshalb lehrt er anders: neu geboren werden, den Wind spüren, sein Sausen hören. Da geschieht etwas an mir, da widerfährt mir etwas. Man könnte beinahe von Passivität reden, wäre es nicht eine äußerst aktive Passivität. Es geschieht etwas, Menschen erfahren oder entdecken, dass ihr Leben ein Geschenk ist, dass sie es anderen verdanken; dass die Liebe, die uns trägt und aus der wir leben, ein Geschenk ist – und sogar die Liebe, die wir für andere haben. Dass all unsere Kraft und Energie und Dynamik, mit der wir das Leben gestalten, unser eigenes und das vieler anderer mitgestalten, dass das ein Geschenk ist. Fromm gesprochen: dass alles Güte und Gnade ist. Ich selbst bin ein Geschenk, von weit her. Die Menschen, die mich lieben, sind ein Geschenk. Und auch die Menschen, die mich herausfordern und mir widerstehen. Und aus diesem Stoff aus Güte und Gnade gestalten und verantworten wir das Leben und die Welt. Damit ist unserem Handeln bereits eine Richtung vorgegeben ist, und nur in dieser Richtung kann gedeihen, was wir tun.

Vielleicht ist das der größte Verlust unserer Kultur, dass wir die Widerfahrnisse nicht mehr schätzen, dass wir uns nichts mehr widerfahren und gefallen lassen, weil wir die Abhängigkeit fürchten, die damit verbunden ist, und dass wir auf andere und anderes angewiesen sind. Nur ändert das nichts an den Tatsachen. Aber wir verlieren den Schlüssel zu ihrer Bedeutung, zur Botschaft. Wer sich nichts gefallen lassen kann, kann weder Liebe noch Güte erfahren und schon gar nicht, wie wir Menschen durchs Leben getragen werden.

Das ist die Botschaft, die Jesus von Gott in diese Welt bringt; das ist die Botschaft, die Jesus selbst ist. Ein Blickwechsel, ein ganz neuer Blick auf mich und die Welt. Und in diesem Blick ändert sich die Welt. Wir kommen noch einmal und anders „zur Welt“, werden neu geboren, sozusagen mit dem Blick von oben. So kommt der Mensch zum Leben und zum Glauben. Das ist im Kern dasselbe. Und das ist die Botschaft, die wir in der Taufe vollziehen.

Jesus selbst ist ein solches Widerfahrnis. Es ist ein Wunder und unerklärlich, dass er da war, auf dieser Erde. Es ist ein Wunder und unerklärlich, dass er da ist, und bis heute uns berühren kann. Er ist selbst die Botschaft:

Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.

Nikodemus verschwindet aus dieser Geschichte, wie ein Mensch in der Nacht verschwindet. Später berichtet das Johannesevangelium, dass er sich immer wieder für Jesus eingesetzt hat. Und viel später erzählt die Legende, er habe sich von Petrus und Johannes taufen lassen. Wir wissen es nicht. Aber es würde passen zu dieser Geschichte von der Nacht, und der Gnade, und der Liebe.

Amen.

Perikope
31.05.2015
3,1-8+16