Thomas, der Zweifler - Predigt zu Johannes 20,19-31 von Martin Weeber
Thomas, der Zweifler
Am Abend aber dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch!
Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen.
Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.
Und als er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: Nehmt hin den Heiligen Geist!
Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.
Thomas aber, der Zwilling genannt wird, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam.
Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich's nicht glauben.
Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen versammelt und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch!
Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!
Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott!
Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, Thomas, darum glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!
Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch.
Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.
Thomas will es wissen.
Was die anderen ihm sagen, das reicht ihm nicht.
Er will seinen Glauben an Jesus nicht auf den Aussagen anderer aufbauen.
Anderen mag das reichen.
Ihnen mag es ausreichen, wenn andere es ihnen erzählen, dass Jesus sich ihnen gezeigt hat.
Thomas aber ist ein kritischer Geist:
„Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich's nicht glauben.“
Die Haltung des Thomas ist sprichwörtlich geworden – als „ungläubiger Thomas“ ist er in den Sprachschatz eingegangen.
Thomas möchte gerne Beweise, handgreifliche Beweise.
In der Gemäldegalerie neben Schloss Sanssouci in Potsdam hängt ein großartiges Bild.
Wer es einmal gesehen hat, kann es nie wieder vergessen.
Gemalt wurde es von Caravaggio.
Jesus ist darauf zu sehen, Thomas ist zu sehen, zwei weitere Jünger sind zu sehen.
Und Jesus zeigt dem Thomas seine Seitenwunde, die Wunde, die ihm mit einer Lanze zugefügt wurde, als er am Kreuz hing.
Nein, er zeigt sie ihm nicht nur.
Er lässt es zu, dass Thomas seinen Zeigefinger in diese Seitenwunde einführt.
Ja, es sieht so aus, als ob Jesus selber die Hand des Thomas ergreift und sie führt.
Eine unglaubliche Szene.
Unglaublich auch die Blicke der Jünger:
Eine Mischung aus Faszination und Erschrecken.
Ein großartiges Bild.
Freilich kann man sich fragen, ob dem Maler nicht seine Fantasie durchgegangen ist.
Denn davon, dass Thomas wirklich seinen Finger in die Seitenwunde legt, ist im Text nicht ausdrücklich die Rede.
Und zur Theologie des Johannesevangeliums würde es nicht wirklich passen, dass Thomas den gewünschten greifbaren Beweis bekommt.
Hat er? Oder hat er nicht?
Wenn man sich hineindenkt in die Art und Weise, wie das Johannesevangelium Jesus versteht und schildert, dann erscheint es plausibler, zu sagen: Thomas hat das Angebot Jesu ausgeschlagen.
Es spricht manches dafür, sich die Sache so vorzustellen, dass Thomas zwar überwältigt war von Jesu Angebot, dass er aber letztlich doch den Finger nicht in die Wunde gelegt hat.
Hätten wir? Oder hätten wir nicht?
Das Johannesevangelium schildert in seinen Ostererzählungen verschiedene Menschentypen und die Art und Weise, wie sie zum Glauben kommen. Thomas ist einer von ihnen. Thomas ist der Skeptiker, der gerne Beweise hätte für den Glauben. Aber der Verfasser des Johannesevangeliums ist zutiefst davon überzeugt, dass es letztlich für den Glauben keine Beweise gibt.
Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen versammelt und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch! Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!
Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott!
Thomas spricht hier ein Bekenntnis zu Jesus aus, wie es umfassender und höher gar nicht gedacht werden kann: „Mein Herr und mein Gott!“
Ausgerechnet der Zweifler Thomas, der große Skeptiker, kommt hier zur tiefsten Einsicht über Jesus.
Dass Thomas tatsächlich das Angebot Jesu angenommen hat, das steht nicht im Text.
Das Bekenntnis des Thomas schließt sich ganz direkt an die Aufforderung Jesu an.
Es steht da eben nicht: „Und Thomas legte seine Hand in die Wunde“.
Hat er? Oder hat er nicht?
Was hat ihn überzeugt?
Vielleicht war es einfach die Art und Weise, auf die Jesus ihn angesprochen hat.
Viellicht hat es ihn einfach überwältigt, dass Jesus sein Anliegen nicht einfach abgelehnt hat.
Aber selbst wenn wir annehmen, dass Thomas wirklich seine Hand in die Seitenwunde Jesu gelegt hat:
Gelobt wird er dafür nicht.
Denn Jesus sagt zu ihm: „Weil du mich gesehen hast, Thomas, darum glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“
(Ein Berühren wird hier übrigens interessanterweise gar nicht erwähnt: Vielleicht noch ein Hinweis darauf, dass es zur Fingerprobe wirklich nicht gekommen ist.)
Am Ende hilft kein Berühren, und es hilft auch kein Sehen, um zum Glauben an Jesus zu kommen.
Jesus kritisiert hier einen Glauben, der sich auf Greifbarkeit und auf Sichtbarkeit gründet.
Was er aber nicht kritisiert, ist das Verlangen des Thomas nach Beweisen und Gründen für seinen Glauben. Sonst würde er ihn nicht dazu auffordern, seine Hand in seine Wunde zu legen.
Jesus akzeptiert den Wunsch des Thomas, Jesus versteht die Zweifel des Thomas.
Er weist das Ansinnen des Thomas nicht ab.
Könnte es so gewesen sein:
Jesus akzeptiert die Zweifel des Thomas.
Jesus akzeptiert den Thomas als einen Zweifelnden.
Jesus kommt dem Thomas entgegen.
Und Thomas kommt zum Glauben einfach dadurch, dass Jesus ihn anspricht.
Thomas geht die Einsicht auf, dass der Glaube sich nicht auf Greifbares gründet.
Und Jesus führt diese Einsicht noch weiter:
Auch nicht auf Sichtbares gründet sich der Glaube.
„Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“
Könnte es so gewesen sein?
Was zunächst wie eine Enttäuschung für Thomas aussieht, ist bei Lichte betrachtet, eine sehr tröstliche Einsicht:
Glaube kann entstehen ohne sichtbare und ohne greifbare Beweise.
Wäre es anders, dann wären wir schlecht dran:
Denn die Zeit der Sichtbarkeit und der Greifbarkeit Jesu – die ist längst vorbei.
Auf Sichtbares und auf Greifbares kann sich unser Glaube nicht gründen.
Wir sind definitiv nicht mehr die, die „damals dabei waren.“
Aber das ist auch nicht schlimm.
Wir sind deshalb nicht schlechter dran.
Auch wir können von Jesus angesprochen werden.
Das ist die Erfahrung, die Menschen auch heute noch machen können:
Jesus spricht mich an.
Was ich über Jesus und von Jesus höre, das spricht mich an.
Es kann sich in mir ein Vertrauen zu Jesus entwickeln, das nicht einfach identisch ist mit dem Vertrauen auf die, die mir von Jesus erzählen.
Durch alle Zweifel hindurch kann sich eine unbeweisbare, aber dennoch tragende Gewissheit entwickeln.
Nebenbei bemerkt:
Das gilt für unsere grundlegenden Gewissheiten allesamt:
Sie fußen nicht auf Beweisen, sondern sie tragen uns einfach.
Niemand kann uns etwa beweisen, dass die Außenwelt keine bloße Illusion ist – und dennoch bewegen wir uns in aller Selbstverständlichkeit in ihr.
Wir leben ganz grundsätzlich sehr viel weniger von Beweisen als vielmehr von einem gefühlsmäßigen Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Wirklichkeit.
„Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“
Mir ist Thomas sehr nahe.
Ich will auch nicht meinen Glauben auf die Aussagen anderer gründen.
Und ich hätte am liebsten auch Beweise für den Glauben.
Thomas ist der Zweifler, der Skeptiker.
Thomas will nicht einfach einstimmen in das, was die Anderen sagen.
Thomas ist der Mensch, für den der Glaube nur zählt, wenn er ein eigener Glaube ist.
Und Jesus versteht seinen Wunsch – auch wenn er ihn nicht so erfüllen kann, wie Thomas sich das vorstellt.
Wir Menschen sind sehr unterschiedlich – und deshalb glauben wir auch auf sehr unterschiedliche Weise. Der Glaube hebt unsere Vorprägungen nicht einfach auf. Thomas bleibt Thomas, auch im Glauben. Er bleibt ein Mensch, der Fragen stellt.
Wie geht die christliche Gemeinde mit Menschen wie Thomas um?
Reden wir, wenn wir in unseren Gottesdiensten von Jesus reden, so, dass auch Thomas sich angesprochen fühlen kann?
Erzählen wir von unserem Glauben so, dass auch Zweifler sich ernst genommen und angenommen fühlen können?
Versuchen wir, sie zu verstehen?
Kommen wir ihnen entgegen?
Oder sind uns die Zweifler zu unbequem?
Das Johannesevangelium setzt Thomas, diesem Zweifler, jedenfalls ein großartiges Denkmal:
Gerade er gewinnt den tiefsten Zugang zum Geheimnis Jesu:
„Mein Herr und mein Gott.“
Gerade Thomas geht es auf, dass in dem Menschen Jesus kein anderer begegnet als Gott selber.
Die Menschen, denen es genügt, auf das hin zu glauben, was andere ihnen vorsagen:
Die sind kirchlich pflegeleichter.
Der Umgang mit Thomas ist schwieriger.
Aber es lohnt sich, die Fragen und Zweifel des Thomas ernst zu nehmen.
Thomas muss nicht den Maßstab abgeben.
Niemand muss wie Thomas sein.
Glücklich, wer einfach fraglos in den Glauben hineinwächst!
Glücklich, wer glaubt mit der gleichen Fraglosigkeit, mit der er atmet.
Aber Thomas gehört auch zu uns.
Amen.
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KONFI-IMPULS zu Johannes 20,19-29 von Ulrich Erhardt
Verschlossene Türen für Konfirmandinnen und Konfirmanden
Immer wieder sagen mir Konfirmandinnen und Konfirmanden: Gegen den Glauben spricht, dass man Gott nicht sehen kann. Insofern können sie sich mit Thomas identifizieren, der sehen und begreifen will. Und das Gefühl, dass Türen für sie verschlossen sind, kennen sie auch. Wie die Jünger im Text.
Verschlossene Tür
Ich nehme das Bild von der Tür auf. Ob man nun eine ausgehängte Tür im Altarbereich der Kirche aufstellt oder nur ein Türschild vom Hotel nimmt mit seiner roten Seite und seiner grünen, hängt von der Situation vor Ort ab (die Schilder lassen sich im Internet bestellen). Man kann mit der roten Seite starten: Warum erscheint uns die Tür zu Gott oft verschlossen? Die Konfirmanden haben ihre Gedanken dazu auf rotes Papier geschrieben, tragen sie vor und hängen die Blätter an die Tür oder an eine andere Stelle im Blickfeld der Gottesdienstgemeinde.
Unsere Konfirmanden haben folgendes notiert: „Können Gott und Jesus nicht sehen und es gibt auch keine Bilder", „Dass wir nicht wissen, wie er aussieht“, „Manche Geschichten über Jesus: Er geht über das Wasser“, „Dass er Menschen, die todkrank sind, wieder heilen kann“, „Auferstehung“, „Dass Gott über die Welt herrscht – König der Welt!“, „Viele Sachen, für die wir beten, passieren nicht!“, „Schöpfung der Welt (erste Menschen: Adam und Eva) - Wissenschaft“, „Wieso hilft er nicht allen, die seine Hilfe brauchen (Krieg …)“, „Dass Jesus wiederkommen sollte, aber er kommt nicht“.
Dieses kann im ersten Teil der Predigt mit den Erfahrungen der Jünger verknüpft werden. Ihnen wurden auch die Wunder durch das Geschehen am Ende des Weges Jesu fraglich. Das Ausbleiben der Hilfe Gottes führte zur Angst, die Türen verschloss. Und da ist Thomas, der Jesus nicht sieht, sondern nur von ihm hört.
Der Auferstandene kommt durch die verschlossene Tür
Dann kann das Türschild auf „grün“ gedreht bzw. die Tür geöffnet werden. Die Jünger erlebten, wie Jesus in ihr verschlossenes Zimmer und zu ihren ängstlichen Gedanken kam. Erleben wir so etwas auch?
Die Konfirmanden haben auf grüne Blätter solche Erfahrungen notiert, lesen sie vor und hängen sie wieder auf. In unserer Gruppe wurde geschrieben: „Bibel – irgendwo müssen die Geschichten ja herkommen!“, „Weihnachten - Geburt Jesu“, „Dass Jesus der Sohn Gottes ist“, „Jesus ist der, der den Menschen hilft“, „Geschichten von Jesus über Gott“, „Das Gebet gibt mir Sicherheit“, „Kirche“, „Gottesdienst“, „Dass manche Leute von Begegnungen sprechen“.
Nicht sehen und doch glauben
Die Wünsche des Thomas und Jesu Antwort können im weiteren Verlauf der Predigt aufgenommen werden. Interessant ist zu Ostern, dass Weihnachten von den Konfirmanden auf den grünen, Auferstehung aber auf den roten Blättern vermerkt wurde. Können wir Mut machen zu einem vom unsichtbaren Christus inspirierten Glauben? „Die späteren Glaubenden werden zwar nicht wie Thomas die Wundmale Jesu zu sehen bekommen. Aber es käme wohl darauf an, dass sie die Wunden seiner geringsten Schwestern und Brüder … nicht übersehen.“ (Klaus Wengst: Das Johannesevangelium; 2. Teilband, S.301f)
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Predigt zu Johannes 20,19-29 von Elisabeth Tobaben
Liebe Gemeinde!
Leichter wäre es bestimmt gewesen, einfach das zu sagen, was alle sagten;
einfach irgendwie mit einzustimmen in den großen Oster-Jubel-Lobgesang,
leichter jedenfalls, als so energisch festzuhalten an dem eigenen Zweifel !
ihn sich nicht ausreden zu lassen.
Aber das kann Thomas nicht, Thomas muss fragen.
Er begreift, dass er sonst sich selbst gänzlich untreu würde.
Er ist eben einer, der alles ganz genau wissen muss,
der selber prüfen und erleben will,
der nicht aus "zweiter Hand" leben kann.
Und so macht er sich das Leben schwer,
'unnötig' schwer würden vielleicht manche von uns sagen.
Denn er gerät damit plötzlich in den Mittelpunkt einer Geschichte
Jetzt muss er durchhalten, was er angefangen hat,
von einem bestimmten Punkt an kann man einfach nicht mehr zurück!
Und er kommt gar nicht gut weg mit all seiner Konsequenz in dieser Geschichte,
der "ungläubige" Thomas!
Geradezu sprichwörtlich ist er geworden!
Abqualifiziert als einer, der es immer noch nicht begriffen hat,
was die anderen längst kennen.
Als boshaft dickköpfiger Mensch steht er da,
der sich einfach nicht überzeugen lassen will,
der sich raushält und abgrenzt, nicht dabei ist
und auf diese Weise das Entscheidende verpasst.
Dabei möchte er doch so gerne so sein können wie die anderen!
Würde er sonst so intensiv suchen und fragen?
Und wie viele suchen mit ihm,
hoffen, dass sich tatsächlich das Vergangene verklären möchte,
damit sich das Leiden vergangener Tage in einem ganz neuen Licht zeigen kann;
Wenn es doch wirklich so etwas gäbe wie Schalom, Frieden, Heil, Ganzwerden,
Leben mit und trotz des Vergangenen..
Hin- und hergerissen wieThomas zwischen dieser Sehnsucht nach Heil
und der Sehnsucht nach Echtheit und Wahrhaftigkeit.
"Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust..."
Vielleicht ist er mir doch näher als ich dachte mit seiner Suche und seiner Zerrissenheit...?
Ich kenne Menschen , die versuchen diesen Zwiespalt zu lösen,
indem sie ihre eigenen Fragen und Probleme nicht mehr wahrzuehmen wagen.
Sie treten die "Flucht in die Gewißheit" an.
Sie passen sich an, bekennen mit, wenn alle das tun,
stimmen ein in das, was alle sagen.
Sie brauchen den Schutz der Gruppe, der Gemeinde, sie wollen unbedingt dazugehören,
egal wie abstrus ihnen manche Glaubenssätze auch vorkommen!!
Sie schlucken lieber ihre Fragen und Zweifel herunter und sagen sich:
Hauptsache, ich muss nicht allein sein mit meinen Ängsten.
Zu groß ist die andere Angst, die nämlich, sonst plötzlich draußen zu stehen, schutzlos,
nicht mehr dazuzugehören.
Vielleicht ist das ja auch so, dass man das gar nicht immer aushält ,
mit den eigenen Fragen und Zweifeln so im Mittelpunkt zu stehen!?
Vielleicht brauchen wir alle ja ab und zu solche Zeiten, in denen das auch so sein darf,
dass wir für uns behalten, was in uns fragt und bohrt;
in denen wir Zweifel und alte Verletzungen
nicht gleich auf den Tisch legen müssen,
Nicht als Dauerzustand, aber es könnte ja sein,
dass wir Tage, Wochen, vielleicht sogar Jahre nötig haben,
in denen wir ein bisschen wie "zwischen den Zeiten" leben!
Vielleicht, weil die Zeit einfach noch nicht reif ist zur Klärung;
Zeiten, in denen wir andere brauchen, die uns trotzdem mittragen und halten.
Aber Thomas ist heute schon einen Schritt weiter,
er kann fragen, er muss fragen.
Er will ja prüfen, nachholen, was die anderen erlebt haben,
Thomas will sehen und anrühren... und glauben?
Und genau dieser Wunsch trägt ihm das Urteil: "ungläubig" ein!
Wieso eigentlich?
Was für ein merkwürdiges "Ideal " von "Glauben" steckt dahinter?
Kann es sein, dass wir damit auf Thomas etwas projizieren von der "Flucht in die Gewissheit"?
Von der Sehnsucht, die so gerne eine unumstößliche Sicherheit hätte,
die so gern ein für allemal festschreiben würde:
So ist und nicht anders, so ist zu glauben und nicht anders, Punkt.
Und alle, die diese Sicherheit nicht teilen, sind dann eben ungläubig
Dann wäre die Einteilung so schön einfach!
Thomas fragt , weil er nicht einfach übernehmen will , was andere richtig finden -
Fragt er nicht im Grunde gerade weil er glauben möchte?
Alle Suche nach Eindeutigkeit muss sich der Gefahr bewusst
sein, die darin steckt, nämlich :
Fragen, Zweifel oder andere Erfahrungswege zuzudeckeln oder gar nicht erst zuzulassen,
weil die Unsicherheit so schwer auszuhalten ist, eigene wir fremde!
Da ist die Versuchung groß, vorschnell,
ohne den Entwicklungsprozess bis zu Ende abzuwarten,
in ein vermeintliches Glaubensbekenntnis einzustimmen oder es einzufordern von anderen!
Auch der Ruf nach einem klaren und eindeutigen Profil unserer Kirche muss darauf achtgeben,
so verständlich ich diesen Ruf sonst finde.
Sonst könnte es sein, dass wir uns eines Tages so wiederfinden
wie die nachösterlichen Jünger:
verrammelt, verbarrikadiert,
hinter verschlossenen Türen versteckt und in Angst und Schrecken.
Keiner kommt an uns heran!
Alle Versuche, die Türen aufzubrechen
und von außen zu den eingeschlossenen vorzudringen,
würde nur noch mehr Angst verbreiten, Gewalt auslösen, damals wie heute.
Und wie das Wort, das von drinnen kommt, von dem ich immer geahnt habe,
dass es dort ist, das mich grundlegend verändert,
und das ich mir trotzdem niemals selber sagen kann,
so ist auch Jesus plötzlich da, in ihrer Mitte.
Und wenn er ihnen Frieden wünscht,
dann in diesem umfassenden Sinn des hebräischen Schalom,
das als das genaue Gegenteil von Angst und Gewalt, ist Heil, Ganzheit, Vollständigkeit...
Er löst ihre Erstarrung, die Mauern der Angst und Abwehr
und holt sie heraus aus ihrer Isolation.
Wie er das macht, das ist es,
was mich an dieser Geschichte heute am meisten erschreckt, aber auch anrührt:
Er taucht eben nicht auf als der glorreiche, mächtige, über alles erhabene King,
sondern es heißt ganz schlicht: "er zeigte ihnen die Hände und seine Seite...".
Er zeigt sich ihnen mit seinen Verwundungen,
seinem Leiden und seiner Schwäche., seiner ganzen Lebensgeschichte.
Das ist etwas anderes als das unselige "Nicht-so-schlimm".
Es ist nicht einfach alles vorbei, so als ob Ostern Karfreitag einfach aufheben würde.
Er erlaubt dem Thomas sogar, seine Hände und seine Seite zu berühren,
den Finger in die Wunden zu legen!
Und weil er sich selbst so anrühren lässt,
wird er auch andere so treffen, Thomas zuerst...
Neuanfang gibt es nicht an den alten Wunden vorbei.
Vergebung fegt nicht einfach unter den Teppich, was wir einander angetan haben,
im Gegenteil: sie braucht den Blick auf das, was gewesen ist,
wir können frei, hoffnungsvoll und zuversichtlich leben mit dem, was war!
Doch dazu ist es manchmal nötig, den Finger (noch einmal) genau in die Wunde zu legen.,
die alten Schmerzen vielleicht noch einmal wachzurufen,
Tränen und Trauer nachzuholen, damit die alten Verletzungen heilen können!
Ich denke, dass es dazu den Schutz des Geistes braucht,
den Jesus den Seinen gibt. (mit diesem eindrücklichen Bild des Anhauchens beschrieben!)
Das ist es, was mir immer wieder wie ein Wunder vorkommt,
dass mit dieser Berührung nicht alles zusammenbricht,
sondern dass es gerade weitergeht, wenn ich mich nicht mehr verstecken muss,
endlich zugeben kann, was mich so lange gequält hat...
Die Lebens - Geschichte einer Frau fällt mir ein, so wie sie sie kürzlich in einer Zeitschrift erzählte:
Ihr großes Problem war, dass sie Analphabetin war, mitten in Deutschland.
Sie hatte auf Grund einer unruhigen Kindheit nur ganz kurz die Schule besucht,
musste früh auf dem Hof mit anpacken,
eine ganze Latte kleiner Geschwister versorgen und die kranke Mutter und hatte so nie richtig Lesen und Schreiben gelernt und das wenige natürlich schnell vergessen.
Mit der Zeit hatte sie ausgeklügelte Methoden entwickelt, um ihr Geheimnis zu hüten.
Sie wollte nicht, dass irgendjemand davon erfuhr, dass sie solche Lücken hatte.
Immer hatte sie gerade ihre Brille vergessen oder sich die Hand verletzt, wenn es drum ging, etwas aufzuschreiben.
Schließlich war sie fast nur noch mit dem Gedanken beschäftigt,
sich bloß nicht zu verraten und den Schein zu wahren.
Und als endlich alles zusammenbricht, das für sie so entsetzliche Geheimnis ans Licht kommt,
da geht erstaunlicherweise die Welt gar nicht unter,
sondern sie ist total erleichtert, dass sie sich endlich nicht mehr verstecken muss.
'Ich konnte zum erstenmal wieder wirklich sehen,
dass mein kleines Kind mich anlachte und das es draußen regnete.
Ich hatte ja nichts mehr um mich herum wahrgenommen,
ich hatte nur noch Angst', sagt sie.
'Jetzt konnte ich endlich etwas tun, um mein Problem zu lösen.
Es ist ja noch gar nicht zu spät,
Lesen und Schreiben zu lernen!'
Türen, die sich wieder öffnen,
Menschen, die sich nicht mehr einschließen und abschotten müssen,
Menschen, die offen aufeinander zugehen können,
Das sind Erfahrungen, die nicht verfügbar sind, nicht machbar.
allenfalls können wir Voraussetzungen dafür schaffen,
Räume, Orte, Zeiten, in denen wir -vielleicht in besonderer Weise- Gott begegnen könnten...
Die Begegnung zwischen Jesus und Thomas stellt Ernst Barlach dar mit seiner Skulptur, die er auch "Das Wiedersehen" nennt. (Bild: http://www.ernst-barlach.com/barlach-pl-390-das-wiedersehen.html)
Die überdimensional großen Hände fallen mir auf bei beiden Gestalten,
Hände, die festhalten und sich halten.
Er hat einen Jesus, geschaffen, der wirklich etwas Verklärtes hat, finde ich,
der über die gekrümmte Thomas-Figur weg in die Ferne blickt, in die Zukunft
in der Sorge um die, denen dann das Sehen und Berühren gar nicht mehr möglich sein wird?
Kerzengerade aufgerichtet ist seine Gestalt,
verspricht wirklich Halt und zuflucht,
aber zugleich kommt er mir auch sehr zart vor, ja zärtlich mit dem Suchenden.
Thomas hat hier sein Ziel gefunden, sein eigenes Bekenntnis: 'Mein Herr und mein Gott.'
Thomas ist einer, der mir Mut macht zur Unsicherheit und zum Fragen!
Mut, sie nicht sofort zuzuschütten mit vorschnellen Antworten,
sondern ihnen standzuhalten und
zu warten auf die echten, die gewachsenen Antworten;
Gott sei Dank.
Amen.
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Ostergottesdienst: Christ ist erstanden
Er ist erstanden, Halleluja!
Mit Gesang, Trompeten und Zimbeln preisen wir die Auferstehung.
Es ist Ostern!!
Das Grab ist leer.
Das Leben ruft, alles auf Anfang, alles neu.
Raus in die Stadt.
Ich spüre den Sog, ich spüre den Sound – die Mauern fallen, die Stadt wird hell.
Wir prosten uns zu:
Ein hoch auf uns, auf dieses Leben!
Wir haben etwas zu feiern.
Und wir feiern überschwänglich,
mit Lammbraten und Wein,
Hasen, Eier und Kuchen in Mengen.
Ob in Hamburg, Berlin oder Köln –
es ist Ostern!
Jesus lebt.
„Des solln wir alle fröhlich sein.“
Also – wir sollten es sein und sind es doch viel zu selten.
Viel zu wenig mutig, viel zu wenig fröhlich.
Wenn wir uns klar machen:
Jeden Sonntag sagen wir: Auferstanden von Toten.
Und wirken doch so als hätte sich das noch nicht bis zu uns rumgesprochen.
Warum ist das so?
Was ist nötig, damit Ostern bei mir ankommt?
Hören Sie, was Johannes schreibt:
Lesung: Johannes 20, 11-18
Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Als sie nun weinte, schaute sie in das Grab und sieht zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den andern zu den Füßen, wo sie den Leichnam Jesu hingelegt hatten.
Und die sprachen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.
Und als sie das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist.
Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast; dann will ich ihn holen.
Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister!
Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Schwestern und Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.
Maria von Magdala geht und verkündigt den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen.
Pfarrer Gregor Hohberg (Predigt):
Maria geht am Morgen des 1. Tages zum Grab. Sie ist traurig. Sie weint.
Sie weiß noch nicht, dass Ostern ist.
Wir dagegen wissen es und wir feiern es sogar.
Aber allzu oft wirken wir auch, als wüssten wir es nicht, als gäbe es Ostern nicht.
Und es gibt ja wirklich Gründe genug zu zweifeln, traurig zu sein.
Maria trauert um den Mann, den sie liebte.
Sie fragt sich: Wo ist er jetzt? Was soll ich bloß tun? Sie denkt an ihn. Sie weint.
Und auch mir geht so viel Trauriges durch den Kopf:
Mir ist himmelangst, wenn ich die furchtbaren Dinge höre, die sich auf der Erde ausbreiten.
Tief traurig macht es mich auch, wenn ich an das Ende der Flüchtlinge denke, die es nicht bis zu uns schaffen. Die auch in Frieden leben wollten und auskömmlich so wie wir.
Und ich denke an unsere Kirche. Unsere Erstarrung, unser Schielen auf unsere Besitzstände, unsere politische Korrektheit. Wir sind im Namen des Auferstandenen unterwegs. Da ist Mut gefragt. Sagen wir nicht viel zu schnell „Ja“ und „Amen“ und geben uns zufrieden mit der Welt wie sie ist?
Wie soll es da Ostern werden? Was ist nötig, dass es bei mir ankommt?
Und noch während Maria so denkt, dreht sie sich um und blickt auf.
Es steht jemand hinter ihr. Sie ist nicht allein. Der um den sie trauert ist lebendig.
Maria sieht ihn an und weiß nicht, dass es Jesus ist.
Das passiert oft. Wahrscheinlich sehe ich jeden Tag jemanden und erkenne nicht, dass es Jesus ist.
Maria vermutet, es ist der Gärtner. Aber es ist Jesus, der mitten im Leben steht, der wirkt als hätte er Spaß am Leben, als pflegte, hegte und feierte er das Leben.
Er, der Gärtner der neuen Schöpfung, steht da und lächelt und sagt (zu Maria):
Maria.
Das klingt so gut, so hell,
so wie am 1. Schöpfungstag als Gott sagte: Es werde Licht.
Es klingt, wie das Aussprechen unserer Namen bei unserer Taufe.
Dein Name, den Dir Deine Eltern bei Deiner Geburt gaben. Ganz am Anfang, als noch alles gut war.
Ja, so klingt es. Vertraut. „Maria“ Liebevoll.
Maria hört ihren Namen. Wirklich sie ist gemeint. Sie fühlt sich erkannt, fühlt sich besser, froher.
Sie ist wie neugeboren. Und jetzt erkennt sie ihn.
Und sagt zu ihm: Rabbuni.
Sie sagt es zärtlich und hingebungsvoll
Denn nun spürt sie wieder seine Liebe, spürt sie in sich lodern, ganz real und lebendig.
Sie fühlt, dass das Leben weiter geht – mit ihm.
Jesus hat sie herausgerufen, gerufen österlich zu leben.
Sie ist gemeint. Er hat ihren Namen gesagt.
Und wir sind gemeint. Gott kennt Dich. Dein Name wurde bei deiner Taufe ausgesprochen.
Nun bist auch du wiedergeboren (aus Wasser und Geist) und sollst leben.
Wir sind die Gemeinschaft der Heiligen. Gerufen das Leben zu leben, es zu heiligen.
Gerufen, alles zu geben, dass Ostern Wirklichkeit wird.
Von ganzer Seele und mit ganzem Herzen glauben, dass Jesus lebt.
Ich stelle mir vor, Jesus ist auferstanden – seine Geistesgaben, seine Liebe wirken weiter.
Sind nicht am Ende, sind mächtiger als der Tod.
Sein (Dienst am) Leben geht weiter – durch uns.
Durch Dich und Dich und mich.
Ohne uns geht es nicht.
Sage niemand: ich nicht. Ich bin zu klein oder zu alt oder zu krank.
Was soll ich tun, hier vom Bett aus? Was soll ich tun ohne Geld, ohne Zeit?
Solches reden zählt nicht.
Geht nicht, gibt’s nicht!
Jedenfalls sollten wir es doch wieder versuchen!
Hintern hoch! Nur Mut!
Wenn Gott einen von den Toten auferwecken kann. Dann sollte uns doch viel mehr möglich sein, als wir denken! Mehr Leben, mehr Mut, mehr Freude.
Jede aufmerksame Minute, jeder gütige Blick, jedes Gebet, jede Hand, die streichelt oder zupackt, die zählen. Das bleibt. Es ist nicht umsonst. Es ist Fortsetzung der Auferstehungsgeschichte.
Wir sind gefordert. Jede und jeder wird gebraucht.
Wir sind heute die Gärtner des Lebens.
Wir sind Gottes Christusse. Wir sind Herz, Hand und Mund des Auferstandenen.
So geht das Leben weiter –
Nicht fraglos, nicht ohne Zweifel, nicht einmal ohne den Tod, aber trotz des Todes.
Trotz Allem macht es unendlich viel Sinn dem Leben mehr zu trauen.
Mit Herzen, Mund und Händen lasst uns wenden – alles, was das Leben bedroht.
Es wäre Verrat am Auferstehungsglauben, es nicht immer wieder zu versuchen.
Es wäre Unglauben.
Aber wir wollen Ostern wagen.
Trotz jener, die Religion als Vorwand für Krieg und Gewalt nutzen, trotz alledem halten wir fest:
Der Andere ist ein Mensch, wie DU, auch wenn er anders aussieht oder anderes glaubt.
Gott liebt ihn, so wie dich. Er will, dass auch er lebt.
Darauf vertrauen wir und bauen mitten in Berlin das House of one. Ein nie dagewesenes Sakralgebäude. Unter einem Dach werden sich eine Synagoge, eine Kirche und eine Moschee befinden.
Unvermischt kann hier jeder in seinem Raum Kraft aus seiner eigenen Tradition schöpfen, seinen Glauben leben und dann in einem (gemeinsamen) zentralen Raum der Begegnung, (zwischen den Gebetsräumen,) sich dem Anderen respektvoll zuwenden, ihn kennen und schätzen lernen, mit ihm zusammen am Stadtfrieden bauen.
Wir wollen Ostern wagen.
Trotz der Menschen, die meinen, dass das Boot voll ist und die neue Todeszäune rund um Europa bauen.
Ostern sagt: Jeder Tote ist einer zu viel. Auch diese Mauer muss weg.
Denn es ist genug Platz bei uns – kommt, denn es ist alles bereit.
Und so haben 10 junge Menschen zum 25.Jahrestag des Mauerfalls hier in Berlin eine bemerkenswerte Aktion gestartet. Sie haben gezeigt, wie unehrlich es ist, wenn wir hier den Mauerfall feiern und an den EU-Grenzen neue Mauern errichten. Und so haben sie Kreuze für die Mauertoten hier in Berlin abgebaut.
Sie brachten sie an die Außengrenzen der Europäischen Union.
Sie wollen uns daran erinnern, dass täglich Menschen an dieser Grenze sterben,
dass wir etwas tun müssen, um das zu verhindern.
Unsere Kirchen versuchen sich zu behaupten und ihre Zukunft finanziell abzusichern.
Ostern sagt: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit! Fürchtet euch nicht.
Steckt euer Geld nicht in Pensionsfonds. Gebt euch nicht zufrieden mit dem gemütlichen Gemeindekreis. Traut euch zu zeigen, dass ihr Christen seid – auf den Straßen, auf den Plätzen. Die Welt braucht gute Nachrichten.
Spart euren Wein nicht auf für Morgen. Wir haben etwas zu feiern.
Wir werden anecken und uns blaue Flecken holen –
So ist das Leben. Anders haben wir es nicht hier auf Erden.
Aber wir haben ja die Osterbotschaft.
Wir haben ja gehört, wie Jesus Maria anspricht.
Lass dich auch ansprechen,
lass dich berühren –
von anderen Menschen, von deinem Nächsten, von Gott.
Sei es in der Taufe, im Gebet, auf der Straße, in der Kirche, in der Liebe –
Wo auch immer.
Lass es zu und du spürst:
wie dir Lebenskraft und Trost zuwachsen.
Und eine Aufgabe.
Jetzt da wir wissen, dass Jesus auferstanden ist, ist Marias Aufgabe, ist unsere Aufgabe:
Geht hin zu den Geschwistern, erzählt ihnen von Gott,
seid aufmerksam, seid zugewandt, seid ihnen Jesus. Jesus lebt.
Unser Leben ist seine Auferstehung.
Und dieses Leben ist ein großes wildes Meer.
Im Glauben sind die starken Kräfte, hier ist die unerschöpfte Macht –
mitten unter uns, überall,
weil das Leben Jesu mit unserem Leben verwoben ist.
Es ist Ostern.
Die Stadt wird hell, das Leben schön.
Im Osterlicht gibt es keine hoffnungslosen Fälle mehr.
Im Osterlicht zählt jeder Schritt, jede Geste
Wir tragen das Osterlicht weiter.
Auf, auf mein Herz mit Freuden!
Wir sind Auferstandene.
Ich bin Auferstandener. Du bist Auferstandene.
Glaube nur, so wird Dir das Leben zuteil.
Amen.
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Umgang mit dem Sinnlosen - Predigt zu Johannes 19,16-30 von Christoph Dinkel
Umgang mit dem Sinnlosen
Da überantwortete Pilatus ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber, und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte.
Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der König der Juden. Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreib nicht: Der König der Juden, sondern, dass er gesagt hat: Ich bin der König der Juden. Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.
Als aber die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch das Gewand. Das war aber ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. Da sprachen sie untereinander: Lasst uns das nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt (Psalm 22,19): »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten.
Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.
Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und steckten ihn auf ein Ysoprohr und hielten es ihm an den Mund. Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! und neigte das Haupt und verschied.
Liebe Gemeinde!
1. Sinnlosigkeit erleben. So viele sinnlose Tode. 150 Menschen zerschellen mit einem Airbus in den französischen Alpen. Der Amoklauf eines Piloten reißt entsetzlich viele Menschen ins Unglück. So viele Leben sind abgebrochen, so viel Schmerz, so viel Schrecken, so unaushaltbar viel Leid. Auch gut eine Woche nach dem Unglück ist der Schrecken groß. Es ist klar: Es hätte auch uns selbst treffen können. Aber das ist es nicht allein. Es ist auch der Schrecken darüber, in was für einer Welt wir leben, in der Menschen zu solch entsetzlichen Taten in der Lage sind. Und der Amoklauf des Piloten ist ja nicht der einzige Schrecken, den wir in den letzten Monaten erleben mussten. Eine neue Art von Terrorismus überzieht den Nahen Osten. Perverse Mörderbanden präsentieren sich mit den abgeschnittenen Köpfen ihrer Opfer der Öffentlichkeit. Gestern sterben weit über 100 Studenten bei einem Massaker an einer kenianischen Universität. So mancher traut sich nicht mehr, die Nachrichten einzuschalten aus Angst, wieder mit neuen unfassbaren Gräueln konfrontiert zu werden. All diese Tode sind so brutal, so unnötig, so sinnlos. Sie trüben unseren Blick auf das Leben, sie erschüttern unser Weltbild. Gibt es denn keinen, der solch einem Treiben Einhalt gebietet? Will ich in einer solchen Welt wirklich leben? Der Lebensmut gerät ins Wanken. So viele sinnlose Tode!
Am Karfreitag gedenken wir eines sinnlosen Todes. Am Kreuz auf Golgatha wird Jesus von Nazareth bestialisch zu Tode gefoltert. Die Kreuzigung war die perverseste Todesstrafe, die sich die Römer ausgedacht haben: äußerste Qual und finale Schändung für das Opfer, maximale Abschreckung für alle potentiellen Sympathisanten. Aus Sicht des frommen Juden stirbt Jesus in absoluter Gottesferne. Jesus selbst wird das so erlebt haben. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ – nach dem Markusevangelium stirbt Jesus mit einem Wort der Gottverlassenheit. Für seine Anhänger, seine Familie geht die Welt unter. Alles, woran sie glaubten, ist zerstört. Die Hoffnung auf Gottes neue Welt wird mit ans Kreuz genagelt und stirbt. Zurück bleibt die dröhnende Leere des Todes, die Stille der Verwesung, das Dunkel der Verzweiflung.
Ein sinnloser Tod einst auf Golgatha, sinnlose Tode in den französischen Alpen, beim Amoklauf in Winnenden vor sechs Jahren. Oder: weniger spektakulär, dafür viel häufiger: Sinnloses Sterben im Straßenverkehr, Sterben durch Suizid, Sterben durch Krankheit. So viele Menschen sterben einen zu frühen, einen sinnlosen Tod – und mancher von uns hat solch einen sinnlosen Tod im nächsten Umfeld erlebt. Der Schrecken darüber, der Schmerz und der Verlust gehört zu Ihrem Leben. Der Tod des Kindes, des Ehepartners, des geliebten Menschen, mit dem man das Leben und alles Glück und Leid geteilt hat, begleitet das Leben als dunkler Schatten.
2. Sinnlosigkeit aushalten. Es ist die große Stärke und die große Wahrhaftigkeit des Christentums, dass es sich dem sinnlosen Tod stellt. Von Anfang an sind Christen dem Schrecken des Todes nicht ausgewichen, sie haben die Schrecklichkeit des Sterbens Jesu nicht geleugnet und nicht verdrängt. Das Folterinstrument von Golgatha ist sogar zum zentralen Symbol des Christentums geworden. Im Mittelpunkt unseres Glaubens steht das Wort vom Kreuz. Die Gottverlassenheit Jesu ist nicht das Ende, sondern der Anfang unseres Glaubens. Kein Christ kann sich darüber hinwegtäuschen: Dass auch das Schlimmste, Bitterste, Sinnloseste möglich ist – diese furchtbare Erkenntnis ist der Ausgangspunkt des Christentums.
Das Christentum flüchtet sich nicht in Vertröstungen. Wir predigen nicht die Rückkehr der Toten in einem ewigen Kreislauf der Wiedergeburt. Wir werten nicht das irdische Leben zugunsten irgendeines jenseitigen Lebens ab. Wir predigen auch nicht die geistige Existenz, die nach Ansicht mancher der irdischen Existenz überlegen ist. Nein, das Christentum nimmt das irdische Leben ganz und gar ernst. Deshalb hat Jesus die Kranken gesund gemacht und die Besessenen geheilt. Deshalb wendete sich Jesus den Ausgegrenzten zu und verkündete das Reich Gottes als eine neue Welt, die hier auf Erden dem göttlichen Willen Geltung verschafft. Gott liebt diese Welt, deshalb sendet er seinen Sohn – so sagt es das Johannesevangelium (Johannes 3,16).
Für das Leid in der Welt liefert der christliche Glaube keine Ermäßigung. Alles Leid, das geschieht, ist so schlimm wie es scheint. Das Christentum lehrt eine maximale Sensibilität für die Welt und allen Kummer in ihr. Eine umfassende Erinnerungskultur gehört deshalb zu Christentum – und der Karfreitag ist dabei der Höhepunkt. Mit Liedern und Passionsmusik, mit Bildern und Skulpturen gedenken wir des Leidens Jesu und erinnern damit zugleich an alles Leid, das in der Welt geschieht. Die Opfer werden nicht vergessen. In der Erinnerung an Jesu Sterben ist das Sterben all jener aufbewahrt, die wir vermissen und die uns so schmerzlich fehlen: alle Opfer von Gewalt und Willkür, alle Opfer von Katastrophen und Terrorakten, alle Opfer eines zu frühen Todes. Das Christentum hält die Sinnlosigkeit ihres Todes aus. Das ist seine große Wahrhaftigkeit und Stärke.
3. Dem Sinnlosen einen Sinn geben. Doch die Sinnlosigkeit des Todes behält nicht das letzte Wort. Ermutigt durch die Erscheinungen nach Ostern beginnt die Christenheit die Ereignisse des Karfreitags neu zu deuten. Die Deutungsmacht der Mörder Jesu, so überwältigend sie am Karfreitag noch erschienen ist, zerfällt. Die Anhänger Jesu lernen, das Leiden und Sterben Jesu mit anderen Augen zu sehen. Sie üben sich darin, die Perspektive Gottes einzunehmen, sie wagen es, den Weg Jesu als Weg der vollendeten Liebe zu begreifen. Das geschieht vorsichtig und in der Sprache des Mythos mit den Bildern der Auferstehung und des neuen Lebens. Doch mit den Jahren wird diese Umdeutung immer kühner.
Am kühnsten ist der Evangelist Johannes, dessen Karfreitagsbericht uns heute vorliegt. Trägt bei den übrigen Evangelisten Jesus die Züge eines Opfers, das hilflos der Gewalt seiner Mörder ausgeliefert ist, so ist bei Johannes Jesus der eigentliche Souverän der Handlung. Schon beim Verhör vor Pilatus inszeniert Johannes die Geißelung als versteckte Krönung. Jesus trägt Dornenkrone und Purpurmantel. Die Soldaten grüßen ihn als König der Juden und meinen ihn zu verspotten (Johannes 19,2-4). Sie meinen eine Parodie einer Kröning zu inszenieren. Doch hinter dieser Parodie wird erkennbar, dass aus göttlicher Perspektive tatsächlich ein König gekrönt wird, nämlich der wahre König, der von Gott selbst gesandt ist. Und folgerichtig fragt Pilatus das Volk: Soll ich euren König kreuzigen? (Johannes 19,15)
Die Umdeutung geht weiter: Bei Johannes trägt Jesus den Kreuzesbalken selbst nach Golgatha, er braucht keine Hilfe. Simon von Kyrene fehlt im Bericht. Jesu Kreuz steht im Zentrum der Hingerichteten, es ist der Mittelplatz des Herrschers. Über seinem Haupt steht die Aufschrift: „Jesus von Nazareth, der König der Juden.“ Sie ist gleich dreisprachig abgefasst wie manchmal auf öffentlichen Dokumenten der Antike. Und als sich die Hohepriester bei Pilatus über diese Aufschrift beschwert, da sagt Pilatus: „Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.“ Auf Lateinisch denkbar klar und knapp: Quod scripsi scripsi. So wird die Kreuzigung Jesu zur endgültigen Proklamation des von Gott gesandten Königs in allen Sprachen und vor aller Welt.
Und in seiner Kühnheit treibt der Evangelist Johannes die Umdeutung noch weiter: Bei der Kleiderverteilung entscheidet das Los – doch was die Soldaten aus Habgier tun, erscheint für den Evangelisten als Erfüllung einer Schriftprophezeihung. Dann wendet sich Jesus denen unter dem Kreuz zu, die ihn begleitet haben. Mit einer letzten Geste der Liebe befiehlt er seine Mutter Maria der Obhut des Lieblingsjüngers an: „Das ist dein Sohn. Das ist deine Mutter“. So schafft Jesus noch am Kreuz neue Familienbeziehungen, denn zur Familie Jesu gehören alle, die den Willen Gottes tun. Schließlich fehlt bei Johannes der Schrei der Gottverlassenheit beim Sterben Jesu. Vielmehr vollendet der souverän handelnde Gottesgesandte seine Mission. „Es ist vollbracht“, sagt Jesus. Griechisch: Tetelestai. Ein stolzes Wort. Der Wille Gottes ist ausgeführt. Die Sendung ist an ihr Ziel gekommen. Die Liebe hat sich vollkommen hingegeben und aufgezehrt. Sie hat sich auch durch Gewalt und Tod nicht schrecken und nicht vom Weg abbringen lassen.
Tetelestai. Es ist vollbracht. Der Evangelist Johannes wagt eine radikale und kühne Umdeutung des Todes Jesu. Dem scheinbar sinnlosen Sterben misst er höchste Bedeutung zu. Die Deutung der Mörder Jesu wird hinweggefegt. Neu installiert und zur Geltung gebracht wird die Perspektive Gottes: Der zu Tode Gefolterte hat die Mission der Liebe bis zuletzt durchgehalten. Keine Macht konnte diese Sendung aufhalten. Gott liebt diese Welt, Gott liebt seine Geschöpfe, daran ändert keine Gewalt etwas, daran ändert auch der sinnlose Tod nichts.
Die Umdeutung des Evangelisten Johannes ist kühn, aber sie ist nicht unwahrhaftig. Der Tod Jesu wird nicht geleugnet. Selbst der Auferstandene trägt bei den österlichen Erscheinungen die Wundmale des Gekreuzigten. Jesus kommt nicht zurück in sein altes Leben. Es ist nach Ostern nicht alles wieder wie früher. Der Schrecken des Todes bleibt Schrecken. Die Sinnlosigkeit des Sterbens Jesu bleibt ein Skandal. Die Mörder bleiben Mörder, es wird nichts ermäßigt, der Schmerz bleibt.
Aber das eine ändert sich doch: Der Mut zum Leben kehrt zurück. Den Mördern wir die Deutungshoheit über die Sendung Jesu entrissen. Der Evangelist führt die Perspektive Gottes, die Perspektive der Liebe ein. In diese Perspektive, das lehrt der Karfreitag, sollten wir alle Menschen rücken, die einen sinnlosen, einen zu frühen Tod gestorben sind. Denn Gott liebt seine Geschöpfe und hält zu ihnen, im Leben und auch im Tod. Das ist die Botschaft des Karfreitag: Gott liebt diese Welt. –Amen.
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Andacht in der „Stillen Woche“ zu Johannes 3,14b-15 von Henning Kiene
Der Menschensohn muss erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. (Joh 3, 14b-15)
I. Stille Woche
Für meine Mutter begann mit dem Palmsonntag die „Stille Woche“. Sie wusch in dieser Woche keine Wäsche, auf dem Radio liefen Sender, die ernste Musik übertrugen, am Gründonnerstag gab es Spinat, am Karfreitag waren die Mahlzeiten karg. Diese Woche war anders, als andere Wochen des Jahres. Und der Osterschmuck blieb bis zuletzt im Keller. Der Strauß mit den aufblühenden Forsythien stand in einem kühleren Raum bereit. Für uns war es selbstverständlich, dass am Karfreitag eigentlich nichts los war. Mit kindlicher Langweile hangelten wir uns durch diesen Tag. Die „Stille Woche“ war verordnet, es gab keinen Zweifel an ihrer Richtigkeit. Die Bibel berichtete von Dingen, vor denen wir Kinder sowieso viel Respekt hatten: Jubel auf den Straßen, dann Verrat, der Prozess gegen Jesus, Tränen, Festnahme, der Hahn kräht, das Leiden wird zum roten Faden der Geschichte, dann der Tod Jesu. Selbst ohne häufig zur Kirche zu gehen, wir wussten es einfach.
II. „ungläubig der Worte, die ich da tippte“
In der vergangenen Woche habe ich an die Stillen Wochen meiner Kindheit denken müssen. An die ruhigere Musik, die im Radio lief und die Kinderbibel, die wir zur Hand nahmen. In mir erwachte wieder eine kindliche Protestfrage: Wie kann man Stille anordnen wollen? Gibt es eine Pflicht zur Stille? Das ist doch paradox. Schließlich kann man dem Meer nicht befehlen, die Wellen mögen schweigen. Wer kann der aufgewühlten Seele befehlen: „Nun sei doch endlich mal stille!“ Heute sehne ich mich nach solcher Stille. Ein äußeres Innehalten ist geeignet, ein inneres Innehalten vorzubereiten. Ich möchte die Gedanken sortieren, nach den Abgründen, in die ich hineinsehen musste, still sein zu dürfen. Die Bilder von Hubschraubern, die die Fachleute über einem Trümmerfeld abseilen, den Gedanken an die Eltern, deren Kinder nicht zurückkehren werden und dieses Erschrecken über den jungen Copiloten, möchte ich aus der Welt schneller Fragen und eilig gegebener Antworten herauslösen können. Es gab so viel Gerede, es hat so voreilige, geschwätzige Talkbeiträge gegeben. Und ich weiß, es sind viele Menschen, die in diesem Wortschwall und der Bilderflut einfach einmal innehalten möchten. Ein Journalist von „Die Welt“ schreibt über die Pressekonferenz, in der erstmals von dem absichtlich eingeleiteten Landeanflug, der in die Katastrophe führte, berichtet wurde: „Ich war vorbereitet auf eine Eilmeldung, denn eine PK (Pressekonferenz) kann immer eine ergeben, aber nicht auf diese. Dann fing ich an, den Aufmacher zu schreiben, ungläubig der Worte, die ich da tippte. Nein, Spaß macht es gerade nicht, aber wir funktionieren.“[1]
Das Funktionieren ist für uns alle wichtig. Aber dieses Funktionieren zehrt an den Kräften. Viele Menschen brauchen in diesen Tagen mehr Kraft, als ihnen aus ihren eigenen Kraftreserven heraus zur Verfügung steht. In den vielen Gesprächen, die wir in der vergangenen Woche hier geführt haben, war spürbar, dass alles, was wir über den Flug der Germanwings gehört und gesehen haben, einfach alle Dimensionen des Vorstellbaren gesprengt hat. Selten gab es so viel Erschrecken über eine Tat, die in ein Unglück führte. Die Abgründe, in die wir sehen mussten, führen selbst die, die nicht persönlich betroffen sind, an ihre Grenzen heran. „So etwas geht über jedes Vorstellungsvermögen hinaus“,[2] sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie sprach für uns alle.
III. neue Tonspur
Manches, was ich höre und sehe, fügt der Stillen Woche eine neue Tonspur hinzu. Die Abgründe von Verrat und Schuld können tiefer nicht sein. Man sieht in ein Meer der Trümmer. Das ist das Bild der diesjährigen Stillen Woche. Sogar in vielen Auferstehungsikonen der Orthodoxen Kirche sehe ich diese Perspektive, die den Abgrund frei gibt. Da zeigen die Ikonenmaler Jesus Christus. Der ist nicht bei den Toten geblieben. Der hat sein Kreuz über den Abgrund gelegt. Das Reich des Todes bleibt zu seinen Füßen sichtbar, es wirkt aber, als wäre der Abgrund hinter dem Kreuz versperrt.[3] Solche Sperre suche ich.
Das wäre eine Stille Woche, die ich mir selber verordne: Sich in die Welt solcher Bilder, die Überwindung dieser Abgründe anzeigen, hineinziehen zu lassen. Aus der Stille der kommenden Feiertage heraus, gilt es die Kraft zu gewinnen, die mich nach mehr fragen lässt, als nach dem, was denn nun genau geschehen ist. Will ich nur diesen furchtbaren Bildern, die ich sehe, alleine diesen Nachrichten, die mich nicht zur Ruhe kommen lassen, folgen? Da muss sich doch auch eine Dimension in dieser Stillen Woche entdecken lassen, die einen ganz kleinen Schritt weiter führt. Nicht, dass die Katastrophe geringer werden würde, oder das Schreckliche sich abmildern ließe, sondern dass das Schreckliche nur im Lichte einer anderen Botschaft erschiene. So wie unsere Kinderbibel ja auch die Härte des Weges Jeus keineswegs milderte, aber wir wussten, wohin das führen wird.
IV. Für uns gestorben
Da wurde in der letzten Woche ein Grundlagentext des Rates der EKD veröffentlicht. Der Titel passt in diese Stille Woche: „Für uns gestorben“[4]. Und die Autoren schreiben: „Deutlicher als je zuvor hat die Theologie des 20. Jahrhunderts den Weg des Gekreuzigten in die Leidensgeschichten unserer Welt eingezeichnet. Die Sünde als Entfremdung des Menschen von Gott, von seinem Mitmenschen und von sich selbst steht in einem ursächlichen Zusammenhang zu diesen Leidensgeschichten. Ihre Ergebnisse sind in letzter Konsequenz die schuldhafte Zerstörung des Geschaffenen, das Verderben des Lebens und der Tod als Inbegriff einer nicht mehr zu überbietenden Beziehungslosigkeit.[5]“ Es ist so, als legten theologische Sätzen eine Tonspur an das an, was die Medien zu mir hin übertragen. Sie deuten das, was ich erlebe. Und die Denkschrift fährt fort: „Gott ist dem entgegengetreten. Nur er ist in der Lage, diese tödliche Situation aufzubrechen und den Menschen und seine Welt aus der … Dynamik des Unheils herauszuholen.“[6] Das ist eine genaue Beschreibung der Stillen Woche meiner Mutter, die Dinge des Lebens in der Reihenfolge zu belassen, in die sie gehören. Leise Töne anschlagen, sich Ruhe gönnen, Radio leiser stellen, sich auch die Zeit so dehnen zu lassen, dass sich der Moment der Langweile einstellen kann.
Das ist die Stille Woche, im ursprünglichen Sinn: Sich einordnen, sich anschließen, an diese Spur, die Gott gelegt hat: Nur Gott ist in der Lage, diese tödliche Situation aufzubrechen. Das muss man doch wissen. Vermutlich hat meine Mutter nicht viel darüber nachgedacht, sie hatte es aber so gemacht: Der Osterschmuck blieb im Keller, der Strauß mit den Ostereiern wurde erst am Ostersonntag auf den Tisch gestellt. Wir Kinder mussten die Stille ertragen lernen. Da blieb der Blick in die Abgründe, die dieses Leben kennt. Da mussten wir hineinsehen. Aber der Osterschmuck stand dann doch bereit.
[2] http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/absturz-in-den-alpen/germanwings-unfall-de-maiziere-sieht-keine-terrorismus-hinweise-13507540.html (28.03.2015)
[3] Beispiel: http://www.orthodoxie-in-deutschland.de/bilder/ikonen/feste/auferstehun… (28.03.2015)
[4] Für uns gestorben. Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Gütersloher Verlagshaus 2015
[5] ebd. Seite 119-120
[6] ebd. Seite 120
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Resilienz - Predigt zu Johannes 19,16–30 von Wilhelm v. der Recke
Resilienz
I. Zu den erstaunlichen Dingen im Neuen Testament gehört die Tatsache, dass wir es gleich mit vier Berichten über das Wirken Jesu zu tun haben. Diese Berichte unterscheiden sich deutlich voneinander, ohne dass sie sich im Kern widersprechen. Das gilt auch für die Passions- und Ostergeschichten. Wenn wir an den letzten Weg des Jesus von Nazareth denken, steht uns meistens das Bild vor Augen, das von den ersten Evangelien geprägt ist. Das Bild vom Schmerzensmann, der gequält und verprügelt, bespuckt und verspottet wird. Seine Gegner demütigen ihn nach Kräften. Die Soldaten treiben ihr Spielchen mit ihm. Seine Freunde geraten in Panik und fliehen. Selbst an seinem Vater im Himmel beginnt Jesus zu zweifeln.
Das Vierte Evangelium zeigt ein anderes Bild, und das steht im NT gleichberechtigt neben den anderen. Jesus wird auch verraten und im Stich gelassen, er wird gefangen genommen, in einem Eilprozess auf Grund von falschen Zeugenaussagen verurteilt und ans Kreuz gebracht. Aber er lässt das souverän mit sich geschehen, Jugendliche würden sagen: Er bleibt cool. Es klingt so, als ob ihn das nicht wirklich berührt, als ob es ihn nicht im Inneren erschüttern kann. Auch als Opfer bewahrt er Haltung. Johannes dramatisiert die Passionsgeschichte nicht. Sachlich, beinahe distanziert berichtet er von den einzelnen Stationen auf dem letzten Weg von Jesus.
II. Im 19. Kapitel des Johannesevangeliums wird berichtet, wie der römische Gouverneur den angeklagten Mann aus Nazareth wider besseres Wissen zum Tode verurteilt. Dann heißt es weiter:
(Es folgt die Lesung Joh. 19, 16–30).
Die Soldaten teilen seine wenigen Kleidungsstücke unter sich auf, sie machen vier Teile daraus. Auch der Evangelist macht vier Teile aus seinem Bericht über die letzten Stunden von Jesus, und es klingt so, als habe es kaum mehr als 20 Minuten gedauert.
Der 1. Teil ist sozusagen der offizielle Akt. Das Urteil wird vollstreckt. Jesus trägt selbst sein Kreuz auf den Hügel von Golgatha, und keiner muss ihm dabei helfen. Wie bei den Römern üblich hat er den Querbalken auf der Schulter, während der senkrechte Pfahl schon an Ort und Stelle in den Boden gerammt ist. Zwischen zwei Verbrechern wird Jesus gehängt. Oberhalb seines Kopfes wird ein Zettel befestigt, auf dem steht, um wen es sich hier handelt und warum er so bestraft worden ist – angeblich ein Aufständischer, einer der behauptet, der König der Juden zu sein.
Im 2. Teil geht es um die paar Sachen, die Jesus geblieben sind. Sowenig das ist, darauf haben die Soldaten einen Anspruch.
Dabei kann Jesus nur zusehen, soweit ihn das überhaupt noch interessiert. Im 3. Teil aber ergreift er die Initiative. Es geht ihm um die wenigen Menschen, die ihm nahe stehen und die ihm hierher gefolgt sind. Das sind insbesondere seine Mutter und der sog. Lieblingsjünger. Beide weist er eindringlich aufeinander.
In der 4. Szene geht es um Jesus selbst, um seine letzten menschlichen Bedürfnisse. Er hat Durst, wahrscheinlich wahnsinnigen Durst, denn er ist seit Stunden nackt der Sonne ausgesetzt. Die Soldaten machen keine großen Umstände, sie kennen das, und deshalb steht ein Krug mit einem Essiggetränk bereit. Mit Hilfe eines Schwammes an einem langen Stock bekommt er zu trinken. Dann stirbt er bei vollem Bewusstsein. Es ist vollbracht, sagt er und lässt den Kopf zur Seite sinken.
III. Eine erstaunlich nüchterne Beschreibung seiner letzten Lebensstationen, wenn man daran denkt, um wen es sich hier handelt. Im Gegensatz zu den religiösen Autoritäten in Jerusalem ist ja der Evangelist Johannes davon überzeugt, dass es nicht um irgendeinen übergeschnappten Wanderprediger geht, sondern um den Messias, den lange angekündigten und von vielen brennend erwarteten Retter, den Sohn Gottes. Wenn man sich diesen Bericht genauer ansieht, ist er allerdings keineswegs so sachlich und banal, wie es zunächst erscheint. Er ist geradezu doppelbödig:
Pilatus lässt einen Aushang über dem Kopf Jesu am Kreuz anbringen. Aber es ist kein reiner Verwaltungsakt. Er hat sich über die Hohenpriester geärgert, weil er das Todesurteil unter ihrem Druck gefällt hat. Nun zahlt er es ihnen heim, denn die Inschrift lautet: Jesus von Nazareth der König der Juden. Pilatus meint das ironisch, und er weiß gar nicht, wie recht er hat – Jesus ist ja tatsächlich ein König, der Messias. Er geht hervor aus dem jüdischen Volk, aber er hat einen universellen Anspruch. Der wird unfreiwillig damit dokumentiert, dass die Inschrift in der hebräischen Landessprache, in der römischen Verwaltungssprache und der griechischen Weltsprache verfasst ist.
Doppelbödig ist auch die zweite Szene. Man könnte meinen, mit dem in einem Stück gewebten Rock sei ein Umhang gemeint. Tatsächlich handelt es sich um das Untergewand. Das heißt, die Oberbekleidung kann zerschnitten und verteilt werden, was darunter ist bleibt intakt, es ist unzerstörbar. Dabei ist sicher auch an die Person, an Jesus gedacht: Äußerlich gesehen ist er geschunden und böse zugerichtet, aber innerlich ist er unantastbar. Sie können ihn nicht kaputt machen.
Auch die dritte Szene sagt zwischen den Zeilen mehr, als oberflächlich zu lesen ist. Man kann sich doch fragen, warum sich ein Jünger um Jesu Mutter kümmern soll. Er hat doch leibliche Geschwister, Brüder, die vermutlich sowieso besser für ihre Mutter sorgen können als der besitzlose Wanderprediger Jesus. Was also ist gemeint? Weder hier noch anderswo im NT wird der Lieblingsjünger mit einem bestimmten Jünger, z. B. Johannes, gleichgesetzt. Kluge Ausleger haben das so verstanden, dass mit Maria die Christen gemeint sind, die von Hause aus Juden sind, mit dem Lieblingsjünger aber die sog. Heidenchristen – also jene Christen, die aus den Völkern rings ums Mittelmeer kommen und von Paulus und anderen Missionaren vom christlichen Glauben überzeugt worden sind. Das ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Unmittelbar vor seiner Verhaftung spricht Jesus das sog. Hohepriesterliche Gebet. Darin bittet er Gott um die innere Einheit, um die Geschwisterlichkeit aller Christen, auch jener, die einmal durch die Mission dazu kommen werden.
Schließlich die vierte Szene. Stundenlang hat Jesus unter großen Schmerzen in der sengenden Sonne gehangen. Das Einzige, was von diesem schrecklichen langsamen Sterben berichtet wird, ist, dass er Durst hat. Das trifft sicher zu, aber ist es wirklich das Einzige von Bedeutung? Vermutlich handelt es sich auch hier um ein Missverständnis von denen, die dabei sind, aber nicht verstehen, was vor ihren Augen passiert. So ist es häufig bei Johannes. Wenn Jesus in diesem Moment von Durst spricht, dann betet er wahrscheinlich mit biblischen Worten, die ihm geläufig sind, wie etwa dem 42. Psalm: Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue? Ja, es geht zu ende. Es ist vollbracht, sagt Jesus. Nicht mehr lange, und er wird seinen himmlischen Vater von Angesicht zu Angesicht sehen.
IV. Wenn wir uns an die Passionsgeschichte des Johannes halten, so ist Jesus die ganze Zeit über erstaunlich gefasst. Selbst in der schlimmsten Demütigung bleibt er er selbst. Äußerlich gesehen wird er zerstört, innerlich können sie ihm nichts anhaben. Nicht einmal der Tod kann ihn vertilgen. Dank seines himmlischen Vaters überwindet er auch diese letzte Barriere irdischer Macht und Gewalt. Ein starker Jesus.
Andere neutestamentliche Zeugen haben das anders gesehen. Sie haben Jesus als den Schwachen erlebt, dem nichts Menschliches fremd ist, der alle Niedertracht – zu der Menschen in der Lage sind – am eigenen Leib erfahren hat. Der daran fast zerbricht. Der nahe daran ist, auch an Gott irre zu werden. Das ist der Mitfühlende, der Mitleidende. Der uns nahe ist wie ein Freund und Bruder, der uns versteht wie kein anderer Mensch.
Johannes bestreitet das nicht, aber ihm ist wichtig, eine andere Seite an Jesus herauszustellen: Jesus, das ist der, der konsequent seinen Weg geht. Der immer in engem Kontakt zu seinem himmlischen Vater steht. Der alle Misserfolge wegstecken kann, der den Anfeindungen trotzt und die Anfechtungen besteht; sie prallen geradezu an ihm ab. Jesus, der Standhafte, der Fels in der Brandung. Ja, das ist einer, der Halt gibt, auf den man sich verlassen kann.
Er verfügt über einen unantastbaren Kern, eine Stärke, die von Innen kommt. Diese Kraft schöpft er aus dem unbedingten Vertrauen zu seinem himmlischen Vater. Er kommt von Gott, er kehrt zurück zu Gott, und nie reißt das Band ab, das beide verbindet. Er weiß sich getragen und gehalten. Deshalb kann er seine Mission erfüllen und kompromisslos für die gute Sache eintreten, die Gott ihm anvertraut hat.
Diese unzerstörbare innere Kraft, dieses seelische Immunsystem bezeichnen Psychologen heute als Resilienz. Jesus verfügt über diese Resilienz. Er tut es, weil er Gott bedingungslos vertraut. Er weiß sich mit ihm eins. – Und er möchte, dass auch wir mit ihm eins sind. Dass wir es ihm gleichtun. Er möchte, dass auch wir Gott bedingungslos vertrauen. Das ist sein eigentliches Anliegen. Und das können und sollen wir von ihm lernen. Gott aber ist weit weg, geradezu abstrakt. Aber Jesus ist greifbar. Wir wissen von ihm, wir kennen ihn, an ihn sollen wir uns halten. Wie er es getan hat, so können wir es auch machen. Er ist seinen Weg auf Erden exemplarisch gegangen. Er hat ihn auch für uns frei gemacht, er hat ihn gangbar gemacht. Uns hat er gemeint, wenn er sagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Durch ihn kommen wir zum Vater.
V. Jesus lehrt uns – nein, er gibt uns das Urvertrauen. Normalerweise sprechen wir von Glauben. Man kann es auch Resilienz nennen, diese nahezu unerschütterliche innere Kraft, ein seelisches Immunsystem. Das macht es uns möglich, zuversichtlich unseren Weg zu gehen – in guten und in bösen Tagen, im Leben und im Sterben.
Heute am Karfreitag haben wir uns unter dem Kreuz Jesu versammelt. Es ist und bleibt ein böser Tag, der uns immer neu bewusst macht, wozu Menschen fähig sind. Was sie anderen Menschen zufügen und was sie selbst erleiden. Aber es ist und bleibt auch ein guter Tag, ein Tag der Hoffnung, einer unzerstörbaren Hoffnung.
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Zeichen der Liebe – Vorbild zum Handeln, Predigt zu Johannes 13,1-15 von Georg Freuling
Zeichen der Liebe – Vorbild zum Handeln
Jesus und seine Jünger sind zusammen. Es ist ihr letzter gemeinsamer Abend. Die letzte gemeinsame Mahlzeit. Jesus weiß es; die anderen wissen es nicht. Trotzdem nimmt Jesus Abschied von ihnen.
Es ist ihr letzter gemeinsamer Abend. Sie sind zusammen. Aber Johannes stellt in seinem Evangelium nicht das letzte Mahl in den Vordergrund; alles, was ihm daran wichtig ist, hat Jesus schon gesagt: „Ich bin das Brot des Lebens.“ Etwas anderes tritt bei Johannes in den Vordergrund: Beim gemeinsamen Essen passiert etwas. Etwas Besonderes, mit dem Jesus diesem Abend eine Bedeutung gibt:
Während des Essens – sie liegen zu Tisch – steht Jesus auf. Was hat er vor? Er legt das Obergewand ab. Für Männer damals ein Zeichen der Würde. Es ist das Gewand, das sie ihm am Kreuz nehmen werden. Er legt es ab. Wozu? Dann bindet er eine Schürze um. Wie ein Diener. Will er sich etwa zum Diener machen? Er nimmt eine Schüssel mit Wasser und fängt an, seinen Freunden die Füße zu waschen. Wie kommt er darauf?
Was passiert hier? Damals lagen die Menschen zu Tisch. Damit waren die Füße auf der Höhe des Essens. Draußen gingen die Menschen barfuß oder mit offenen Sandalen. Dass der Dreck der Straße nichts neben dem Essen zu suchen hat, war klar: Vor dem Essen wurden die Füße gewaschen.
In einfachen Häusern machten es die Menschen selbst. Bei den Reichen und Vornehmen gab es Diener, die diese unangenehme Aufgabe übernahmen. Wenn ein Lehrer, ein Rabbi, Schüler hatte, wuschen die ihrem Meister die Füße. Die Rollen waren klar verteilt.
Deshalb ist das, was Jesus hier macht, nicht nur etwas Besonderes, nicht nur etwas Überraschendes. Es ist viel mehr als das: Es ist anstößig und unpassend! Jesus stellt alles auf den Kopf. Er ist ihr Lehrer und Meister und entwürdigt sich zum Diener:
Er steht auf. Er legt das Obergewand ab. Er bindet sich ein Leinentuch um. Er nimmt die Wasserschüssel... Es wird so erzählt, als ob jemand live berichtet, dabei ins Stocken gerät und seinen Augen nicht traut. Kann das sein, was da passiert? Man kann sich kaum vorstellen, wie überrascht die Jünger gewesen sein müssen. Wahrscheinlich auch irritiert, verstört, beschämt.
Petrus ist der Erste, die die Sprache wiederfindet. Er spricht das aus, was vermutlich alle denken: „Du – mir die Füße waschen?“ Das geht nicht!
Mit der Fußwaschung passiert etwas Besonderes: Jesus fällt ganz bewusst aus der Rolle. Er setzt sich über Konventionen und Gewohnheiten hinweg. Damit ist garantiert, dass die anderen es merken, sich wundern, sich dran stoßen. Deshalb wäscht Jesus ihnen die Füße. Er provoziert, dass sie fragen. So wie Petrus dann fragt: „Du – mir die Füße waschen?“ Was soll das?
Was soll das, dieses merkwürdige Verhalten Jesu?
Johannes liefert in seinem Evangelium die Antwort gleich mit: Wenn Jesus seinen Jüngern die Füße wäscht, dann zeigt er ihnen seine Liebe. Die Fußwaschung ist Zeichen der Liebe Jesu zu den Seinen. Und: Wenn Jesus seinen Jüngern die Füße wäscht, dann sollen die das auch untereinander tun. Die Fußwaschung ist Vorbild und Beispiel für alle, die zu Jesus gehören. Zeichen der Liebe und Vorbild zum Handeln – um beides geht es und beides hängt zusammen.
Zuerst: Im Abschied gibt Jesus seinen Jüngern ein Zeichen seiner Liebe. Wie eine Überschrift steht es über der Geschichte: „Wie er die Seinen geliebt hatte, die in der Welt waren, so liebte er sie bis ans Ende.“ Bis ans Ende bedeutet so viel wie „bis zur Vollendung.“ Im Abschied gibt er ihnen noch, was er geben kann, geht aufs Ganze.
Wenn wir lieben, dann legen wir alles, was wir sind und haben, in unsere Liebe hinein. Dann möchten wir alles für den anderen tun. Dann legen wir dem anderen die Welt zu Füßen.
Bei Gott ist ist das auch so. Johannes spricht in seinem Evangelium eine eindeutige, manchmal auch merkwürdige Sprache. Er schreibt: Jesus und Gott, sein Vater sind eins. In Jesus begegnet uns kein anderer als Gott selbst, Gottes gestaltgewordene Liebe. Der, der größer ist als diese Welt, gibt sich ganz in diese Welt hinein. Was kann der geben, wenn er aufs Ganze geht? Sich selbst! Das passiert, wenn Jesus vor den Füßen der anderen kniet, ihnen die Füße wäscht. Er gibt sich ganz. Und er kommt ihnen damit nahe.
Eine solche Nähe anzunehmen, fällt uns manchmal schwer. Da sind wir Petrus ähnlich, der sich sperrt und diese Nähe nicht zulassen will.
Bei einem Trauergespräch erzählt mir die Tochter der Verstorbenen von den letzten Lebensmonaten ihrer Mutter. Sie war auf Pflege angewiesen, konnte sich auch nicht mehr selbst waschen. Die Tochter hatte Urlaub genommen für die Pflege. „Das Waschen – wenn ich daran gedacht habe, hatte ich ein Problem. Da war eine Scheu, das Gefühl: Das passt nicht, das kannst du nicht bei deiner Mutter. Doch dann war es gar nicht schwer. Und ich war froh, dass ich meine Scheu überwunden habe. Gesprochen haben wir nie darüber – aber wahrscheinlich war meine Mutter froh, dass ich das gemacht habe. Und kein Fremder.“
An dieses Gespräch musste ich denken: Nähe und Distanz brauchen ein Gleichgewicht. In jeder Beziehung ist das so – auch dann, wenn Menschen sich lieben. Jesus setzt hier ganz auf Nähe. Er macht das, um seiner Liebe ein Zeichen zu setzen. Ein Zeichen, das die anderen nicht übersehen können. Als Petrus das spürt, will er mehr – alles, auch Hände und Kopf. Aber da hat Jesus schon erreicht, was er will: Er hat gezeigt, wie weit seine Liebe geht.
Als Zeichen dieser Liebe feiern wir heute das Abendmahl. Wir teilen Brot und Wein und lassen damit Gottes Liebe an uns herankommen. Wir nehmen sie in uns auf, diese Liebe. Sie soll uns in Fleisch und Blut übergehen. Und damit bin ich beim zweiten:
Die Fußwaschung ist ein Vorbild, ein Beispiel für die, die zu Jesus gehören. „Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe.
Viele Kirchen nehmen das wörtlich. In der katholischen Kirche gehört es zum Gründonnerstag, dass der Papst zwölf ausgewählten Gläubigen die Füße wäscht. In einigen Gemeinden wird es auch vor Ort praktiziert. Damit wird die Erinnerung wachgehalten an das, was Jesus da getan hat.
Für mich – ganz persönlich gesprochen! - ist das nicht wiederholbar. Die Fußwaschung am ersten Gründonnerstag lebt davon, dass sie komplett aus dem Rahmen fällt, dass sie die Leute vor den Kopf stößt und überrascht. Das lässt sich nicht wiederholen. Es gibt Gesten, die leben von ihrer Einmaligkeit. Auch wenn der Vergleich hinkt: Ich möchte es vergleichen mit dem Kniefall von Willy Brandt in Warschau. Brandt ist damals ähnlich aus der Rolle gefallen. Er ist als Staatsmann spontan auf die Knie gegangen und hat damit ein Zeichen gesetzt, das viel Aufmerksamkeit gefunden hat. Menschen, die in der Menge standen, die ihn nicht sehen konnten, haben es trotzdem mitbekommen. Die Leute haben es einander zugeflüstert: „Er kniet.“ Die Bilder vom Kniefall sind durch die Welt gegangen und haben etwas verändert. Die Geste lebte von ihrer Einmaligkeit; jährliche Wiederholung hätte sie entwertet. So verstehe ich auch die Fußwaschung als einmaliges Zeichen der Liebe Gottes. Eine Wiederholung brauche ich nicht. Um mich an Jesu Liebe sichtbar zu erinnern und mich zu vergewissern, reicht mir das Abendmahl.
„Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe.“ Da geht es auch nicht um wörtliche Wiederholung. Jesus gibt ein Beispiel, wie Liebe gelebt werden kann, wie sie Gesten und Zeichen findet und dabei Grenzen überschreitet. Jesus wird zum Vorbild dieser Liebe, damit wir ihm darin nachfolgen. Unsere Liebe wird dann ihre eigenen Gesten, ihre eigene Sprache finden. Wo das geschieht, wo das sein soll, das hängt dann davon ab, wem wir in unserem Leben begegnen: Tochter oder Sohn, Partnerin oder Partner, Mutter oder Vater, Freund oder Fremder. Die besten und stärksten Worte und Taten werden sich spontan ergeben: Liebe ist kreativ. Worte und Gesten der Lieben brauchen auch keine Öffentlichkeit. Denn Liebe fragt nicht danach – nur und allein nach dem anderen. Für eine solche Liebe gibt Jesus uns ein Beispiel. Dadurch wird er uns zum Vorbild.
Heute Abend sind wir hier, um uns daran erinnern zu, um uns dazu anstiften zu lassen. Das nehmen wir dann mit – in unser Leben hinein. Und manchmal müssen wir dazu auch auf die Knie gehen. Amen.
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Predigt zu Johannes 13,1-15.34-35 von Winfried Klotz
1 Vor dem Passafest aber erkannte Jesus,(a)dass seine Stunde gekommen war, dass er aus dieser Welt ginge zum Vater; und wie er die Seinen geliebt hatte, die in der Welt waren, so liebte er sie bis ans Ende. a) Kap 7,30; 17,1
2 Und beim Abendessen, als schon(a)der Teufel dem Judas, Simons Sohn, dem Iskariot, ins Herz gegeben hatte, ihn zu verraten, a) Lk 22,3
3 Jesus aber wusste, dass ihm(a)der Vater alles in seine Hände gegeben hatte und dass er b von Gott gekommen war und zu Gott ging, a) Kap 3,35; b) Kap 16,28
4 da stand er vom Mahl auf, legte sein Obergewand ab und nahm einen Schurz und umgürtete sich.
5 Danach goss er Wasser in ein Becken, fing an, den Jüngern die Füße zu waschen, und trocknete sie mit dem Schurz, mit dem er umgürtet war.
6 Da kam er zu Simon Petrus; der sprach zu ihm: Herr, solltest du mir die Füße waschen?
7 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Was ich tue, das verstehst du jetzt nicht; du wirst es aber hernach erfahren.
8 Da sprach Petrus zu ihm: Nimmermehr sollst du mir die Füße waschen! Jesus antwortete ihm: Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil an mir.
9 Spricht zu ihm Simon Petrus: Herr, nicht die Füße allein, sondern auch die Hände und das Haupt!
10 Spricht Jesus zu ihm: Wer gewaschen ist, bedarf nichts, als dass ihm die Füße gewaschen werden; denn er ist ganz rein. Und(a)ihr seid rein, aber nicht alle. a) Kap 15,3
11 Denn er kannte seinen Verräter; darum sprach er: Ihr seid nicht alle rein.
12 Als er nun ihre Füße gewaschen hatte, nahm er seine Kleider und setzte sich wieder nieder und sprach zu ihnen: Wisst ihr, was ich euch getan habe
13 Ihr nennt mich Meister und Herr und sagt es mit Recht, denn ich bin's auch.(a)a) Mt 23,8; 23,10
14 Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch(a)die Füße gewaschen habe, so sollt auch ihr euch untereinander die Füße waschen. a) Lk 22,27
15 Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe.(a)a) Phil 2,5; 1. Petr 2,21
34 Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander liebhabt.(a)a) Kap 15,12-13; 15,17
35 Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.
Liebe Gemeinde!
Umstürzende Veränderungen stehen an jetzt an diesem Passafest für Jesus und seine Jünger. Jesus wird aus dieser Welt zum Vater gehen, so sagt das Johannesevangelium; wir wissen, sie werden ihn gefangen nehmen, verhören, foltern und kreuzigen, und da am Kreuz wird er elend und voller Schmerzen hängen und sterben. Alles ist schon eingeleitet, auf den Weg gebracht, nur wenige Stunden trennen Jesus noch vom Tod am Kreuz. Alles ist schon eingeleitet, ja, Judas hat den unbegreiflichen Entschluss gefasst, Jesus auszuliefern. Er hat sein Ohr den Einflüsterungen einer fremden Stimme geliehen, er hat sein Herz geöffnet für eine fremde Macht. Oder muss ich sagen, so fremd und fern ist diese Stimme und Macht gar nicht, weder dem Judas noch allen anderen Menschen?
Alles ist auf den Weg gebracht, um den wegzuschaffen, der so vielen im Weg steht, den Hohen Priestern und dem Hohen Rat, die durch ihn den Tempel bedroht sehen, den Lehrern des Gesetzes, den Theologen, die eine gefährliche Freiheit in seiner Auslegung erkennen.
Alles ist auf den Weg gebracht und der, gegen den es jetzt geht, sollte schleunigst die Notbremse ziehen, sein Leben retten und eine Weile von der Bildfläche verschwinden- aber gerade das tut Jesus nicht. Gerade jetzt erweist er seinen Jüngern seine Liebe, gerade jetzt erweist er sich als der, der von Gott gekommen ist und zu Gott geht. Jetzt gibt er ihnen einen letzten und äußersten Beweis seiner Liebe.
Bei einem Mahl steht Jesus auf und legt sein Obergewand ab und bindet sich ein Tuch um. Er gießt Wasser in eine Schüssel und beginnt seinen Jüngern die Füße zu waschen. Wir können uns vorstellen, wie jetzt das Gespräch unter den Jüngern verstummt, wie ein Staunen und Kopfschütteln durch die Reihen geht. Was tut Jesus, er ist doch der Herr, der Lehrer? Wir sind einiges von ihm gewohnt, aber dürfen wir zulassen, dass Jesus sich so erniedrigt? Macht er sich nicht hiermit einem Sklaven gleich? Verdunkelt dies nicht sein Bild als Messias, als Gesandter Gottes? Wie will Jesus seine Jüngergemeinde führen, wie will er für Ordnung sorgen, wenn er die gesellschaftlichen Regeln durchbricht? Wie will er, ich überdehne den Gedanken, eine Organisation führen, wenn er seinen Untergebenen die Füße wäscht? Ich spinne den Gedanken weiter: Haben Sie schon mal von einem Wirtschaftsboss gehört, der der seinen Mitarbeitern die Füße gewaschen hat? Oder gehen wir mal weg vom Bild der Fußwaschung, der die ständig dreckigen Toiletten gereinigt hat, um seinen Mitarbeitern ein gutes Beispiel zu geben?
Jesus macht sich einem Sklaven gleich, er erniedrigt sich, indem er im Staub vor seinen Jünger kniet und ihnen die Füße wäscht. Und deutet damit etwas von der Tiefe an, in die er mit seinem Sterben hineingehen wird.
Petrus will sich den Sklavendienst nicht gefallen lassen. Petrus ist kein Duckmäuser, der Dinge über sich ergehen lässt, die er nicht versteht und gut heißen kann. „Du, Herr, willst mir die Füße waschen?“ fragt er. Jesu Antwort: „Was ich tue, kannst du jetzt noch nicht verstehen, aber später wirst du es begreifen“, überzeugt ihn nicht „Niemals sollst du mir die Füße waschen, in Ewigkeit nicht!“ antwortet er. Petrus hat auf stur geschaltet und das eigentlich um Jesu willen. ‚Du, Jesus, darfst dich nicht so erniedrigen; das ist doch ein Zeichen von Schwäche, oder kann so verstanden werden. Wir brauchen jetzt aber einen starken Jesus, einen starken Messias-König. Jetzt an Pessach in Jerusalem entscheidet sich, ob unser Volk in eine Zukunft der Freiheit und des Friedens geht, es entscheidet sich an dir, Jesus!‘
Ob Petrus so gedacht hat, weiß ich nicht; jedenfalls ist ihm Jesu Dienst nicht geheuer. Petrus gibt erst nach, als Jesus ihm die Bedeutung seines Tuns erklärt. „Wenn ich dir nicht die Füße wasche, hast du keinen Anteil an mir und an dem, was ich bringe.“ Mit Jesus verbunden sein, das ist Petrus wichtig. Zu IHM gehören, will er unbedingt. Deshalb bittet er jetzt darum, dass Jesus ihm nicht nur die Füße. sondern auch Hände und Kopf wäscht. Aber das ist nicht nötig; indem Jesus seinen Jüngern die Füße gewaschen hat, hat er ein Zeichen gesetzt, dass sie zu ihm gehören, dass sie Anteil haben an seiner Reinheit, und das meint, an seiner Zugehörigkeit zu Gott. Denn es geht ja nicht um körperliche Reinheit, wenn Jesus seinen Jüngern die Füße wäscht, sondern das abgewaschen ist alles, was von Gott trennt. Es geht Jesus um das durch ihn gereinigte und von Grund auf erneuerte Verhältnis zu Gott.
Jesus bildet mit der Fußwaschung ab, was noch geschehen wird; sein niedrigster Dienst für seine Jünger und alle, die ihm folgen wollen, ist sein Sterben am Kreuz zur Vergebung der Sünden. Und um es noch einmal deutlich zu machen: Zu Jesus gehört man nicht dadurch, dass man ihn gut findet oder Gutes tut, zu IHM gehört nur, wer seinen Dienst annimmt, seine Lebenshingabe als Sühnopfer für unsere Sünde, unsere Trennung von Gott. Jesu Sterben am Kreuz ist der Ort der überfließenden Gnade Gottes, nicht weil das selbstverständlich so wäre, sondern weil Gott es so bestimmt hat.
Gerade um Gottes überfließende Gnade, die er durch Jesus uns schenkt, geht es beim Abendmahl, das wir heute am Tag seiner Einsetzung feiern. Teil haben an Jesus und durch ihn mit Gott ins Reine gebracht werden, das empfangen wir unter Brot und Wein. Aber noch ein Zweites empfangen wir beim Abendmahl, nämlich die Gemeinschaft miteinander. Wer zum Abendmahl kommt, kann sich dem nicht entziehen, dass er durch Jesus mit allen verbunden ist, die auch das Mahl empfangen, verbunden um seine Schwester, seinen Bruder zu lieben und einander anzunehmen. Das ist der zweite Schwerpunkt im Bericht von der Fußwaschung.
„Begreift ihr, was ich eben getan habe?“ hat Jesus seine Jünger gefragt als er sich wieder zu ihnen an den Tisch gesetzt hatte. Und weiter: „Ihr nennt mich Lehrer und Herr. Ihr habt Recht, das bin ich. Ich bin euer Herr und Lehrer, und doch habe ich euch soeben die Füße gewaschen. So sollt auch ihr euch gegenseitig die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe.“
Diese Mahnung Jesu ist kein Anhängsel, nichts Zweitrangiges. Das machen gerade auch die beiden Verse vom Ende des Kapitels deutlich. Unsere Zugehörigkeit zu Jesus, unsere wirkliche Gründung in IHM als Gemeinde zeigt sich an unserer Liebe zueinander. Sie zeigt sich in der Bereitschaft zu vergeben, zu helfen, zu ermutigen. Sie zeigt sich vor allem aber darin, dass Christen im Streit einander nicht fertig machen, nicht um jeden Preis ihr Recht bekommen müssen, nicht verletzen und nachtreten. Es wird immer Auseinandersetzungen geben auch in der Gemeinde Jesu; wir sind auch als Leute, die mit Jesus verbunden sind, freie Menschen mit unterschiedlichen Meinungen, siehe Petrus und sein Widerstand dagegen, dass Jesus ihm die Füße wäscht. Aber wie wir miteinander streiten wird zeigen, ob wir Jesus ernst nehmen und unser Herz von ihm gereinigt wurde.
Einander lieben, einander annehmen, ist noch lange nicht damit getan, dass wir ein Fass Bier aufmachen und miteinander feiern. Das ist nicht der Alltag. Im Alltag bin ich gefragt, ob ich meinen Stolz beerdige und den ersten Schritt auf die zu tue, die mich unfair angegriffen haben? Im Alltag fragt mich Jesus, ob ich meine Wünsche und Ansprüche vergesse, um ein sichtbares Zeichen seiner Gegenwart und Liebe bei denen zu setzen, die in oder außerhalb der Gemeinde seine Freundlichkeit und Liebe nicht angenommen haben. Amen.
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Im Tod kann ein neuer Anfang liegen - Predigt zu Johannes 19,16-30 von Peter Haigis
Im Tod kann ein neuer Anfang liegen
Liebe Gemeinde,
mit großer Aufmerksamkeit lässt uns der Evangelist Johannes am Geschehen um Jesu Kreuzigung teilhaben. Wie in einem Drama führt er uns die einzelnen entscheidenden Szenen nacheinander vor Augen, ja wir können uns die Szenenfolge vorstellen wie in einem Film:
Die Einleitung ist nur knapp in Bilder gefasst. Sie zeigt uns Jesus, wie er sein Kreuz trägt und anschließend die Aufrichtung seines Kreuzes zwischen den beiden anderen Hingerichteten. Dann wendet sich der Blick auf eine Spott-Inschrift über dem Kreuz, die Pilatus hat anbringen lassen: „Jesus von Nazareth, der König der Juden“. Wir werden Zeugen einer Debatte zwischen dem Hohen Rat und Pilatus um diese Kreuzesinschrift. Die Hohenpriester erkennen den darin beabsichtigten demütigenden Sarkasmus der politischen Besatzungsmacht und wollen Pilatus dazu bewegen, die Inschrift zu relativieren: „Schreibe, dass er es behauptet hat, der König der Juden zu sein…“ Doch Pilatus lässt sich darauf nicht ein.
In der bildenden Kunst hat die Unmittelbarkeit dieser Szene Maler immer wieder dazu verleitet, das Gespräch zwischen dem Hohen Rat und Pilatus unter dem Kreuz Jesu stattfinden zu lassen– doch das ist unwahrscheinlich. Die Erzählung des Evangelisten Johannes operiert hier härter und unvermittelter und hängt den kurzen Dialog an die Kreuzigungsszene an, wie wir es von der Schnitttechnik des Films kennen. Dort sind Raum- und Zeitsprünge ungehindert möglich.
Szenenwechsel zurück nach Golgatha, etwas abseits des Kreuzeshügels selbst: Wir sehen einige römische Soldaten, wie sie um die Kleider Jesu, auch um sein besonders, nämlich an einem Stück gewebtes Obergewand, losen – wohl kaum mit Würfel und Würfelbecher, aber vielleicht mit längeren und kürzeren Holzstöckchen oder mit Münzen. Das Zitat aus Ps. 22 höre ich nicht – es ist nicht Teil des Films, der da vor meinem inneren Auge abläuft (noch nicht); es ist vielmehr Teil der Gedanken eines Filmzuschauers, der dieses Psalmwort assoziiert, als er die Soldaten abseits neben dem Kreuz Jesu um dessen Kleider losen sieht.
Erneuter Szenenwechsel, die Kamera schwenkt hinüber auf die andere Seite. Dort werden wir am Fuß des Kreuzes Jesu zu Zeugen einer wechselseitigen Adoption zwischen Johannes und der Mutter Jesu, die Jesus selbst noch vom Kreuz herab veranlasst – als Stiftung einer neuen Gemeinschaft, wie sie die Gemeinde Jesu Christi darstellt, so hat man sie später verstanden. Ich sehe in dem Film, der da vor meinen Augen abläuft, Jesus nicht selbst sprechen, höre nur seine Stimme aus dem Off.
Und dann kommt es zu einem rätselhaften Schlussbild: Jesus äußert, Durst zu haben. Jemand (wer eigentlich?, einer der Soldaten?, ein Schaulustiger?, einer aus dem Freundeskreis Jesu? – ich sehe nur Hände) nimmt ein wenig Essig aus einem Gefäß in einem Schwamm auf und reicht Jesus das getränkte Büschel auf einem Ysoprohr hinauf. Ich sehe die Kamera langsam den schwankenden Schwamm verfolgen, bis er vor dem Gesicht Jesu schweben bleibt. Der saugt daran und stirbt mit den Worten „Es ist vollbracht!“
Schwarzblende – der Film von der Passion Jesu ist zu Ende. Es wird weitere Folgen geben, eine Fortsetzung wie bei einer Serie, doch für heute ist Schluss – und ich bleibe mit diesem letzten merkwürdigen Szenenbild alleine. Nun bin ich es, der assoziiert, dem die Gedanken durch den Kopf fahren. Was sollte das?
Essig hat eine betäubende Wirkung. Er wird Jesus an den Mund geführt, nicht um ihn zu verhöhnen oder gar als zynische Antwort auf Jesu Ruf „Mich dürstet“, sondern um seine Qualen am Kreuz zu lindern. Aber welche Bedeutung hat dieses „Es ist vollbracht“? Wörtlich steht beim Evangelisten Johannes: „Es ist vollendet!“ Die Synchronfassung, die ich sehe, müsste Jesus diese Worte in den Mund legen – oder besser noch: Ich sehe den Film im Original mit Untertitel und erfasse den anderen Wortlaut des Originals so nebenbei.
„Es ist vollendet!“ Also: Welchen Sinn hat der Tod Jesu am Ende? – Das ist doch die Frage, die sich gebündelt in Jesu letztem Wort stellt.
Der Tod kann viele Gesichter haben. Er kann brutal und abrupt über menschliches Leben hereinbrechen; er kann zerreißen und zerstören, was noch unfertig ist; er kann das Scheitern eines großen Lebensplans oder Lebenswerks bedeuten. Leben als Fragment, als Bruchstück. Der Tod kann aber auch sanft und erlösend wirken; er kann schweres, ja unerträgliches Leiden beenden. All das schwingt im Wort „Ende“ mit und ist doch in Jesu Ausspruch „Es ist vollendet!“ nicht gemeint.
Jesu Tod könnte als Ende seines Leidens verstanden werden, ja! Jesu Mutter könnte es aus Mitgefühl mit ihrem Sohn heraus so sagen: „Nun hat er es überstanden.“ Eine Redeweise, nicht so fremd und fern von mancher Erfahrung, die wir selbst machen.
Jesu Tod könnte auch als Niederlage aufgefasst werden. Jesu Jünger könnten es mit resigniertem Unterton so sehen: „Nun ist alles vorbei!“ Und auch diesen hoffnungslosen Seufzer kennen wir.
Jesu Tod könnte als Beseitigung eines Störenfrieds empfunden werden. Der Hohe Rat könnte es siegesgewiss so meinen: „Endlich ist er erledigt.“
Doch der Evangelist Johannes hat ein anderes Verständnis vom Tod Jesu. Er zieht die Bilanz: Jesu Werk ist vollendet. Hier hat er es zum Ziel gebracht. Damit durchbricht er alle Erwartungen und Erfahrungen im Umgang mit einem frühen, schmerzhaften, brutalen und gewaltsamen Tod. Wie kann dieser Tod Sinn machen?
Wahrscheinlich kann man das Schlussbild der Kreuzigung Jesu nur recht begreifen, wenn man den Ps. 22 im Ohr hat, den jüdischen Sterbepsalm. Möglicherweise hat ihn auch Jesus am Kreuz gebetet. Und in dieser Kreuzigungsszene kommt es nun zu merkwürdigen Parallelen zwischen dem Sterbepsalm 22 und dem Geschehen, das Jesus in den letzten Stunden und Minuten seines Lebens widerfährt. Vielleicht wäre es darum sinnvoll, man könnte den Ps. 22 zumindest im Abspann eines solchen Passionsfilms, wie er uns hier präsentiert wird, lesen – wenigstens in Auszügen:
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.
Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.
Du aber bist heilig, der du thronst über den Lobgesängen Israels.
Unsere Väter hofften auf dich, und da sie hofften, halfst du ihnen heraus.
Zu dir schrieen sie und wurden errettet, sie hofften auf dich und wurden nicht zuschanden.
Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und verachtet vom Volke.
Alle, die mich sehen, verspotten mich, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf:
‚Er klage es dem Herrn, der helfe ihm heraus und rette ihn, hat er Gefallen an ihm.‘
…
Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe; denn es ist hier kein Helfer.
…
Sie haben meine Hände und Füße durchgraben.
Ich kann alle meine Knochen zählen; sie aber schauen zu und sehen auf mich herab.
Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand.
Aber du, Herr, sei nicht ferne; meine Stärke, eile, mir zu helfen!“
Ps. 22 beschreibt die Wüste menschlichen Sterbens. In mancher Begleitung Sterbender tut sich diese Wüste auf, in der kein menschliches und menschenwürdiges Dasein mehr möglich scheint. Die Übereinstimmungen zwischen diesem Sterbepsalm und der Kreuzigungsgeschichte, die bei Johannes, aber auch bei den anderen Evangelisten zu finden sind, sollen zeigen, wie Jesus, der doch Gott selbst unter uns Menschen ist, teilhat an den Niederungen und Niedrigkeiten menschlichen Lebens. Hier wird diese Wüste, wie sie sich im Sterben eines Menschen auftun kann, von Jesus durchquert.
Doch Ps. 22 endet nicht an dieser Stelle, bis zu der ich ihn soeben gelesen habe. Und deshalb ist Jesu Teilhabe an der Todesqual des Menschen im Spiegel von Ps. 22 mehr als ein Mit-Leiden. Der Schluss des Psalms weist über das Sterben hinaus auf Gottes Zukunft mit den Menschen. Und in Jesu Geschick bis zum Tode am Kreuz, so wie es uns der Evangelist Johannes beschreibt, will er nun auch diese Hoffnungsperspektive über einem jedem Menschenleben aufleuchten lassen.
„Ich will deinen Namen kundtun unter meinen Brüdern, ich will dich in der Gemeinde rühmen.
…
Die Elenden sollen essen, dass sie satt werden; und die nach dem Herrn fragen, werden ihn preisen; euer Herz soll ewiglich leben.
Es werden gedenken und sich zum Herrn bekehren aller Welt Enden und vor ihm anbeten alle Geschlechter der Heiden.
Denn des Herrn ist das Reich, und er herrscht unter den Heiden.
Ihn werden anbeten alle, die in der Erde schlafen; vor ihm werden die Knie beugen alle, die zum Staube hinabfuhren und ihr Leben nicht konnten erhalten.“
Gottes Geschichte mit uns geht nach dem Tod Jesu weiter, ja sie beginnt dann erst von neuem. Menschen werden Gott erkennen und anbeten. Sie kommen zum Glauben, an den, der jeder Lebensgestaltung Grund und Perspektive gibt. Sie sammeln sich in einer großen Lebensgemeinschaft, in der sie sich gegenseitig tragen und stützen, genannt die Gemeinde Jesu Christi. Sie erfahren, dass sie satt und heil werden. Sie erleben, wie Gottes Reich des Friedens und der Gerechtigkeit im kleinen Maßstab ihrer Gemeinschaft Gestalt gewinnt.
Und auch unser bescheidenes Erdendasein – mag es uns rund erscheinen oder abgebrochen – ist im Tode nicht am Ende. Im Ps. 22 richtet sich der Blick auf eine Gemeinschaft mit Gott über den Tod hinaus. Freilich, von einer Verlängerung unseres irdischen Daseins ist in dieser Hoffnungsperspektive nicht die Rede. Das Rad des Lebens, die alte Mühle, dreht sich nicht einfach taumelnd weiter. Das Leben der jenseitigen Welt trägt den Charakter der Anbetung Gottes – ein Bild für ununterbrochene und ungehinderte Gemeinschaft mit Gott, vielleicht wie das Getragensein in einer wunderbaren, nie enden wollenden Musik, wie das Schwingen und Bewegtwerden in einem unendlichen Reigen. Ein Bild auch für Leidensfreiheit und Angstverlust.
„Der Herr hat es getan.“ – Das ist der Schluss von Ps. 22. Darauf bezieht sich Jesu Wort: „Es ist vollbracht!“ – „Es ist vollendet!“ In Jesu Leben ist dieser Schluss des Ps. 22 zur Erfüllung gekommen. Der Anfang einer neuen Geschichte Gottes mit den Menschen ist gemacht. Nun wird es weitergehen, auch nach Jesu Tod – in denen, die angesteckt sind von der Liebe Jesu; in denen, die in ihm mit ihrer Gottessehnsucht an ein Ziel gekommen sind und Erfüllung gefunden haben und die Freude darüber nun anderen mitteilen; in denen, die Jesus nachfolgen über seinen Tod hinaus, und auch in denen, die mit ihrem irdischen Leben abschließen müssen und nach vorne nicht in ein dunkles Nichts blicken, sondern in das Licht der ewigen Gemeinschaft mit Gott. Jesu Leben war erst der Anfang, aber ein Anfang, der bereits alles in sich trägt – ein Anfang, der es in sich hat. AMEN.