Vertrauensvorschuss – Predigt zu Johannes 4,46-54 von Frank-Nico Jaeger
Heute Abend kommt die Babysitterin. Wir waren schon solange nicht mehr zusammen im Kino. Es ist eben schwierig mit den Kindern, ohne Großeltern in der Nähe. Also kommt heute die Babysitterin.
Die junge Frau kennen wir aus dem Kindergarten. Sie war die Erzieherin unserer Jungs. Und - was viel wichtiger ist -: die beiden mögen sie. (Und hören auf sie.)
Ob wir die junge Frau kennen? Sagten wir doch, aus dem Kindergarten. Aus Gesprächen mit ihr.
Ob wir die junge Frau richtig kennen? Spielt das eine Rolle? Wir vertrauen ihr so sehr, dass wir ihr unsere Kinder anvertrauen.
Wir vertrauen der Babysitterin wie der Chef seinen Mitarbeitern vertraut. Oder wie Sie dem Piloten vertrauen, der Sie in den Urlaub fliegt. Und wie der Patient, der seiner Ärztin vertraut.
Vertrauen – das ist der Klebstoff, der unsere Welt zusammenhält.1 Ohne Vertrauen würde keine Welt funktionieren. Nicht die Geschäftswelt, nicht unsere kleine Familienwelt und erst recht nicht die Kirchenwelt. Ohne Vertrauen hätten wir längst den Glauben aufgegeben.
Vertrauen ist also überhaupt nicht unvernünftig. Vertrauen ist eine Voraussetzung für das Zusammenleben. Und wenn wir vertrauen, dann immer nur wenn es gute Gründe dafür gibt, dass unser Vertrauen nicht enttäuscht wird.
Der Evangelist Johannes hat so eine Vertrauensgeschichte aufgeschrieben: Es ist eine alte Geschichte, aber sie ist universal. Hier ein Vater. Dort ein Sohn. Der Sohn ist dem Tode geweiht. Der Vater außer sich vor Sorge. Der Vater ist ein königlicher Hofbeamte. Er könnte alles andere sein. Ein Angestellter in leitender Position, mittlere Beamtenlaufbahn. Ein Busfahrer, ein Bäcker, ein Zugführer, ein Lehrer, ein Pfleger. Auf jeden Fall jemand, der in geregelten Bahnen lebt, denkt und arbeitet.
So wie am Hofe des Königs. Auch dort geht es geordnet zu. Es gibt Strukturen, die das Leben am Hof regeln. Es gibt eine Ordnung. Es ist eine korrekte, geordnete Welt. Kurzum: Es geht modern zu am Hof des Königs. Aber wie so oft im Leben gibt es Grenzen: Austherapiert. Hoffnungslos. Todgeweiht.
Der Sohn des Beamten ist sterbenskrank. Das Leben bricht ein. Missachtet alle Strukturen und alle Macht. Durchbricht den vermeintlich sicheren geordneten Rahmen, schlägt zu und trifft. An der Krankheit des Sohnes ist die Macht des Beamten ohnmächtig. Also macht der Vater sich auf den Weg. Verlässt das Bett des todkranken Kindes. Sicherlich keine Mutter, kein Vater hier im Raum oder irgendwo auf der Welt, kein Elternteil, der nicht dasselbe tun würde. Oder doch?
Angesichts des Todes trotzdem gehen? Das Kind wird sterben. Also nicht doch lieber bleiben? Das Leben bricht ein und darum bricht der königliche Beamte auf. Verlässt das Krankenlager und geht hinauf nach Kana.
26 Kilometer sind es vom Sterbebett des Kindes bis zum letzten Ausweg. 26 Kilometer schaffen geübte Läufer in deutlich weniger als 90 Minuten. Aber die haben weniger Gepäck auf dem Rücken als der Vater.
Der Hofbeamte möchte zu Jesus. Ohne zu wissen, was der wirklich kann. Er weiß nur, dass dieser schon Wunder getan hat. Wasser zu Wein habe er gemacht. Sagen die Leute. Was bleibt ihm anderes übrig, als diesem Jesus zu vertrauen? Alles versuchen. Egal wie absurd es ist. Ihm das Kind anvertrauen.
Jesus jedenfalls ist oben. Er ist in Kana. Vielleicht scheint sogar die Sonne, als ein Mann von unten kommt, auf ihn zukommt. Schließlich vor ihm steht und ihn bittet mitzukommen. Von der Höhe ins Tal. Vom Weinwunder in die harte Realität. Vom Leben in den Tod.
Ich stelle mir vor, wie Jesus den Kopf zur Seite dreht, den verschwitzten Mann wahrnimmt. Sieht, wen er da vor sich hat, was ihn aber nicht weiter interessiert. Auch die Kinder von Mächtigen werden krank. So ist das.
Und Jesus ist vielleicht gerade im Gespräch, fühlt sich gestört, blickt zur Seite. Hört, wie der Hofbeamte seine Bitte formuliert und alles was er dem Mann sagt ist ein Satz, der ein Vorwurf ist. Jesus macht sich nicht die Mühe auf den Vater einzugehen. Ist nicht zugewandt. Ist seelsorgerlich nicht geschickt. Ist schroff und abweisend.
„Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht!“ (Joh 4,48)
Der Vater könnte jetzt gehen. Er könnte denken, was bildet sich dieser Typ eigentlich ein? Was denkt der eigentlich, wer er ist? Der ganze Weg, die ganze Angst und dann so eine Antwort?
Der Vater, voller Vertrauen in diesen Mann, ausgeliefert an dessen guten Willen, wiederholt seine Bitte.
„Herr, komm herab, ehe mein Kind stirbt!“ (Joh 4,49)
Und Jesus? Der braucht fünf Worte um das Wunder zu tun.
„Geh hin, dein Sohn lebt.“ (Joh 4,50)
Und er macht klar: Ich bin der Souverän hier. Ich gehe nicht mit. Ich gehe nicht mit dir in die Ebene, weil ich es nicht muss. Nicht, weil ich nicht will, sondern weil mein Wort ausreicht.
Aufgepasst! Das Wunder geschieht hier nicht um des Wunders willen.
Es geschieht, weil Jesus zeigt, was noch zu erwarten ist. Und es geschieht um zu zeigen, dass es in dieser Vertrauensgeschichte, die auch eine Glaubensgeschichte ist, nicht um den Glauben des Vaters geht. Es geht auch nicht um ein Mehr oder Weniger an Glauben.
Es geht um Vertrauen. Vertrauen in das Wort Gottes, das schon in der Welt ist. Und weiterhin gehört werden will.
Jesus erteilt dem Glauben an einen willkürlich eingreifenden Gott eine schroffe Absage. Diesen Gott, so sagt Jesus, diesen willkürlich eingreifenden Gott, den gibt es nicht.
Und schließlich: Es geht auch nicht darum, dass Gott hier eingreift und da nicht, denn die Geschichte will viel mehr: Sie erzählt davon, wie Jesus bei den Menschen, die er anspricht, Grundvertrauen weckt. Und die so angesprochenen Menschen Glauben ihm, weil sie seinem Wort vertrauen.
So wie der Vater. Als der Jesu Worte hört, dreht er um und geht zurück, voller Vertrauen, weil er dem Wort Jesu glaubt.
Es gibt ein Risiko des Vertrauens – aber das ist kein Makel, sondern der Beginn.
Amen.
1Vgl. L. Heidbrink, in: Die Zeit vom 9. Januar 2012, Nr.4/2012.
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Wo Gott antreffen? – Predigt zu Johannes 1,43-51 von Werner Grimm
Liebe Gemeinde,
sechs Gelehrte saßen im Halbrund und diskutierten zwei Stunden über das Problem der Denkmöglichkeit der Existenz Gottes. Sehr eifrig, sehr ernsthaft und doch nicht gerade ermutigend für den Fernseh- zuschauer. Meine Tochter, die damals ihren Verstand entdeckte, sagte danach: „Jetzt ist’s noch schwieriger, zu glauben.“
Gleich nach besagter Sendung erschien eine Karikatur auf dem Bildschirm: ein großer Tisch, sechs kleine Männlein um diesen Tisch sitzend, Schweißtropfen auf der Stirn – und das Ganze in einer riesigen Hand, die alles trug, und darüber so etwas wie ein freundliches Gesicht, das lächelnd auf alles blickte. Irgendein Mensch mit Humor im Studio hatte noch schnell seine Sicht der vorausgegangenen Diskussion mitgeteilt.
Diese Karikatur kommt mir in den Sinn, wenn ich von Nathanael lese - Nathanael, der mutmaßliche Schriftgelehrte - und wie er ein Jünger Jesu wurde: Ein Skeptiker, der in der Messias-Frage erst einmal klar sehen wollte und als er sich noch angestrengt und voller Zweifel eben darum bemühte, da war er doch schon seinerseits im liebenden Blick des Messias. Wir hören Johannes 1,43-51.(Verlesen des Predigttextes)
„Was kann aus Nazareth Gutes kommen?“ Eine rhetorische Frage, die die Antwort schon mitgibt, nämlich: Nichts! Eine Frage, mit der sich Nathanael dem Ansinnen des Philippus verschließt. Was kann denn aus dieser Ecke Gutes kommen - so oder so ähnlich fragen von Natur aus eher skeptische Leute. Leute, die das Leben misstrauisch gemacht hat. Leute, die aus negativen Erfahrungen gewisse Vorurteile gebildet haben. Leute, die dann vor lauter Bedenken auch schon einmal das Glück ihres Lebens verpasst haben. Zum Beispiel, wenn sie eine vielversprechende Beziehung nicht wagen, weil sie gleich wieder fürchten, nachher doch enttäuscht zu werden. Leute, die mit dem neuen Jahr kurz einmal vornehmen, auch ihr Leben zu erneuern und dann bleibt doch alles beim Alten.
Philippus, selbst begeistert von Jesus, stößt bei Nathanael zwar auf eine noch nicht gestorbene Sehnsucht nach heilerem Leben. Die teilt dieser mit vielen im geschundenen Land: Da gab es die Furcht vor der Willkür der römischen Besatzer, aber auch vor den Dolchen der israelitischen Freiheitskämpfer, die vor allem die eigenen Leute mit Terror bekriegten. Jene Landsleute nämlich, die mit der Weltpolizei Rom zusammenarbeiteten. Da gab es eine bedrückende Steuerlast und man begriff wohl, dass das abgezockte Geld nicht für das Soziale, sondern für allerhand riesige Prestigeobjekte des Herodes und der römischen Statthalter ausgegeben wurde. Auch damals gab es schon sinnlose Wolkenkratzer und schreiende Ungerechtigkeit. Und es gab eine allgegenwärtige Bedrohung durch Krankheiten, die Siechtum und soziale Isolation bedeuten würden. Es gab das Bangen um das tägliche Brot nach einer Missernte. O ja, Nathanael sehnt sich schon auch nach dem verheißenen König der Gerechtigkeit und starken Erlöser.
Aber, nun eben: „Kann denn aus Nazareth etwas Gutes kommen?“ Seine theologischen Lehrer befinden, dass der Messias aus Davids Stamm von der Hauptstadt Jerusalem aus tätig werden würde. Aber doch nicht vom Kuhnest Nazareth!
So ist Nathanael, wie wir sagen, ganz auf Abwehr eingestellt. Wirklich fremd ist uns sein Verhalten wohl kaum. Ist das „Herkommen“ eines Menschen - ob wir davon wissen oder ob wir es ihm einfach ansehen - ist es nicht oft schon ausreichend, um ihn abzulehnen, ohne uns auch nur ein paar Minuten auf ihn eingelassen zu haben? Wenn da ein Mensch mit einer Frage kommt, eine Bitte äußert, mit uns sprechen möchte, Kontakt sucht, oder es bietet uns jemand mit scheuer Geste Freundschaft an – wie reagieren wir? Im Unterbewusstsein sagt etwas in uns: Zu fremd, zu schmutzig, zu anstrengend.
„Was kann von da Gutes Kommen?“ – eine Frage, die blockiert. Nathanael gehört wohl zu den starren Menschen mit wenig Phantasie, zu den Unbeweglichen.
Aber da macht es nun Philippus, der schon Jesusjünger ist, recht geschickt. Er hat einen Vorschlag, der die zugeschlagene Tür wieder öffnet: „Komm und guck dir es doch einfach einmal unverbindlich an!“ Auf diesem Ohr hört Nathanael. Da wird nun sozusagen die Lichtseite seines zwanghaften Charakters angesprochen. Denn das ist jetzt seine Stärke: genau hinschauen, nüchtern objektiv und gründlich prüfen. Er ist ja keiner, der eine Katze im Sack kaufen würde.
Und tatsächlich: Jesus bestätigt ihm diese positive Seite seines Charakters sogleich und rückt sie ins Licht: „Siehe, ein rechter Israelit, ein Mensch, in dem kein Falsch ist. (Joh 1,47) Die Verlässlichkeit in Person.“
So also sieht ihn Jesus! Das ist Nathanael! Zu loben für seine Gewissenhaftigkeit in allen Dingen. Einer, der prüft, ehe er sich ewig bindet, abhold jeder blauäugigen Schwärmerei. Er ringt mit sich und Gott. Aber wenn Nathanael schließlich Ja gesagt hat, dann bleibt er auch dabei, dann wird er nicht enttäuschen, dann ist Verlass auf ihn.
Einer, der den Namen „Israel“ verdient – mehr noch als der Ahnvater Jakob. Der hatte damals in der denkwürdigen nächtlichen Stunde in der Jabbokfurt von Gott als Erster der Weltgeschichte den Ehrennamen „Israel“ erhalten. Der Name beinhaltet ein großes Lob. Er bedeutet ins Deutsche übersetzt ungefähr: „Der sich mit Gott heftig auseinandergesetzt hat“. So ein „Israelit“ ist also auch Nathanael. Einer, der den Ehrennamen „Israel“ sogar noch viel mehr, „in Wahrheit“, verdient, weil er, anders als Jakob, ohne List und Betrug sein Leben führte.
Aus Jesus spricht Menschenkenntnis: So findet man Zugang zum Herzen eines Menschen, so gewinnt man ihn: Indem man ihn wahrnimmt und zwar erst einmal in seiner Stärke. Nathanael fühlt sich endlich einmal erkannt, endlich einmal nicht verkannt. Sein Selbstwertgefühl wächst, weil da einer seine positiven Eigenschaften wertschätzt und an die erste Stelle setzt.
Wenn uns dies geschieht, dass jemand unseren guten Kern und unsere beste Absicht nicht nur sieht, sondern uns ermuntert, Gebrauch davon zu machen, dann ist das etwas Befreiendes, etwas, was unserem Tun Schwung verleiht. Und dann können wir auch seine Kritik im Einzelnen ganz gut vertragen. Dagegen werden Sie sich von einem Menschen, der gleich und nur das Schlechte an Ihnen feststellt, kaum etwas sagen lassen. Das war eines der großen Missverständnisse des Christentums: Man meinte, der Mensch werde in der Bibel erst einmal total schlecht gemacht, kein gutes Haar werde an ihm gelassen. Gerade so sei er bereit für das Evangelium und den Empfang der Vergebung seiner Sünden. Und danach erst sei er überhaupt zu Gutem fähig.
Nein, Jesus hat einen Menschen gelobt, wo er zu loben war, dafür haben wir Beispiele genug im Evangelium.
Und wenn Jesus hier bei Nathanael den guten Kern feststellt, dann hat das enorme Bedeutung für die Entwicklung seiner Persönlichkeit. Denn wenn ich um meinen Kern weiß, dann weiß ich um das, was in meinem Leben auch entfaltet werden will, was wachsen soll und wo ich schließlich Frucht bringen darf.
Also, Nathanael ist in diesem Moment schon richtig aufgebaut und dem Mann aus Nazareth schon einigermaßen gewogen. Aber er wäre doch nicht Nathanael, wenn er nicht nochmals mit leisem Zweifel zurückfragte: „Ja du, woher kennst du mich denn eigentlich?“
Jesu verblüffende Antwort: „Schon bevor dich Philippus rief, habe ich dich unter dem Feigenbaum sitzen sehen.“ (Eine Anmerkung: Unter dem Feigenbaum pflegten damals Tora-treue Israeliten zu sitzen, wenn sie dem Wort Gottes in der Schrift nachsannen.)Und offenbar, weil er tatsächlich unter dem Feigenbaum gesessen hat, ist der beweishungrige Nathanael nun doch ganz schnell überzeugt und fast schon begeistert: „Rabbi, du bist der Sohn Gottes, der König von Israel!“ (Joh 1,49)
Denn streng genommen hatte Nathanael, der Schriftgelehrte, jetzt zwei Beweise in der Hand (und nach der sogenannten Zeugenregel des alttestamentlichen Buches Deuteronomium wird die Wahrheit einer schwerwiegenden Sache erst durch zwei Gleiches besagende Zeugen festgestellt). Welches waren die beiden Beweise? Wiederum nach einem alttestamentlichen Text, nämlich nach der Messias-Verheißung von Jes 11, würde der Messias den Geist der Erkenntnis haben, das heißt: Intuition im Erkennen von Menschen. Jesus hatte sie bewiesen, als er Nathanaels Gewissenhaftigkeit und die Gründlichkeit seines Gottsuchens mit einem Blick erkannte. Ferner würde der Messias nach Jes 11 so etwas wie ein paranormaler Hellseher sein, und auch diese Fähigkeit hatte Jesus dem Nathanael vordemonstriert, als er ihn aus zig Kilometer Entfernung unter dem Feigenbaum sitzen sah.
Jesus, der Messias, verfügt also über übersinnliche Wahrnehmungsfähigkeiten. Und damit gibt er denen recht, die aus Erfahrung sagen: „Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als es sich unsere Schulweisheit träumen lässt.“ Mehr als das, was unsere fünf Sinne erfassen. Phänomene wie Hellsehen, Telepathie, Gedankenübertragung, Ahnungen, Traumbotschaften, Schutzengel sind also nicht von vornherein als Humbug abzutun. Dass zwischen manchen Menschen immer wieder Telepathie, Fernfühlung, wirksam werden kann, belegen etwa Mütter im Krieg, wenn der Sohn auf dem Schlachtfeld fiel und sie schreckten aus dem Schlaf hoch und wussten es. 1
Wenn telepathische Erfahrungen heute selten sind, so zeugt das möglicherweise davon, dass es nicht eben viele tiefe und innige Beziehungen in unserer Spaß- und Karrieregesellschaft gibt.
Aber das ist es nicht, worauf unsere Geschichte den Finger legt. Jesus relativiert ja gerade die Bedeutung des Paranormalen, als ob er sagen wollte: Solange wir auf Erden wohnen, sind übersinnliche Fähigkeiten nicht das, was in erster Linie zählt für die Menschwerdung des Menschen. Und so wendet er sich jetzt mit seinem gewichtigen Schlusswort an Nathanael: „Du glaubst, weil ich dir, der Tatsache entsprechend, gesagt habe, dass ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Schön und gut. Aber das eigentliche Wunder ist etwas Größeres und Bedeutsameres: Wahrlich, wahrlich, ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabsteigen auf den Menschensohn.“ (Joh 1,51b)
Jetzt ist es gesagt, jetzt ist es in ein kühnes Bild gefasst, was die Jünger und Jüngerinnen allezeit an Jesus, dem Messias, haben: Er, Jesus, ist der Punkt in der Welt, wo Himmel und Erde, wo Ewigkeit und Zeit, wo Jenseits und Diesseits miteinander kommunizieren. Jesus spielt noch einmal, auf ein Schlüsselerlebnis des Ahnvaters Jakob an, diesmal auf sein Traumerlebnis. Jakob träumte einst, als er angstgetrieben auf der Flucht vor Esaus Rache war, wie die Engel an seiner Übernachtungsstätte auf- und niederstiegen, und er nannte daraufhin den Ort seines Übernachtens Bethel, Haus Gottes. (Gen 28) Dort soll man auch fernerhin Gott in besonderer Weise „antreffen“ können.
Und dieser Ort, wo man auf Gott stößt, der soll nun also künftig ein Mensch sein, nämlich Jesus, der Messias aus Nazareth, so erfährt Nathanael. Nirgendwo sonst kann man Gott so hautnah begegnen wie im Schauen und Hören auf Jesus. Denn bei ihm findet die intensivste Kommunikation mit dem Ewigen statt, die es je auf der Erde gegeben hat. In der beständigen Zwiesprache zwischen dem Vater und dem Sohn glüht der heiße Draht zwischen der Zeit und der Ewigkeit. Mehr noch: Der Sohn zieht uns hinein in diese Kommunikation mit seinem Vater. Sein Vater ist unser Vater im Himmel, sein Abba ist Abinu, unser Ab, und Jesus zieht uns hinein in seine Ehrfurcht vor dem Schöpfer und Befreier: Jitqadesch schemächa! Geheiligt werde dein Name! Zieht uns hinein in seine Sehnsucht nach dem Heil für alle leidgeplagte Kreatur, Heil, wie es nur von einer Macht kommen kann: Tawo malchutächa! Es komme deine Königsherrschaft!
Zieht uns hinein in seinen Protest gegen die Menschheitsgeschichte, die so arg zum Selbstläufer geworden ist und in Blut und Tränen ihrer Opfer zu ertrinken droht: je`asäh chäftzächa ke wa schamajim ken ba arätz. Es geschehe doch dein Wille endlich auch auf Erden!
Und Jesus reicht uns einfache Worte, um täglich unsere Sorge, unsere Schuld und unsere Angst beim Vater im Himmel los zu werden oder doch ins Maß gesetzt zu bekommen: Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben denen, die an uns schuldig geworden sind. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. (Mt 6,11-13)
Mit diesen Worten, wenn wir sie bewusst aussprechen und mitdenken und im Herzen fühlen – so wachsen wir hinein in die Familie der Gotteskinder. Denn Jesus ist der Ort, an dem wir wie nirgends sonst auf der Welt mit Gott zusammengebracht werden:
Such, wer da will, ein ander Ziel..., sein Wort sind wahr, sein Werk sind klar,
sein heil‘ger Mund hat Kraft und Grund... (EG 346,1)
Amen.
1 Gerade las ich in den Lebenserinnerungen von Jörg Zink den Abschnitt, in dem er von einem Kriegserlebnis erzählt: „An jenem Morgen ging ich von meiner Stube in der Mannschaftsbaracke über den Flur in das Zimmer meines Freundes Gerd. Er war zwei Jahre älter als ich, Student des Maschinenbaus, ein ruhiger, nüchterner und sehr verlässlicher Pilot. Als ich eintrat, saß er auf der Bettkante, das Foto seiner Braut in der Hand. Er schaute kurz auf und sagte: ‚Heute bin ich dran.‘ ‚Aber heute haben wir doch frei!‘, antwortete ich, ‚heute ist doch gar kein Einsatz!‘. Er wiederholte nur: ‚Heute bin ich dran!‘ Um die Mittagszeit erfolgte unerwarteter Befehl. Zwei Stunden später stürzten wir in unserer brennenden Maschine ins Meer. Ich überlebte. Er nicht.“
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Gottes Gnadenstrom - Predigt zu Johannes 1,15-18 von Winfried Klotz
Johannes trat als Zeuge für ihn auf und rief: »Das ist der, von dem ich sagte: 'Nach mir kommt einer, der über mir steht; denn bevor ich geboren wurde, war er schon da.'« Aus seinem Reichtum hat er uns beschenkt, uns alle mit grenzenloser Güte überschüttet. Durch Mose gab Gott uns das Gesetz, in Jesus Christus aber ist uns seine Güte und Treue begegnet. Kein Mensch hat Gott jemals gesehen. Nur der Eine, der selbst Gott ist und mit dem Vater in engster Gemeinschaft steht, hat uns gesagt und gezeigt, wer Gott ist. (Johannes 1, 15-18, Gute Nachricht Bibel)
Liebe Gemeinde,
Epiphanias - Tag der Erscheinung des Herren, Weihnachten zum Zweiten, bei Evangelischen meist nicht weiter beachtet und auch nur in wenigen Bundesländern arbeitsfreier Feiertag. Ein Tag, an dem Bayern in Hessen einkaufen, weil ja bei ihnen Feiertag ist und in Hessen ein Arbeitstag.
Epiphanias - nichtjüdische Sterngucker machen ihren Besuch in Bethlehem beim König der Juden, verehren und beschenken das Kind. Ein ungewöhnlicher Stern hat sie aufgeschreckt, sodass sie sich auf den weiten Weg vom Zweistromland nach Judäa machten. Heutzutage ziehen die Sternsinger von Haus zu Haus - jedenfalls, wenn sie willkommen sind - singen und sammeln für Bedürftige. CMB hinterlassen sie an der Haustür, „Christus mansionem benedicat“, Christus segne das Haus.
Epiphanias - am Jordan steht ein asketischer Prediger, zeigt mit langem Finger auf einen Unbekannten und ruft ganz laut: Das ist der, von dem ich sagte: 'Nach mir kommt einer, der über mir steht; denn bevor ich geboren wurde, war er schon da.' (Joh 1,15) Der Evangelist baut dieses unüberhörbare Zeugnis in die Eröffnung seines Evangeliums ein und wir sehen uns unvermittelt angerufen und damit konfrontiert. Dabei ist bis jetzt im Evangelium noch nicht einmal der Name dessen genannt, über den Johannes Zeugnis ablegt. Erst im Fortgang unseres Abschnittes nennt der Evangelist den Namen: Jesus Christus.
Epiphanias - Tag der Erscheinung des Herrn. Johannes macht sich klein, damit ein anderer groß werde, gesehen werde, geglaubt werde. Johannes will keinesfalls das Licht verdecken, das vom Christus ausgeht, ER soll leuchten! Er sollte Zeuge sein für das Licht und alle darauf hinweisen, damit sie es erkennen und annehmen. Er selbst war nicht das Licht; er sollte nur auf das Licht hinweisen. (Joh 1,7f) Der Wegbereiter darf den Kommenden nicht in den Schatten stellen. Die von Gott ausgehende Bewegung zu uns Menschen darf nicht behindert werden. Jetzt zieht Gottes überfließende Fülle bei uns Menschen ein in dem, der einzig Gott entspricht, Jesus Christus.
Gottes Fülle, das ist nicht das Schlaraffenland, nicht die Wellness Oase, nicht ein Leben im irdischen Überfluss. Gottes Fülle, das ist seine grenzenlose Gnade! Ein heller Strom des Lebens für eine dunkle Welt. Ein Gnadenlicht, das dem Verirrten den Weg nach Hause zeigt. Ein Lichtschein, der auch die im dunklen Kerker Gefangenen erreichen und in die Freiheit führen kann. Ja, in Jesus Christus tritt Gott auf den Plan, entgöttlicht und doch Gott, der einzige, der Gott völlig entspricht. Arm, machtlos, niedrig. Kein Wunderdoktor und auch kein religiöses Genie, aber doch das Wort, durch das Gott neu macht, befreit, mit göttlichem Leben erfüllt alle, die ihn aufnehmen in ihr Leben. Die das erfahren haben, bekennen mit dem Evangelisten: Aus seinem Reichtum hat er uns beschenkt, uns alle mit grenzenloser Güte überschüttet. (Joh 1,16)
Dieses Bekenntnis sagt auch: Bisher lebten wir im irdischen Licht in einer von Gott losgelösten Welt. Im Gnadenlicht, das Jesus gebracht hat, werden wir verwandelt. Unser irdisches Licht erweist sich als Dunkelheit, unsere irdische Fülle als lebensbedrohlicher Mangel, unsere irdischen Freuden als Totentanz.
Epiphanias - Tag der Erscheinung des Herrn. Nicht, noch nicht erscheint er zum Gericht. Ein Lebensstrom geht von ihm aus. Weit mehr als eine Weisung zum Leben, die sagt: „Tue das, so wirst du leben!“ Gott hat durch Mose Weisung zum Leben gegeben. Er hat sich ein Volk ausgewählt: Israel, das schwächste und kleinste. Und er hat es wirklich liebgehabt. Durch sein Gesetz hat er es herausgehoben aus allen Völkern. Das gilt bis heute. Und doch ist ein Unterschied zwischen Mose und Jesus. Die Fülle der Gnade Gottes für alle Welt kommt durch Jesus. Durch den, der am Herzen des Vaters ruht, durch den, der einzig dem Vater entspricht, der Sohn, der Gott ist. Solche Gemeinschaft hat sonst niemand mit Gott, dem Vater, nur der Sohn. Er verkündigt den Vater. Das Trennende nimmt er weg. Gottes Gnade und Wahrheit legt er ins Herz. Wer an den Sohn glaubt, hört nicht nur mit den Ohren. Dann bist Du doch Kind, Tochter, Sohn Gottes!
Ist es so mit uns, liebe Gemeinde? Es kann, es soll so mit uns sein! Der Gnadenstrom fließt bis heute. Es soll nicht so sein, wie es Vers elf unseres Kapitels erzählt: Er kam in seine eigene Schöpfung, doch seine Geschöpfe, die Menschen, wiesen ihn ab. (Joh 1,11)
Vielmehr kann aus Gottes Gnade geschehen, was die Verse 12 und 13 sagen: Aber allen, die ihn aufnahmen und ihm Glauben schenkten, verlieh er das Recht, Kinder Gottes zu werden. – Das werden sie nicht durch natürliche Geburt oder menschliches Wollen und Machen, sondern weil Gott ihnen ein neues Leben gibt. Amen.
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Darf´s ein bisschen mehr sein... - Predigt zu Johannes 1,15-18 von Christina-Maria Bammel
Die ersten Kalendertage des Jahres. Gewissermaßen stehen wir erst im Prolog des Jahres. Es besteht erst einmal noch aus Vorankündigungen. Eines ist im Prolog des Johannes schon mal klar: Kein Stern, keine Magier, kein Betlehem, kein Gold, keine Geschenke. Diesen Klang hat Epiphanias mit Johannes nicht. Andererseits…
Ein internationaler Weihnachtsklassiker ist ja mittlerweile der Song „twelve days of christmas“. Ursprünglich ein Kinderverszählreim, bei dem immer noch eins dazu kommt; übrigens für viele Sänger und Chöre ein Muss. Unvergessen etwa die Fassung von Bing Crosby. Aus lauter Liebe wird zunächst an die liebste Person ein „Hühnchen im Birnbaum“ verschenkt. Jeden Tag kommt etwas dazu. ZwölfTage lang. Am Ende ist die Liste lang:
Am zwölften Weihnachtstag,
meine wahre Liebe schickt mir
12 trommelnde Trommler,
11 pfeifende Pfeifer,
10 hervorspringende Herren,
9 tanzende Mädchen,
8 melkende Mägde,
7 schwimmende Schwäne
6 eingelegte Gänse,
5 goldene Ringe,
4 rufende Vögel,
3 französische Hennen,
2 Turteltauben
Da ist noch nicht der 6. Januar erreicht, das ist klar. Aber es klingt zunächst einmal nach Konsumrausch pur. Nicht ganz, denn der traditionelle Zählreim setzt nicht auf materielle Überfülle. Er setzt mit einem Lächeln auf die Überfülle der Liebe. Wer so liebt, schenkt mit Leichtigkeit jeden Tag noch was dazu. Und kein Geschenk ist zu ungewöhnlich. Auch „pfeifende Pfeifer“ und „springende Herren“ können verschenkt werden. Geschenktes Übermaß in seiner besten Weise. Das Schenken ist der sich jeden Tag steigernde Reichtum. So buchstabiert sich Fülle.
Wenn man doch von dieser Liebe mindestens ebenso viel hätte. Wenn man doch nur selbst sagen könnte: Genauso bin auch ich getaucht und gebadet worden in der Liebe meiner Nächsten, die mich jeden Tag ein Stück mehr beschenkt haben. Und nach zwölf Tagen hört das noch nicht mal auf. Ach, es darf doch – bitte – immer noch ein bisschen mehr sein! Es könnte immer noch so viel mehr sein – von Freundlichkeit und Wärme untereinander, von Zuneigung und Offenheit, von Herzlichkeit und Empathie. Da ist noch Luft nach oben. Da wird noch so viel Mangel verwaltet und verschoben. Von wegen Fülle der Liebe; von wegen jeden Tag eines mehr.
Der Evangelist Johannes buchstabiert die Fülle noch einmal für uns am weihnachtlich-glänzenden Epiphaniastag durch. Johannes kennt die Sehnsucht seiner Zeit nach tiefer Erfülltheit, die sich niemand selbst verschaffen kann. Er kennt die Sehnsüchte – etwa nach Glanz und Licht, nach Vollkommenheit, nach dem Ort, von dem alles Gute ausströmt. Er kennt die Sehnsucht nach diesem Ort voller kraftdurchwirkter Lebendigkeit ganz im Gegensatz zu den bröckelnden Scheinwelten, die nicht verfallen und vergehen wie Butter in der Sonne.
Johannes weiß, wie diese Worte und Bilder an uns ziehen und sich in unsere Herzen bohren. Er sieht, wie Menschen nichts lieber als das möchten: sich dahin locken lassen, wo nichts mehr offen oder unerfüllt bleibt. Das ist die Grundmelodie der Weihnachtssehnsucht. Johannes kennt diese Sehnsucht, auch wenn er es nicht als „Weihnachtssehnsucht“ kennt. Aber er kannte sich aus mit den Verheißungen anderer mehr oder weniger starker religiöser Gruppen seiner Tage. Da sind die Stimmen derer, die Heil in der Erkenntnis Gottes finden wollen. An und für sich nachvollziehbar. Die Schattenseite dieser Lehre ist nur eine tiefe Abneigung gegen alles, was weltlich-geschaffen, geboren und vergänglich ist. Gut und schlecht ist relativ leicht eingeteilt und durchsortiert. Radikal bisweilen. Dieser Radikalität, diesem Entweder-Oder kann der Evangelist Johannes nicht folgen. Seine Radikalität ist von anderer Art. Klar ist die Welt ein alles andere als komfortabler Raum, würde Johannes in die Richtung der Radikalen sagen. Am wenigstens komfortabel für die, die anders sind.
Doch Finsternis ist einfach nicht nur finster, wo alle Katzen grau sind. Es gibt mehr zu sehen in und an dieser Welt. Aber das Licht will nicht ins Helle, sondern mitten hinein in die Finsternis, die finsteren Erwartungen, die finster-brutalen Fakten des Alltags, die üblen Verhängnisse. Dahin kommt das helle, fleischgewordene Wort, die Liebe in Person, und:
Johannes zeugt von ihm und ruft: Dieser war es, von dem ich gesagt habe: Nach mir wird kommen, der vor mir gewesen ist; denn er war eher als ich. Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden. Niemand hat Gott je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat es verkündigt. (Joh 1,15-18)
Nur ein einziges Mal diese „Fülle“, das Pleroma, im Johannesevangelium. Nur hier – gewissermaßen an Epiphanias – schwappt es für uns über, wo doch gerade alles weggeräumt und eingepackt wird, wo es bald wieder leer aussehen wird, wenn Baum und Krippe verschwunden sind. Denn: so mancher Weihnachtsfan fürchtet sich bekanntlich etwas vor dem Augenblick, wenn der Baum verschwindet. Dann ist da wieder ein leerer Platz, wo es so geleuchtet hat. Wir haben seinen Glanz gesehen. Wir strahlten mit den schönen Lichtern um die Wette. Zumindest aber leuchtete es ein klein bisschen in uns auf, als wir eine Ahnung davon erhielten, wie nah uns die Worte, die Beziehungen, die eine oder andere Briefzeile doch gehen können. Gerade dann, wenn alles im Nachtschwarz trauriger Gedanken versinkt. Wie viel ist unerfüllt geblieben in den Begegnungen, in den Stunden, die man vielleicht auch ungewollt allein geblieben war, oder im Hin- und Hergehetze, das eigentlich nur einen schalen Nachgeschmack hinterlässt.
Und von wegen Fülle der Möglichkeiten noch am Jahresanfang. Schnell nimmt das Jahr seinen gewohnten Faden wieder auf
Nur ein einziges Mal – Fülle! Worin Sie besteht? In einem einzigen Menschen, in seiner Kraft, Himmel und Erde zu verbinden, in seiner Kraft, neues Leben zu geben. Man nennt es auch Gnade.
Nur ein einziges Mal – Fülle? Sie verschwindet ja nicht einfach wieder, sondern verschwendet sich immer wieder neu, teilt sich aus, reicht sich weiter. Gnade um Gnade, eins ums andere. Das Gegenteil von leer geräumten Plätzen, von Leerstellen, von Mangel oder gar Geiz.
Nur ein einziges Mal – Fülle! Und keine Angst davor haben zu müssen, dass sie nicht reicht, dass man sie bloß nicht zu oft teilen sollte. Doch, diese Fülle legt es gerade darauf an, geteilt zu werden, wieder und wieder, eins ums andere Mal. Mehr als zwölf Tage. Zwölf Monate! Am besten zwölf mal zwölf Jahre und so weiter. Aber wie, bitteschön, eine Fülle teilen, die man nicht einfach so „hat“ wie einen rufenden Vogel, einen goldenen Ring oder eine Turteltaube?
Es liegt vieles daran, in welche Richtung wir schauen – auf die Leerstellen, auf die Ängste, die es auslöst. Dann entstehen Haltungen wie :„Man muss sehen, wo man bleibt.“ Solche Haltungen lassen es januarmäßig kalt bleiben in unseren Beziehungen und Nachbarschaften. Ein Wechsel der Blickrichtung, die dem Aufleuchten der Fülle folgt, sieht anderes: Sie sieht Gewissheit, Stärke und Empfindsamkeit zur gleichen Zeit. Ob dieser Blickwechsel gelingt, das ist nicht nur eine von vielen Haltungsentscheidungen, es ist sogar im allerbesten und allerweitesten Sinn vernünftig.
Denn Vernunft ist doch erst dann in ihrem umfassenden Sinn wirksam, wenn sie über das rational Berechnende, immer wieder Kalkulierende hinausreicht. Wenn das Herz eben mit- und vorausdenkt und unser Planen und Abwägen lenkt. Das zumindest wäre ganz im Sinne des Johannesevangeliums und des Johannesprologes. Diese „Vernunft wurde Mensch“ (Günther Keil, Kommentar zum Johannesevangelium) – um aller menschlicher Unvernunft, aller geistigen Trägheit und Erlahmung, aber auch allem selbstbezogenen „Ich sehe zu, wo ich bleibe…“ entgegen zu stehen. Fülle ist da, wo Gott Vernunft zu Fleisch und Blut werden lässt, wo Unvernunft gerade nicht mehr reagieren darf. Fülle ist, wenn Vernunft menschlich – Mensch – wird.
Davon haben wir Nachricht, davon haben wir im besten Sinne des Wortes genug Nachricht – zu sehen, zu hören, zu spüren: Diese Vernunft macht uns reich und beschenkt uns übervoll, die von Gott kommt, die im besten aller Sinne menschlich wird. Die uns zeigt: Gespurte Logik lässt sich umdrehen. Es muss kein „immer weiter so“ geben, kein Starren auf das immer wieder nur Unfertige und unerfüllt Gebliebene. Die Vernunft der Weihnachtstage muss andererseits auch nicht einfach nur ein saumseliges Romantikgefühl bleiben, gänzlich unbrauchbar für den Alltag nach dem 6. Januar. Vielmehr: Die Vernunft, die Mensch geworden ist aus und durch Gottes Kraft, sie nimmt beides zusammen – Kopf und Herz, Reichtum und Armut, Dunkles und Helles. Eine Vernunft, die die Finsternis, das Schwere nicht leugnet, nicht weg diskutiert oder davon abstrahiert. Es ist eine Vernunft, die all dies umarmt, um es nicht mehr länger allein finster, schwer und arm sein zu lassen in dieser Welt.
Die Welt auf diese Weise zu umarmen – das kann nur Gott, Vernunft pur. Menschgeworden. Aufleuchtend – in den Prologen und hoffentlich auch Hauptstrophen dieses neuen Jahres. Amen.
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Gott wohnt unter uns - Predigt zu Johannes 1,14-18 von Thomas Oesterle
Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit wie die des vom Vater Einziggezeugten, voll von Gnade und Wahrheit.[1] (V 15 ist eine sekundäre Interpolation und entfällt)[2] Und[3] aus seiner Fülle haben wir alle empfangen Gnade über Gnade. (hier endet der urchristliche Hymnus, wird aber vom Evangelisten Johannes in V. 17.18 sinnentsprechend ergänzt und präzisiert)[4] Durch Mose hat Gott uns das Gesetz gegeben. Aber in Jesus Christus ist uns Gott selbst begegnet mit seiner ganzen Gnade und Wahrheit. Kein Mensch hat Gott jemals gesehen. Nur der eine, der selbst Gott und Stellvertreter des Vaters ist – der hat uns über ihn Auskunft gegeben. [5] (Joh 1,14-18, Übersetzung des Verfassers)
Liebe Gemeinde,
Sie haben wahrscheinlich alle Erfahrung darin, wie das ist, eine Wohnung zu teilen. Meist teilt sich eine Familie untereinander eine Wohnung oder mehrere Familien teilen sich ein Haus.[6] Wie auch immer: Wir sind daran gewöhnt, mit anderen Menschen zusammen zu wohnen. Da das manchmal ganz schön konfliktgeladen sein kann, werden die Häuser größer, dass man sich bei einem Streit auch mal aus dem Wege gehen kann.
Also: Eine Wohnung zu teilen kann schwierig sein. Die Eltern stört die dröhnende Musik der Tochter. Diese wiederum findet die spießbürgerliche Wohnzimmergarnitur der Eltern „total ätzend". Oder da gibt es recht unterschiedliche Auffassungen über die Sauberkeit von Bad und Küche. Für Konfliktstoff ist schnell gesorgt. Deshalb hat die Gemeinsamkeit des Wohnens oft einen oder gar mehrere große Haken.
Es gibt aber auch die gegensätzliche Erfahrung. Es kann sehr gut gehen, eine Wohnung zu teilen. Die Lebendigkeit von unterschiedlichen Lebensweisen ist gegenseitig befruchtend. Die Tochter lernt, dass man Musik auch über Kopfhörer genießen kann und die Eltern verstehen, dass die Welt in Sachen Wohnzimmereinrichtung tatsächlich inzwischen weiter ist, als vor 20 Jahren. Das alles hält den Einzelnen beweglich und wehrt jeder Vereinsamung. Nicht ohne Grund lieben es viele Studentinnen und Studenten, in einer Wohngemeinschaft zu leben. Außerdem ist es ja auch sinnvoll, einzuüben, mit den Grenzen zu leben, die einem ein mitwohnendes Gegenüber manchmal setzt. Ich finde es schade, dass die Wohnansprüche unserer Gesellschaft immer individualistischer werden und das echte teilen von Wohnraum seltener wird. Meine Schwiegermutter erzählte mir vor einigen Jahren, dass bei ihnen im Haus direkt nach dem zweiten Weltkrieg eine Flüchtlingsfamilie aus Ostpreußen zwangseinquartiert worden war. Man hätte damals den sowieso schon knappen Wohnraum nochmals geteilt. Das sei damals gewiss nicht einfach gewesen, aber nach Jahren hätten die einquartierten Untermieter eine eigene Wohnung gefunden. In der Zeit bis dahin wären beide Familien „gut freund“ miteinander geworden und man hätte so neue, wertvolle Bekannte gewonnen.
Ob das teilen einer Wohnung gut geht, das hängt von denen ab, die es miteinander versuchen. Wenn die Beteiligten aufeinander zugehen, sich auf die Eigenart des Anderen einlassen, dann kann rasch ein gelingendes teilen einer Wohnung möglich werden.
Nun spricht der heutige Predigttext davon, dass Gott unter uns Wohnung genommen hat. Im Mittelalter und in der Reformationszeit hat man das noch sehr direkt verstanden. Da wurde Jesus ein Platz eingeräumt im einzelnen Haus. Jesus bekam Wohnraum in so manchem Herrgottswinkel, der in den Stuben eingerichtet wurde. Er bekam ein Teil der gemeinsamen Zeit ab, indem sich eine Hausgemeinschaft zur Andacht versammelte. Luther hat schon gewusst, warum er seine Katechismen für die Hausväter geschrieben hat. Über diese Texte hatte Christus noch einen festen Platz im Leben der Familie und neue Gedanken über das Werk Christi waren am besten über die tägliche Hausandacht zu verbreiten, die der Hausvater abhielt.
Heute wohnt Christus nicht mehr in dieser Weise unter uns – oder nur noch in wenigen Häusern. Trotzdem will er bei uns wohnen. Und es erscheint fast so, als ob Gott sehr gut wissen würde, dass es keine einfache Sache ist, mit Menschen die Wohnung zu teilen. Deshalb kommt er uns entgegen. Er lässt sich auf uns ein, so wie es auch Menschen untereinander tun, wenn sie eine Wohnung teilen wollen und das gut gehen soll.
„Das Wort ward Fleisch“, was sollte dieser zentrale Satz des Johannesevangeliums anderes bedeuten als: Gott kommt euch entgegen, er geht ein in eure Welt und euer Leben. Das steht da im Evangelium, obwohl Johannes diese Welt sehr realistisch beschrieben hat als eine gottferne, ja gottfeindliche Welt.[7] Er hatte nicht die Vorstellung einer ausgebreiteten Volksreligion im Kopf, die das Mittelalter bestimmte. Für ihn war das Christentum eine kleine, gefährdete Gemeinschaft im riesigen, heidnischen römischen Reich. Die Christen waren vielen Gefahren ausgesetzt, die Gemeinde oft bedroht.[8] Mit dieser Situation im Hintergrund ist Johannes in unseren Tagen besonders den syrischen Christen nahe, die unter Fassbomben einerseits und radikal-islamistischen Attacken andererseits zu überleben suchen. Wir Christen im sicheren Deutschland haben im Gegensatz dazu ein sehr hohes Privileg, nämlich das Schutzrecht auf freie Religionsausübung. Wir sind nicht an Leib und Leben bedroht, wenn wir unseren Glauben bekennen. Wir sehen uns zwar einer mehrheitlich gleichgültigen, oder gar das Christentum ablehnenden Gesellschaft gegenüber, was auch schmerzlich ist. Aber das ist kein Vergleich mit einer Verfolgungssituation, wie Johannes sie kannte.
Gerade in eine solche Welt hinein wird Gott Mensch. Er hat keine Angst vor einer Welt, die ihn anscheinend nicht mehr braucht, oder ihn gar gewaltsam verfolgt. Er kommt und ist mitten unter uns da. Das ist der Anstoß,[9] den das Christusbild des Johannes unserem Denken geben möchte. Dass der Ewige in seiner Herrlichkeit nicht weit weg bleibt, um dann bestaunt und verehrt zu werden, sondern dass er mitten unter uns kommt. Dass Gott Wohnung nimmt dort, wo wir unseren Alltag leben. Gerade dort lässt er seine Herrlichkeit sehen. Gottes Herrlichkeit leuchtet mitten in unserer oft so dunklen Welt.
Dass Gott selbst als Mensch in diese Welt kommt, das war immer am schwersten zu verstehen beim Christusgeschehen, das wir nun wieder in den Weihnachtstagen gefeiert haben. Die Theologen haben unzählige Ausflüchte gesucht, um dieser Paradoxie, dass der ewige Gott in einem einzelnen Menschen sich zeigt, zu entgehen. Das war wider jede klare Logik, die von präzisen Unterscheidungen[10] lebt. Wider jene Logik, die die Antike von den Philosophen gelernt hatte. Eigentlich sollte das Göttliche und das Menschliche streng getrennt und unterschieden werden. Götter waren unsterblich, Menschen dagegen sterblich. Doch die Behauptung, dass Gott und Mensch in Jesus Christus eine Einheit geworden waren, wiedersprach diesem Denken in getrennten Bereichen. So suchten die Theologen Ausflüchte, um diesen anstößigen Gedanken des Johannes nicht mitvollziehen zu müssen.
Ich will einige dieser Ausflüchte benennen, weil sie heute noch aktuell sind und bis heute die zentrale Wahrheit des Christentums gefährden. Jene zentrale Wahrheit, die lautet: Gott und Mensch wurden in Christus eine Einheit.
Die erste Ausflucht nannte man im Urchristentum „Doketismus“.[11]
Hier besteht die Flucht vor der wahren Menschwerdung Gottes darin, dass man sagte: Gott ist zwar ein wenig vom Himmel herabgestiegen, aber so ganz hat er sich doch nicht auf diese sündige Welt eingelassen. Er ist eine Art „Überschweber“ geblieben, hat seine göttliche Herrlichkeit bewahrt und diese Herrlichkeit nur etwas deutlicher sehen lassen. Die Wunder Jesu sind dann Ausweis für seine übermenschliche Göttlichkeit. Wirklich und ernstlich Fleisch angenommen hat er aber nicht. Wie könnte denn der ewige Gott in schwaches, fehlbares und sterbliches Menschsein eingehen? Man hat unseren heutigen Predigttext dann immer so interpretiert, dass der Halbsatz: „Und wir sahen seine Herrlichkeit“ ganz groß und wichtig wurde. Aber den anderen Halbsatz „das Wort ward Fleisch“ hatte man darüber verdrängt und vergessen.[12]
Die zweite Ausflucht, um der Fleischwerdung Gottes auszuweichen, nannte man „Adoptianismus“. Auch hier ging Gott nie ganz und echt in die Welt ein. Gott ist nicht selbst Mensch geworden, sondern er hat sich nur einen guten Menschen ausgewählt, um sich an ihm indirekt zu zeigen. Diesen Jesus aus Nazareth hat Gott sozusagen adoptiert, so wie man heute ein Kind adoptiert, das aber leiblich nicht das eigene Kind ist. Bei dieser Vorstellung blieb Gott natürlich Gott und der Mensch Jesus blieb ein reiner Mensch. Lediglich die Adoption dieses Menschen schaffte die Verbindung von Gott und Mensch. Aber das göttliche Wesen im Vater und das menschliche Wesen in Jesus, blieben im Grunde getrennte Dinge.[13]
Die dritte Ausflucht, um der anstößigen Menschwerdung Gottes auszuweichen, hieß „Gnosis“. Dieser theologische Irrweg war vielleicht der gefährlichste, weil er dem frühen Christentum sehr nahestand. Die ersten Christen haben mit aller Kraft gekämpft, um sich von dieser Irrlehre abzugrenzen.[14] In der Gnosis behauptete man, in jedem Menschen würde ein göttlicher Lichtfunke leben. Der Mensch käme nämlich ursprünglich von der göttlichen Fülle her. Doch dieser Lichtfunke wäre jetzt im Leib gefesselt und gefangen. Dafür kann der Mensch selbst nichts, es hat ihn ein böses Schicksal ergriffen. Nun schickt Gott zu den Menschen eine Erlösergestalt. Auch hier muss Gott nicht wirklich Mensch werden. Der Erlöser ist lediglich ein Bote, der den göttlichen Lichtfunken im Menschen wieder weckt, durch seine Offenbarungen und die neuen Erkenntnisse, die er als Bote überbringt. Er gibt den Menschen zu erkennen, wie viel Göttlichkeit doch eigentlich in ihnen selbst schon steckt. Dazu darf sich der Erlöser natürlich selbst nicht in das Gefängnis des irdischen Leibes begeben. Er erscheint lediglich als Idealmensch und bahnt den einzelnen Lichtfunken in den Menschenseelen den Weg zurück in die göttliche Fülle. Diesen Rückweg kann der Mensch selbst gehen, wenn er nur die rechte Erkenntnis seines wahren Wesens findet. Heute lebt die gnostische Theorie teilweise in der Anthroposophie fort.
Ich habe Ihnen jetzt die Mühe gemacht, sich mit diesen drei Irrwegen auseinander zu setzen. Ich habe dies getan, weil man diese Antiprogramme wahrnehmen muss, um das Anliegen des Johannes recht zu verstehen. Johannes braucht keine Theorie, um Gott und Mensch möglichst klar auseinander zu halten. Er muss nicht den Menschen und seinen Leib verachten oder Gott zum bloßen „Überschweber“ machen, der eigentlich nichts mit der Welt zu tun haben will. Johannes bringt Gott und Mensch zusammen. Gott wird Mensch! In Jesus Christus gilt, was ein Liederdichter zu Epiphanias gedichtet hat:
Gottheit und Menschheit vereinen sich beide, Schöpfer wie kommst du uns Menschen so nah. (eg 66)
Gott kommt und wohnt mitten unter uns, er wird unser Bruder, zu ihm können wir „Du“ sagen, durch ihn unseren allmächtigen Gott „Vater“ nennen. Da bleibt keine Distanz, da ist helfende und wärmende Nähe.
Doch nun stehen wir vor der entscheidenden Frage: Wozu wird Gott denn Mensch, was hat er damit im Sinn? Nun, das lässt sich in einem Halbsatz unseres Predigttextes lesen: Von ihm haben wir empfangen Gnade über Gnade. (Joh 1,16)
Das Kommen von Gottes Sohn in diese Welt und sein Fortgehen aus dieser Welt, beides gehört zusammen. In Beidem zeigt sich Jesus als der Überbringer des Heils. Dass Christus in unsere Welt gesandt wurde, das ist eine Tat der Liebe Gottes.[15] Indem in Christus Gott selbst in eine gefallene, ihm fremd gewordene, von ihm abgewandte Welt kommt, will er in einer letzten großen Rettungsaktion die Dunkelheit am Licht teilhaben lassen, die Lüge an der Wahrheit, die Knechtschaft an der Freiheit, den Tod am Leben.[16]
Gott lässt eine Welt, die sich gegen ihn entschieden hat, nicht fallen. Er wendet sich nicht ab. Eine Welt und eine Menschheit, die beschlossen hat, aus sich selbst heraus glücklich zu sein und Gottes nicht zu bedürfen, eine solche Welt bleibt trotzdem eine von Gott geliebte Welt. Der Spitzensatz des Johannesevangeliums lautet daher: Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle die an ihn glauben nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben. (Joh 3,16)
Das heißt: Gerade eine Welt, die sich eigentlich schon gegen Gott entschieden hat – unsere Welt – bekommt die Möglichkeit sich noch einmal neu zu entscheiden. Noch einmal haben wir die Chance, Licht, Wahrheit, Freiheit und Leben zu ergreifen, indem wir uns glaubend auf diesen nahegekommenen, menschgewordenen Gott in Jesus Christus einlassen und ihm vertrauen. [17]
Was es für uns bedeutet, wenn wir uns auf diesen gnädigen Herrn einlassen, uns für ihn entscheiden, will ich am Schluss mit einem Bild deutlich machen.
Es gibt eine packende Szene in der für die Deutschen so wichtigen Nibelungensage.[18] Da steigt Kriemhild auf die Schiffe, die Hagen von Tronje den Rhein heraufgefahren hatte. Diese Schiffe sind bis obenan gefüllt mit dem Nibelungenschatz. Kriemhild steht im wörtlichen Sinne auf all den unermesslichen Schätzen. Und in diesem Augenblick erkennt sie, dass alles Gold ihr den geliebten, aber verstorbenen Siegfried nicht ersetzen kann. Deshalb fängt sie an, den Schatz an das Volk auszuteilen.
„Wer will ein gutes Schwert? Du? Hier! Wer will eine Kette? Willst du? Hier! Und du, willst du ein goldenes Geschirr? Hier, nimm!“
Wie im Rausch teilt sie die Schätze aus, auf denen sie steht.
Wie gesagt, eine packende Szene und ein Bild für das Christusereignis, so wie Johannes es beschreibt. Denn genau so steht Christus unter uns und teilt aus. Nur, dass er nicht wie Kriemhild aus Enttäuschung und Verzweiflung austeilt, sondern aus Liebe. Er sagt: Du standst bisher abseits der Gemeinschaft der Glaubenden und hast nichts empfangen? Du bist in deinem alten Elend gefangen? Du läufst mit einem beladenen Gewissen umher? Du kennst noch nicht die Erleichterung der Vergebung? Du kennst noch nicht die Freiheit, die der Friede mit Gott schenkt? Komm her und nimm, nimm mit beiden Händen! Bei mir findest du alles! Beim mir ist Gnade über Gnade.
Johannes bringt es so zur Sprache: In Jesus Christus ist uns Gott selbst begegnet mit seiner ganzen Gnade und Wahrheit! (Joh 1,17) Indem wir durch Christus Gott als liebenden und gnädigen Gott erkennen und sehen, dass er um dieser Liebe willen ein Mensch geworden ist, verstehen wir das Wunder der Weihnachtszeit, das um unseretwillen geschehen ist. Amen.
[1] V. 14 gehört zwingend zur Interpretation dieses Abschnittes des Johannesprologs. Es fehlt der theologische Grundgedanke im Schlussabschnitt des Prologs, wenn dieser Vers fehlt. Deshalb verändere ich die Abgrenzung der Perikope.
[2] Vgl. Otfried Hofius, Johannesstudien, Tübingen 1996 (WUNT 88).
[3] Ich nehme die Apparatvariante kai, statt des im Text stehenden oti. Vgl. R. Bultmann, Kommentar S.51, Anm. 4.
[4] Siehe Anm. 2.
[5] Zum urchristlichen Hymnus vgl. die Predigtmeditation des Autors: Thomas Oesterle, „Kein wortloser Gedanke und kein gedankenloses Wort“ in: Für Arbeit und Besinnung Nr. 22/1996 S.808ff, Stuttgart 1996.
[6] Ich verstehe eskenäsen an dieser Stelle nicht als flüchtiges zelten. Mit R. Bultmann Kommentar S.43, Anm.5.
[7] Zum Kosmos-Begriff bei Johannes vgl. H. Thyen, Das Johannesevangelium S.81f.215ff.
[8] Vgl. K. Wengst, „Bedrohte Gemeinde und verherrlichter Christus“.
[9] Vgl. den Begriff des „Anstoßes“ bei R. Bultmann, Theologie des NT, Kap.: „Johannes“.
[10] Vgl. den aristotelischen Begriff der „differencia specifica“
[11] Vgl. W. Löhr in RGG4, Bd.2, SP. 925
[12] So z.B. E. Käsemann, Ketzer und Zeuge, LTHK 48, 1951
[13] Vgl. W. Löhr in: RGG4, Bd.1, Sp.123.
[14] Ich teile an dieser Stelle nicht Bultmanns Auffassung (Johannes selbst kämpft gegen die Gnosis), sondern gehe von einer zeitlich späteren Auseinandersetzung mit der Gnosis im Urchristentum aus, die aber trotzdem inhaltlich relevant bleibt. Vgl. C. Markschies in: RGG4, Bd.3, Sp.1047f.
[15] R. Bultmann, Theologie des NT, S.45
[16] AaO. S.42.
[17] AaO., S 45, „Die Krisis der Welt“.
[18] Nach Richard Weitbrecht, „Deutsche Heldensagen“, S.61, Stuttgart 1968.
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Habt keine Angst - Predigt zu Johannes 14,1-6 von Karin Latour
Liebe Gemeinde am Neujahrstag,
„Ein Vater hatte zwei Söhne, davon war der älteste klug und gescheit und wusste sich in alles wohl zu schicken, der jüngere aber war dumm, konnte nichts begreifen und lernen und wenn die Leute ihn sahen, sprachen sie: Mit dem wird der Vater noch seine Last haben…
Nun geschah es, dass der Vater einmal zu ihm sprach: „He du da, in der Ecke, du wirst groß und stark, du musst auch etwas lernen, womit du dein Brot verdienst. Siehst du, wie sich dein Bruder Mühe gibt? Aber an dir ist Hopfen und Malz verloren.“ „Ei, Vater“, antwortete er, „ich möchte gerne etwas lernen. Ja, wenn`s anginge möchte ich gerne lernen, wie`s mir gruselt…“
So beginnt das Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lernen.
Ich mochte es nicht. Ich mochte es nie und habe mich als Kind schon gefragt – wie wahrscheinlich alle –: „Gibt es denn nicht genug, was Menschen erschreckt, wovor sie sich ängstigen und fürchten, was ihnen Angst macht und das Fürchten lehrt? Muss man da ausziehen in die große weite Welt, um das Fürchten erst zu lernen?“
Ich hatte eine im Grunde behütete Kindheit und Jugend, aber das Wissen darum, dass das Glück und die Sicherheit, dass der Friede und das Leben überhaupt, vor allem das der Menschen, die man liebt, nicht selbstverständlich ist, war allezeit präsent.
Da hatte die Mutter uns Kindern viel vom Krieg, den Verlusten und dem Schmerz erzählt, von Flucht und Vertreibung. Armut und bitterer Not. Und das alles schien, als wäre es gestern gewesen und so, als könnte es jederzeit wieder über uns hereinbrechen.
Da herrschte am Abendbrottisch oft beklemmende Stille und die zwei Worte „Kurzarbeit“ und „Entlassungen“ schwebten zeitweise ständig im Raum, obwohl wir gar nicht so genau wussten, was Kurzarbeit war. Aber das Düstere und Bedrohliche hing in der sonst behaglichen Küche wie eine dunkle beklemmende Wolke.
Da starben Schulkameraden und Großeltern und es gab Krebs, der Mütter einfach dahinraffte.
Da ließen sich Eltern der anderen scheiden und zurück blieben Kinder, die damals noch mit Scham sagten: „Mein Vater wohnt nicht bei uns.“
Da lasen wir im „Tierfreund“, der einzigen Zeitschrift, die wir vier Kinder gemeinsam bezogen, von Umweltkatastrophen, ausgelaufenen Öltankern, sterbenden Tieren und Wäldern, vergiftetem Wasser und verpesteter Luft. Es schien „fünf vor zwölf“ zu sein.
Und ich hatte Angst.
Angst vor „zwölf“, Angst vor Krebs, Angst vor dem Tod der Eltern und Geschwister, Angst vor der Arbeitslosigkeit des Vaters, Angst vor Krieg, Unglück und Armut. Ich habe mich mit meinen Ängsten damals als Kind niemandem anvertraut. Wem auch. Aber was wäre gewesen, wenn jemand gesagt hätte: „Hab keine Angst. Fürchte dich nicht.“ Und mir versucht hätte, Sicherheit zu geben in einer fragilen Welt, in der das Glück und das Leben so unglaublich zerbrechlich zu sein scheint.
Wir sind erwachsen geworden. Zumindest die meisten, die heute hier sind. Wir stehen mit beiden Beinen in unserem Leben und haben bis heute, bis zum Neujahrstag 2017 unsere Erfahrungen gemacht. Nicht „Second Hand“, nicht nur vom Hören-Sagen und aus den Erzählungen der Anderen, sondern auch am eigenen Leib. Glück, Erfolg, erreichte Ziele, liebe Menschen um uns herum, ein Zuhause und Sicherheiten, die unser Leben zu halten scheinen wie ein Gurt, ein Seil, ein Anker.
Aber auch das Andere: die Bedrohungen, die Brüche, die Verluste und die Angst davor. Auch an der Schwelle zum Jahr 2017. Auch an der Schwelle zu einem neuen Jahr mit der Ungewissheit, was es uns bringen wird.
Nach den Jahresrückblicken des alten Jahres. Den großen, in den Bildern der Zeitungen und des Fernsehens. Nach den Jahresrückblicken im eigenen Leben. Mit dem, was war im vergangenen Jahr. Wir haben es noch nicht losgelassen.
Und wir sind hier mit unseren Plänen, unserer Freude und sicher auch mit den Sorgen und Befürchtungen für das neue Jahr. Das manchen von uns beschäftigt wie mich damals als Kind.
Was wird kommen im kommenden Jahr?
Wir haben die Bilder vor Augen von Krieg und Terroranschlägen, von Brutalität und Skrupellosigkeiten. Wo bist Du denn noch sicher? Wo hast Du keine Sorge, wo Deine Kinder hingehen: Um Silvester zu feiern, einen Weihnachtsmarkt zu besuchen oder ein Fußballspiel.
Wenn Du ein Flugzeug besteigst oder zum Arzt musst und Du auf die Diagnose wartest?
Und wenn nun einer käme und sagte: Fürchte dich nicht. Du brauchst keine Angst zu haben.
Es war an jenem Abend, da Jesus das letzte Mal mit seinen Jüngern zusammen war. Er hatte ihnen die Füße gewaschen, er hatte mit ihnen das letzte Mahl gehalten, er wusste um das, was kommt und geschehen werde. Den Verrat hatte er vorausgesagt, um den Verräter gewusst, mit dem er am Tische saß. Und Simon Petrus, der den Mund immer zu voll nahm, hatte er vorausgesagt, dass er ihn verleugnen werde. Und dann kündigt er seinen Abschied an. Seinen Tod vor Augen.
Welche Ängste mögen da die Jünger gepackt haben?
Welche Not und welches Erschrecken mag da über sie gekommen sein und welches sollte kurze Zeit später noch über sie kommen?
Viel konkreter als ungewisse Sorgen vor einem neuen Jahr.
Den Boden unter den Füßen mussten sie verlieren, alles was ihnen bis dahin Halt und Kraft gegeben hatte, drohte ihnen genommen zu werden. Das war das Ende. Das war das Aus.
Aber Jesus sagt:
Euer Herz erschrecke nicht, glaubt an Gott und glaubt an mich […] Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich. (Joh 14,1.6)
Euer Herz erschrecke nicht.
Es geht nicht um das Gruseln, wie im Märchen. Es geht nicht um das Befürchten und Sich Sorgen, wie an der Schwelle eines neuen Jahres.
Es geht um das Erschrecken im tiefsten Inneren, das wir haben. Euer Herz erschrecke nicht. Und es gibt einen Weg. Es gibt Wahrheit. Es gibt Leben.
Unser Herz erschreckt, wenn es konfrontiert wird mit etwas Schrecklichem. Wie die Anschläge in Berlin und Paris. Unserem ohnmächtigen Gefühl angesichts der verzweifelten Situation der Menschen in Aleppo. Wie der Tod eines lieben Menschen, beinahe fünfzig waren es alleine in unserer kleinen Gemeinde im vergangenen Jahr. Wie die Diagnose einer schrecklichen Krankheit. Wie…
Euer Herz erschrecke nicht? Wir erschrecken aber.
Wenn wir realistisch sind und konfrontiert werden mit schrecklichen Nachrichten oder Umständen erschrickt unser Herz, rutscht uns der Boden unter den Füßen weg, wissen wir nicht ein noch aus. Wie die Jünger in jener Nacht, als er gefangenen genommen wurde und fortgebracht wurde in den sicheren Tod. Wie die Jünger, als sie unter dem Kreuz standen und tatenlos zusehen mussten, wie er hingerichtet wurde.
Euer Herz erschrecke nicht. Soll das ein Witz sein? Menschliche Herzen erschrecken aber, sind erschüttert, werden krank vor Angst, brechen vor Traurigkeit. Und Jesus sagt: Euer Herz erschrecke nicht.
Er sagt noch mehr. Er sagt: Glaubt an Gott und glaubt an mich. Und er sagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. (Joh 14,6)
Trotzdem.
Glaubt an Gott und glaubt an mich.
Gerade deshalb.
Glaubt an Gott und glaubt an mich. Und es gibt einen Weg.
Auch und gerade da, wo nichts von seiner Macht und Kraft und Güte zu sehen ist.
Das ist kein Witz. Das ist wahrhaftig eine Herausforderung. Das heißt, seinen Anker in den Himmel zu werfen, wenn er so dunkel ist wie nie zuvor.
Von einem damals jungen Paar, deren Kind ich zu beerdigen hatte, lernte ich vor einigen Jahren dieses Gebet von Jörg Zink:
Ich weiß Herr, dass du mich nicht am Leid vorbeiführst, aber du führst mich hindurch.
Und wenn ich im finsteren Tal wandere und deine Hand nicht finde, so fürchte ich doch kein Unglück, denn du bist bei mir.
Ich vertraue dir, Herr und Vater, auch wenn ich nichts verstehe.
Ich überlasse mich dir. Tu du mit mir, was du willst.
Ich lege mich in deine Hand und danke dir, wenn ich immer besser lerne, dies und sonst nichts zu wollen. Einzig dies wünsche ich, dass dein Wille sich an mir erfüllt.
Ihr Herz war erschreckt, aber sie glaubten dennoch an Gott. Sie hielten dennoch an ihm fest, dass er es am Ende gut machen werde – mit ihnen, mit ihrem Kind, mit dem ganzen Leben. Ich habe sie bewundert.
Euer Herz erschrecke nicht, glaubt an Gott und glaubt an mich – das ist kein banales „Habt nur keine Angst. Es wird schon wieder.“ Und es ist auch keine Mutmachparole, wie die unserer Bundeskanzlerin oder anderer Politiker: Wir schaffen das schon!
Der, der unser Wort spricht, weiß, wovon er spricht. Er war den Menschen nah. Ganz nah. Er weiß, wovon er spricht. Nämlich davon, dass uns im Laufe unseres Lebens sehr wohl – jeden und jede von uns – Dinge zustoßen, die schwer auszuhalten und zu überstehen sind.
Harold Kushner, Rabbiner und Autor verschiedener Bücher, schrieb:
Viele von uns sehen in der Welt nur zwei Arten von Menschen: Gewinner und Verlierer. Die einen bekommen alles, was sie sich wünschen, die anderen nicht. Doch die Realität ist viel komplizierter. Niemand bekommt alles, was er gerne hätte. Ich sehe in der Welt Menschen, die gewagte Träume haben, obwohl sie wissen dass einige sich nicht erfüllen. Menschen, die etwas anspruchslosere Träume haben und befürchten dass sich sogar die bescheidensten nicht erfüllen. Und Menschen, die aus Angst überhaupt nicht träumen.
Ich wünschte, es gäbe mehr Menschen mit gewagten Träumen, die ihrer eigenen Widerstandskraft vertrauen, die ihre Träume trotz unumgänglicher Enttäuschungen nicht aus dem Blick verlieren.
Geschichte wird von Gewinnertypen geschrieben. Daher geht es in den meisten Geschichtsbüchern um Menschen, die gewinnen. Die meisten Biographien sollen inspirieren und informieren. Daher konzentrieren sie sich zumeist auch auf die Erfolge. Doch im wirklichen Leben müssen sogar die erfolgreichsten Menschen mit ansehen, wie ihre Bemühungen scheitern. Sogar die besten lernen, mit Fehlschlägen, Absagen, schmerzlichen Verlusten und schlimmen Krankheiten umzugehen.
So einer war Jesus. So welche waren die Jünger. So einer war Paulus. Und ich glaube, solcher Art waren auch die, die vor uns ihren Glauben lebten und von denen wir unseren Glauben haben.
Das Wort ist ja nicht geschrieben als Neujahrsgruß, herausgerissen aus dem Zusammenhang. Aber gerade der Zusammenhang in der Geschichte des Abschieds und des Neuanfangs macht die Bedeutung dieses Satzes klar, den Jesus spricht, den Johannes überliefert, den unsere Mütter und Väter im Glauben festhielten.
Es ist ihre und vielleicht auch unsere uns zugewachsene Erfahrung auf einem langen Weg. Es ist ein Weg nicht nur von Erfolgen und erreichten Zielen, sondern manchem harten und schmerzhaften Weg.
Und sie und vielleicht wir auch haben erfahren: Am Ende vermag ich alles durchzustehen durch den, der wie Paulus sagt, mich stark macht, mächtig, mir Kraft gibt, auch durch Fehlschläge, Absagen, Enttäuschungen, Krankheit und Ablehnung hindurch gekommen zu sein.
Dieses Wort macht Mut, den Weg zugehen und durchzustehen, was auch immer kommen mag. Sich nicht entmutigen zu lassen. Sich nicht klein kriegen zu lassen. Sondern mit offenen Augen und mutigem Herz ins neue Jahr gemeinsam zu gehen.
Wir feiern in diesem Jahr das Reformationsjubiläum. Menschen, die vor uns hier ihren Glauben lebten und weiter trugen. Menschen, die mit Gott durch Raum und Zeit gingen.
Welche Krisen und Veränderungen hat es im Laufe dieser Jahre und Jahrhunderte gegeben, die hinzunehmen, zu überstehen, zu bewältigen waren? Sie konnten auch hoffen, dass sie diese Krisen überstehen würden – aber warum? Und wie?
Glaubt an Gott und glaubt an mich […] Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.
Ich habe Respekt vor meinen glaubenden Vorfahren und diesem Weg, dem sie gefolgt sind. Aber auch vor den Christen der heutigen Zeit, die sicher anders, aber auf dem gleichen Grund stehen und sich nicht entmutigen lassen und genau diesem Weg in Jesus Christus folgen.
Die – und ich sage jetzt wir – zwar nicht ausziehen, um das Fürchten zu lernen, aber die Augen in der Welt nicht vor dem verschließen, was zum Fürchten ist.
Und wir haben einen Grund, nicht zu resignieren, sondern mit der Kraft, die uns eben dieser Jesus Christus und Gott gibt, unser Mögliches zu tun, um manchem einen Teil seines Schreckens zu nehmen.
Dazu muss man nicht in die große weite Welt. Dazu reicht es, den Blick auf den, der neben uns lebt, nicht zu verlieren: Menschen auf der Suche nach Sicherheit und Heimat. Menschen, in Situationen, vor denen wir alle Angst haben und die sie getroffen haben. Menschen, die Halt und Trost brauchen.
Ich könnte noch unzählige Beispiele aufführen. Ich lasse es bleiben, weil ich noch wie meine Vorfahren mit ihnen singen möchte. Und beten möchte und dann zusammen sein möchte, um getrost ins Neue Jahr zu gehen.
Euer Herz erschrecke nicht. Glaubt an Gott und glaubt an mich. In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen […] Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. (Joh 14,1f.6)
Was für ein wunderschönes Wort, nicht wahr?
In einer Welt voller Wunder und Glück, voller Traurigkeit und Leid, voller Möglichkeiten und Chancen. In einer so bezaubernden, aber fragilen Welt. Und stell dir vor, dann gibt es einen der sagt: Hab keine Angst. Fürchte dich. Amen.
Literaturangaben:
Grimms Märchen, Von einem, der auszog das Fürchten zu lernen.
H. S. Kuschner, Vom Glück im Unglück, S. 11f.
J. Zink, Wie wir beten können, S .185.
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Der Weg - Predigt zu Johannes 14,1-6 von Jorg Christian Salzmann
I
Wir sind unterwegs. Am Beginn eines neuen Jahres wird uns das wieder neu bewusst: Wir gehen durch die Zeit, bewegen uns durch unsere Welt, stehen nicht still. Wohin geht der Weg? Die einen schreiten munter aus und sind ganz sicher: Wir sind auf gutem Wege zu den gesteckten Zielen. Andere tun nur so als sei alles klar, aber im Herzen wissen sie gar nicht genau, wohin das alles führen soll. Wieder andere sind eher verzagt: Woher soll ich meinen Weg wissen? Wer weiß, was kommt. Und realistisch besehen gilt für uns alle, dass es auf unserm Weg jederzeit zu überraschenden Wendungen kommen kann, auf die wir keinen Einfluss haben. Die Zukunft ist kein offenes Buch. Am Jahresanfang geht wohl manch banger Blick nach vorne. Was mag das neue Jahr bringen? Wo werden wir uns am Jahresende befinden? Wohin führt der Weg?
Wir sind unterwegs, unterwegs durch die Zeit, sogar wenn wir in vertrauter Umgebung bleiben und sagen: Ich bin angekommen, ich bin zu Hause. Aber auch damit ist es ganz unterschiedlich: der eine strebt weg von zu Hause, die andere sehnt sich nach etwas Ruhe und einer Heimat. Es gibt Menschen, die zwar eine Wohnung haben, aber sich allein fühlen, verloren und ausgesetzt. Andere suchen nach einer Bleibe und haben kein Dach über dem Kopf. Mancher trauert ein Leben lang einer verlorenen Heimat nach.
Wohnung haben, das ist für uns verbunden mit der Sehnsucht danach, zu Hause zu sein, geborgen zu sein, dazuzugehören, einen Rückzugsort zu haben und Heimat.
II
Jesus redet in unserm Bibelwort von beidem: Vom Weg und von der Heimat. Der Zusammenhang scheint einfach und damit zugleich für eine Neujahrsfeier befremdlich. Vor seinem Tod nimmt Jesus Abschied von seinen Jüngern und sagt ihnen, dass er die himmlischen Wohnungen für sie vorbereiten wird. Das ist sein Weg. Wer aber will zu Neujahr schon an den Tod denken? Wohl kaum jemand – und schon gar nicht an den eigenen Tod.
Hier allerdings geht es erst einmal nicht um deinen Tod, sondern darum, dass Jesus sterben wird. Seine Jünger bleiben zurück und müssen in der Welt zurechtkommen. Was bedeuten diese Abschiedsworte für sie?
Es beginnt mit einem Trostwort: Euer Herz erschrecke nicht! (Joh 14,1a) Denn erschrecken werden sie vor dem Tod von Jesus. Aber dieser Tod ist nicht einfach sinnlos. Jesus deutet ihn hier so, dass er im Sterben für die Seinen den Weg bereitet. Euer Herz erschrecke nicht! Die Welt der Jünger wird zusammenbrechen, doch Jesus spricht ihnen Mut zu.
Euer Herz erschrecke nicht! Das mag ein Wort sein, das wir mit ins neue Jahr nehmen können. Grund zum Erschrecken gibt es auch in unserer Welt genug. Wir denken an Terror, Gewalt und Krieg, an Unrecht und all die vielen Unglücksfälle, die es gibt. Warum aber sollte denn das für uns gelten: Euer Herz erschrecke nicht!
Deswegen, weil wir einen Rückhalt haben, einen Rückhalt im Glauben und Vertrauen auf Gott. Glaubt an Gott und glaubt an mich, sagt Jesus. Vertrauen – nur so können wir ja in die Zukunft gehen. Ohne Vertrauen bleiben nur Angst und Zittern und nichts geht mehr.
Gottvertrauen also, das wäre ein Weg in die Zukunft. Im Vertrauen darauf, dass die Macht und die Liebe Gottes mich nicht fallen lassen, kann ich auch ungewisse Wege gehen, Wege, die nicht gesichert sind. Wer mit Bangen in die Zukunft schaut, kann diese Zukunft dennoch angehen und darauf vertrauen, dass Gott immer schon da ist.
Nach den Worten, die wir gehört haben, könnte sich solches Vertrauen auch auf das Versprechen verlassen, dass da für uns eine Wohnung ist. Das ist eine wunderbare Botschaft. Zu wissen, dass ich ein zu Hause habe, das gibt mir die Freiheit, unterwegs zu sein. Wer eine Heimat hat und weiß, „da gehöre ich hin“, der ist geborgen auch in der Ferne. Deshalb geht es bei den Wohnungen, von denen Jesus redet, gar nicht wirklich um den Tod, sondern um das Leben. Wer eine Wohnung bei Gott hat, ist nicht heimatlos. Wer eine Wohnung bei Gott hat, hat das Leben.
Eine Heimat zu haben, zu der mir der Weg versperrt ist, das kann allerdings lähmend sein. Schwer ist das Leben für Flüchtlinge, die wissen, dass sie nicht mehr zurück können, auf lange Zeit oder gar auf immer. So viel leichter ist es zurechtzukommen, wenn ich weiß, dass der Weg nach Hause offen ist.
Darum gehört der Weg zu Gott mit dazu, wenn das gilt, dass wir bei ihm zu Hause sind. Da kommt nun Jesus und sagt: Ich bin der Weg. (Joh 14,6) Darauf ist Verlass. Mit seiner Person bürgt Jesus dafür, dass wir bei Gott zu Hause sind. So nimmt er uns in die Wahrheit Gottes hinein, die stärker ist als alle Wahrheiten, die uns umgeben und uns bedrängen. So ist er unser Leben.
III
Am Anfang des neuen Jahres fragen wir, wohin unser Weg wohl gehen wird. Niemand weiß das so genau. Gegen Überraschungen aller Art sind wir nicht gefeit. Manch banger Blick geht nach vorn und das eine scheint sicher: Es wird eher schwieriger mit unserer Welt. Wer mit Voraussagen glänzen will, braucht nur ein düsteres Bild zu zeichnen und kann darauf rechnen, dass viel von dieser Voraussage auch eintrifft.
Nun hören wir von einem anderen Weg. Jesus Christus als unser Weg in alle Zukunft – kann das uns im neuen Jahr weiter helfen? Ich meine ja. Denn auf diesem Weg mag kommen, was will, doch nichts kann uns unser Heimatrecht bei Gott wegnehmen. Mit Jesus Christus als Lebensweg können die Wege des neuen Jahres führen, wohin sie wollen. Egal, ob sie sich als Sackgassen herausstellen oder als Straße des Erfolgs, egal ob es steinige, schwierige Wege bergauf und bergab sind oder eine glatte ebene Bahn: Hinter allem und unter allem bleibt Jesus Christus die Grundrichtung. Er ist der Weg, mit dem wir unser Leben führen können. Das bleibt sogar, wenn unser Weg uns in den Tod führt, denn wir haben das Leben durch ihn. Ein Leben, das Heimat hat bei Gott, das stärker ist als der Tod.
Am Anfang des neuen Jahres schauen wir nach vorn in das Gewirr vielfältiger Wege und können doch getrost ausschreiten und unerschrocken unseren Weg gehen. Als Weg des Glaubens und Vertrauens wird er uns ans Ziel führen – durch Jesus Christus, der selbst der Weg ist.
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Lichtspiele - Predigt zu Johannes 8,12-16 von Wolfgang Vögele
Vorbemerkung: Es ist möglich, diese Predigt einfach als Text zu übernehmen. Aber es kann auch hilfreich sein, mit Hilfe eines Blattes oder einer Projektion einige Bilder zu zeigen. Diese habe ich unter folgender Adresse zusammengestellt: https://wolfgangvoegele.wordpress.com/2016/12/20/lichtspiele-predigt-und-fotos
Man kann sie von dort herunterladen. Alle gezeigten Bilder sind gemeinfrei und dürfen übernommen werden.
Da redete Jesus abermals zu ihnen und sprach: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben. Da sprachen die Pharisäer zu ihm: Du gibst Zeugnis von dir selbst; dein Zeugnis ist nicht wahr. Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Auch wenn ich von mir selbst zeuge, ist mein Zeugnis wahr; denn ich weiß, woher ich gekommen bin und wohin ich gehe; ihr aber wisst nicht, woher ich komme oder wohin ich gehe. Ihr richtet nach dem Fleisch, ich richte niemand. Wenn ich aber richte, so ist mein Richten wahr, denn ich bin's nicht allein, sondern ich und der Vater, der mich gesandt hat. (Joh 8,12-16)
Liebe Schwestern und Brüder,
nicht zufällig fällt das Weihnachtsfest in die Zeit kurz nach der Wintersonnenwende. Das Morgengrauen beginnt nach dem Frühstück und die Nacht bricht vor dem Abendessen herein. Die Menschen sehnen sich nach Licht. Die Spaziergänger genießen die Nachmittagssonne im verlassenen Park. Die Kinder freuen sich über das warme Kerzenlicht des Adventskranzes im Wohnzimmer. Wer den Hund ausführt, der staunt über den bunten Lichterkranz am Tannenbaum in Nachbars Vorgarten.
In der winterlichen Dunkelheit von Weihnachten wird der geboren, der als erwachsener Prediger von sich sagen wird: „Ich bin das Licht.“ Und das Licht klärt auf. Die hilfsbedürftigen Menschen, die sich orientieren wollen, brauchen Licht, das Schatten wirft, beleuchtet, aufklärt, die Dinge in besondere Farben taucht. Ein Philosoph hat das Licht so gepriesen: „Das Licht […] ist Verschwendung ohne Schwund. Licht schafft Raum, Distanz, Orientierbarkeit, angstloses Schauen, es ist Geschenk, das nicht fordert, Erleuchtung, die ohne Gewalt zu bezwingen vermag.“ [1] Ohne Licht keine verständnisvolle Aufklärung und keine gewaltfreie Erleuchtung. Trotzdem kann niemand das Licht mit Händen greifen.
Deswegen habe ich mir als Kind den Jesus, der von sich sagt, er sei das Licht, immer wie die amerikanische Freiheitsstatue vorgestellt: eine riesige Figur in einer Art Talar, mit einer Fackel in der Hand. Diese Fackel streckt die Figur in die Höhe. Ich bin das Licht.
Die Statue auf Liberty Island vor dem New Yorker Hafen stellt nicht Jesus, sondern die Freiheitsgöttin dar. Der offizielle Titel lautet: „Die Freiheit erleuchtet die Welt.“ Und als solche erblickten die Auswanderer aus Bremerhaven, Le Havre und Southampton als erstes diese Statue, wenn sie aus Europa in der Neuen Welt ankamen. Die Statue stellte ihnen die frohe Botschaft einer neuen, wahren Demokratie, von Menschenrechten und Gleichheit vor Augen. Die Freiheitsgöttin – ein Geschenk der Franzosen an die Amerikaner – ist mit der Marianne verwandt, die auf den Barrikaden der Französischen Revolution gegen Absolutismus und Unterdrückung gekämpft hat. Die Fackel der Freiheitsstatue leuchtet in den politischen Raum. Es bleibt abzuwarten, ob der Traum der Freiheit sich weiter bewährt, wenn Mitte Januar der Milliardär seinen Eid als neuer amerikanischer Präsident ablegt. Denn die Freiheitsgöttin mit der erhobenen Fackel – wenn sie ihren Namen verdient – leuchtet für Verantwortung, Respekt und Würde. Sie stellt Populismus, Lüge und Machtgier in den Schatten.
Die aufrechte Freiheit mit der Fackel ist eine von vielen Göttinnen. Darin liegt ein Unterschied zu Jesus, der das Licht ist. Ich bin das Licht der Welt, sagt Jesus. Und er meint: Ich bin das einzige Licht. Aber er sagt auch: Der Vater und ich gehören zusammen. Nichts kann uns trennen. Jesu Vater ist der, der das Licht am Anfang der Schöpfung allererst geschaffen hat. „Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht.“ (Gen 1,3-5) Gott ist das Licht und gleichzeitig schafft er das Licht.
Jesus und der Vater sind eins und gleichzeitig schickt dieser Vater seinen Sohn auf die Erde. In jenes kleine Israel, damit die Menschen zum Glauben kommen. In Jesus Christus fällt ein neues Licht auf die Erde. Man kann nun großformatige Unterscheidungen treffen: Vom Licht der Welt und vom Licht des Glaubens sprechen und daraus entwickeln, was die Theologen eine „Lichterlehre“ genannt haben. Für Johannes, den Philosophen unter den Evangelisten, gehört beides zusammen. Alles Licht kommt von einem Ursprung und der liegt in Gott, dem Vater. Er ist der einzige Gott – im Gegensatz zum übervölkerten Götterhimmel der Antike und des heutigen Pluralismus.
Mit den antiken Göttern ist die Freiheitsstatue auf der New Yorker Hafeninsel verwandt. Denn sie trägt nicht nur eine Fackel. Auf den Kopf hat ihr der Bildhauer eine Strahlenkrone gesetzt – in der Antike das wichtigste Attribut des Sonnengottes Helios. Sieben Strahlen symbolisieren sieben Kontinente, sieben Weltmeere und sieben Tage, an denen die Sonne scheint. Nach antiker Vorstellung sieht die Sonne alles und darum weiß sie auch alles. Sie kennt die Verbrechen, die Morde und Untaten, die die Menschen am liebsten verbergen wollen. Das Licht der Sonne leuchtet überall hin. Es klärt auch alles auf, was die Menschen am liebsten im Dunkeln behalten würden. Das Licht der Sonne sorgt dafür, dass sich die Menschen frei und ohne Angst vor Angriffen aus dem Hinterhalt bewegen können. Deswegen wurde dem Sonnengott in Rom größte Verehrung zuteil.
Und Jesus sagt nun: Ich bin das Licht. Dieser Jesus des Johannesevangeliums nimmt es mit dem antiken Sonnengott und der Freiheitsgöttin auf. Johannes stellt ihn auf Augenhöhe mit dem Licht der Sonne und dem Licht der Freiheit.
Weihnachten ist ein Fest des Lichtes. Es fällt in die Tage nach der Wintersonnenwende und es fällt genauso in die Tage nach dem Fest des römischen Sonnengottes, des Sol invictus.
Die Krippe wird zum kleinen leuchtenden Punkt in der Dunkelheit. Das haben die Maler und Künstler besonders gut wahrgenommen, weil sie die Bibel mit ihren vielen Verweisen auf das Licht genau lasen. Was sie im Text an Lichtbildern gesehen hatten, konnten sie in Bilder umsetzen. Spätestens mit dem Maler Rembrandt van Rijn haben sich Krippenbilder etabliert, die ganz wunderbar leuchteten. Josef, der Ochse und der Esel, die anbetenden Hirten, die von der Weide herübergekommen waren, standen im Halbschatten oder ganz in der Dunkelheit. Rembrandt malte die Krippenszene so, dass er mit einer Lichtquelle auskam. Es war das Besondere, dass dieses warme, gnädige Licht von der Krippe mit dem Baby selbst auszugehen schien. Auf diese Weise verwandelte Rembrandt Theologie in Malerei. Er machte deutlich, was es heißt, wenn schon von diesem kleinen schlafenden Baby, das noch gar nicht sprechen oder krabbeln kann, zu sagen ist: Das ist das Licht der Welt, von dem das Heil für die Menschen kommt.
Weihnachten kehrt die Lichtverhältnisse von oben nach unten um. Mit der Geburt des kleinen Babys wechseln die Perspektive und die Orientierung. Der Mensch, der sich verloren hat, versucht, sich zu orientieren. Ursprünglich hieß das: Der verirrte Mensch blickt nach Osten, wo die Sonne aufgeht. Danach kann er die Himmelsrichtungen bestimmen und einen Weg aus seiner Verlassenheit finden.
Der Christus, der von sich sagt „Ich bin das Licht der Welt“, spielt eine neue Orientierung ein. Wer ihm glaubt und sich verirrt hat, der blickt nicht mehr nach Osten, sondern der blickt auf die Krippe, auf das Baby, von dem das Licht kommt. Von der Krippe geht ein Licht aus, das auf Lebenswelt und Alltag eine völlig neue Perspektive wirft. Alle anderen Lichtquellen – das kommende Feuerwerk an Silvester, die Scheinwerfer der Aufklärung, das Abblendlicht des Populismus, die Wunderkerzen der Unterhaltung – treten demgegenüber zurück.
Rembrandt hat das Licht, das von der Krippe ausgeht, warm und zurückhaltend gemalt. Von diesem Licht holt sich niemand einen Sonnenbrand. Es ist möglich, dieses warme, beinahe unscheinbare Licht in die Gegenwart von Weihnachten hinein zu holen. Jede Bienenwachskerze, jedes billige Teelicht aus Stearin vermittelt etwas von diesem lebendigen Licht der Krippe, das sich von der Kälte von LED-Leuchten, Neonröhren der Krankenhaus-Säle und Xenon-Scheinwerfern aufblendender Autos grundlegend unterscheidet.
Jesus sagt: Ich bin das Licht. Schon das Kind in der Krippe ist das Licht. Und genau diese Lichtquelle hilft den glaubenden Menschen, die Dinge und die Wirklichkeit in einem – im wahren Sinn des Wortes – anderen Licht zu sehen. Das klingt so ungeheuer aufwendig, dabei leuchtet die Krippe mit geringer Lichtstärke. Und das hat zu tun mit Würde, Respekt, Annahme, Hilfe, Barmherzigkeit und Rücksicht. Denn all das drängt sich im Blick auf das kleine Kind in der Krippe gerade zu auf. Jeder, der selbst einmal Vater oder Mutter war, weiß, dass solch ein Baby vorsichtig und liebevoll behandelt werden muss. Wenn man so will wäre das die Politik und die Ethik der Weihnachtsbeleuchtung: im anderen Menschen ein klein wenig von dem schutzlosen Kind zu sehen, das er oder sie kurz nach der Geburt einmal war. Wem dieses neue Licht zu idyllisch und zu naiv ist, der sei daran erinnert, dass das unbeleuchtete und unaufgeklärte Verständnis von Politik als reinem Kampf unterschiedlicher Interessen, von Politik als bestmöglicher Marketing-Täuschung der Wähler, von Politik als Überleben der Stärksten und am meisten Angepassten auch nicht viel weiter geführt hat, wie uns viele Erfahrungen gerade des letzten Jahres gelehrt haben.
Jesus sagt: Ich bin das Licht. Das soll die Menschen nicht zur Naivität verführen. Der Glaube an die Gnade des unscheinbaren Kindes überbietet die Vernunft nicht, sondern arbeitet mit ihr zusammen. Das Licht des Glaubens bricht sich in ein Spektrum mit drei Farben. Zuallererst lenkt es den Blick auf den Gott, der die Welt erschaffen hat und der sie in Jesus erlösen will. Gott kommt den zweifelnden Glaubenden entgegen. Zum zweiten wird der Blick auf das Unscheinbare gelenkt. Das lernen wir an Weihnachten: Das kleine Kind in der Krippe verdient mehr Aufmerksamkeit als jeder Politiker, jeder Unterhaltungsstar, jeder A-, B- und C-Prominente. Batterien von Scheinwerfern und Blitzlichtern lenken in der Regel den Blick von Fans, Gaffern und Begeisterten in die Irre. Gott ist nicht im Scheinwerferkegel der Aufmerksamkeit, sondern im Licht des Kerzenscheins zu treffen. Drittens: Das Licht des Glaubens, von dem Jesus spricht, löscht andere Lichter nicht aus, sondern es verstärkt sie noch: besonders das Licht der Vernunft, das die Politik so nötig hat. Besonders das Licht der Barmherzigkeit, das diese Gesellschaft, in der Hilfe benötigt wird, erst lebenswert macht.
Ich bin das Licht der Welt, sagt Jesus von Nazareth. Als Kind in der Krippe konnte er das noch nicht aussprechen – das Baby konnte sich nur schreiend zu Wort melden. Gott war Mensch geworden und benötigte selbst die Aufmerksamkeit seiner Eltern. Ich bin das Licht der Welt. Das sagt der erwachsene Jesus. Er ist Licht, weil Gott selbst als Licht vorzustellen ist. Der italienische Dichter Dante Alighieri wusste das schon im 14. Jahrhundert. Im dritten Teil seines Hauptwerkes, der „Göttlichen Komödie“ wird der Dichter ins Paradies geleitet, wo die Engel, die Heiligen, die Apostel, berühmte Theologe leben. Nur die Päpste, die die Politik wichtiger als den Glauben nahmen, blieben für Dante ausgeschlossen. Je näher der Dichter im Paradies Gott kommt, desto mehr verwandelt sich alles ins Immaterielle. Gott ist Licht, er ist die erste und wichtigste Lichtquelle, in die niemand hineinblicken kann, weil sie dem Betrachter die Augen blenden würde. Auch Dante, der Dichter im Paradies, muss die Augen niederschlagen. Gott ist Licht. Dieses Licht ist für Menschen nicht mehr zu fassen.
In Jesus Christus, im Kind in der Krippe, in diesem predigenden, heilenden und barmherzigen Menschen ist Gott Gestalt geworden. Und das wirft auf die ganze Welt ein neues Licht. Ein Licht des Glaubens, ein Licht der Barmherzigkeit und ein Licht der Gnade.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alles, was wir uns denken und vorstellen können, bewahre eure Herzen und Sinne erleuchtet in Jesus Christus. Amen.
[1] Hans Blumenberg, Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung (1959), in: Ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. von Anselm Haverkamp, Frankfurt/M. 2001, 139-171, hier: 140.
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Da kann ja jeder kommen - Predigt zu Johannes 8,12-16 von Christian Stasch
Liebe Gemeinde,
unter einer Straßenlaterne steht ein Betrunkener und sucht und sucht. Ein Polizist kommt vorbei, fragt ihn, was er verloren habe und der Mann antwortet: „Meinen Schlüssel.“ Nun suchen beide. Und suchen und suchen. Völlig erfolglos. Schließlich will der Polizist wissen: „Sind Sie sich auch ganz sicher, dass Sie ihn genau hier verloren haben?“ „Nee, nee, nicht hier, da hinten, aber das ist es viel zu dunkel.“
Na, ein Lichtblick täte ihm ganz gut.
Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. (Jes 9,1) Diese Worte aus der Bibel Israels wurden dann später auf Jesus übertragen: Ich bin das Licht der Welt. (Joh 8,12a)
Ein hoher Anspruch.
Ich bin…. – ja, wer bin ICH denn? Weiß ich´s?
Ich bin Krankenschwester und Werder-Bremen-Fan, ich bin Mutter und Tochter, ich bin Ehefrau und Kegelschwester, Gartenfreundin und Nachbarin, könntest du sagen. Du bist nicht eines, du bist vieles.
Ich bin Beamter und 96-Fan, ich bin Ehemann und Bruder, ich bin Schwiegersohn und Klavier-Dilettant, ADAC-Mitglied und Weißweintrinker, könnte ich sagen. Ich bin nicht eines, ich bin vieles.
Ich bin das Brot und die Tür, ich bin der gute Hirte und der Weg, die Wahrheit und das Leben. Ich bin der Weinstock, die Auferstehung und ich bin das Licht der Welt – heißt es über Jesus. Er ist, jedenfalls laut Johannesevangelium, nicht eines, er ist vieles.
Das weihnachtlichste unter diesen verschiedenen Jesus-Bildern ist sicherlich: Licht der Welt. So ist es ja auch in Jesu Geburtsgeschichte hinein komponiert: Mit dem Stern über Bethlehem. Mit den Hirten des Nachts auf dem Felde, und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie. (Lk 2,9a)
Und wir weihnachtlichen Menschen ziehen einen Lichtbogen von damals bis heute. Mit unseren Kerzen (die mild leuchten, duften und sich verzehren), unserem Weihnachtsbaum (über den wir lange diskutiert haben und der auch in diesem Jahr „so schön ist wie noch nie“), mit all der Beleuchtung innen und außen an unseren Häusern, mit Sternen aus Annaberg und Herrenhut. Freuen uns am weihnachtlichen Glanz, auch noch am zweiten Feiertag. Und deshalb auch unsere lichtvollen Weihnachtslieder: „Das Blümelein so kleine das duftet uns so süß, mit seinem hellen Scheine vertreibt´s die Finsternis.“ (eg 30,2)
Aber ganz so einfach das nicht. Es erhebt sich Widerspruch. Ich bin das Licht der Welt. Mhm – da kann ja jeder kommen. Das Johannesevangelium überspringt Geburt und Kindheit und blendet sich gleich dreißig Jahre später ein, beim erwachsenen Jesus, der auf viel Skepsis stößt. Er ist gerade im Gespräch und die Gespräche sind hier oft harkelig und holperig und voller Missverständnisse. Die Gesprächspartner haben eine Lust daran, sehr kritisch nachzufragen, manchmal sogar Jesus hinters Licht zu führen.
Ich bin das Licht der Welt, sagt er. Mhm – da kann ja jeder kommen, antworten sie sinngemäß. „Das sagst du von dir selber. Aber: Kann es denn noch jemand bezeugen?“ Jesus bietet als weiteren Zeugen keinen geringeren als Gott im Himmel auf. „Ich und der Vater sind eins.“ (Joh 10,30) Aber dieser Hinweis auf die Doppelspitze führt in diesem Gespräch auch nicht so recht weiter. Wir können uns daher wieder ausblenden.
Und können hinüberblenden ein paar Verse zurück. Da wird beschrieben, wie Jesus zu einer Menschengruppe kommt. Jeder der Leute hat einen Stein in der Hand, gerichtet auf eine Frau in der Mitte. Die Männer sagen – nicht besonders leise – : „Beim Ehebruch erwischt, das Gesetz sagt Todesurteil, Steinigung. Was sagst du dazu, Jesus?“ Und Jesus sagt erstmal gar nichts. Erstmal etwas herunterkommen. Dann zeichnet er mit dem Finger in den Sand. Und schließlich legt er die Reihenfolge fest: Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. (Joh 7b) Stille. Nach und nach werden die Steine nicht geworfen, sondern auf dem Boden abgelegt.
Diese Frau könnte auch gut bezeugen: Jesus, Licht der Welt. Ein Lichtblick im Leben. Das ist allerdings eine Lebenserfahrung, und kein hieb- und stichfestes, glasklares Argument. Es ist eine Glaubensaussage und kein Beweis.
Jesus – Licht und Lichtblick der Welt. Mhm – da kann ja jeder kommen. Die Skepsis von damals hat sich nicht in Luft aufgelöst. Der Widerspruch ist geblieben. Und der Zweifel ist nach wie vor Geschwisterkind des Glaubens – auch bei uns. Denn wir feiern Weihnachten ja nicht als Erlöste, sondern als Sehnsüchtige. Als solche, die sich nicht freuen am Stern über der Krippe zu Bethlehem, sondern auch nach Frieden in der Welt dürsten, nach wärmenden Friedenslichtern.
Es geschah aber zu der Zeit, da Assad Machthaber in Syrien war. Da begab es sich, dass in Syrien die Lichter ausgingen. Man kann das sehen auf Satellitenbildern. Seit dem Beginn des Syrienkrieges 2011 sind über 80 % der Lichter ausgegangen. Weil Gebäude, Straßen und Stromleitungen zerstört sind, bleibt nachts alles dunkel. Und auch kalt. Die Menschen sind der absoluten Dunkelheit ausgeliefert, so wie wir es uns in Deutschland kaum noch vorstellen können. Wenn dort jemand nachts medizinisch behandelt werden muss, wird zum Teil die Handy-Beleuchtung verwendet, um überhaupt etwas zu sehen.
Christus: Licht der Welt.
Aber – es geschah zu der Zeit, da Erdogan Machthaber in der Türkei war. Da begab es sich, dass ein Verbot erlassen wurde. Weihnachten – jauchzet? Freuet euch? Nicht bei uns! Ja, wenn man im Schulunterricht etwas davon zu hören bekäme. Hat der türkische Staat Angst davor, dass Weihnachten thematisiert wird von einigen deutschen Lehrern an der Istanbuler Schule? Sind die Machthaber so unentspannt, dass sie wegen so etwas einschreiten und sich abschotten?
Christus: Licht der Welt
Aber – es geschah zu der Zeit, da eine große Terrorangst in Deutschland um sich gegriffen hatte. Da begab es sich, dass die besinnlichen Lichter und die friedlichen Menschen eines Weihnachtmarktes das Ziel von Unfrieden durch einen LKW in Berlin wurden und die Furcht noch mehr ansteigen ließ. Und alle wieder merkten: Leben in einem freien Land und absolute Sicherheit, das kann man wohl nicht beides haben.
Stille Nacht, traurige Nacht, in Berlin.
In diesen rauen Zeiten singe ich Johann Sebastian Bachs Weihnachtsmelodie wie einen Protestsong gegen dunkle Mächte und wie ein Hoffnungslied: „Ich lag in tiefster Todesnacht, du warest meine Sonne, die Sonne, die mir zugebracht Licht, Leben, Freud und Wonne.“ (eg 37,3)
Der Kern unseres Weihnachtsfestes lautet: Jesus. Licht der Welt.
Und das andere stimmt auch: Ja, da kann ja jeder kommen. Die Hirten kommen, die Weisen aus dem Morgenland kommen, die Ausgebooteten kommen, später kommen die Zöllner, die Fischer, Frauen, Kinder und Männer kommen, Verängstigte kommen, Zweifelnde kommen, Flüchtlinge kommen.
Da kann ja jeder kommen. Am Weihnachtsfest 2016. Jede und Jeder. Und wird im Licht verwandelt. Jesus behält das Licht nicht für sich, er sozialisiert es, er verschenkt es. Er sagt zu dir und zu mir: Ihr werdet das Licht des Lebens haben. (Joh 8,12b) Ja, mehr noch: Ihr seid das Licht der Welt. (Mt 5,14)
Also, wenn Sie sich hier umschauen: in der Bank neben Ihnen und auch vor und hinter Ihnen, und Sie selbst – lauter Lichter, lebendige Lichtblicke.
Dass Sie gesegnete Weihnachten haben und dass Sie im weihnachtlichen Licht Verlorenes wiederfinden, das wünsche ich Ihnen.
Amen.
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Gott sitzt auch auf einem grünen Plastikstuhl - Predigt zu Johannes 3,16-21 von Stephanie Höhner
Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die vertrauen, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde. Wer ihm vertraut, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht vertraut, der ist schon gerichtet, denn er glaubt nicht an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes. Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Wer Böses tut, der hasst das Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind. (Joh 3,16-21)
Osama wartet schon seit 7:23. Er kauert sich in den grünen Plastikstuhl. Neben ihm sitzt auch ein junger Mann. Daneben noch einer. Die ganze Reihe der grünen Plastikstühle ist besetzt mit jungen und älteren Männern. Sie alle warten schon seit Stunden hier. Manchmal wird einer aufgerufen, steht auf und verschwindet in einem der Büros.
Osama war auch gestern schon hier. Und vorgestern. Und letzte Woche auch.
Er wartet, dass auch er endlich in einem der Büros verschwinden kann.
Jetzt ist es 15:37. Er hat die Hoffnung aufgegeben. Er wird morgen wieder kommen. Und wieder warten, auf einem grünen Plastikstuhl.
Nur widerwillig packt Pia die Geschenke ein. Und nur widerwillig wird sie eine Stunde später ins Auto steigen und zu ihren Schwiegereltern fahren. Ex-Schwiegereltern, wenn sie es genau nimmt.
Pia weiß jetzt schon, wie es wieder werden wird. Sie werden alle am Tisch sitzen, lachen und reden. Über das Schulkonzert. Über die neuen Nachbarn. Und sie wird dabei sitzen und nichts sagen. Sie gehört nicht mehr dazu, seit sie vor zwei Jahren ausgezogen ist. Sie spürt die Vorwürfe in jedem Blick: „Du bist ja gegangen.“ „Wegen dir ist jetzt alles anders. Alles kompliziert.“
Pia zerknüllt den letzten Rest Papier. Sie wird trotzdem fahren und gute Miene machen.
Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde. (Joh 3,16)
Osama wartet auf ein Urteil. Das Urteil vom Entscheider. Ob sein Antrag auf Asyl genehmigt wird. Ob er sich hier ein neues Leben mit seiner Frau aufbauen kann.
Osama wartet auf das Urteil, ob er einer der „guten Flüchtlinge“ ist. Asylwürdig. Weil er vor den Bomben in seiner Heimatstadt in Syrien flieht.
Nihad wartet auch auf ein Urteil. Auch er hat einen Asylantrag gestellt, zusammen mit seiner Frau. Sie stammt aus dem Kosovo. Nihad aus Bosnien. Zusammen können sie nicht in Bosnien leben. Seine Frau ist dort illegal. Ein gemeinsames Leben nicht möglich. Obwohl sie schon drei Kinder haben.
Nihads Chancen auf Bleiberecht stehen schlecht. Er ist nur „Wirtschaftsflüchtling“ aus einem sicheren Herkunftsland. Vermeidlich sicher.
Das Amt wird entscheiden, wer ein guter oder schlechter Flüchtling ist. Asylwürdig oder nicht.
Der Bundestag entscheidet, wo es sicher ist oder nicht.
Das Amt fällt sein Urteil. Der Staat fällt sein Urteil. Und schwierig ist es, das richtige Urteil zu fällen. Schwierig ist es, wenn Menschen über Menschen urteilen. Und doch ist es oft notwendig.
Und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Wer Böses tut, der hasst das Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. (Joh 3,19b)
Pia ist schuld. Das steht für ihre Familie fest. Sie ist gegangen. Hat Mann und beide Töchter alleine gelassen, um ein neues Leben zu beginnen. So denken die anderen. Sie fällen ihr Urteil.
Doch Pia hatte ihre Gründe. Sie liebten sich nicht mehr. Das zu erkennen tat auch Pia weh. Wegzugehen von ihren Töchtern, den Lebenstraum mit Mann und Haus zurück zu lassen. Jetzt jeden Morgen allein am Küchentisch zu sitzen.
Vorwürfe kommen nicht nur von ihren Eltern, Schwiegereltern und ihrem Ehemann. Sie kommen auch von Freunden, Kollegen und Nachbarn. Meistens unausgesprochen.
Osama sitzt in der Finsternis. Seine Heimat ist zerstört. Er musste alles zurücklassen: seine Freunde, seine Eltern. Er musste sein Studium aufgeben und das freie, ausgelassene Leben, das er mit Anfang zwanzig genossen hat. Bomben und Kriegstreiber haben ihm sein Leben genommen.
Nihad sitzt in der Finsternis. Er hat Angst vor der Abschiebung. In seiner Heimat kann er nicht mit Frau und Kindern zusammen leben. In Deutschland hat er kein Recht auf Asyl. Er sucht einen Platz im Leben.
Pia sitzt in der Finsternis. Die Liebe ihres Lebens ist gescheitert. Ihre Kinder sieht sie nur noch am Wochenende. Der Traum vom Familienleben zerplatzt. Sie gehört nicht mehr dazu. Bei ihren Freunden. Bei ihrer Familie. Auch wenn Pia mit am Tisch sitzt. Sie gehört nicht mehr dazu.
Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist. (Joh 3,19a)
Gott kommt in die Welt. An einem dunklen Ort. In den Stall in Bethlehem. Eine Behausung für Tiere, nicht für ein Neugeborenes.
Gott kommt in die Welt. An den Rand. Zu den Hirten. Rechtlose, arme Knechte. Menschen, die schon sehr lange im Dunkeln sitzen. Nicht nur bei ihrer Arbeit nachts auf dem Feld.
Gott kommt in die Welt. Als das Licht. Als Engel auf dem Feld. Sie erleuchten mit ihrer Klarheit die Nacht. Sie beleuchten die Hirten am Rand des Lebens.
Wieder geht ein Jahr zu Ende, in dem viel beleuchtet werden muss. Es kommt mir manchmal so vor, als ob die Welt nur noch in der Finsternis sitzt.
Im Bombenhagel in Syrien. In Berlin auf dem Weihnachtsmarkt. Auf grünen Plastikstühlen in der Asylbehörde und am Familientisch zu Weihnachten.
Die Welt sitzt im Dunkeln und wartet auf ihr Urteil. Eigentlich scheint es schon gefallen.
Es steht schon fest, wer ein „guter“ oder „schlechter“ Flüchtling ist.
Wer die „gute“ Kandidatin ist oder der „böse“ Kandidat.
Es steht schon fest, wer Schuld hat. Das Urteil ist schnell gefällt. Von uns Menschen im Dunkeln.
Ich sehne mich nach dem Licht. Das Licht, das alles offen legt. Das Klarheit bringt. Das das Dunkel überstrahlt.
Aber das nicht urteilt. Nicht sagt „gut oder böse“, „richtig oder falsch“.
Das Licht leuchtet alles an. Aber es urteilt nicht. Es gibt die Welt nicht verloren. Es gibt uns nicht verloren.
Gott schaut nicht in die Akten von Osama oder Nihad. Er sieht sie an als Menschen, die im Finstern sitzen. Er leuchtet in die Finsternis und verspricht: Ich will euch retten. Ich gebe euch nicht verloren.
Gott achtet nicht auf den Status der Hirten. Er sieht sie an als Menschen, die im Finstern sitzen. Er leuchtet in die Finsternis nachts auf dem Feld. Er sagt: Fürchtet euch nicht! Ich verkündige euch große Freude! (Lk 2,10b)
Gott schaut nicht auf unser Urteil, das wir treffen oder das über uns getroffen ist. Er sieht uns an als Menschen, die im Finstern sitzen und sich nach Licht sehnen. Er kommt in die Welt und verspricht: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende! (Mt 28,20)
Gott spricht kein Urteil. Er spricht uns an.
Gott urteilt nicht über Menschen, nicht über die Welt, weil er sie liebt. Die Welt und uns Menschen. Darum kommt er selbst auf die Welt. An den Rand. In den Stall. Auf den grünen Plastikstuhl und an den Familientisch.
Gott sieht das Urteil von uns Menschen über einander und was es anrichten kann: Gutes wie Schlechtes. Doch er richtet sich nicht danach. Gott stellt sich zu uns. Zu uns, den Gerichteten. Zu uns, die Richtenden.
Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die ihm vertrauen, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. (Joh 3,16)
Es ist 15:42 Uhr. Osama zieht sich gerade die Jacke an, als der Aufruf „Nr.2304“ kommt. 2304 – das ist Osamas Nummer. Er darf endlich in einer der Bürotüren verschwinden. Das Warten hat ein Ende. Der Asylantrag rückt näher. Aber noch ist es nicht geschafft.
Pia sitzt vor ihrem halbvollen Teller. Sie hat wenig Appetit. Und noch weniger Spaß. Anders als alle anderen, die über den Racletteabend letzte Woche reden.
Pia sitzt stumm daneben. Sie war dazu nicht eingeladen. Sie will eigentlich am liebsten nach Hause. Doch sie reißt sich zusammen. Setzt ein Lächeln auf, auch wenn es ihr schwer fällt. Vielleicht wird es einmal wieder anders sein, denkt sie. Vielleicht kann auch ich einmal wieder mitreden. Irgendwann.
Wie schön wäre es, wenn Osama bleiben könnte.
Wie schön wäre es, wenn auch Nihad bleiben könnte.
Wie schön wäre es, wenn Pia mitreden könnte.
Wie schön wäre es, wenn es Licht auf der Welt wird. Wenn der Bombenhagel verstummt. Wenn die Tränen trocknen.
Ich sehne mich nach Licht. Ich will nicht verloren sein. Ich will nicht in der Finsternis bleiben.
Nihads Antrag wird abgelehnt. Zusammen mit seiner Frau und den drei Kindern werden sie nachts abgeholt und zum Flughafen gebracht. Wie sie in Bosnien leben sollen, wissen sie nicht.
Osamas Antrag auf Asyl wird genehmigt. Er darf mit seiner Frau bleiben und hier ein neues Leben aufbauen.
Noch ist es finster in der Welt. Noch sitzen wir im Dunkeln.
Manchmal sehe ich ein Licht einfallen. Auf einen grünen Plastikstuhl. Am Familientisch. Und ich hoffe, auch bald im Flugzeug nach Bosnien.
Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die ihm vertrauen, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. (Joh 3,16)
Amen.