Umgang mit dem Sinnlosen - Predigt zu Johannes 19,16-30 von Christoph Dinkel

Umgang mit dem Sinnlosen - Predigt zu Johannes 19,16-30 von Christoph Dinkel
19,16-30

Umgang mit dem Sinnlosen

Da überantwortete Pilatus ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber, und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte.

Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der König der Juden. Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreib nicht: Der König der Juden, sondern, dass er gesagt hat: Ich bin der König der Juden. Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.

Als aber die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch das Gewand. Das war aber ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. Da sprachen sie untereinander: Lasst uns das nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt (Psalm 22,19): »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten.

Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.

Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und steckten ihn auf ein Ysoprohr und hielten es ihm an den Mund. Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! und neigte das Haupt und verschied.

Liebe Gemeinde!

1. Sinnlosigkeit erleben. So viele sinnlose Tode. 150 Menschen zerschellen mit einem Airbus in den französischen Alpen. Der Amoklauf eines Piloten reißt entsetzlich viele Menschen ins Unglück. So viele Leben sind abgebrochen, so viel Schmerz, so viel Schrecken, so unaushaltbar viel Leid. Auch gut eine Woche nach dem Unglück ist der Schrecken groß. Es ist klar: Es hätte auch uns selbst treffen können. Aber das ist es nicht allein. Es ist auch der Schrecken darüber, in was für einer Welt wir leben, in der Menschen zu solch entsetzlichen Taten in der Lage sind. Und der Amoklauf des Piloten ist ja nicht der einzige Schrecken, den wir in den letzten Monaten erleben mussten. Eine neue Art von Terrorismus überzieht den Nahen Osten. Perverse Mörderbanden präsentieren sich mit den abgeschnittenen Köpfen ihrer Opfer der Öffentlichkeit. Gestern sterben weit über 100 Studenten bei einem Massaker an einer kenianischen Universität. So mancher traut sich nicht mehr, die Nachrichten einzuschalten aus Angst, wieder mit neuen unfassbaren Gräueln konfrontiert zu werden. All diese Tode sind so brutal, so unnötig, so sinnlos. Sie trüben unseren Blick auf das Leben, sie erschüttern unser Weltbild. Gibt es denn keinen, der solch einem Treiben Einhalt gebietet? Will ich in einer solchen Welt wirklich leben? Der Lebensmut gerät ins Wanken. So viele sinnlose Tode!

Am Karfreitag gedenken wir eines sinnlosen Todes. Am Kreuz auf Golgatha wird Jesus von Nazareth bestialisch zu Tode gefoltert. Die Kreuzigung war die perverseste Todesstrafe, die sich die Römer ausgedacht haben: äußerste Qual und finale Schändung für das Opfer, maximale Abschreckung für alle potentiellen Sympathisanten. Aus Sicht des frommen Juden stirbt Jesus in absoluter Gottesferne. Jesus selbst wird das so erlebt haben. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ – nach dem Markusevangelium stirbt Jesus mit einem Wort der Gottverlassenheit. Für seine Anhänger, seine Familie geht die Welt unter. Alles, woran sie glaubten, ist zerstört. Die Hoffnung auf Gottes neue Welt wird mit ans Kreuz genagelt und stirbt. Zurück bleibt die dröhnende Leere des Todes, die Stille der Verwesung, das Dunkel der Verzweiflung.

Ein sinnloser Tod einst auf Golgatha, sinnlose Tode in den französischen Alpen, beim Amoklauf in Winnenden vor sechs Jahren. Oder: weniger spektakulär, dafür viel häufiger: Sinnloses Sterben im Straßenverkehr, Sterben durch Suizid, Sterben durch Krankheit. So viele Menschen sterben einen zu frühen, einen sinnlosen Tod – und mancher von uns hat solch einen sinnlosen Tod im nächsten Umfeld erlebt. Der Schrecken darüber, der Schmerz und der Verlust gehört zu Ihrem Leben. Der Tod des Kindes, des Ehepartners, des geliebten Menschen, mit dem man das Leben und alles Glück und Leid geteilt hat, begleitet das Leben als dunkler Schatten.

2. Sinnlosigkeit aushalten. Es ist die große Stärke und die große Wahrhaftigkeit des Christentums, dass es sich dem sinnlosen Tod stellt. Von Anfang an sind Christen dem Schrecken des Todes nicht ausgewichen, sie haben die Schrecklichkeit des Sterbens Jesu nicht geleugnet und nicht verdrängt. Das Folterinstrument von Golgatha ist sogar zum zentralen Symbol des Christentums geworden. Im Mittelpunkt unseres Glaubens steht das Wort vom Kreuz. Die Gottverlassenheit Jesu ist nicht das Ende, sondern der Anfang unseres Glaubens. Kein Christ kann sich darüber hinwegtäuschen: Dass auch das Schlimmste, Bitterste, Sinnloseste möglich ist – diese furchtbare Erkenntnis ist der Ausgangspunkt des Christentums.

Das Christentum flüchtet sich nicht in Vertröstungen. Wir predigen nicht die Rückkehr der Toten in einem ewigen Kreislauf der Wiedergeburt. Wir werten nicht das irdische Leben zugunsten irgendeines jenseitigen Lebens ab. Wir predigen auch nicht die geistige Existenz, die nach Ansicht mancher der irdischen Existenz überlegen ist. Nein, das Christentum nimmt das irdische Leben ganz und gar ernst. Deshalb hat Jesus die Kranken gesund gemacht und die Besessenen geheilt. Deshalb wendete sich Jesus den Ausgegrenzten zu und verkündete das Reich Gottes als eine neue Welt, die hier auf Erden dem göttlichen Willen Geltung verschafft. Gott liebt diese Welt, deshalb sendet er seinen Sohn – so sagt es das Johannesevangelium (Johannes 3,16).

Für das Leid in der Welt liefert der christliche Glaube keine Ermäßigung. Alles Leid, das geschieht, ist so schlimm wie es scheint. Das Christentum lehrt eine maximale Sensibilität für die Welt und allen Kummer in ihr. Eine umfassende Erinnerungskultur gehört deshalb zu Christentum – und der Karfreitag ist dabei der Höhepunkt. Mit Liedern und Passionsmusik, mit Bildern und Skulpturen gedenken wir des Leidens Jesu und erinnern damit zugleich an alles Leid, das in der Welt geschieht. Die Opfer werden nicht vergessen. In der Erinnerung an Jesu Sterben ist das Sterben all jener aufbewahrt, die wir vermissen und die uns so schmerzlich fehlen: alle Opfer von Gewalt und Willkür, alle Opfer von Katastrophen und Terrorakten, alle Opfer eines zu frühen Todes. Das Christentum hält die Sinnlosigkeit ihres Todes aus. Das ist seine große Wahrhaftigkeit und Stärke.

3. Dem Sinnlosen einen Sinn geben. Doch die Sinnlosigkeit des Todes behält nicht das letzte Wort. Ermutigt durch die Erscheinungen nach Ostern beginnt die Christenheit die Ereignisse des Karfreitags neu zu deuten. Die Deutungsmacht der Mörder Jesu, so überwältigend sie am Karfreitag noch erschienen ist, zerfällt. Die Anhänger Jesu lernen, das Leiden und Sterben Jesu mit anderen Augen zu sehen. Sie üben sich darin, die Perspektive Gottes einzunehmen, sie wagen es, den Weg Jesu als Weg der vollendeten Liebe zu begreifen. Das geschieht vorsichtig und in der Sprache des Mythos mit den Bildern der Auferstehung und des neuen Lebens. Doch mit den Jahren wird diese Umdeutung immer kühner.

Am kühnsten ist der Evangelist Johannes, dessen Karfreitagsbericht uns heute vorliegt. Trägt bei den übrigen Evangelisten Jesus die Züge eines Opfers, das hilflos der Gewalt seiner Mörder ausgeliefert ist, so ist bei Johannes Jesus der eigentliche Souverän der Handlung. Schon beim Verhör vor Pilatus inszeniert Johannes die Geißelung als versteckte Krönung. Jesus trägt Dornenkrone und Purpurmantel. Die Soldaten grüßen ihn als König der Juden und meinen ihn zu verspotten (Johannes 19,2-4). Sie meinen eine Parodie einer Kröning zu inszenieren. Doch hinter dieser Parodie wird erkennbar, dass aus göttlicher Perspektive tatsächlich ein König gekrönt wird, nämlich der wahre König, der von Gott selbst gesandt ist. Und folgerichtig fragt Pilatus das Volk: Soll ich euren König kreuzigen? (Johannes 19,15)

Die Umdeutung geht weiter: Bei Johannes trägt Jesus den Kreuzesbalken selbst nach Golgatha, er braucht keine Hilfe. Simon von Kyrene fehlt im Bericht. Jesu Kreuz steht im Zentrum der Hingerichteten, es ist der Mittelplatz des Herrschers. Über seinem Haupt steht die Aufschrift: „Jesus von Nazareth, der König der Juden.“ Sie ist gleich dreisprachig abgefasst wie manchmal auf öffentlichen Dokumenten der Antike. Und als sich die Hohepriester bei Pilatus über diese Aufschrift beschwert, da sagt Pilatus: „Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.“ Auf Lateinisch denkbar klar und knapp: Quod scripsi scripsi. So wird die Kreuzigung Jesu zur endgültigen Proklamation des von Gott gesandten Königs in allen Sprachen und vor aller Welt.

Und in seiner Kühnheit treibt der Evangelist Johannes die Umdeutung noch weiter: Bei der Kleiderverteilung entscheidet das Los – doch was die Soldaten aus Habgier tun, erscheint für den Evangelisten als Erfüllung einer Schriftprophezeihung. Dann wendet sich Jesus denen unter dem Kreuz zu, die ihn begleitet haben. Mit einer letzten Geste der Liebe befiehlt er seine Mutter Maria der Obhut des Lieblingsjüngers an: „Das ist dein Sohn. Das ist deine Mutter“. So schafft Jesus noch am Kreuz neue Familienbeziehungen, denn zur Familie Jesu gehören alle, die den Willen Gottes tun. Schließlich fehlt bei Johannes der Schrei der Gottverlassenheit beim Sterben Jesu. Vielmehr vollendet der souverän handelnde Gottesgesandte seine Mission. „Es ist vollbracht“, sagt Jesus. Griechisch: Tetelestai. Ein stolzes Wort. Der Wille Gottes ist ausgeführt. Die Sendung ist an ihr Ziel gekommen. Die Liebe hat sich vollkommen hingegeben und aufgezehrt. Sie hat sich auch durch Gewalt und Tod nicht schrecken und nicht vom Weg abbringen lassen.

Tetelestai. Es ist vollbracht. Der Evangelist Johannes wagt eine radikale und kühne Umdeutung des Todes Jesu. Dem scheinbar sinnlosen Sterben misst er höchste Bedeutung zu. Die Deutung der Mörder Jesu wird hinweggefegt. Neu installiert und zur Geltung gebracht wird die Perspektive Gottes: Der zu Tode Gefolterte hat die Mission der Liebe bis zuletzt durchgehalten. Keine Macht konnte diese Sendung aufhalten. Gott liebt diese Welt, Gott liebt seine Geschöpfe, daran ändert keine Gewalt etwas, daran ändert auch der sinnlose Tod nichts.

Die Umdeutung des Evangelisten Johannes ist kühn, aber sie ist nicht unwahrhaftig. Der Tod Jesu wird nicht geleugnet. Selbst der Auferstandene trägt bei den österlichen Erscheinungen die Wundmale des Gekreuzigten. Jesus kommt nicht zurück in sein altes Leben. Es ist nach Ostern nicht alles wieder wie früher. Der Schrecken des Todes bleibt Schrecken. Die Sinnlosigkeit des Sterbens Jesu bleibt ein Skandal. Die Mörder bleiben Mörder, es wird nichts ermäßigt, der Schmerz bleibt.

Aber das eine ändert sich doch: Der Mut zum Leben kehrt zurück. Den Mördern wir die Deutungshoheit über die Sendung Jesu entrissen. Der Evangelist führt die Perspektive Gottes, die Perspektive der Liebe ein. In diese Perspektive, das lehrt der Karfreitag, sollten wir alle Menschen rücken, die einen sinnlosen, einen zu frühen Tod gestorben sind. Denn Gott liebt seine Geschöpfe und hält zu ihnen, im Leben und auch im Tod. Das ist die Botschaft des Karfreitag: Gott liebt diese Welt. –Amen.

 

Perikope
03.04.2015
19,16-30

Andacht in der „Stillen Woche“ zu Johannes 3,14b-15 von Henning Kiene

Andacht in der „Stillen Woche“ zu Johannes 3,14b-15 von Henning Kiene
3,14-15

Der Menschensohn muss erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. (Joh 3, 14b-15)

I. Stille Woche

Für meine Mutter begann mit dem Palmsonntag die „Stille Woche“. Sie wusch in dieser Woche keine Wäsche, auf dem Radio liefen Sender, die ernste Musik übertrugen, am Gründonnerstag gab es Spinat, am Karfreitag waren die Mahlzeiten karg. Diese Woche war anders, als andere Wochen des Jahres. Und der Osterschmuck blieb bis zuletzt im Keller. Der Strauß mit den aufblühenden Forsythien stand in einem kühleren Raum bereit. Für uns war es selbstverständlich, dass am Karfreitag eigentlich nichts los war. Mit kindlicher Langweile hangelten wir uns durch diesen Tag. Die „Stille Woche“ war verordnet, es gab keinen Zweifel an ihrer Richtigkeit. Die Bibel berichtete von Dingen, vor denen wir Kinder sowieso viel Respekt hatten: Jubel auf den Straßen, dann Verrat, der Prozess gegen Jesus, Tränen, Festnahme, der Hahn kräht, das Leiden wird zum roten Faden der Geschichte, dann der Tod Jesu. Selbst ohne häufig zur Kirche zu gehen, wir wussten es einfach.

II. „ungläubig der Worte, die ich da tippte“

In der vergangenen Woche habe ich an die Stillen Wochen meiner Kindheit denken müssen. An die ruhigere Musik, die im Radio lief und die Kinderbibel, die wir zur Hand nahmen. In mir erwachte wieder eine kindliche Protestfrage: Wie kann man Stille anordnen wollen? Gibt es eine Pflicht zur Stille? Das ist doch paradox. Schließlich kann man dem Meer nicht befehlen, die Wellen mögen schweigen. Wer kann der aufgewühlten Seele befehlen: „Nun sei doch endlich mal stille!“ Heute sehne ich mich nach solcher Stille. Ein äußeres Innehalten ist geeignet, ein inneres Innehalten vorzubereiten. Ich möchte die Gedanken sortieren, nach den Abgründen, in die ich hineinsehen musste, still sein zu dürfen. Die Bilder von Hubschraubern, die die Fachleute über einem Trümmerfeld abseilen, den Gedanken an die Eltern, deren Kinder nicht zurückkehren werden und dieses Erschrecken über den jungen Copiloten, möchte ich aus der Welt schneller Fragen und eilig gegebener Antworten herauslösen können. Es gab so viel Gerede, es hat so voreilige, geschwätzige Talkbeiträge gegeben. Und ich weiß, es sind viele Menschen, die in diesem Wortschwall und der Bilderflut einfach einmal innehalten möchten. Ein Journalist von „Die Welt“ schreibt über die Pressekonferenz, in der erstmals von dem absichtlich eingeleiteten Landeanflug, der in die Katastrophe führte, berichtet wurde: „Ich war vorbereitet auf eine Eilmeldung, denn eine PK (Pressekonferenz) kann immer eine ergeben, aber nicht auf diese. Dann fing ich an, den Aufmacher zu schreiben, ungläubig der Worte, die ich da tippte. Nein, Spaß macht es gerade nicht, aber wir funktionieren.“[1]

Das Funktionieren ist für uns alle wichtig. Aber dieses Funktionieren zehrt an den Kräften. Viele Menschen brauchen in diesen Tagen mehr Kraft, als ihnen aus ihren eigenen Kraftreserven heraus zur Verfügung steht. In den vielen Gesprächen, die wir in der vergangenen Woche hier geführt haben, war spürbar, dass alles, was wir über den Flug der Germanwings gehört und gesehen haben, einfach alle Dimensionen des Vorstellbaren gesprengt hat. Selten gab es so viel Erschrecken über eine Tat, die in ein Unglück führte. Die Abgründe, in die wir sehen mussten, führen selbst die, die nicht persönlich betroffen sind, an ihre Grenzen heran. „So etwas geht über jedes Vorstellungsvermögen hinaus“,[2] sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie sprach für uns alle.

III. neue Tonspur

Manches, was ich höre und sehe, fügt der Stillen Woche eine neue Tonspur hinzu. Die Abgründe von Verrat und Schuld können tiefer nicht sein. Man sieht in ein Meer der Trümmer. Das ist das Bild der diesjährigen Stillen Woche. Sogar in vielen Auferstehungsikonen der Orthodoxen Kirche sehe ich diese Perspektive, die den Abgrund frei gibt. Da zeigen die Ikonenmaler Jesus Christus. Der ist nicht bei den Toten geblieben. Der hat sein Kreuz über den Abgrund gelegt. Das Reich des Todes bleibt zu seinen Füßen sichtbar, es wirkt aber, als wäre der Abgrund hinter dem Kreuz versperrt.[3] Solche Sperre suche ich.

Das wäre eine Stille Woche, die ich mir selber verordne: Sich in die Welt solcher Bilder, die Überwindung dieser Abgründe anzeigen, hineinziehen zu lassen. Aus der Stille der kommenden Feiertage heraus, gilt es die Kraft zu gewinnen, die mich nach mehr fragen lässt, als nach dem, was denn nun genau geschehen ist. Will ich nur diesen furchtbaren Bildern, die ich sehe, alleine diesen Nachrichten, die mich nicht zur Ruhe kommen lassen, folgen? Da muss sich doch auch eine Dimension in dieser Stillen Woche entdecken lassen, die einen ganz kleinen Schritt weiter führt. Nicht, dass die Katastrophe geringer werden würde, oder das Schreckliche sich abmildern ließe, sondern dass das Schreckliche nur im Lichte einer anderen Botschaft erschiene. So wie unsere Kinderbibel ja auch die Härte des Weges Jeus keineswegs milderte, aber wir wussten, wohin das führen wird.

IV. Für uns gestorben

Da wurde in der letzten Woche ein Grundlagentext des Rates der EKD veröffentlicht. Der Titel passt in diese Stille Woche: „Für uns gestorben“[4]. Und die Autoren schreiben: „Deutlicher als je zuvor hat die Theologie des 20. Jahrhunderts den Weg des Gekreuzigten in die Leidensgeschichten unserer Welt eingezeichnet. Die Sünde als Entfremdung des Menschen von Gott, von seinem Mitmenschen und von sich selbst steht in einem ursächlichen Zusammenhang zu diesen Leidensgeschichten. Ihre Ergebnisse sind in letzter Konsequenz die schuldhafte Zerstörung des Geschaffenen, das Verderben des Lebens und der Tod als Inbegriff einer nicht mehr zu überbietenden Beziehungslosigkeit.[5]“ Es ist so, als legten theologische Sätzen eine Tonspur an das an, was die Medien zu mir hin übertragen. Sie deuten das, was ich erlebe. Und die Denkschrift fährt fort: „Gott ist dem entgegengetreten. Nur er ist in der Lage, diese tödliche Situation aufzubrechen und den Menschen und seine Welt aus der … Dynamik des Unheils herauszuholen.“[6] Das ist eine genaue Beschreibung der Stillen Woche meiner Mutter, die Dinge des Lebens in der Reihenfolge zu belassen, in die sie gehören. Leise Töne anschlagen, sich Ruhe gönnen, Radio leiser stellen, sich auch die Zeit so dehnen zu lassen, dass sich der Moment der Langweile einstellen kann.

Das ist die Stille Woche, im ursprünglichen Sinn: Sich einordnen, sich anschließen, an diese Spur, die Gott gelegt hat: Nur Gott ist in der Lage, diese tödliche Situation aufzubrechen. Das muss man doch wissen. Vermutlich hat meine Mutter nicht viel darüber nachgedacht, sie hatte es aber so gemacht: Der Osterschmuck blieb im Keller, der Strauß mit den Ostereiern wurde erst am Ostersonntag auf den Tisch gestellt. Wir Kinder mussten die Stille ertragen lernen. Da blieb der Blick in die Abgründe, die dieses Leben kennt. Da mussten wir hineinsehen. Aber der Osterschmuck stand dann doch bereit.


[4] Für uns gestorben. Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Gütersloher Verlagshaus 2015

[5] ebd. Seite 119-120

[6] ebd. Seite 120 

 

Perikope
03.04.2015
3,14-15

Resilienz - Predigt zu Johannes 19,16–30 von Wilhelm v. der Recke

Resilienz - Predigt zu Johannes 19,16–30 von Wilhelm v. der Recke
19,16-30

Resilienz

I.         Zu den erstaunlichen Dingen im Neuen Testament gehört die Tatsache, dass wir es gleich mit vier Berichten über das Wirken Jesu zu tun haben. Diese Berichte unterscheiden sich deutlich voneinander, ohne dass sie sich im Kern widersprechen. Das gilt auch für die Passions- und Ostergeschichten. Wenn wir an den letzten Weg des Jesus von Nazareth denken, steht uns meistens das Bild vor Augen, das von den ersten Evangelien geprägt ist. Das Bild vom Schmerzensmann, der gequält und verprügelt, bespuckt und verspottet wird. Seine Gegner demütigen ihn nach Kräften. Die Soldaten treiben ihr Spielchen mit ihm. Seine Freunde geraten in Panik und fliehen. Selbst an seinem Vater im Himmel beginnt Jesus zu zweifeln.

Das Vierte Evangelium zeigt ein anderes Bild, und das steht im NT gleichberechtigt neben den anderen. Jesus wird auch verraten und im Stich gelassen, er wird gefangen genommen, in einem Eilprozess auf Grund von falschen Zeugenaussagen verurteilt und ans Kreuz gebracht. Aber er lässt das souverän mit sich geschehen, Jugendliche würden sagen: Er bleibt cool. Es klingt so, als ob ihn das nicht wirklich berührt, als ob es ihn nicht im Inneren erschüttern kann. Auch als Opfer bewahrt er Haltung. Johannes dramatisiert die Passionsgeschichte nicht. Sachlich, beinahe distanziert berichtet er von den einzelnen Stationen auf dem letzten Weg von Jesus.

II.        Im 19. Kapitel des Johannesevangeliums wird berichtet, wie der römische Gouverneur den angeklagten Mann aus Nazareth wider besseres Wissen zum Tode verurteilt. Dann heißt es weiter:

(Es folgt die Lesung Joh. 19, 16–30).

Die Soldaten teilen seine wenigen Kleidungsstücke unter sich auf, sie machen vier Teile daraus. Auch der Evangelist macht vier Teile aus seinem Bericht über die letzten Stunden von Jesus, und es klingt so, als habe es kaum mehr als 20 Minuten gedauert.

Der 1. Teil ist sozusagen der offizielle Akt. Das Urteil wird vollstreckt. Jesus trägt selbst sein Kreuz auf den Hügel von Golgatha, und keiner muss ihm dabei helfen. Wie bei den Römern üblich hat er den Querbalken auf der Schulter, während der senkrechte Pfahl schon an Ort und Stelle in den Boden gerammt ist. Zwischen zwei Verbrechern wird Jesus gehängt. Oberhalb seines Kopfes wird ein Zettel befestigt, auf dem steht, um wen es sich hier handelt und warum er so bestraft worden ist – angeblich ein Aufständischer, einer der behauptet, der König der Juden zu sein.

Im 2. Teil geht es um die paar Sachen, die Jesus geblieben sind. Sowenig das ist, darauf haben die Soldaten einen Anspruch.

Dabei kann Jesus nur zusehen, soweit ihn das überhaupt noch interessiert. Im 3. Teil aber ergreift er die Initiative. Es geht ihm um die wenigen Menschen, die ihm nahe stehen und die ihm hierher gefolgt sind. Das sind insbesondere seine Mutter und der sog. Lieblingsjünger. Beide weist er eindringlich aufeinander.

In der 4. Szene geht es um Jesus selbst, um seine letzten menschlichen Bedürfnisse. Er hat Durst, wahrscheinlich wahnsinnigen Durst, denn er ist seit Stunden nackt der Sonne ausge­setzt. Die Soldaten machen keine großen Umstände, sie kennen das, und deshalb steht ein Krug mit einem Essiggetränk bereit. Mit Hilfe eines Schwammes an einem langen Stock bekommt er zu trinken. Dann stirbt er bei vollem Bewusstsein. Es ist vollbracht, sagt er und lässt den Kopf zur Seite sinken.

III.      Eine erstaunlich nüchterne Beschreibung seiner letzten Lebensstationen, wenn man daran denkt, um wen es sich hier handelt. Im Gegensatz zu den religiösen Autoritäten in Jerusalem ist ja der Evangelist Johannes davon überzeugt, dass es nicht um irgendeinen übergeschnappten Wander­prediger geht, sondern um den Messias, den lange angekündigten und von vielen brennend erwarteten Retter, den Sohn Gottes. Wenn man sich diesen Bericht genauer ansieht, ist er allerdings keineswegs so sachlich und banal, wie es zunächst erscheint. Er ist geradezu doppelbödig:

Pilatus lässt einen Aushang über dem Kopf Jesu am Kreuz anbringen. Aber es ist kein reiner Verwaltungsakt. Er hat sich über die Hohenpriester geärgert, weil er das Todesurteil unter ihrem Druck gefällt hat. Nun zahlt er es ihnen heim, denn die Inschrift lautet: Jesus von Nazareth der König der Juden. Pilatus meint das ironisch, und er weiß gar nicht, wie recht er hat – Jesus ist ja tatsächlich ein König, der Messias. Er geht hervor aus dem jüdischen Volk, aber er hat einen universellen Anspruch. Der wird unfreiwillig damit dokumentiert, dass die Inschrift in der hebräischen Landessprache, in der römischen Verwaltungssprache und der griechischen Weltsprache verfasst ist.

Doppelbödig ist auch die zweite Szene. Man könnte meinen, mit dem in einem Stück gewebten Rock sei ein Umhang gemeint. Tatsächlich handelt es sich um das Untergewand. Das heißt, die Oberbekleidung kann zerschnitten und verteilt werden, was darunter ist bleibt intakt, es ist unzerstörbar. Dabei ist sicher auch an die Person, an Jesus gedacht: Äußerlich gesehen ist er geschunden und böse zugerichtet, aber innerlich ist er unantastbar. Sie können ihn nicht kaputt machen.

Auch die dritte Szene sagt zwischen den Zeilen mehr, als oberflächlich zu lesen ist. Man kann sich doch fragen, warum sich ein Jünger um Jesu Mutter kümmern soll. Er hat doch leibliche Geschwister, Brüder, die vermutlich sowieso besser für ihre Mutter sorgen können als der besitzlose Wander­prediger Jesus. Was also ist gemeint? Weder hier noch anderswo im NT wird der Lieblingsjünger mit einem bestimmten Jünger, z. B. Johannes, gleichgesetzt. Kluge Ausleger haben das so verstanden, dass mit Maria die Christen gemeint sind, die von Hause aus Juden sind, mit dem Lieblingsjünger aber die sog. Heidenchristen – also jene Christen, die aus den Völkern rings ums Mittelmeer kommen und von Paulus und anderen Missionaren vom christlichen Glauben überzeugt worden sind. Das ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Unmittelbar vor seiner Verhaftung spricht Jesus das sog. Hohepriesterliche Gebet. Darin bittet er Gott um die innere Einheit, um die Geschwisterlichkeit aller Christen, auch jener, die einmal durch die Mission dazu kommen werden.

Schließlich die vierte Szene. Stundenlang hat Jesus unter großen Schmerzen in der sengenden Sonne gehangen. Das Einzige, was von diesem schrecklichen langsamen Sterben berichtet wird, ist, dass er Durst hat. Das trifft sicher zu, aber ist es wirklich das Einzige von Bedeu­tung? Vermutlich handelt es sich auch hier um ein Missverständnis von denen, die dabei sind, aber nicht verstehen, was vor ihren Augen passiert. So ist es häufig bei Johannes. Wenn Jesus in diesem Moment von Durst spricht, dann betet er wahrscheinlich mit biblischen Worten, die ihm geläufig sind, wie etwa dem 42. Psalm: Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue? Ja, es geht zu ende. Es ist vollbracht, sagt Jesus. Nicht mehr lange, und er wird seinen himmlischen Vater von Ange­sicht zu Angesicht sehen.

IV.      Wenn wir uns an die Passionsgeschichte des Johannes halten, so ist Jesus die ganze Zeit über erstaunlich gefasst. Selbst in der schlimmsten Demütigung bleibt er er selbst. Äußerlich gesehen wird er zerstört, innerlich können sie ihm nichts anhaben. Nicht einmal der Tod kann ihn vertilgen. Dank seines himmlischen Vaters überwindet er auch diese letzte Barriere irdischer Macht und Gewalt. Ein starker Jesus.

Andere neutestamentliche Zeugen haben das anders gesehen. Sie haben Jesus als den Schwachen erlebt, dem nichts Menschliches fremd ist, der alle Niedertracht – zu der Menschen in der Lage sind – am eigenen Leib erfahren hat. Der daran fast zerbricht. Der nahe daran ist, auch an Gott irre zu werden. Das ist der Mitfühlende, der Mitleidende. Der uns nahe ist wie ein Freund und Bruder, der uns versteht wie kein anderer Mensch.

Johannes bestreitet das nicht, aber ihm ist wichtig, eine andere Seite an Jesus herauszustellen: Jesus, das ist der, der konsequent seinen Weg geht. Der immer in engem Kontakt zu seinem himmlischen Vater steht. Der alle Misserfolge wegstecken kann, der den Anfeindungen trotzt und die Anfech­tungen besteht; sie prallen geradezu an ihm ab. Jesus, der Standhafte, der Fels in der Brandung. Ja, das ist einer, der Halt gibt, auf den man sich verlassen kann.

Er verfügt über einen unantastbaren Kern, eine Stärke, die von Innen kommt. Diese Kraft schöpft er aus dem unbedingten Vertrauen zu seinem himmlischen Vater. Er kommt von Gott, er kehrt zurück zu Gott, und nie reißt das Band ab, das beide verbindet. Er weiß sich getragen und gehalten. Deshalb kann er seine Mission erfüllen und kompromisslos für die gute Sache eintreten, die Gott ihm anvertraut hat.

Diese unzerstörbare innere Kraft, dieses seelische Immunsystem bezeichnen Psychologen heute als Resilienz. Jesus verfügt über diese Resilienz. Er tut es, weil er Gott bedingungslos vertraut. Er weiß sich mit ihm eins. – Und er möchte, dass auch wir mit ihm eins sind. Dass wir es ihm gleichtun. Er möchte, dass auch wir Gott bedingungslos vertrauen. Das ist sein eigentliches Anliegen. Und das können und sollen wir von ihm lernen. Gott aber ist weit weg, geradezu abstrakt. Aber Jesus ist greifbar. Wir wissen von ihm, wir kennen ihn, an ihn sollen wir uns halten. Wie er es getan hat, so können wir es auch machen. Er ist seinen Weg auf Erden exemplarisch gegangen. Er hat ihn auch für uns frei gemacht, er hat ihn gangbar gemacht. Uns hat er gemeint, wenn er sagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Durch ihn kommen wir zum Vater.

V.        Jesus lehrt uns – nein, er gibt uns das Urvertrauen. Normalerweise sprechen wir von Glauben. Man kann es auch Resilienz nennen, diese nahezu unerschütterliche innere Kraft, ein seelisches Immunsystem. Das macht es uns möglich, zuversichtlich unseren Weg zu gehen – in guten und in bösen Tagen, im Leben und im Sterben.

Heute am Karfreitag haben wir uns unter dem Kreuz Jesu versammelt. Es ist und bleibt ein böser Tag, der uns immer neu bewusst macht, wozu Menschen fähig sind. Was sie anderen Menschen zufügen und was sie selbst erleiden. Aber es ist und bleibt auch ein guter Tag, ein Tag der Hoffnung, einer unzerstörbaren Hoffnung.

Perikope
03.04.2015
19,16-30

Zeichen der Liebe – Vorbild zum Handeln, Predigt zu Johannes 13,1-15 von Georg Freuling

Zeichen der Liebe – Vorbild zum Handeln, Predigt zu Johannes 13,1-15 von Georg Freuling
13,1-15

Zeichen der Liebe – Vorbild zum Handeln

Jesus und seine Jünger sind zusammen. Es ist ihr letzter gemeinsamer Abend. Die letzte gemeinsame Mahlzeit. Jesus weiß es; die anderen wissen es nicht. Trotzdem nimmt Jesus Abschied von ihnen.
Es ist ihr letzter gemeinsamer Abend. Sie sind zusammen. Aber Johannes stellt in seinem Evangelium nicht das letzte Mahl in den Vordergrund; alles, was ihm daran wichtig ist, hat Jesus schon gesagt: „Ich bin das Brot des Lebens.“ Etwas anderes tritt bei Johannes in den Vordergrund: Beim gemeinsamen Essen passiert etwas. Etwas Besonderes, mit dem Jesus diesem Abend eine Bedeutung gibt:

Während des Essens – sie liegen zu Tisch – steht Jesus auf. Was hat er vor? Er legt das Obergewand ab. Für Männer damals ein Zeichen der Würde. Es ist das Gewand, das sie ihm am Kreuz nehmen werden. Er legt es ab. Wozu? Dann bindet er eine Schürze um. Wie ein Diener. Will er sich etwa zum Diener machen? Er nimmt eine Schüssel mit Wasser und fängt an, seinen Freunden die Füße zu waschen. Wie kommt er darauf?

Was passiert hier?
Damals lagen die Menschen zu Tisch. Damit waren die Füße auf der Höhe des Essens. Draußen gingen die Menschen barfuß oder mit offenen Sandalen. Dass der Dreck der Straße nichts neben dem Essen zu suchen hat, war klar: Vor dem Essen wurden die Füße gewaschen.
In einfachen Häusern machten es die Menschen selbst. Bei den Reichen und Vornehmen gab es Diener, die diese unangenehme Aufgabe übernahmen. Wenn ein Lehrer, ein Rabbi, Schüler hatte, wuschen die ihrem Meister die Füße. Die Rollen waren klar verteilt.
Deshalb ist das, was Jesus hier macht, nicht nur etwas Besonderes, nicht nur etwas Überraschendes. Es ist viel mehr als das: Es ist anstößig und unpassend! Jesus stellt alles auf den Kopf. Er ist ihr Lehrer und Meister und entwürdigt sich zum Diener:

Er steht auf. Er legt das Obergewand ab. Er bindet sich ein Leinentuch um. Er nimmt die Wasserschüssel... Es wird so erzählt, als ob jemand live berichtet, dabei ins Stocken gerät und seinen Augen nicht traut. Kann das sein, was da passiert? Man kann sich kaum vorstellen, wie überrascht die Jünger gewesen sein müssen. Wahrscheinlich auch irritiert, verstört, beschämt.

Petrus ist der Erste, die die Sprache wiederfindet. Er spricht das aus, was vermutlich alle denken: „Du – mir die Füße waschen?“ Das geht nicht!
Mit der Fußwaschung passiert etwas Besonderes: Jesus fällt ganz bewusst aus der Rolle. Er setzt sich über Konventionen und Gewohnheiten hinweg. Damit ist garantiert, dass die anderen es merken, sich wundern, sich dran stoßen. Deshalb wäscht Jesus ihnen die Füße. Er provoziert, dass sie fragen. So wie Petrus dann fragt: „Du – mir die Füße waschen?“ Was soll das?

Was soll das, dieses merkwürdige Verhalten Jesu?

Johannes liefert in seinem Evangelium die Antwort gleich mit: Wenn Jesus seinen Jüngern die Füße wäscht, dann zeigt er ihnen seine Liebe. Die Fußwaschung ist Zeichen der Liebe Jesu zu den Seinen. Und: Wenn Jesus seinen Jüngern die Füße wäscht, dann sollen die das auch untereinander tun. Die Fußwaschung ist Vorbild und Beispiel für alle, die zu Jesus gehören. Zeichen der Liebe und Vorbild zum Handeln – um beides geht es und beides hängt zusammen.

Zuerst: Im Abschied gibt Jesus seinen Jüngern ein Zeichen seiner Liebe. Wie eine Überschrift steht es über der Geschichte: „Wie er die Seinen geliebt hatte, die in der Welt waren, so liebte er sie bis ans Ende.“ Bis ans Ende bedeutet so viel wie „bis zur Vollendung.“ Im Abschied gibt er ihnen noch, was er geben kann, geht aufs Ganze.
Wenn wir lieben, dann legen wir alles, was wir sind und haben, in unsere Liebe hinein. Dann möchten wir alles für den anderen tun. Dann legen wir dem anderen die Welt zu Füßen.
Bei Gott ist ist das auch so. Johannes spricht in seinem Evangelium eine eindeutige, manchmal auch merkwürdige Sprache. Er schreibt: Jesus und Gott, sein Vater sind eins. In Jesus begegnet uns kein anderer als Gott selbst, Gottes gestaltgewordene Liebe. Der, der größer ist als diese Welt, gibt sich ganz in diese Welt hinein. Was kann der geben, wenn er aufs Ganze geht? Sich selbst! Das passiert, wenn Jesus vor den Füßen der anderen kniet, ihnen die Füße wäscht. Er gibt sich ganz. Und er kommt ihnen damit nahe.

Eine solche Nähe anzunehmen, fällt uns manchmal schwer. Da sind wir Petrus ähnlich, der sich sperrt und diese Nähe nicht zulassen will.
Bei einem Trauergespräch erzählt mir die Tochter der Verstorbenen von den letzten Lebensmonaten ihrer Mutter. Sie war auf Pflege angewiesen, konnte sich auch nicht mehr selbst waschen. Die Tochter hatte Urlaub genommen für die Pflege. „Das Waschen – wenn ich daran gedacht habe, hatte ich ein Problem. Da war eine Scheu, das Gefühl: Das passt nicht, das kannst du nicht bei deiner Mutter. Doch dann war es gar nicht schwer. Und ich war froh, dass ich meine Scheu überwunden habe. Gesprochen haben wir nie darüber – aber wahrscheinlich war meine Mutter froh, dass ich das gemacht habe. Und kein Fremder.“
An dieses Gespräch musste ich denken: Nähe und Distanz brauchen ein Gleichgewicht. In jeder Beziehung ist das so – auch dann, wenn Menschen sich lieben. Jesus setzt hier ganz auf Nähe. Er macht das, um seiner Liebe ein Zeichen zu setzen. Ein Zeichen, das die anderen nicht übersehen können. Als Petrus das spürt, will er mehr – alles, auch Hände und Kopf. Aber da hat Jesus schon erreicht, was er will: Er hat gezeigt, wie weit seine Liebe geht.

Als Zeichen dieser Liebe feiern wir heute das Abendmahl. Wir teilen Brot und Wein und lassen damit Gottes Liebe an uns herankommen. Wir nehmen sie in uns auf, diese Liebe. Sie soll uns in Fleisch und Blut übergehen. Und damit bin ich beim zweiten:

Die Fußwaschung ist ein Vorbild, ein Beispiel für die, die zu Jesus gehören. „Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe.

Viele Kirchen nehmen das wörtlich. In der katholischen Kirche gehört es zum Gründonnerstag, dass der Papst zwölf ausgewählten Gläubigen die Füße wäscht. In einigen Gemeinden wird es auch vor Ort praktiziert. Damit wird die Erinnerung wachgehalten an das, was Jesus da getan hat.
Für mich – ganz persönlich gesprochen! - ist das nicht wiederholbar. Die Fußwaschung am ersten Gründonnerstag lebt davon, dass sie komplett aus dem Rahmen fällt, dass sie die Leute vor den Kopf stößt und überrascht. Das lässt sich nicht wiederholen. Es gibt Gesten, die leben von ihrer Einmaligkeit. Auch wenn der Vergleich hinkt: Ich möchte es vergleichen mit dem Kniefall von Willy Brandt in Warschau. Brandt ist damals ähnlich aus der Rolle gefallen. Er ist als Staatsmann spontan auf die Knie gegangen und hat damit ein Zeichen gesetzt, das viel Aufmerksamkeit gefunden hat. Menschen, die in der Menge standen, die ihn nicht sehen konnten, haben es trotzdem mitbekommen. Die Leute haben es einander zugeflüstert: „Er kniet.“ Die Bilder vom Kniefall sind durch die Welt gegangen und haben etwas verändert. Die Geste lebte von ihrer Einmaligkeit; jährliche Wiederholung hätte sie entwertet. So verstehe ich auch die Fußwaschung als einmaliges Zeichen der Liebe Gottes. Eine Wiederholung brauche ich nicht. Um mich an Jesu Liebe sichtbar zu erinnern und mich zu vergewissern, reicht mir das Abendmahl.

„Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe.“ Da geht es auch nicht um wörtliche Wiederholung. Jesus gibt ein Beispiel, wie Liebe gelebt werden kann, wie sie Gesten und Zeichen findet und dabei Grenzen überschreitet. Jesus wird zum Vorbild dieser Liebe, damit wir ihm darin nachfolgen. Unsere Liebe wird dann ihre eigenen Gesten, ihre eigene Sprache finden. Wo das geschieht, wo das sein soll, das hängt dann davon ab, wem wir in unserem Leben begegnen: Tochter oder Sohn, Partnerin oder Partner, Mutter oder Vater, Freund oder Fremder. Die besten und stärksten Worte und Taten werden sich spontan ergeben: Liebe ist kreativ. Worte und Gesten der Lieben brauchen auch keine Öffentlichkeit. Denn Liebe fragt nicht danach – nur und allein nach dem anderen. Für eine solche Liebe gibt Jesus uns ein Beispiel. Dadurch wird er uns zum Vorbild.
 
Heute Abend sind wir hier, um uns daran erinnern zu, um uns dazu anstiften zu lassen. Das nehmen wir dann mit – in unser Leben hinein. Und manchmal müssen wir dazu auch auf die Knie gehen. Amen.
 

Perikope
02.04.2015
13,1-15

Predigt zu Johannes 13,1-15.34-35 von Winfried Klotz

Predigt zu Johannes 13,1-15.34-35 von Winfried Klotz
13,1-35

1 Vor dem Passafest aber erkannte Jesus,(a)dass seine Stunde gekommen war, dass er aus dieser Welt ginge zum Vater; und wie er die Seinen geliebt hatte, die in der Welt waren, so liebte er sie bis ans Ende. a) Kap 7,30; 17,1
2 Und beim Abendessen, als schon(a)der Teufel dem Judas, Simons Sohn, dem Iskariot, ins Herz gegeben hatte, ihn zu verraten, a) Lk 22,3
3 Jesus aber wusste, dass ihm(a)der Vater alles in seine Hände gegeben hatte und dass er b von Gott gekommen war und zu Gott ging, a) Kap 3,35; b) Kap 16,28
4 da stand er vom Mahl auf, legte sein Obergewand ab und nahm einen Schurz und umgürtete sich.
5 Danach goss er Wasser in ein Becken, fing an, den Jüngern die Füße zu waschen, und trocknete sie mit dem Schurz, mit dem er umgürtet war.
6 Da kam er zu Simon Petrus; der sprach zu ihm: Herr, solltest du mir die Füße waschen?
7 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Was ich tue, das verstehst du jetzt nicht; du wirst es aber hernach erfahren.
8 Da sprach Petrus zu ihm: Nimmermehr sollst du mir die Füße waschen! Jesus antwortete ihm: Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil an mir.
9 Spricht zu ihm Simon Petrus: Herr, nicht die Füße allein, sondern auch die Hände und das Haupt!
10 Spricht Jesus zu ihm: Wer gewaschen ist, bedarf nichts, als dass ihm die Füße gewaschen werden; denn er ist ganz rein. Und(a)ihr seid rein, aber nicht alle. a) Kap 15,3
11 Denn er kannte seinen Verräter; darum sprach er: Ihr seid nicht alle rein.
12 Als er nun ihre Füße gewaschen hatte, nahm er seine Kleider und setzte sich wieder nieder und sprach zu ihnen: Wisst ihr, was ich euch getan habe
13 Ihr nennt mich Meister und Herr und sagt es mit Recht, denn ich bin's auch.(a)a) Mt 23,8; 23,10
14 Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch(a)die Füße gewaschen habe, so sollt auch ihr euch untereinander die Füße waschen. a) Lk 22,27
15 Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe.(a)a) Phil 2,5; 1. Petr 2,21
34 Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander liebhabt.(a)a) Kap 15,12-13; 15,17
35 Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.

Liebe Gemeinde!

Umstürzende Veränderungen stehen an jetzt an diesem Passafest für Jesus und seine Jünger. Jesus wird aus dieser Welt zum Vater gehen, so sagt das Johannesevangelium; wir wissen, sie werden ihn gefangen nehmen, verhören, foltern und kreuzigen, und da am Kreuz wird er elend und voller Schmerzen hängen und sterben. Alles ist schon eingeleitet, auf den Weg gebracht, nur wenige Stunden trennen Jesus noch vom Tod am Kreuz. Alles ist schon eingeleitet, ja, Judas hat den unbegreiflichen Entschluss gefasst, Jesus auszuliefern. Er hat sein Ohr den Einflüsterungen einer fremden Stimme geliehen, er hat sein Herz geöffnet für eine fremde Macht. Oder muss ich sagen, so fremd und fern ist diese Stimme und Macht gar nicht, weder dem Judas noch allen anderen Menschen?

Alles ist auf den Weg gebracht, um den wegzuschaffen, der so vielen im Weg steht, den Hohen Priestern und dem Hohen Rat, die durch ihn den Tempel bedroht sehen, den Lehrern des Gesetzes, den Theologen, die eine gefährliche Freiheit in seiner Auslegung erkennen.

Alles ist auf den Weg gebracht und der, gegen den es jetzt geht, sollte schleunigst die Notbremse ziehen, sein Leben retten und eine Weile von der Bildfläche verschwinden- aber gerade das tut Jesus nicht. Gerade jetzt erweist er seinen Jüngern seine Liebe, gerade jetzt erweist er sich als der, der von Gott gekommen ist und zu Gott geht. Jetzt gibt er ihnen einen letzten und äußersten Beweis seiner Liebe.

Bei einem Mahl steht Jesus auf und legt sein Obergewand ab und bindet sich ein Tuch um. Er gießt Wasser in eine Schüssel und beginnt seinen Jüngern die Füße zu waschen. Wir können uns vorstellen, wie jetzt das Gespräch unter den Jüngern verstummt, wie ein Staunen und Kopfschütteln durch die Reihen geht. Was tut Jesus, er ist doch der Herr, der Lehrer? Wir sind einiges von ihm gewohnt, aber dürfen wir zulassen, dass Jesus sich so erniedrigt? Macht er sich nicht hiermit einem Sklaven gleich? Verdunkelt dies nicht sein Bild als Messias, als Gesandter Gottes? Wie will Jesus seine Jüngergemeinde führen, wie will er für Ordnung sorgen, wenn er die gesellschaftlichen Regeln durchbricht? Wie will er, ich überdehne den Gedanken, eine Organisation führen, wenn er seinen Untergebenen die Füße wäscht? Ich spinne den Gedanken weiter: Haben Sie schon mal von einem Wirtschaftsboss gehört, der der seinen Mitarbeitern die Füße gewaschen hat? Oder gehen wir mal weg vom Bild der Fußwaschung, der die ständig dreckigen Toiletten gereinigt hat, um seinen Mitarbeitern ein gutes Beispiel zu geben?

Jesus macht sich einem Sklaven gleich, er erniedrigt sich, indem er im Staub vor seinen Jünger kniet und ihnen die Füße wäscht. Und deutet damit etwas von der Tiefe an, in die er mit seinem Sterben hineingehen wird.

Petrus will sich den Sklavendienst nicht gefallen lassen. Petrus ist kein Duckmäuser, der Dinge über sich ergehen lässt, die er nicht versteht und gut heißen kann. „Du, Herr, willst mir die Füße waschen?“ fragt er. Jesu Antwort: „Was ich tue, kannst du jetzt noch nicht verstehen, aber später wirst du es begreifen“, überzeugt ihn nicht „Niemals sollst du mir die Füße waschen, in Ewigkeit nicht!“ antwortet er. Petrus hat auf stur geschaltet und das eigentlich um Jesu willen. ‚Du, Jesus, darfst dich nicht so erniedrigen; das ist doch ein Zeichen von Schwäche, oder kann so verstanden werden. Wir brauchen jetzt aber einen starken Jesus, einen starken Messias-König. Jetzt an Pessach in Jerusalem entscheidet sich, ob unser Volk in eine Zukunft der Freiheit und des Friedens geht, es entscheidet sich an dir, Jesus!‘

Ob Petrus so gedacht hat, weiß ich nicht; jedenfalls ist ihm Jesu Dienst nicht geheuer. Petrus gibt erst nach, als Jesus ihm die Bedeutung seines Tuns erklärt. „Wenn ich dir nicht die Füße wasche, hast du keinen Anteil an mir und an dem, was ich bringe.“ Mit Jesus verbunden sein, das ist Petrus wichtig. Zu IHM gehören, will er unbedingt. Deshalb bittet er jetzt darum, dass Jesus ihm nicht nur die Füße. sondern auch Hände und Kopf wäscht. Aber das ist nicht nötig; indem Jesus seinen Jüngern die Füße gewaschen hat, hat er ein Zeichen gesetzt, dass sie zu ihm gehören, dass sie Anteil haben an seiner Reinheit, und das meint, an seiner Zugehörigkeit zu Gott. Denn es geht ja nicht um körperliche Reinheit, wenn Jesus seinen Jüngern die Füße wäscht, sondern das abgewaschen ist alles, was von Gott trennt. Es geht Jesus um das durch ihn gereinigte und von Grund auf erneuerte Verhältnis zu Gott.

Jesus bildet mit der Fußwaschung ab, was noch geschehen wird; sein niedrigster Dienst für seine Jünger und alle, die ihm folgen wollen, ist sein Sterben am Kreuz zur Vergebung der Sünden. Und um es noch einmal deutlich zu machen: Zu Jesus gehört man nicht dadurch, dass man ihn gut findet oder Gutes tut, zu IHM gehört nur, wer seinen Dienst annimmt, seine Lebenshingabe als Sühnopfer für unsere Sünde, unsere Trennung von Gott. Jesu Sterben am Kreuz ist der Ort der überfließenden Gnade Gottes, nicht weil das selbstverständlich so wäre, sondern weil Gott es so bestimmt hat.

Gerade um Gottes überfließende Gnade, die er durch Jesus uns schenkt, geht es beim Abendmahl, das wir heute am Tag seiner Einsetzung feiern. Teil haben an Jesus und durch ihn mit Gott ins Reine gebracht werden, das empfangen wir unter Brot und Wein. Aber noch ein Zweites empfangen wir beim Abendmahl, nämlich die Gemeinschaft miteinander. Wer zum Abendmahl kommt, kann sich dem nicht entziehen, dass er durch Jesus mit allen verbunden ist, die auch das Mahl empfangen, verbunden um seine Schwester, seinen Bruder zu lieben und einander anzunehmen. Das ist der zweite Schwerpunkt im Bericht von der Fußwaschung.

„Begreift ihr, was ich eben getan habe?“ hat Jesus seine Jünger gefragt als er sich wieder zu ihnen an den Tisch gesetzt hatte. Und weiter: „Ihr nennt mich Lehrer und Herr. Ihr habt Recht, das bin ich. Ich bin euer Herr und Lehrer, und doch habe ich euch soeben die Füße gewaschen. So sollt auch ihr euch gegenseitig die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe.“

Diese Mahnung Jesu ist kein Anhängsel, nichts Zweitrangiges. Das machen gerade auch die beiden Verse vom Ende des Kapitels deutlich. Unsere Zugehörigkeit zu Jesus, unsere wirkliche Gründung in IHM als Gemeinde zeigt sich an unserer Liebe zueinander. Sie zeigt sich in der Bereitschaft zu vergeben, zu helfen, zu ermutigen. Sie zeigt sich vor allem aber darin, dass Christen im Streit einander nicht fertig machen, nicht um jeden Preis ihr Recht bekommen müssen, nicht verletzen und nachtreten. Es wird immer Auseinandersetzungen geben auch in der Gemeinde Jesu; wir sind auch als Leute, die mit Jesus verbunden sind, freie Menschen mit unterschiedlichen Meinungen, siehe Petrus und sein Widerstand dagegen, dass Jesus ihm die Füße wäscht. Aber wie wir miteinander streiten wird zeigen, ob wir Jesus ernst nehmen und unser Herz von ihm gereinigt wurde.

Einander lieben, einander annehmen, ist noch lange nicht damit getan, dass wir ein Fass Bier aufmachen und miteinander feiern. Das ist nicht der Alltag. Im Alltag bin ich gefragt, ob ich meinen Stolz beerdige und den ersten Schritt auf die zu tue, die mich unfair angegriffen haben? Im Alltag fragt mich Jesus, ob ich meine Wünsche und Ansprüche vergesse, um ein sichtbares Zeichen seiner Gegenwart und Liebe bei denen zu setzen, die in oder außerhalb der Gemeinde seine Freundlichkeit und Liebe nicht angenommen haben. Amen.

Perikope
02.04.2015
13,1-35

Im Tod kann ein neuer Anfang liegen - Predigt zu Johannes 19,16-30 von Peter Haigis

Im Tod kann ein neuer Anfang liegen - Predigt zu Johannes 19,16-30 von Peter Haigis
19,16-30

Im Tod kann ein neuer Anfang liegen

Liebe Gemeinde,

mit großer Aufmerksamkeit lässt uns der Evangelist Johannes am Geschehen um Jesu Kreuzigung teilhaben. Wie in einem Drama führt er uns die einzelnen entscheidenden Szenen nacheinander vor Augen, ja wir können uns die Szenenfolge vorstellen wie in einem Film:

Die Einleitung ist nur knapp in Bilder gefasst. Sie zeigt uns Jesus, wie er sein Kreuz trägt und anschließend die Aufrichtung seines Kreuzes zwischen den beiden anderen Hingerichteten. Dann wendet sich der Blick auf eine Spott-Inschrift über dem Kreuz, die Pilatus hat anbringen lassen: „Jesus von Nazareth, der König der Juden“. Wir werden Zeugen einer Debatte zwischen dem Hohen Rat und Pilatus um diese Kreuzesinschrift. Die Hohenpriester erkennen den darin beabsichtigten demütigenden Sarkasmus der politischen Besatzungsmacht und wollen Pilatus dazu bewegen, die Inschrift zu relativieren: „Schreibe, dass er es behauptet hat, der König der Juden zu sein…“ Doch Pilatus lässt sich darauf nicht ein.

In der bildenden Kunst hat die Unmittelbarkeit dieser Szene Maler immer wieder dazu verleitet, das Gespräch zwischen dem Hohen Rat und Pilatus unter dem Kreuz Jesu stattfinden zu lassen– doch das ist unwahrscheinlich. Die Erzählung des Evangelisten Johannes operiert hier härter und unvermittelter und hängt den kurzen Dialog an die Kreuzigungsszene an, wie wir es von der Schnitttechnik des Films kennen. Dort sind Raum- und Zeitsprünge ungehindert möglich.

Szenenwechsel zurück nach Golgatha, etwas abseits des Kreuzeshügels selbst: Wir sehen einige römische Soldaten, wie sie um die Kleider Jesu, auch um sein besonders, nämlich an einem Stück gewebtes Obergewand, losen – wohl kaum mit Würfel und Würfelbecher, aber vielleicht mit längeren und kürzeren Holzstöckchen oder mit Münzen. Das Zitat aus Ps. 22 höre ich nicht – es ist nicht Teil des Films, der da vor meinem inneren Auge abläuft (noch nicht); es ist vielmehr Teil der Gedanken eines Filmzuschauers, der dieses Psalmwort assoziiert, als er die Soldaten abseits neben dem Kreuz Jesu um dessen Kleider losen sieht.

Erneuter Szenenwechsel, die Kamera schwenkt hinüber auf die andere Seite. Dort werden wir am Fuß des Kreuzes Jesu zu Zeugen einer wechselseitigen Adoption zwischen Johannes und der Mutter Jesu, die Jesus selbst noch vom Kreuz herab veranlasst – als Stiftung einer neuen Gemeinschaft, wie sie die Gemeinde Jesu Christi darstellt, so hat man sie später verstanden. Ich sehe in dem Film, der da vor meinen Augen abläuft, Jesus nicht selbst sprechen, höre nur seine Stimme aus dem Off.

Und dann kommt es zu einem rätselhaften Schlussbild: Jesus äußert, Durst zu haben. Jemand (wer eigentlich?, einer der Soldaten?, ein Schaulustiger?, einer aus dem Freundeskreis Jesu? – ich sehe nur Hände) nimmt ein wenig Essig aus einem Gefäß in einem Schwamm auf und reicht Jesus das getränkte Büschel auf einem Ysoprohr hinauf. Ich sehe die Kamera langsam den schwankenden Schwamm verfolgen, bis er vor dem Gesicht Jesu schweben bleibt. Der saugt daran und stirbt mit den Worten „Es ist vollbracht!“

Schwarzblende – der Film von der Passion Jesu ist zu Ende. Es wird weitere Folgen geben, eine Fortsetzung wie bei einer Serie, doch für heute ist Schluss – und ich bleibe mit diesem letzten merkwürdigen Szenenbild alleine. Nun bin ich es, der assoziiert, dem die Gedanken durch den Kopf fahren. Was sollte das?

Essig hat eine betäubende Wirkung. Er wird Jesus an den Mund geführt, nicht um ihn zu verhöhnen oder gar als zynische Antwort auf Jesu Ruf „Mich dürstet“, sondern um seine Qualen am Kreuz zu lindern. Aber welche Bedeutung hat dieses „Es ist vollbracht“? Wörtlich steht beim Evangelisten Johannes: „Es ist vollendet!“ Die Synchronfassung, die ich sehe, müsste Jesus diese Worte in den Mund legen – oder besser noch: Ich sehe den Film im Original mit Untertitel und erfasse den anderen Wortlaut des Originals so nebenbei.

„Es ist vollendet!“ Also: Welchen Sinn hat der Tod Jesu am Ende? – Das ist doch die Frage, die sich gebündelt in Jesu letztem Wort stellt.

Der Tod kann viele Gesichter haben. Er kann brutal und abrupt über menschliches Leben hereinbrechen; er kann zerreißen und zerstören, was noch unfertig ist; er kann das Scheitern eines großen Lebensplans oder Lebenswerks bedeuten. Leben als Fragment, als Bruchstück. Der Tod kann aber auch sanft und erlösend wirken; er kann schweres, ja unerträgliches Leiden beenden. All das schwingt im Wort „Ende“ mit und ist doch in Jesu Ausspruch „Es ist vollendet!“ nicht gemeint.

Jesu Tod könnte als Ende seines Leidens verstanden werden, ja! Jesu Mutter könnte es aus Mitgefühl mit ihrem Sohn heraus so sagen: „Nun hat er es überstanden.“ Eine Redeweise, nicht so fremd und fern von mancher Erfahrung, die wir selbst machen.

Jesu Tod könnte auch als Niederlage aufgefasst werden. Jesu Jünger könnten es mit resigniertem Unterton so sehen: „Nun ist alles vorbei!“ Und auch diesen hoffnungslosen Seufzer kennen wir.

Jesu Tod könnte als Beseitigung eines Störenfrieds empfunden werden. Der Hohe Rat könnte es siegesgewiss so meinen: „Endlich ist er erledigt.“

Doch der Evangelist Johannes hat ein anderes Verständnis vom Tod Jesu. Er zieht die Bilanz: Jesu Werk ist vollendet. Hier hat er es zum Ziel gebracht. Damit durchbricht er alle Erwartungen und Erfahrungen im Umgang mit einem frühen, schmerzhaften, brutalen und gewaltsamen Tod. Wie kann dieser Tod Sinn machen?

Wahrscheinlich kann man das Schlussbild der Kreuzigung Jesu nur recht begreifen, wenn man den Ps. 22 im Ohr hat, den jüdischen Sterbepsalm. Möglicherweise hat ihn auch Jesus am Kreuz gebetet. Und in dieser Kreuzigungsszene kommt es nun zu merkwürdigen Parallelen zwischen dem Sterbepsalm 22 und dem Geschehen, das Jesus in den letzten Stunden und Minuten seines Lebens widerfährt. Vielleicht wäre es darum sinnvoll, man könnte den Ps. 22 zumindest im Abspann eines solchen Passionsfilms, wie er uns hier präsentiert wird, lesen – wenigstens in Auszügen:

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.

Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.

Du aber bist heilig, der du thronst über den Lobgesängen Israels.

Unsere Väter hofften auf dich, und da sie hofften, halfst du ihnen heraus.

Zu dir schrieen sie und wurden errettet, sie hofften auf dich und wurden nicht zuschanden.

Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und verachtet vom Volke.

Alle, die mich sehen, verspotten mich, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf:

‚Er klage es dem Herrn, der helfe ihm heraus und rette ihn, hat er Gefallen an ihm.‘

Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe; denn es ist hier kein Helfer.

Sie haben meine Hände und Füße durchgraben.

Ich kann alle meine Knochen zählen; sie aber schauen zu und sehen auf mich herab.

Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand.

Aber du, Herr, sei nicht ferne; meine Stärke, eile, mir zu helfen!“

Ps. 22 beschreibt die Wüste menschlichen Sterbens. In mancher Begleitung Sterbender tut sich diese Wüste auf, in der kein menschliches und menschenwürdiges Dasein mehr möglich scheint. Die Übereinstimmungen zwischen diesem Sterbepsalm und der Kreuzigungsgeschichte, die bei Johannes, aber auch bei den anderen Evangelisten zu finden sind, sollen zeigen, wie Jesus, der doch Gott selbst unter uns Menschen ist, teilhat an den Niederungen und Niedrigkeiten menschlichen Lebens. Hier wird diese Wüste, wie sie sich im Sterben eines Menschen auftun kann, von Jesus durchquert.

Doch Ps. 22 endet nicht an dieser Stelle, bis zu der ich ihn soeben gelesen habe. Und deshalb ist Jesu Teilhabe an der Todesqual des Menschen im Spiegel von Ps. 22 mehr als ein Mit-Leiden. Der Schluss des Psalms weist über das Sterben hinaus auf Gottes Zukunft mit den Menschen. Und in Jesu Geschick bis zum Tode am Kreuz, so wie es uns der Evangelist Johannes beschreibt, will er nun auch diese Hoffnungsperspektive über einem jedem Menschenleben aufleuchten lassen.

„Ich will deinen Namen kundtun unter meinen Brüdern, ich will dich in der Gemeinde rühmen.

Die Elenden sollen essen, dass sie satt werden; und die nach dem Herrn fragen, werden ihn preisen; euer Herz soll ewiglich leben.
Es werden gedenken und sich zum Herrn bekehren aller Welt Enden und vor ihm anbeten alle Geschlechter der Heiden.
Denn des Herrn ist das Reich, und er herrscht unter den Heiden.
Ihn werden anbeten alle, die in der Erde schlafen; vor ihm werden die Knie beugen alle, die zum Staube hinabfuhren und ihr Leben nicht konnten erhalten.“

Gottes Geschichte mit uns geht nach dem Tod Jesu weiter, ja sie beginnt dann erst von neuem. Menschen werden Gott erkennen und anbeten. Sie kommen zum Glauben, an den, der jeder Lebensgestaltung Grund und Perspektive gibt. Sie sammeln sich in einer großen Lebensgemeinschaft, in der sie sich gegenseitig tragen und stützen, genannt die Gemeinde Jesu Christi. Sie erfahren, dass sie satt und heil werden. Sie erleben, wie Gottes Reich des Friedens und der Gerechtigkeit im kleinen Maßstab ihrer Gemeinschaft Gestalt gewinnt.

Und auch unser bescheidenes Erdendasein – mag es uns rund erscheinen oder abgebrochen – ist im Tode nicht am Ende. Im Ps. 22 richtet sich der Blick auf eine Gemeinschaft mit Gott über den Tod hinaus. Freilich, von einer Verlängerung unseres irdischen Daseins ist in dieser Hoffnungsperspektive nicht die Rede. Das Rad des Lebens, die alte Mühle, dreht sich nicht einfach taumelnd weiter. Das Leben der jenseitigen Welt trägt den Charakter der Anbetung Gottes – ein Bild für ununterbrochene und ungehinderte Gemeinschaft mit Gott, vielleicht wie das Getragensein in einer wunderbaren, nie enden wollenden Musik, wie das Schwingen und Bewegtwerden in einem unendlichen Reigen. Ein Bild auch für Leidensfreiheit und Angstverlust.

„Der Herr hat es getan.“ – Das ist der Schluss von Ps. 22. Darauf bezieht sich Jesu Wort: „Es ist vollbracht!“ – „Es ist vollendet!“ In Jesu Leben ist dieser Schluss des Ps. 22 zur Erfüllung gekommen. Der Anfang einer neuen Geschichte Gottes mit den Menschen ist gemacht. Nun wird es weitergehen, auch nach Jesu Tod – in denen, die angesteckt sind von der Liebe Jesu; in denen, die in ihm mit ihrer Gottessehnsucht an ein Ziel gekommen sind und Erfüllung gefunden haben und die Freude darüber nun anderen mitteilen; in denen, die Jesus nachfolgen über seinen Tod hinaus, und auch in denen, die mit ihrem irdischen Leben abschließen müssen und nach vorne nicht in ein dunkles Nichts blicken, sondern in das Licht der ewigen Gemeinschaft mit Gott. Jesu Leben war erst der Anfang, aber ein Anfang, der bereits alles in sich trägt – ein Anfang, der es in sich hat. AMEN.

Perikope
03.04.2015
19,16-30

Das Gebot der Liebe und die Fußwaschung - Predigt zu Johannes 13,1-15.34-35 von Thomas Bautz

Das Gebot der Liebe und die Fußwaschung - Predigt zu Johannes 13,1-15.34-35 von Thomas Bautz
13,1-35

Das Gebot der Liebe und die Fußwaschung

Liebe Gemeinde!

Im Alten Orient und im Mittelmeerraum der Antike gehört die Fußwaschung zum Alltag; die landschaftliche Gegebenheit, die Bodenbeschaffenheit und das Tragen von Sandalen haben zur Folge, dass die Füße rasch vom Staub bedeckt werden. Vor einem Mahl lässt man sich die Füße waschen, zumal man die Mahlzeit liegend einnimmt, so dass die verschmutzten Füße sich sozusagen auf Augenhöhe der anderen Mahlteilnehmer befänden.

Die Fußwaschung ist mit sozialer Rangordnung verbunden: Frauen waschen ihren Männern die Füße, Kinder ihrem Vater, Sklaven ihren Herren, aber auch Gastgeber ihren Besuchern. Von diesem hierarchischen Gefälle geht auch Petrus aus und will es deshalb seinem Meister verwehren, dass dieser ihm die Füße wäscht. Als sich Rabbi Jesus durchsetzt, möchte Petrus darauf bestehen, dass ihm auch Kopf und Hände gewaschen werden. Das sei aber unnötig, weil der Körper ja ohnehin gereinigt worden ist, erklärt ihm der Nazarener.

Luise Rinser (1911-2002) erinnert an die römischen Saturnalien. Ihr wichtigster Aspekt ist die Aufhebung der Standesunterschiede durch Rollentausch: Herren behandeln ihre Sklaven an diesem Tag wie Gleichgestellte, teilweise werden die Rollen sogar komplett umgekehrt, so dass die Herren ihre Sklaven bedienen. (Saturnalien wurden ursprünglich am 17. Dez. gefeiert, später aber bis 23. und schließlich bis 30. Dez. ausgedehnt.)

Die Umkehrung der Standesordnung gilt also zeitlich nur sehr begrenzt und ist eher scherzhaft gemeint. Demgegenüber hat Jesus etwas Neues, Revolutionäres eingeführt: eine neue, andere Ordnung als „Zeichen des Neuen Bundes“ zwischen Gottheit und Mensch und deshalb auch „zwischen Mensch und Mensch“. In seinem Reich „gibt es nicht Diener noch Herren, nicht Reiche noch Arme, nicht Mächtige und Ohnmächtige“, doch „ist einer Diener des anderen“. Darauf basiert das Reich, die Herrschaft „Gottes“ (Luise Rinser: Die Fußwaschung, in: Die Bibel in den Worten der Dichter, hg.v. Bertram Kircher, 2005, S. 506).

Die Bedeutung des Geschehens der Fußwaschung wird auf schlichte Art im JohEv erzählt. Jesus fragt die Jünger abschließend, ob sie ihn und seine Handlungsweise verstanden haben und erklärt: „Ihr nennt mich ‚Meister‘ (Lehrer) und ‚Herr‘, womit ihr recht habt, denn ich bin es wirklich. Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, so seid auch ihr verpflichtet, einander die Füße zu waschen; denn ein Vorbild habe ich euch gegeben, dass  ihr es ebenso praktiziert.“

„Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr einander lieben sollt. Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“

Es ist lebensnotwendig zu lieben: aber Liebe ist nicht einfach. „Liebhaben von Mensch zu Mensch: das ist vielleicht das Schwerste, was uns aufgegeben ist, das Äußerste, die letzte Probe und Prüfung, die Arbeit, für die alle andere Arbeit nur Vorbereitung ist“ (R.M. Rilke: Brief an F.X. Kappus – Rom, 14. Mai 1904; http://rilke.de/ s.v. Liebe).

Ich muss Rilke zustimmen: Liebe ist mühsam, ist harte, beharrliche Arbeit. Wer liebt, muss oft Steine aus dem Weg räumen, Hindernisse überwinden, bevor er oder sie zum begehrten oder geliebten Gegenüber durchdringen kann. Wir reden heute, hier und jetzt, nicht vom Verliebtsein, von einer großzügigen, herrlichen Laune der Natur. Ich würde gern Männer und Frauen befragen, jüngere und ältere, ob sie ihren künftigen Partner, ihre Partnerin erobert haben, wie es früher meist gang und gäbe war. Mir scheint das etwas nachzulassen.

Jede Partnerschaft durchlebt einen Reifeprozess, spürbar oder auch nahezu unmerklich, oder sie geht in die Brüche. Irgendwann ist eine Phase erreicht, wo man an sich arbeitet, anfängt, sich die Zuneigung des Lebenspartners zu erhalten oder sie neu zu erwerben. Freilich, man hat sich aneinander gewöhnt, beide sind vielleicht durch dick und dünn gegangen. Doch lässt sich dieses im Großen und Ganzen harmonische Miteinander nicht auf Dauer konservieren; es könnte allmählich zu etwas Selbstverständlichem gerinnen.

Liebe in einer Gemeinschaft, besonders in Kirchengemeinden - weil dort viel über Liebe gepredigt und gesprochen wird - sollte mit mehr verbunden sein als mit scheinbarer Toleranz und wohlwollendem Lächeln, wenn man einander oder gar Fremden begegnet. Respekt vor dem Anderssein, Offenheit gegenüber Infragestellung des Gewohnten, Traditionellen, und vor allem Konfliktfähigkeit. Wenn Andersdenkende vom „inneren Kreis“ der Gemeinde, vom Kern der Mitarbeiter gemieden oder scheel, argwöhnisch angeschaut werden, ohne dass man sich mit ihnen offen auseinandersetzt, dann mangelt es dort gewaltig an Respekt und zeugt nicht gerade von Liebe - nach dem neuen Gebot, dass Jesus von Nazareth vermittelt hat.

Die Fußwaschung wird in katholischen Gemeinden liturgisch praktiziert, im Protestantismus konnte sie sich nicht durchsetzen. In gewisser Weise wünschte ich mir, dass wir wenigstens einander tüchtig die Köpfe wüschen. Lebendige, wahre Gemeinschaft ist weit mehr als eine gewohnheitsmäßige Gemeinsamkeit, die etwa im äußeren Zelebrieren der Gottesdienste oder dem regelmäßigen Besuch verschiedener Kreise und Veranstaltungen besteht.

Wirklicher Zusammenhalt besteht in ungeheuchelter Liebe, die mit der Mühe verknüpft ist, Gegensätze nicht zu ignorieren, aber auszuhalten. Es kann belebend, elektrisierend sein, wenn man sich in der Gemeinde aneinander reibt. Entstehende Funken sollte man nicht löschen. Sagen wir nicht, dass es zwischen zwei Menschen „funkt“, wenn sie einander näherkommen? Zugegeben, der Vergleich hinkt. Dennoch: zwei „Reibeflächen“ erzeugen erst Funken, wenn sie einander berühren. Oft müssen gewisse Berührungsängste überwunden werden - ob es um eine mögliche Partnerschaft oder um Wiederherstellung einer Gemeinschaft geht.

 „Ich gebe euch jetzt ein neues Gebot: Ihr sollt einander lieben! Genauso wie ich euch geliebt habe, sollt ihr einander lieben! An eurer Liebe zueinander werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger (Schüler) seid.“

Was mag die Fußwaschung mit dem neuen Gebot der Liebe zu tun haben? Die Ausführung der Fußwaschung obliegt einem Dienenden; sie ist ein „gutes Werk“, etwas Wohltuendes als Dienstleistung. So vollzieht sie der Rabbi Jesus von Nazareth, wobei er in Verbindung mit dem (Passah)Mahl durch die Fußwaschung seine Gemeinschaft mit den Jüngern hervorhebt.

Petrus überzieht die Bedeutung sozialer Rangordnung, wenn er es seinem Meister verwehrt, dass dieser ihm die Füße wäscht. Es ist zwar Brauch, dass der Schüler dem Lehrer die Füße wäscht und nicht umgekehrt; was spricht aber dagegen, wenn der Rabbi Jesus die Rangfolge umdreht?! Der Nazarener lebt seinen Jüngern die Gemeinschaft vor, die sie nach seinem Tod auch untereinander pflegen sollen. Die Fußwaschung ist für ihn Bestandteil eines größeren Ganzen (pars pro toto), nämlich für die Erfüllung des neuen Gebotes, dass sie einander lieben sollen, wie Jesus sie geliebt hat.

In unserem Kulturkreis werden Füße selten staubig, höchstens im Sommer und im Urlaub. Dann waschen wir uns selbst die Füße, und das hat überhaupt nichts mit der Fußwaschung zu tun, die im Alten Orient, im Mittelmeerraum der Antike und vom Nazarener gepflegt wurde.

Ließen wir uns die staubigen Füße waschen? Es käme wohl darauf an, wer und unter welchen Umständen uns diesen Dienst erwiese. Ich erinnere mich, wie ich als Knabe meinem Opa die Füße wusch und abtrocknete, als er es physisch nicht mehr vermochte. Hat das etwas mit der Fußwaschung gemein, mit der wir uns heute beschäftigt haben? In gewisser Weise schon.

 Mein Opa verkörperte nicht mehr den starken Menschen, der einen riesigen Garten allein hegte und pflegte, der Schutz, Sicherheit und bedingungslose Liebe gegenüber seinem Enkel ausstrahlte und gewährleistete. Ich liebte meinen Großvater; es war mir selbstverständlich, ihm zu helfen. Gleichzeitig vermittelte mir die kleine Geste des Füße Waschens das Gefühl, dafür zu sorgen, dass er sich wohlfühlt.

Mir scheint, dass wir heute noch etwas anderes, sehr Wesentliches nötig haben: Wenn sich nämlich der „Staub“ des Alltags über unsere Seele legt, wenn die einstige Frische des Lebens unter einer dicken „Staubschicht“ zu ersticken droht, wenn dichte „Staubwolken“ uns den Blick trüben für das unbeschwerte, unschuldige Lachen eines Kindes; für die Würde eines gealterten Menschen, der sich für die Gesellschaft abgerackert hat und dafür eine schmalere Rente erhält, als er oder sie verdient hat; für einen gebeugten Menschen, den die Widrigkeiten in seinem Leben gebrochen haben und den niemand versucht wieder aufzurichten.

In einer Gemeinschaft, die „Glauben“, tiefe Religiosität, Liebe, Frieden, „Vergebung“ und Versöhnung gleichsam auf ihre Fahne geschrieben hat, sollten wir einander annehmen, dem Vorbild Jesu folgend, ohne Vorbehalte, Vorurteile, Erwartungen - bedingungslos. Ich vermag aber nur den Menschen zu akzeptieren und ihm Respekt zu erweisen, den ich überhaupt bereit bin kennenzulernen. Aber wer getraut sich schon, sich zu geben, wie er ist? Darf ich in einer (frommen) Gemeinschaft so sein, wie ich (geworden) bin? Werde ich andere Menschen, die mir begegnen, überfordern? Darf ich darauf hoffen, dass man mich an- und aufnimmt?

Es erfordert die Kunst des Liebens, die mutig und offen die eigenen Phantasien, die wohl in jedem Menschen schlummern, zu erwecken, kreativ zu werden, um dann frank und frei einem Gegenüber zu begegnen. Poesie, bildende Kunst, Musik und andere Künste können eine gute Brücke bilden, um Gemeinschaft zu ermöglichen, zu fördern und später zu vertiefen.

Ich meine, jeder von uns empfände es als wohltuend und befreiend, sich gelegentlich von den Alltagssorgen und beruflichen oder anderen Belastungen lösen zu dürfen. Die Beschäftigung mit der Kunst kann eine Hilfe sein. Von Pablo Picasso stammt das Zitat (ohne Quelle):

„Kunst wäscht den Staub des Alltags von der Seele.“

Sie kennen vielleicht auch das Gefühl, sich etwas von der Seele schreiben zu müssen. Jemand hat es womöglich probiert, seinen Empfindungen Raum zu verschaffen, indem er oder sie den Mut aufbrachte, zu Pinsel, Farben und Palette zu greifen. Es kann geradezu erhebend sein, zu erleben, wie Bewusstes und Unbewusstes sich allmählich auf einer Fläche zu etwas gestaltet, was durchaus die Bezeichnung Kunstwerk verdient. In manchen Gemeinde arbeitet man unter Anleitung oder auch ganz selbständig mit Ton und formt die unterschiedlichsten Figuren.

Wie gesagt, es erfordert oftmals Mut, um unsere Scheu zu überwinden. Ich selbst musste mich in einer Künstlerwerkstatt zum Malen erst wieder anregen lassen: „Hab Mut zur Farbe“, sagte der junge Maler, den ich persönlich aus einer altkatholischen Gemeinde in Bonn kannte. So presste ich die Acrylfarben aus den Flaschen heraus und verteilte sie auf einem großen Blatt, wie es mir gefühlsmäßig sinnvoll erschien. Auf eine harmonische Komposition achtete ich schon. Die Herausforderung bestand darin, nichtgegenständlich kreativ zu sein.

Schlussendlich hat mir meine Malerei gefallen; sie hängt inzwischen in unserer Wohnung an einem Platz, der einem beim Eintreten bereits auffallen kann. Wenn ich das Bild betrachte, habe ich bis heute die Assoziation von einer Art Supernova irgendwo im Universum. Dazu passt, dass mich immer wieder die Astrophysik fasziniert und die Bilder, die uns moderne Technik mit hochsensiblem Teleskopen und Satelliten liefert und uns zum Staunen bringt.

Wie auch immer die Theorien über Entstehung, Größe, Alter und Beschaffenheit des Alls sich gestalten mögen, mich befällt ein demütiger Schauder angesichts der unerschöpflichen Weite, Schönheit und unendlichen Vielzahl der Gebilde. - Kürzlich äußerte ein Kernphysiker, er sei davon überzeugt, dass wir Menschen eines Tages das Universum und die Geheimnisse des Lebens werden erklären können. Ich teile diese Auffassung nicht. Vielmehr sehe ich, wie sehr wir von unserer Endlichkeit, unseren Fragestellungen, Methoden, Voraussetzungen und den Annahmen abhängen; wie bereits die Durchführung unserer Experimente - im Kleinen wie im Großen, wie allemal unser Denken die Ergebnisse unserer Forschung beeinflussen.

Verhält es sich nicht ähnlich mit der Religion? Sollten wir nicht in unserer Religiosität Demut  und Respekt walten lassen, zum einen gegenüber dem, was uns durch heilige Schriften und vor allem durch den Rabbi Jesus vermittelt worden ist? Zum anderen gegenüber Mitmenschen, „zuerst gegenüber des Glaubens Genossen“? Wissen wir wirklich Bescheid über Göttliches? Ist uns das Heilige noch ein „mysterium tremendum et fascinosum“, ein Geheimnis, Ehrfurcht einflößend und faszinierend zugleich? Kennen wir einander überhaupt? Weiß jeder Einzelne, wer er ist? Sind wir neugierig darauf, wer wir noch werden können? Haben wir Zukunft?

Schließlich ist es keineswegs selbstverständlich, dass es das Universum, insbesondere unseren blauen Planeten und uns Menschlein gibt, uns Sterbliche, die wir niemals müde werden, uns als sog. „Krone der Schöpfung“ und als neue und bessere Schöpfer aufzuspielen. „Ehrfurcht vor dem Leben“, dafür kämpfte Albert Schweitzer. Mit Staunen, Demut und spielerischer, neugieriger Intelligenz wagte es Albert Einstein, die Grundgesetze der Mechanik, der Physik überhaupt infrage zu stellen.

Mögen wir unseren Kindern und den Mitmenschen guten Willens -  allen Hoffnungsträgern - die Unterstützung gewähren, die sie brauchen, um unsere Welt zum Besseren zu ändern! Wenn wir ihnen „die Füße waschen“ im symbolischen Sinn, wenn wir dafür Sorge tragen, dass ihre „Füße“ (pars pro toto) nicht ermüden auf den beschwerlichen, mühevollen Wegen, die sie über viele Hindernisse hinweg zu gehen haben, dann ist Entscheidendes gewonnen.

Überlassen wir nicht den Zynikern das Feld, die diesen Planeten weiterhin sinnlos ausbeuten und deren Sinne und Verstand betäubt und verblendet sind, die offenbar weder Respekt noch Ehrfurcht vor pflanzlichem, tierischem und menschlichem Leben haben.

Es müssten viel mehr Menschen den Mächtigen und Reichen, die auf Kosten anderer ihre Scheinwelt aufbauen - „Schein-Welt“ im doppelten Sinne, den Kampf ansagen; längst gibt es Programme, Theorien, Initiativen, Organisationen gegen Hunger und Ausbeutung; längst gibt es Hilfsmaßnahmen, humanitäre Projekte. Doch herrscht die „kannibalische Weltordnung“, der Turbokapitalismus, weiterhin (Jean Ziegler: Ändere die Welt! 2015, 48-53).

Wir bräuchten einen „Feldzug der Liebe“; Menschen, die bereit sind, die „Fußwaschung“, wie der Nazarener sie praktiziert und gemeint hat, umfassend mit allen Konsequenzen radikal an den Armen und Elenden zu vollziehen. Dabei müsste das Übel an der Wurzel gepackt werden; die Arbeit müsste de facto in den reichen Industrienationen beginnen. Auch revolutionäre Arbeit der Liebe oder aus Liebe muss freilich finanziert werden. Mit Geld kann man Gutes bewirken: Brunnen, Hospitäler, Schulen bauen; Bäume pflanzen, Felder wirksam bestellen; Arbeiter zu fairen Löhnen beschäftigen usw.

Solange aber Geldliebe, Gewinn- und Profitsucht, Hab- und Raffgier alles Handeln bestimmt, wird jede edel und uneigennützig motivierte Hilfe wie ein Tropfen auf dem heißen Stein verpuffen. Solange Mächtige wertvolle riesige Flächen und Gebiete zertrampeln, verbrennen oder bis zur Nutzlosigkeit ausbeuten; solange sie alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren verhungern oder an Folgen von Unterernährung sterben lassen - sie de facto ermorden; solange dieses zum Himmel schreiende Verbrechen ungestraft zugelassen wird, solange  bleibt unser Reden von Liebe und Menschlichkeit reinster Zynismus.

Wir sollten nicht zulassen, dass die Fußwaschung Jesu in der Bedeutung des neuen Gebotes gegenseitiger Liebe lediglich als ein Geschehen der Vergangenheit in einem uns fremden Kulturkreis - ohne Auswirkung auf die Verhältnisse unserer Gegenwart - vergessen wird.

Amen.

http://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/ s.v. Fußwaschung (NT), Christian Wetz (2010); dort auch bibliographische Hinweise.

Perikope
02.04.2015
13,1-35

Predigt zu Johannes 19,16-30 von Claudia Trauthig

Predigt zu Johannes 19,16-30 von Claudia Trauthig
19,16-30

„Es ist vollbracht“.
Mit diesen drei Worten beschließt Jesus sein Leben.
So jedenfalls führt es uns der Evangelist Johannes vor Ohren und das innere Auge.

„Es ist vollbracht!“ - Was für ein Satz am Ende eines dramatischen Lebensweges!?

Was für ein Schlussakkord, liebe Gemeinde, den ja -quer durch die Musikgeschichte- Komponierende immer wieder aufnahmen, nachklingen ließen?

Inmitten von Hass und Tod, am Ort offensichtlichster Gottesferne, Golgatha, sagt Jesus, DER Liebende, DER Lebendige:
„Es ist vollbracht“
– und stirbt.

Nur wenige derer, die doch etwas ganz Neues mit diesem Jesus anfangen wollten, sind an seiner Seite, als dies geschieht.
Gestern waren wir viele, heute sind wir allein. (Zitat von Schülerinnen und Schülern des Joseph-Königs-Gymnasiums Haltern, 25.03. 2015, am Tag nach dem Flugzeugabsturz)

Sterben mitanzusehen, Gewalt nicht aufhalten zu können, Sinnlosigkeit zu ertragen – das ist schwer: immer und überall. (Der schwerste Moment für den Vorstandsvorsitzenden von Lufthansa war es, so sagt er, den Angehörigen in die Augen zu schauen, denen der Tod das Liebste genommen hat.)
Doch jener merkwürdige Jünger, der keinen Namen im Evangelium hat, keine Identität aufweist, bleibt - sieht Jesu Tod mit an. Johannes nennt ihn: „Der Jünger, den Jesus liebte“.

Warum hat er keinen Namen? Meint der Evangelist sich selbst? Oder - meint er womöglich mich und Dich? Wollten wir nicht auch Jesus immer und überall nahe bleiben? Sind wir nicht auch Jüngerinnen, die Jesus liebt, Jünger, die ihn lieben? Aber halten auch wir mit ihm stand, wenn das Leid vor uns steht?

Und es bleibt auch Maria, die Mutter des erwachsen gewordenen Gottessohnes: eine –aus damaliger Sicht- alte Frau, die diesen Jesus geboren hat.
Ausgetragen in der ahnenden Gewissheit, dass ihr damit eine Aufgabe in den Schoß gelegt wurde, die kein Mensch wirklich begreift.

Maria - was hat sie mitgemacht mit diesem Kind? Höhen und Tiefen, Ängste, Hoffnungen und Stolz, Rätsel und Staunen…
Und doch ist Maria jetzt unter dem Kreuz zuallererst: eine Mutter: eine Mutter, die ihr Kind verliert, seinem Sterben zusieht und es überlebt.

Vermutlich ist das das schlimmste Schicksal, das eine Mutter, Eltern durchleiden können.
So ist Maria allen Müttern aller Zeiten und Orte, die dieses Schrecknis teilen, nah.
Nahe den Müttern, nahe den Angehörigen der 150 Passagiere und 6 Besatzungsmitglieder von Flug 4U9525, Barcelona – Düsseldorf.
Nahe den Müttern, deren Kinder von einer sinnlos wütenden Krankheit wie dem grauenvollen Ebola-Virus genommen werden.

Nahe den Müttern, deren Kinder mit einem Schlag aus ihrem Leben verschwinden: durch Unfälle, Mord und Gewalt, Krieg oder Unglück.

Maria und dem Jünger zur Seite sind noch Zwei, die leicht übersehen, überlesen werden:
Da ist zum einen Maria Magdalena. In der Theologiegeschichte nannte man sie „die große Sünderin“. Besser sollten wir sagen: die große Freundin: Jene, die sich nicht vertreiben lässt, sondern bis zuletzt die Treue hält.

Neben Maria aus Magdala, gibt es da noch „die andere Maria“, die Frau des Klopas, Schwester der Mutter Jesu und damit seine Tante. Sie steht der Mutter zur Seite.
Keine große Rolle spielt sie im Evangelium.
Keine große Rolle?

Sagte ich nicht gerade: „Sie steht zur Seite“? Sie ist also einfach da, wo Leid zum Himmel schreit. Einfach da, weil sie mit dabei ist, mit leidet.
Tiefes und echt empfundenes Mit-leid ist eine Begabung und eine Gnade und vor allem ein Liebesdienst. „Die andere Maria“ steht für alle, die so zur Seite stehen, mit-leiden, einfach „da“ sind.

Sie steht für die Notfallseelsorger und Notfallseelsorgerinnen, die in der vergangenen Woche in Düsseldorf und Haltern, in Barcelona und Südfrankreich einfach da waren.

Sie steht für die Rettungskräfte, die alles Menschenmögliche versuchten, schlicht den Opfern verpflichtet waren. Sie steht auch für die Politiker, die sich das Grauen eines Fluges über die Unglücksstelle zumuten ließen, um Beistand zu geben: Trost.

Selig sind, die Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.

Erinnern wir uns?
Vom Berg der Seligpreisungen hat Jesus diesen seltsamen Satz gesagt. „Glücklich im höchsten Sinne, unüberbietbar – also selig“, sagt Jesus, „sind die, die Leid tragen“?

Im tiefen Leid ruht, keimt vollkommene Seligkeit? Das ist ein zunächst ganz unglaublicher Satz - ein Satz, der aus dem Himmel herabgestiegen ist.

Denken wir zurück an die andere große Tragödie, die Europa in diesen Wochen zwischen dem Jahreswechsel und Ostern erschüttert hat, an das Attentat von Paris. Nur zwei Tage (am dritten Tage!) nach dem Anschlag nahmen die überlebenden Redakteure ihre Arbeit wieder auf:
„Der Zeichenstift wird immer der Barbarei überlegen sein.“

Ich bin Charlie – dieser Satz umkreiste die Welt.

7 Millionen Mal wird das Produkt ihrer Arbeit in Windeseile, in 16 Sprachen der Erde, verkauft.
In den ersten zwei Monaten nach dem Attentat erzielt Charlie Hebdo allein durch Zeitungsverkäufe einen Gewinn von über 20 Millionen Euro, zusätzlich gehen viele Spenden ein. Während die Einnahmen durch Spenden allein den Hinterbliebenen der Getöteten zugutekommen, soll der Verkaufserlös unter anderem dafür verwendet werden, eine Stiftung zum Thema Meinungsfreiheit zu gründen. (Wikipedia: Charlie Hebdo)

Liebe Gemeinde,
in das Dunkel fließt ein Lichtstrahl,
in die Leere strömt etwas Neues.
Wie das leise Zwitschern der Vögel auf den Gräbern. Ein neues Lied stimmt an: „Wer Ohren hat zu hören, der höre.“

Können wir es hören?

Ich jedenfalls kann so und nicht anders beginnen zu begreifen, warum Jesus sagt: Es ist vollbracht.

Nicht nur die Schrift, die hier reichlich zitiert wird, hat sich erfüllt. Sondern Jesu Weg hat sich vollendet. Es ist der Weg der ewigen und bedingungslosen Liebe. Einer Liebe, die sich durch nichts und niemanden aufhalten lässt. Keine Machthaber und keine Mächte des Todes können diese Liebe zerstören.

In den bunten Teppich unseres Lebens, der immer wieder voller Grau und Schwarz und leider Gottes erneut auch wieder braun ist, webt Gott sich selbst ein… seine Lichtfarbe der Liebe: Sein Weiß oder Gold oder Rot – wie auch immer wir uns diese unzerstörbare Farbe göttlicher Liebe vorstellen…

Und weil das, liebe Gemeinde, die Botschaft von Karfreitag ist, ist Karfreitag ein Tag tiefer Trauer, aber auch ein Tag keimender Hoffnung. So versteht es und schildert es Johannes.
Es ist ein Tag der Widerstandskraft Liebe, die alles übersteigt, was wir verstehen und die in Ewigkeit bleibt.

Es ist vollbracht!
Bevor Jesus das sagt, wendet er sich jenen beiden noch einmal zu: Frau und Mann, dem namenlosen Jünger und der Mutter: seiner Vergangenheit und der Zukunft seines Dienstes.
Jenen, die das geliebte Kind oder ihren Herrn verlieren, deren eigenes Lieben Gefahr läuft, beziehungslos zu werden, eröffnet er Zukunft: „Frau, siehe, das ist dein Sohn. (…) Siehe, das ist deine Mutter.“
Noch im Sterben ermöglicht Jesus lebendige Liebesbeziehungen, die das Reich Gottes im hier und jetzt kennzeichnen. Jünger und Mutter stehen nicht zuletzt auch für das Volk Israel und uns Heiden. In verwandtschaftlicher Liebe sollten wir einander begegnen.
Es ist vollbracht.

Liebe Gemeinde,
wir sind der namenlose Jünger.
Jeder Karfreitag mutet auch uns zu, unter dem Kreuz zusammenzukommen.
Jeder Karfreitag stellt uns das Leid vor Augen.
Als jene, die sich zu Jesus halten, auf ihn sehen, ihm gehören wollen, können wir weder Augen noch Ohren, weder Hände noch Geldbeutel vor diesem Kreuz und den Kreuzen dieser Welt verschließen. (Sie aufzuzählen ist in der Kürze der Zeit überhaupt nicht möglich.)

In diesen Tagen musste ich immer wieder auch an die Ereignisse vor sechs Jahren in Winnenden denken. Die Bilder aus Frankreich, erst recht nachdem die Hintergründe klar wurden, müssen in den Überlebenden den eigenen Verlust wieder schmerzlich aufgedeckt haben…

Doch ich erinnerte auch ein Hoffnungszeichen, das mich 2009 sehr bewegt hat: Schülerinnen und Schüler der Albertville-Realschule brachten bunte, ganz individuell gestaltete Symbole zum Altar.
Diese Symbole veranschaulichten die Träume der Verstorbenen.
Nachdem die Symbole zum Altar getragen waren, man sich als Betrachterin eine kleine Zeit an ihrer vielfältigen Farbigkeit erholen konnte, wurden sie –wie mit einem Schlag- ganz und gar verdeckt. Der Traum vom Leben der jungen Leute verschwand unter einem schwarzen, schweren Tuch: Karfreitag.
Anschließend folgte eine weitere Rede. Ich konnte kaum folgen, so gebannt war ich von dieser alles gleich machenden Schwärze, unter der die Träume verschwanden…

Sollte es damit enden?

Nein!!! Vor dem Auseinandergehen der Menschen ((nicht nur in Winnenden, sondern an vielen Orten,)) kamen die Mitschülerinnen und -schüler mit der Rektorin wieder zum Altar.
Behutsam, fast zärtlich deckten sie ein Symbol nach dem anderen wieder auf. Nicht vollständig. Das schwarze Tuch war nicht mit einem Mal verschwunden. Aber es beseitigte ihn nicht – den Traum vom Leben:
„Wir verpflichten uns diesen Träumen. Wir beleben sie.“ – so versprachen diese jungen Menschen einmütig.

Frau, siehe, das ist dein Sohn. Siehe, das ist deine Mutter.“ Verpflichtet Euch meinem Leben und Sterben und Auferstehen…
Mit Gottes Hilfe. Mit Gottes Hilfe, liebe Gemeinde, beleben auch wir die Träume vom wahren Leben, verpflichten uns der Hoffnung.

Mit Gottes Hilfe erkennen wir im Antlitz des Gekreuzigten die unzerstörbare Liebe.
Mit Gottes Hilfe halten wir die Lücke zwischen den Lebenden und den Toten. Zwischen dem Gekreuzigten und allen mütterlichen Jüngern oder brüderlich Nachfolgenden. Mit Gottes Hilfe erkennen wir in dem ans Kreuz Erhöhten den himmlischen Herrn der Herrlichkeit.
Ja, liebe Gemeinde, „es ist vollbracht“ –
und es bleibt uns noch soviel zu tun –
bis ans Ende der Zeit!

Amen.

 

Perikope
03.04.2015
19,16-30

KONFI-IMPULS zu Johannes 13,1-15;34-35 von Stefanie Bauspieß

KONFI-IMPULS zu Johannes 13,1-15;34-35 von Stefanie Bauspieß
13,1-35

Das Mahl des neuen Bundes

Bezugnehmend auf das Zusatzmaterial aus dem DVD complett-Film „Iss und Trink – Gemeinsam das Abendmahl feiern“, der über den Ökumenischen Medienladen zu erhalten ist.

Im Raum ist ein Tisch gedeckt mit Brot, Trauben, Traubensaft, Wasser, Mehl, Körnern. Konfis überlegen sich in EA und sammeln  auf einem Plakat, was sie mit „Abendmahl“ verbinden: Jesus isst Brot und Wein mit seinen Jüngern vor seinem Tod. Leonardo Da Vinci. Brot und Traubensaft/Wein. Essen und Trinken. Alle aus einem Kelch.

Versweise wird der Text Joh 13,1-15; 34-35 gelesen. In Kleingruppen beantworten sie Fragen und legen sie auf den gedeckten Tisch.

-          Warum wäscht Jesus die Füße der Jünger? Was bedeutet das für uns? Waschen wir anderen die Füße?
Jesus will damit sagen, dass wir sonst nichts anderes brauchen. Er wäscht uns die Füße und unsere Sünden weg. Er schafft Gemeinschaft. Wir waschen niemandem die Füße, aber wenn wir uns gegenseitig Fehler verzeihen, ist es so ähnlich.

-          Wie bereitet man sich auf das Abendmahl vor? Wer darf zum Abendmahl kommen? Gibt es Gründe, warum man nicht kommen darf?
Man betet und singt und beichtet. Es dürfen alle zum Abendmahl kommen. Aber man muss christlich sein. Das erkennt man durch die Taufe. Es gibt dann keine Gründe, warum man nicht kommen darf.

-          Was passiert da eigentlich bei den Einsetzungsworten? Verwandelt sich da was? Wie ist das bei den Katholiken?
Es wird von dem Abend erzählt, als Jesus mit seinen Jüngern isst und verraten wird. Brot verwandelt sich in den Leib Jesu und Wein in Blut. Katholiken müssen vor dem Abendmahl beichten.

-          Welche Bedeutung hat die Beichte im Gottesdienst? Wie ist das mit Judas? Kann man durch das Waschen rein werden? Was meint rein und unrein?
Wenn man rein ist, hat man keine Sünden. Aber eigentlich hat doch jeder Mensch gesündigt. Judas ist unrein, denn er ist der Verräter Jesu. Aber Jesus hat durch das Waschen die Jünger von allen Sünden befreit. Man darf seine Sünden im Gottesdienst beichten. Es tut gut, wenn man etwas erzählen kann, weshalb man ein schlechtes Gewissen hat.

-          Warum wäscht Jesus Judas auch die Füße, obwohl er weiß, dass er ihn verraten wird? Warum spricht er ihn nicht darauf an? Wie fühlt sich Judas wohl?
Jesus will alle Jünger gleich behandeln. Er will, dass Judas sich selbst verrät und begreift, was er gemacht hat. Judas hat ein schlechtes Gewissen, während Jesus ihm die Füße wäscht.

-          Wie lautet das Gebot in V 34 und 35? Wie wird durch das Abendmahl dieses Gebot bei uns verwirklicht?
Das Gebot lautet: Liebe deinen nächsten so wie du dich selbst. Das wird beim Abendmahl deutlich, weil man zusammen isst, und die Gemeinschaft untereinander stärkt. Man ist dann nicht mehr fremd füreinander.

Die Konfirmanden können im Gründonnerstagsgottesdienst beteiligt werden, indem sie die Fragen aus den Kleingruppen zu Beginn oder während der Predigt stellen und auch beantworten. Die Predigt reagiert darauf, indem sie dieses Fragen wieder aufnimmt und ergänzt bzw. auf die ganze Gemeinde weitet. Weiterhin können sie beim Abendmahl Aufgaben übernehmen und mit austeilen.

Liedvorschläge: Meine engen Grenzen EG 589, Du bist die Kraft, die mir oft fehlt (Wwdl 25)

Foto: s. unten "Downloads"

Perikope
02.04.2015
13,1-35

Nichts im Griff haben - Predigt zu Johannes 19,16-30 von Søren Schwesig

Nichts im Griff haben - Predigt zu Johannes 19,16-30 von Søren Schwesig
19,16-30

Nichts im Griff haben

16 Da überantwortete er ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber, 17 und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf hebräisch Golgatha. 18 Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte.
19 Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der König der Juden. 20 Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. 21 Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreib nicht: Der König der Juden, sondern, dass er gesagt hat: Ich bin der König der Juden. 22 Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.
23 Als aber die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch das Gewand. Das war aber ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. 24 Da sprachen sie untereinander: Lasst uns das nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt (Psalm 22,19): „Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.“ Das taten die Soldaten.
25 Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. 26 Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger,  den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! 27 Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.
28 Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er,  damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. 29 Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und steckten ihn auf ein Ysoprohr und hielten es ihm an den Mund. 30 Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! und neigte das Haupt und verschied.

Liebe Gemeinde,

am heutigen Karfreitag ist uns aufgetragen, Jesu Leidens- und Todes­ge­schichte zu bedenken. Das fällt uns nicht leicht, denn Todesgeschichten sind uns unangenehm. Mit dem Tod tun wir uns schwer. Wir gehen ihm möglichst aus dem Weg, au­ßer in den Fernsehnachrichten, wo wir Sterben aus sicherer Distanz miter­leben. Doch manchmal werden wir mit dem Tod ganz di­rekt konfrontiert - etwa bei Men­schen, die uns nahe sind und denen unser Herz gehört. Aus purer Hilflosigkeit heraus kann es dann passie­ren, dass wir die Versuche des Kranken überhören, über den Tod zu sprechen. Stattdessen sagen wir mit ge­spieltem Optimismus sagen: „Sprich doch nicht vom Sterben. Das wird schon wieder. Du darfst die Hoffnung nicht auf­geben!

Wir tun uns schwer mit dem Tod. Das mag daran liegen, dass das Ster­ben weitgehend aus unserem Lebensumfeld verschwunden ist. Gestor­ben wird bei uns meist nicht mehr zu Hause, sondern in Altersheimen und Kranken­häusern. Außerhalb unserer Wohnungen und damit au­ßerhalb unseres Be­wusstseins. Das führt dazu, dass Menschen sich vom Tod `entwöhnen´. Sie empfinden ihre Gesundheit als selbstverständlich und rechnen nicht mit der Möglichkeit des Todes. Aber wehe der Tod hält plötzlich Einzug: dann trifft es sie völlig unvorbereitet. Übergroß dann das Erschrecken und Ent­setzen vor der Macht des Todes.

Wir tun uns schwer mit dem Tod. Der Karfreitag aber stellt uns die Auf­gabe, über den Tod nachzudenken: über unseren eigenen, den unserer Lieben, aber vor allem über den Tod Jesu damals in Jerusalem.

Wie kann Gottes Sohn von Menschen ans Kreuz geschlagen werden?“, haben die Jünger damals gefragt. Wir Heutigen fragen ähnlich. Aber un­sere Fragen gehen weiter. Wir fragen: „Hat Jesu Tod Bedeutung für mein Sterben - oder gar auch für mein Leben?“

Antwort auf diese Frage finde ich in den letzten Worten Jesu. Sie lau­ten: „Es ist vollbracht.“

Es ist vollbracht! Das klingt zunächst wie Es ist vorbei! Und es ist gut, dass jetzt der Spott der Solda­ten vorbei ist, die dem Sterbenden Essig statt Wasser zu trinken geben und um seine Kleider würfeln. Es ist gut, dass die Peitschenschläge vorbei sind, die die Mordlust der Menge befriedi­gen sollen. Es ist gut, dass der Kampf am Kreuz mit dem Tod vorbei ist, das Ringen um den Atem. Gut, dass dies nun alles mit Jesu Tod vorbei ist.

Aber „Es ist vollbracht!“ meint mehr als: Es ist vorbei! „Es ist voll­bracht!“ heißt: Mein Auftrag ist erfüllt, mein Werk zum Ziel gekom­men. Was geschehen sollte, ist geschehen. Das meint „Es ist voll­bracht!“ Am Kreuz ist zum Ziel gekommen, was damals begann, als Jesus einige Fischer in seine Nachfolge berief, um das Evangelium von der Liebe Gottes den Menschen zu bringen. Und Jesus hat Gottes Liebe unter die Menschen gebracht. Hat sich für diese Liebe sogar ans Kreuz schlagen lassen. Ist für diese Liebe sogar gestorben. Ja, es ist voll­bracht!

Seine Jünger bergreifen das damals nicht. Sie sehen nur Schei­tern. Ihr Meister ans Kreuz geschlagen und mit ihm all die Hoffnun­gen, die sie auf ihn gesetzt hatten. All der Lebensmut, den er ihnen gegeben hatte. All der Lebenssinn, den sie bei ihm gefunden haben. All das ist nun aus und vorbei. Ans Kreuz geschlagen.

Das Eigentliche, was an diesem Kreuz geschehen ist, erkennen sie nicht. Deshalb bleiben sie auch nicht bei ihm. Das Entsetzen über die­ses schein­bar sinnlose Geschehen treibt sie in die Flucht.

…………………………

Was ist eigentlich an diesem Kreuz geschehen? Haben wir verstanden, wofür das Kreuz steht? Ist es Zeichen einer Niederlage? Nie­derlage dessen, der noch vor wenigen Tragen mit großen Erwartun­gen und lautem Hosianna-Geschrei begrüßt wurde? Aber als er die religiösen Er­wartungen nicht erfüllt, verwandelt sich das Hosianna in ein hass­erfülltes Kreuzigt ihn! Ein schneller und tiefer Fall. Das Kreuz also Zei­chen einer Niederlage?

Oder ist es ein Symbol menschlicher Brutalität? So der englische Biolo­gieprofessor Richard Dawkins, der in seinem Buch „Der Gotteswahn“ seine atheistischen Thesen darlegt, u.a. die, dass die Menschen viel glücklicher leben würden ohne Religion, weil die Religion Menschen knechtet, in Kriege führt und sie von sich selbst entfremdet. Dawkins nennt das Kreuz ein Symbol für Brutalität und Gewalt. Es sei geradezu ab­surd, dass dieses Folterinstrument zum zentralen Symbol des christlichen Glaubens gemacht worden ist.

Ähnlich bewertet das Kreuz wohl die Stimme, die forderte, man solle das Bild des Gekreuzigten ersetzen durch das Bild des Kindes in der Krippe. Das würde uns an Weihnachten und an erfreuliche Dinge erin­nern.

Aber das Kreuz ist nicht Zeichen der Niederlage oder Symbol menschli­cher Brutalität. Ganz anders. Das Kreuz ist zum einen Zei­chen des Ge­horsams Jesu gegen Gott. So schreibt Paulus im Philipperbrief über Jesus: „Er erniedrigte sich selbst und war gehorsam bis zum Tod, ja bis zum Tode am Kreuz.

Und es stimmt: Jesus war ge­kommen, den Menschen Gottes Liebe zu bringen. In seinen Gleichnissen und Predigten, in seinen Heilungen und Wundern gab er den Menschen Antwor­ten auf ihre Lebens- und Got­tesfragen. Viele ließen sich anstecken von seiner Botschaft, andere blieben unerreicht. Einige verschlossen sich seiner Botschaft so sehr, dass sie ihm nach dem Leben trachteten.

In Jerusalem kommt es zur Entscheidung, zum Prozess. Aber Jesus bleibt der Sache Gottes gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Noch am Kreuz bleibt seine Verkündigung dieselbe. „Ihr könnt nicht Gott lieben, wenn ihr nicht auch eure Mitmenschen liebt“ - so hatte er ge­lehrt. So sagt er noch am Kreuz zu seiner Mutter: „Dieser Jünger soll nun dein Sohn sein.“ Und zu dem Jünger: „Diese Frau sei nun deine Mutter.“

Aus Treue zu Gott lässt er sich ans Kreuz schlagen und bleibt noch am Kreuz der Sache Gottes gehorsam. Deswegen diese letzten Worte: „Es ist voll­bracht.“ Ja – sein Werk ist vollbracht.

So ist das Kreuz zum einen Zeichen des Gehorsams Jesu gegen Gott. Zum anderen erinnert das Kreuz an das Dunkle, das in meinem Leben geschehen kann. Das Kreuz erinnert daran, dass ich in meinem Leben anderen Mächten schutzlos ausgeliefert sein kann.

"Den Alkohol habe ich im Griff", sagt einer und merkt nicht, dass die Sucht ihn fest im Griff hat.

Eine andere sagt: "Den Krebs habe ich im Griff. Die Operation ging gut. Alles in Ordnung.". Doch dann zeigen sich erste Metastasen und es ist klar: Nichts hast du im Griff.

Die Trauer krieg´ ich in den Griff. Das Leben geht weiter!“, sagt ein anderer nach dem Tod seiner Frau. Aber er kann ihren Tod nicht ak­zep­tieren, verdrängt ihn und versucht schnell zu einer neuen Tages­ordnung überzugehen. Doch der unbewältigte Schmerz bricht immer wieder auf. Und es zeigt sich: Nicht er hat die Trauer im Griff. Die Trauer hat ihn im Griff.

Es passieren Dinge in meinem Leben, die ich nicht im Griff habe. Und dann muss ich zugeben: Nicht ich habe mein Leben im Griff. Andere Mächte haben mich im Griff und ich bin ihnen schutzlos ausgeliefert.

Jesus erging es ähnlich. Am Kreuz war er schutzlos der Mordgier der Men­schen ausgeliefert. Nichts hatte er mehr im Griff. Das Verderben hatte ihn im Griff.

Aber so paradox es klingt: Genau das ist für uns Grund zur Hoffnung. Weil Jesus am eigenen Leib erlebt hat, wie das ist, anderen Mächten ausgeliefert zu sein, kann ich wissen, dass er mir nahe ist in meinem Leid. Weil Jesus am eigenen Leib Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung er­lebt hat, kann ich wissen, dass er mich im Dunkel meines Lebens nicht allein lässt.

Wenn ich in meinem Leben an solch eine bittere Stunde geführt werde, wo mir alles aus der Hand genommen wird und ich nichts mehr im Griff habe, kann ich das eine wissen: Ich bin Jesus ganz nahe. Denn das Leid, das mir widerfährt, hat er erlitten. Die Hoffnungslosigkeit, die mich quält, hat er gekannt. Die Verzweiflung, die mich heimsucht, hat er erlebt.

Wenn ich in meinem Leben an solch eine Stunde geführt werde, wo mir alles aus der Hand genommen wird und ich nichts mehr im Griff habe, kann ich das eine wissen, dass ich Jesus ganz nahe bin. Er ist jetzt mein Bruder.

So ist das Kreuz also Zeichen des Gehorsams Jesu ge­gen Gott und der Ort, an dem ich erfahre, dass Jesus mich im Dunkel meines Lebens nicht allein lässt.

Dass ich im Dunkel meines Lebens nicht alleine bin, sondern dass da einer da ist, der mein Leben auch dann in seinen Händen hält, hat Je­sus in sei­nem eigenen Tod erfahren. Denn wir feiern Karfreitag mit dem Wissen, dass auf Jesu Tod die Auferstehung folgen wird. Am Ostermorgen wird Gott die Antwort geben auf Jesu Frage nach der Verlassenheit, indem er ihn nicht im Tode lässt, sondern ihn zu sich nimmt in das Reich, das Je­sus verkündigt hat.

Nicht der Tod, sondern Gott hatte das letzte Wort über Jesu Leben und Sterben. Und es war ein Wort des Lebens - gegen den Tod.

Und wir, die wir zu Jesus gehören, dürfen wissen: Seine Ge­schichte ist auch unsere Geschichte. Auch über uns und unsere Lieben wird nicht der Tod, sondern Gott das letzte Wort haben. Und es wird ein Wort des Lebens sein, der Barmherzigkeit und des Friedens. Das ist unsere Hoff­nung. Das ist unser Glaube. Darum lasst diese Hoffnung auf diesen Gott, der das letzte Wort haben wird, schon jetzt in euer Leben hin­einleuchten. Lasst diese Hoffnung all eure Lebensängste vertreiben, auf dass euer Le­ben reich werde und hell.

Amen.

Perikope
03.04.2015
19,16-30