Eine Dreiecksgeschichte - Predigt zu Lk 7,36-50 von Barbara Bockentin
36Einer der Pharisäer lud Jesus zum Essen ein. Jesus ging in das Haus des Pharisäers und legte sich zu Tisch.37In der Stadt lebte eine Frau, die als Sünderin bekannt war. Sie erfuhr, dass Jesus im Haus des Pharisäers zu Gast war. Mit einem Fläschchen voll kostbarem Salböl ging sie dorthin.38Die Frau trat von hintenan das Fußende des Polsters heran, auf dem Jesus lag. Sie weinte so sehr, dass seine Füße von ihren Tränen nass wurden. Mit ihrem Haar trocknete sie ihm die Füße, küsste sie und salbte sie mit dem Öl. 39Der Pharisäer, der Jesus eingeladen hatte, beobachtete das alles und sagte sich: »Wenn Jesus ein Prophet wäre, müsste er doch wissen, was für eine Frau ihn da berührt – dass sie eine Sünderin ist.«40Da wandte sich Jesus an ihn und sagte: »Simon, ich habe dir etwas zu sagen.« Er antwortete: »Lehrer, sprich!«41Jesus sagte: »Zwei Männer hatten Schulden bei einem Geldverleiher: Der eine schuldete ihm fünfhundert Silberstücke, der andere fünfzig.42Da sie es nicht zurückzahlen konnten, schenkte er beiden das Geld. Welcher von den beiden wird den Geldverleiher dafür wohl mehr lieben?«43Simon antwortete: »Ich nehme an der, dem der Geldverleiher mehr geschenkt hat. «Da sagte Jesus zu ihm: »Du hast recht.« 44Dann drehte er sich zu der Frau um und sagte zu Simon: »Siehst du diese Frau? Ich kam in dein Haus, und du hast mir kein Wasser für die Füße gebracht. Aber sie hat meine Füße mit ihren Tränen nass gemacht und mit ihren Haaren getrocknet.45Du hast mir keinen Kuss zur Begrüßung gegeben. Aber sie hat nicht aufgehört, mir die Füße zu küssen, seit ich hier bin.46Du hast meinen Kopf nicht mit Öl gesalbt. Aber sie hat meine Füße mit kostbarem Öl gesalbt.47Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind ihr vergeben. Darum hat sie so viel Liebe gezeigt. Wem aber wenig vergeben wird, der zeigt auch nur wenig Liebe.«48Dann sagte Jesus zu der Frau: »Deine Sünden sind dir vergeben.«49Die anderen Gäste fragten sich: »Wer ist dieser Mann, der sogar Sünden vergibt?«50Aber Jesus sagte zu der Frau: »Dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden.« (Basisbibel)
Eine Dreiecksgeschichte
Die Namenlose
Sie scheute sich nicht. Konzentriert tat sie, was sie tat. Zielstrebig. Ganz auf ihn fixiert. Keinen Blick für die anderen. Ohne Gedanken an das, was die anderen denken mochten.
Jeder wusste, wer sie war. Was sie war. Bekam sie deshalb keinen Namen? Wurde sie deshalb nicht angesehen? Jedenfalls nicht am helllichten Tag. Eine Meinung über sie hatte allerdings jeder von ihnen.
Sie verließ die Grenzen, die andere für sie gesteckt hatten. Ging über sie hinweg. So, als ob es sie nicht gab. So, als ob es sie nicht kümmerte. Sah die anderen nicht an. So wie sie einen längeren Blick auf sie vermieden.
Warum sie tat, was sie tat? Der, zu dem sie ging, wusste es. Gab ihrem Tun durch sein Reden einen tieferen Sinn. Einen Sinn, der sie befreite. Nach dem sie sich gesehnt hatte. Erst jetzt konnte sie beschreiben, was sie zu ihrem Tun veranlasst hatte.
Der Gastgeber
Er schrak zurück. War entsetzt. Dabei hatte er alles so schön geplant. Gepflegte Konversation. Den Gast ein wenig provozieren. Um ihn aus der Reserve zu locken. Dabei am Ende mehr zu wissen, mehr zu verstehen.
Mit der Einladung hatte er etwas gewagt. Andere könnten es zu seinem Nachteil auslegen. Obwohl sein Gast das Gesprächsthema war. Der mit seinem Reden und Handeln provozierte. Unverständnis hervorrief. Oder Bewunderung. Die an Verehrung grenzte.
Jetzt schien sein ganzes Arrangement hinfällig. Ein großes Durcheinander war es jetzt. Keine Chance, sie aufzuhalten. Was bildete sie sich ein?! Er richtete sich auf.
Er wartet darauf, dass sein Gast sie abweist. Mit dem Fuß nach ihr stößt. Sie in ihre Schranken weist. Stattdessen muss er seine Beobachterrolle verlassen. Wird selbst ein Teil dieses Schauspiels.
Sein Gast zwang ihn, genau hinzuhören, hinzusehen. Nicht nur auf sie. Nein, letztlich auf sich selbst. Unangenehm war ihm das. Die Distanz, die er zu ihr hatte, war wie weggeblasen. Er kam ihr nahe. Sah, was er vorher nicht sehen konnte. Sich nicht einmal vorstellen wollte.
Jesus
Er wusste, dass diese Einladung dem galt, den sie in ihm sahen. Einen Provokateur. Jemand, der den Mund reichlich voll nahm. Einen, dem die Leute hinterherliefen. Einen, der sich traute von Gott so zu reden, wie sie es sich nicht trauten. Einen, der sich Gott so nahe fühlte, dass es schon an Gotteslästerung grenzte. Einen, der Grenzen nicht achtete. Jedenfalls nicht die, die ihnen wichtig waren.
Die Annäherung der Frau ließ er geschehen. Er spürte sie. Tränen auf seiner Haut. Haare, die ihn berührten. Eine sanfte Massage seiner Füße, die ihn schon so weit getragen hatten. Das tat gut. Es entspannte ihn.
Die Anspannung um ihn herum wurde dadurch noch deutlicher. Ihre unausgesprochenen Fragen hallten in seinen Ohren. Um die innere Not der Frau wusste er. Er konnte sie spüren. Schließlich war sie ganz nah gekommen. Die Nöte der anderen konnte er sich vorstellen. Sie kleidete er in eine Geschichte.
Auf einmal waren sie alle einander nah. Waren verwoben in das, was er erzählte. Konnten einander nicht mehr ausweichen. Sahen sich und sahen die, die sie verurteilten. Schnitten das Band, das er um sie alle geschlungen hatte, mit einem Satz entzwei.
Die Nähe, die sie zu ihm hergestellt hatte, bekräftigte und vertiefte er: „Dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden.“
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Es ist so einfach, in Schwarz-Weiß-Schemata zu denken. Ich sehe Frauen unterschiedlichen Alters im Gottesdienst. Die Mehrzahl über 70 Jahre. Ihnen ist oft genug gesagt worden: So verhält „man“ sich nicht. Was sollen die anderen denken? Selber schuld, wenn du dich so benimmst. Du bist bedürftig!
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Oft genug ist diese Perikope mit leicht lüsternem Blick gelesen worden. Das hat mich zunächst bei der Annäherung an die Predigtaufgabe behindert.
Die Auflösung kam beim „zweiten Blick“: Wie mag sich die Frau, über die gesprochen wird, fühlen. Was bewegt Simon? Wie geht Jesus mit der Situation um?
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass Jesus es durch seine Reaktion schafft, der Frau – auch wenn sie namenlos bleibt – ein Gesicht zu verleihen, so dass sich zumindest Simon mit ihr auseinandersetzen muss.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Eine Kollegin hat meine Predigt gelesen und kommentiert. Ihre Anmerkungen haben zu Veränderungen geführt. Die Predigt ist dadurch noch lebendiger geworden.
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Der dritte Weg - Predigt zu Lk 24, (44-49) 50-53 von Jochen Riepe
I
‚Scheiden tut weh‘… aber gibt es nicht Abschiede, die ‚gesegnet‘ sind und gut tun? Eine Zeit des Abstands, die mit einer Träne im Auge freudig dem Wiedersehen entgegen blickt. Eine Distanznahme, aus der ich lerne, sodass wir einander neu begegnen können – gereifter, erwachsener, in Freiheit.
‚Er führte sie aber hinaus bis Bethanien und hob die Hände auf und segnete sie. Und es geschah, als er sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel. Sie aber beteten ihn an und kehrten zurück nach Jerusalem mit großer Freude und waren allezeit im Tempel und priesen Gott‘.
II
Er würde diesen Satz seiner Mutter nie vergessen, erzählte der junge Mann. Immer hätten sie ein Unwohlsein gespürt, ja regelrecht ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn sie nach einem Besuchstag noch einmal zum Fenster hochschauten und winkten. ‚Weint Oma jetzt? Ist sie traurig?‘ fragten die Kinder. Ja, Scheiden tut weh.
Irgendwann hatte er sich dann ein Herz gefasst und sie, etwas schamhaft und zögernd, der alten Dame gebeichtet – diese Abschiedsgefühle. Sie aber habe eher verblüfft reagiert – oder hatte sie nur so getan? – und dann wehmütig-weise lächelnd geantwortet: ‚Den Gedanken, es könnte das letzte Mal gewesen sein, kenne ich wohl‘, um dann energisch fortzusetzen: ‚Ich freue mich, wenn ihr kommt. Ich freue mich aber auch, wenn ihr geht‘.
III
‚Sie kehrten nach Jerusalem zurück mit großer Freude‘. Ich staune über über diesen leichten, singenden, klingenden Abschluss des Lukasevangeliums. Happy End. Jesus ist nicht mehr da, er ist ‚gen Himmel gefahren‘. Lukas erzählt zweimal vom Abschied Christi, um der Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit dieses Geschehens zu entsprechen. In der Apostelgeschichte werden wir von einer betenden, wartenden Jüngerschar lesen, harrend der Dinge, die da kommen sollen.
Im heutigen Evangelium liegt der Akzent etwas anders, so als wäre Pfingsten schon geschehen: Eine ‚gesegnete‘, ja, freudig-optimistische Schar. Menschen, die während der ‚vierzig Tage‘ nach Ostern von Jesus, dem Auferstandenen, über den Sinn alles Geschehenen aufgeklärt wurden. Er hatte mit ihnen gegessen und offen gesprochen: ‚Es muss alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht ‘ (24,44). Er hatte sie schließlich gesegnet und war dann – ‚geschieden‘. Statt sich aber nun hinter ‚verschlossenen Türen‘ (Joh 20,19) zu verbergen, zeigen sich die Jünger in der Stadt der Kreuzigung mutig und ‚mündig‘ in aller Öffentlichkeit – im Tempel, dem Ort, dem Gott seine besondere Gegenwart zugesagt hat: ‚Da soll mein Name sein‘ (1.Kön. 8, 29).
IV
Rückkehr mit ‚großer Freude‘. Sie ‚priesen Gott‘. Die Frage stellt sich allerdings von selbst: Wird hier der Schmerz und die Trauer des Abschieds nicht allzu schnell übersprungen? Ein Pfingsten vor der Zeit? Aufgeklärt, ja, eingeweiht wurden sie. Alles hat seine Ordnung, alles war so geschehen, wie die Schrift es vom ‚Menschensohn‘ vorausgesagt hat. Aber ist ihnen das wirklich mit allen Folgen klar? Die Zeit nach Ostern ist vorbei – Ende. Jesus ist nicht mehr da, seine gewiss besondere, aber doch leibliche, hörbare, greifbare Gegenwart ist ihnen – und damit uns! – genommen. Was aber sind wir ohne das Wort, ohne den Leib, den des anderen und den eigenen?
Jeder Trauernde kennt diese Situation: Schock, Resignation, Ratlosigkeit verlangen nach Ausdruck. Warum bleibt er nicht bei uns? Warum hat er mich verlassen? ‚Ja‘, mag der Evangelist darauf antworten, ‚ihr habt Recht, und ich habe das auch versucht… Manie bedeutet ‚himmelhoch jauchzend‘ etwas überspringen oder nicht wahrhaben wollen. Depression, ‚zu Tode betrübt sein‘, deutet das Gegenteil an: Bedrückung, ja, von einem Ereignis erschlagen sein … die schwere Wolke, die sich bedrohlich nähert. Es muss doch einen Weg mitten hindurch, einen dritten Weg sozusagen geben, der ins Leben zurück führt!‘
V
‚Ich freue mich, wenn ihr kommt, ich freue mich, wenn ihr geht‘. Er würde, sagte der junge Vater, diesen melancholisch getönten und dann doch schlagfertigen, humorigen Satz seiner Mutter nie vergessen. Er genieße geradezu den Trost und die Befreiung, die in ihm liege. ‚Ich habe richtig lachen müssen, und die Kinder sahen mich verwundert an.‘
Wie viele Momente eines Abschieds, wie viele unterschiedliche Stimmungen und Erlebnisweisen die Frau auf diese Weise sprechend auf den Punkt brachte. Nach einem langen Besuchstag war sie schlicht erleichtert, wenn alles geschafft war, und sie sich – erholen konnte: Leibhafte Anwesenheit von Kindern und Enkeln ist anstrengend. Besuch verlangt Vorbereitung und viel Aufmerksamkeit, und manchmal geht er uns sogar auf die Nerven.
Dann aber auch spürte er in diesen Worten so etwas wie Stolz: ‚Ihr fahrt jetzt in eure Welt zurück, und ich habe meine Welt. Ich schaffe meinen Alltag und kann durchaus für mich sorgen. Dass wir miteinander verbunden sind, das bleibt doch.‘ Und schließlich klang noch etwas Drittes mit: Ja, es kann immer das letzte Mal gewesen sein. Jede Umarmung, jeder Abschiedskuss enthält diesen Schmerz. Aber zugleich liegt in ihm die Erwartung, die Vorfreude auf eine neue Begegnung. ‚Wann sehen wir uns im nächsten Monat? Wartet nicht zu lange, dass das Heimweh nicht so groß wird.‘
VI
Der lukanische Bericht von der Himmelfahrt Jesu, vom segnenden Scheiden des Herrn und von der Freude seiner Jünger scheint mir in manchem unseren familiären Erfahrungen ähnlich. Man muss nur kurz einmal erwägen: Was, Jesus, der Auferstandene, wäre über die vierzig Tage nach Ostern hinaus auf Dauer bei ihnen geblieben… sie wären gleichsam ‚geisterhaft‘ (24,37) immer wieder in plötzlichen Erscheinungen heimgesucht, ja, überfallen worden? Ein zutiefst beängstigender, bedrückender und unfreier Kontakt. Sie hätten ihn schließlich nicht mehr ausgehalten und sich sehnsüchtig eine Rückkehr zur, wenn auch tristen, Normalität gewünscht.
Der Auferstandene aber gibt sie in seinem Abschied segnend frei und überlässt sie als Gesegnete sich selbst. Einen ‚Mund und Weisheit‘ (Lk 21,15) hatte er ihnen darum versprochen, die Fähigkeit, situationsgerecht, sozusagen schlagfertig und souverän, in bedrängenden Lagen zu sprechen. Es gilt auch umgekehrt: Sie dürfen ihn frei- und Gott übergeben – guten Gewissens, ohne Schuldgefühle, ohne Klammern, denn er ist ‚zu Gott entrückt und für die Wiederkunft bewahrt‘ (E. Hirsch). Der manische Überflieger mag dann denken: ‚Jetzt können wir endlich machen, was wir wollen‘, legt nun los und stellt das Haus auf den Kopf. Der Deprimierte mag klagen: ‚Jetzt können wir gar nichts mehr tun, dieser Schmerz vergeht nie‘. Der Weg zwischenhindurch, der österlich getröstete und mit seinem Wort beschenkte, denkt und handelt, lobt und preist in Treue zum Gehenden. Wie wir heute schon pfingstlich sagen dürfen: in der ‚Kraft des Heiligen Geistes‘ (Apg 1,8).
Die ‚(Zwischen-) Zeit der Kirche‘, die Zeit nach der Himmelfahrt des Herrn, die das Warten auf die Wiederkunft Christi ‚erträglich macht‘ (H. Conzelmann), ist darum ein – mitunter schmerzlicher –Lernprozess. Lernen, ja, in diesem kleinen, endlichen Leben mündige und weise, erwachsene Zeugen Jesu zu werden und seinen ‚Weg‘ (Apg 9,2) neu zu gehen; ein Weg, auf dem die Gemeinde immer wieder gefährdet ist und ‚wie im Sieb geschüttelt‘ (Lk 22,31) wird.
VII
Sie kann sich selbst überheben und frohlockend im Himmel wähnen. Das Erbe Jesu wird zu einer Verfügungsmasse, aus dem sie im Hochgefühl ihrer Kräfte nehmen und verwerfen kann: ‚Wir sind die Guten‘. Sie kann aber auch eine traurige Gemeinschaft werden, die sich mit Jesu Abschied nicht abfindet, die verstummt und sich sektenhaft verschließt: ‚Herr, wohin sollen wir gehen?‘ Lukas erzählt von einem dritten Weg: Die Jünger ‚beteten ihn an‘. Die Kirche des ‚Mundes und der Weisheit‘ ist eine des Gesprächs mit Gott und des freimütigen Gesprächs untereinander. Das Leben ist nicht schwarz und weiß. Gerade in den Kontroversen dieser Zeit brauchen wir einen Raum der ‚Meinungsfreiheit‘, der Freude, des Streitens, des Leidens aneinander – und des Humors.
‚Denn wes das Herz voll ist, des geht der Mund über‘(Lk 6,45). Es hatte ja gedauert, bis unser junger Vater seinen Mund öffnete und seine Gedanken aussprach. Wie vieles bleibt gerade unseren Nächsten gegenüber in uns verschlossen. Wie oft haben wir in der Gemeinde das Gefühl, Wichtiges bleibe ungesagt aus Angst, eine ‚unerwünschte‘ Meinung zu vertreten. Das Schöne an unserer familiären Aussprache ist: Die Mutter hatte ergeben, versöhnlich und humorig in einem geantwortet. Sie war betroffen, fand aber zugleich Distanz. Geistesgegenwart. Das war ihre Art, zu segnen und die Scheidenden freizugeben. Ich kann mir vorstellen, wie auf der Heimfahrt Vater und Kinder fröhlich miteinander sangen. Es hatte sich etwas gelöst. Ihre Lippen waren aufgetan.
VIII
Abschied: Unser Glaube hat eine Träne in den Augen, Zeichen eines Heimwehs (Phil 1,23), das sich immer wieder meldet. ‚Wann kommt ihr wieder? Lasst es nicht zu lang werden.‘ Wird denn Jesus, der im Himmel ‚bewahrt‘ ist, wiederkommen? Werden wir ihn erkennen, oder wird er fremd sein und uns dieses peinliche Gefühl überkommen: Wir haben uns auseinander gelebt. Oder gar: Wir haben ihn vergessen.
Das sind Fragen, die alle Jünger-Freude begleitet, solange es eine Gemeinde Christi gibt. Fragen aber auch, an denen wir – miteinander sprechend – wachsen, reifen und Freiheit erlernen können. Unter einem heiteren Gotteshimmel, denn ein Zeuge Jesu zu sein ist keine Last, sondern Teilhabe an der Quelle des Lebens.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich erhoffe für den Tag Christi Himmelfahrt einen offenen Himmel (sky) (nicht nur für Open Air-Feiernde). Dass aber bei allen meteorologischen Unsicherheiten diesem Tag ein innerer offener Himmel (heaven) entsprechen kann, lehrt der lukanische Text (und der Posaunenchor wird diese Botschaft auf seine Weise verstärken: ‚Jesus Christus herrscht als König‘). Die Predigt möchte der Gemeinde aus Jung und Alt zum Entdecken ihres persönlichen ‚Open Air‘ anleiten.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Anekdote des jungen Vaters tritt ins Gespräch mit dem lukanischen Verständnis der Himmelfahrt Christi. Mittels ihrer Verwendung gelingt es, die Vielschichtigkeit von Trennungssituationen anzudeuten. Abschied bedeutet Schmerz, aber auch den Anfang der ‚Zwischenzeit‘ der Kirche (H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit, 7. Aufl. 1993, S. 195). Aussagen über die ‚Wiederkunftsgewissheit‘ Jesu (E. Hirsch) und die Wiedersehenserwartung seiner Gemeinde bilden den Horizont der Predigt.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Gerade in diesen politisch-gesellschaftlich polarisierten Zeiten braucht die Gemeinde in ihrer ‚Zwischenzeit‘ das offene, eben erwachsene, respektvolle und auch humorvolle Gespräch. Das macht Mühe, aber es bewahrt uns vor einer Ideologisierung bzw. Verfeindung (‚wer nicht für uns ist, der ist gegen uns‘) unserer Kommunikation oder einer bloßen Wiederholung dessen, was im ‚Mainstream‘ erwünscht ist.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich danke meiner Beraterin (Predigtcoach) für ermutigende und kritische, sehr konkrete Hinweise, die mir halfen, den Text zu straffen und seine Kohärenz zu stärken.
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Tatsächlich Liebe?! - Predigt zu Lk 22,47-53 von Barbara Bockentin
Als er aber noch redete, siehe, da kam eine Schar; und einer von den Zwölfen, der mit dem Namen Judas, ging vor ihnen her und nahte sich Jesus, um ihn zu küssen. Jesus aber sprach zu ihm: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?
Als aber, die um ihn waren, sahen, was geschehen würde, sprachen sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? Und einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab. Da sprach Jesus: Lasst ab! Nicht weiter! Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn.
Jesus aber sprach zu den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels und den Ältesten, die zu ihm hergekommen waren: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen? Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und ihr habt nicht Hand an mich gelegt. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.
Schluss
Der Moment, vor dem er sich gefürchtet hatte, war da. Unausweichlich.
Die Konsequenzen trugen beide.
Gespürt hatte er es schon einige Zeit.
Die Liebe war nicht mehr heiß. Sie war am Erlöschen.
Vor dieser Erkenntnis hatte er sich gedrückt.
Was war der Grund? Brauchte es überhaupt einen Grund?
Wusste nicht, ob das entscheidend war.
Er wusste nur, dass es Zeit war, die Beziehung zu beenden.
Nur wie?
Per WhatsApp? Freunde hatten es so gemacht. Er hielt es für feige. Nein, das kam nicht infrage. Er wollte ihr ins Gesicht sehen. Sich nicht drücken. Ihr deutlich machen, was ihn zu diesem Schritt bewogen hatte. Auch wenn er jetzt noch nicht wusste, was er sagen würde.
Deshalb suchte er sie. Er wusste wo. Schließlich kannte er sie gut.
Wie er es sich gedacht hatte, fand er sie. Ganz in Gedanken versunken saß sie da.
Sie bemerkte ihn nicht sofort. Als sie schließlich den Kopf hob und ihn sah, stand sie auf. Blickte ihm entgegen. Stutzte. Hielt in der Bewegung inne. Blieb abwartend stehen.
Er nahm all seinen Mut zusammen. Schluckte. Trat auf sie zu.
Sie verstand.
Ohne Worte.
Deutete seinen Blick.
Sah ihn an. Traurig.
Als er versuchte, sie zu umarmen, entzog sie sich ihm.
Das war zu viel.
Schutz
„Willst du den Menschensohn wirklich mit einem Kuss verraten?“
Der Moment, den Jesus gefürchtet hatte, war da.
Die Ahnung war zur Wirklichkeit geworden.
Wirklich war geworden, dass es einer von den Zwölf war.
Einer der engsten Vertrauten.
Einer von denen, mit dem er in den letzten Jahren sein Leben geteilt hatte.
Der an seiner Seite gewesen war.
Der gesehen hatte, wie er Menschen geheilt hatte.
Der ihm zugehört hatte.
Der wusste, wie er dachte. Was er glaubte.
Jetzt dieser Schritt.
Bloß nicht noch einmal zulassen, dass er ihm nahe kam.
Körperlich.
Seinem Gefühl.
Auf Abstand halten.
Bitter klangen seine Worte.
Enttäuschung schwang in ihnen mit.
Auch eine Ahnung davon, wie schwer es für Judas war.
Das Wissen darum, wie schwer es für ihn war.
Unsichtbare Schranken
Von den anderen bemerkte niemand, was da passierte. So, wie sie eben nicht gemerkt hatten, wie sehr er eben noch mit Gott gerungen hatte. So auch jetzt. Seine Angst verschloss er in sich. Auch wie schwer es ihm gefallen war, sich Gottes Willen unterzuordnen. Es war, als ob er sie bis zum letzten Moment von der einbrechenden Realität abschirmte.
So wies er alle in ihre Schranken. Indem er für sich behielt, wie ihm zumute war.
Die Häscher bezichtigte er der Feigheit. Sie taten, als ob er ein Schwerverbrecher auf der Flucht wäre. Dabei hatte er sich nie versteckt. Oder ein Blatt vor den Mund genommen. Jetzt dies – unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Die Jünger schalt er für ihre Voreiligkeit. Er ergab sich. Er tat, worum er die Nacht über gerungen hatte.
Noch einmal tat er, was er in der Vergangenheit immer wieder getan hatte. Er wandte sich dem zu, der seine Hilfe brauchte, dem verwundeten Soldaten. Er heilte ihn. Ungeachtet dessen, was dieser vorhatte. Ungeachtet seiner Person.
Noch einmal wandte er sich Judas zu. Wies ihn zurück. Verweigerte die Berührung. Genau damit bewies er ihm, dass er ihn verstand. Dass seine Liebe zu ihm ungebrochen war. Indem er ihm eine Grenze setzte. Er wusste, dass Judas nicht anders konnte. Doch ein Liebesbeweis? Abstand, was war für beide besser.
Der Moment, vor dem er sich gefürchtet hatte, war da. Unausweichlich.
Die Konsequenzen trugen beide.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Bei der Vorbereitung tauchten Menschen vor meinem inneren Auge auf, die schon einmal vor dem Scheitern einer Beziehung oder gar ihrer Ehe gestanden haben. Oder erlebt haben, wie es ist, wenn Freunde sich plötzlich abwenden.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Weshalb war es Jesus so wichtig, dass Judas ihm nicht nahe kam? Für dieses Verhalten habe ich nach einem Zugang gesucht.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ganz sicher wird mich weiter begleiten, dass das abwehrende Verhalten Jesu eigentlich voller Zuwendung ist.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Unterstützung, die ich bei meiner Coach durch ihre positive Resonanz fand, hat es mir leicht gemacht, zu verstehen, wo eine Überarbeitung für mein Anliegen hilfreich ist.
Dafür bin ich sehr dankbar.
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Ein neues Jahr - ein weißes Blatt - Predigt zu Lk 4,16-21 von Elke Markmann
Liebe Gemeinde,
ein neues Jahr hat begonnen. Ich finde, es hat etwas von einem leeren Blatt Papier. – ein leeres Blatt Papier hochhalten
Zwar weiß ich schon viele Termine für die kommenden Tage und Wochen. Aber vieles ist auch noch offen. Ob das, was im letzten Jahr schwierig war, nun leichter wird? Gestern habe ich zurück geblickt, habe das vergangene Jahr noch einmal bedacht. Dabei habe ich viel Schlimmes und viele schlechte Nachrichten gefunden: der Krieg in der Ukraine, die gestiegenen Preise für Energie und Lebensmittel, für Miete und überhaupt alles. Das Jahr hatte immer noch viele Einschränkungen durch Corona – und auch ich selbst hatte diese Krankheit schließlich. Bei eigentlich mildem Verlauf leide ich auch Monate später immer noch unter Nachwirkungen. Und so stehe ich nun hier und denke: Dieses neue Jahr bietet eine neue Chance! Nun wird es anders! Zumindest gebe ich dem neuen Jahr eine neue Chance. Ich will zuversichtlich nach vorn gucken. Ein neues Jahr schenkt neue Möglichkeiten!
Aber: Fängt mein Jahr denn wirklich mit einem leeren Blatt an? Meine Hoffnungen für das, was kommt, hängen an dem, was in der Vergangenheit war. Ich möchte weniger Krieg, weniger Krankheit, weniger Tod, weniger Einschränkung und mehr Freiheit, mehr Fröhlichkeit, mehr Leben. Mehr von dem, was gutes Leben ausmacht. Mehr gutes Leben für alle!
Um etwas zu verbessern, hilft es manchmal, sich zu erinnern. Der Blick zurück auf die Vergangenheit, auf Erkenntnisse und Voraussagen kann manchmal den Blick nach vorn schärfen.
Im Predigttext für den heutigen Gottesdienst im Lukasevangelium wird uns erzählt, wie Jesus zu wirken anfing. Er war im Jordan getauft worden. Der Teufel hatte ihn in Versuchung geführt, Jesus hatte ihm widerstanden. Und nun kam er nach Nazareth, ganz erfüllt von seiner Aufgabe. Es heißt von ihm: Jesus war erfüllt von der Kraft des Geistes. So kehrte er nach Galiläa zurück. Sein Ruf verbreitete sich in der ganzen Gegend. Er lehrte in den Synagogen und alle redeten mit Hochachtung von ihm. (Lk 4, 14-15, Basisbibel)
Predigttext: (Lk 4, 16-21 Bibel in gerechter Sprache)
16Als er nach Nazaret kam, wo er aufgewachsen war, ging er wie immer am Sabbat in die Synagoge und stand auf, um vorzulesen. 17Und es wurde ihm die Buchrolle des Propheten Jesaja gegeben, und als er sie auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben stand: 18»Die Geistkraft der Lebendigen ist auf mir, denn sie hat mich gesalbt, den Armen frohe Botschaft zu bringen. Sie hat mich gesandt, auszurufen: Freilassung den Gefangenen und den Blinden Augenlicht! Gesandt, um die Unterdrückten zu befreien, 19auszurufen ein Gnadenjahr der Lebendigen!« 20Als er die Buchrolle geschlossen hatte, gab er sie dem Diener und setzte sich. Die Augen aller Menschen in der Synagoge waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet. 21Und er begann zu ihnen zu reden: »Heute hat sich diese Schrift in euren Ohren erfüllt.«
Jesaja ist für Jesus aktuell: Das Gnadenjahr beginnt
Jesus beginnt zu lehren. Aber er fängt nicht bei Null an. Vielmehr liest er in der Synagoge in den alten Heiligen Schriften. Aufgeschlagen ist eine Textstelle aus dem Buch des Propheten Jesaja. Das, was der Prophet früher gesagt hatte, war für Jesus nun ganz aktuell: „Heute ist diese Stelle in der Heiligen Schrift in eurer Gegenwart in Erfüllung gegangen.“ Bedeutet das nicht, dass jetzt alles anders wird? Jetzt beginnt die neue Zeit. Eine Zeit der Gerechtigkeit. Eine Zeit ohne Leid und Elend. Die Gefangenen sollen frei werden, die Blinden sehend. Die Unterdrückten werden die frohe Botschaft hören.
Denn nun beginnt das Gnadenjahr Gottes, der Lebendigen. Gottes Gnade bedeutet, dass Gott sich uns zuwendet. Gott gibt das, was uns fehlt. Ein neuer Anfang beginnt jetzt. Das sah Jesus nun vor sich. Alles wird neu. Alles fängt neu an. Und das, was in den Heiligen Schriften steht, wird jetzt wahr: Alles, was lähmt, fällt von den Lahmen ab. Alles, was den Blick trübt oder das Erkennen verhindert, wird überwunden. Es wird möglich zu sehen und zu erkennen. Die Armen und Gefangenen werden eine gute Zukunft haben.
Spannend, dass Jesus dies gleich zu Beginn seines Wirkens so überzeugt weiß und verkündet. Im Lukasevangelium wird Jesus von Beginn an als Gottes Sohn, als von Gott bevollmächtigt vorgestellt. Jesus kennt seine Macht und seine Kraft. Er weiß, dass er selbst Gottes Sohn ist und welche Aufgabe er hat. Er weiß, dass mit ihm Gott selbst auf die Welt gekommen ist. Jesus weiß, dass Gott nun mitten in der menschlichen Gesellschaft wirkt. Nun beginnt Jesu öffentliches Auftreten. Jetzt beginnt eine neue Zeitrechnung. Jetzt ist Gott Mensch geworden. Jetzt kommt Gottes Gnade zu den Menschen.
„Heute hat sich diese Schrift in euren Ohren erfüllt!“
Ich ahne, was Jesus damit sagen möchte. Er spricht von Gottes Gnade. Er spricht von dem, was noch nicht ist. Er zitiert Jesaja: Freilassung den Gefangenen und den Blinden Augenlicht! Gesandt, um die Unterdrückten zu befreien, auszurufen ein Gnadenjahr der Lebendigen! Das ist genau genommen immer noch Traum. Das war auch zu Jesu Zeiten schon Traum. Deshalb streiten sich ja die Umstehenden darum, was es bedeutet. Gehen wir einmal davon aus, dass das keine frommen Wünsche sind, sondern Träume und Visionen, die Kraft geben.
Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer. Dieser Satz von Antoine St. Exupery schreibt von der Sehnsucht. Die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer lässt mich mit Leichtigkeit erkennen, wie ich ein Schiff bauen muss. Übertragen auf die alten Worte des Propheten Jesaja bedeutet das: Die Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit hilft den Unterdrückten aus der Unterdrückung heraus.
Konkret kann das heißen, dass Menschen in einem Unrechtssystem sich nicht mehr den Mund verbieten lassen, sondern sich öffentlich auf die Straßen stellen und ihre Meinung sagen. Sie sehnen sich nach Meinungsfreiheit.
Es kann heißen, dass Opfer von Gewalt sich gegen die Täter zur Wehr setzen. Die Sehnsucht nach einem Leben ohne Gewalt und Unterdrückung verleiht die Kraft zu entkommen.
In den letzten Monaten habe ich mich oft darüber gewundert, mit welcher Überzeugung und Ausdauer die Menschen in der Ukraine sich gegen den Angriff aus Russland wehren. Sie sind überzeugt: „Wir sind ein freies Land und lassen uns nicht unterdrücken!“ Die Sehnsucht nach einem freien demokratischen Leben schenkt Kraft.
Lasst uns auch heute hier für uns die Sehnsucht stärken:
Jetzt kann alles eine neue Chance bekommen. Jetzt kann ich Vergangenes und Belastendes vergessen und mich auf die gute Zukunft konzentrieren, auf das gute Leben für alle. Blicken wir optimistisch und zuversichtlich in die Zukunft! Dieses neue Jahr ist wie ein leeres Blatt. Es wartet darauf, dass schöne Geschichten darauf erzählt werden. Das weiße leere Blatt bietet Platz für so viel Gutes!
Ich freue mich auf schöne Geschichten auf unseren weißen Blättern.
Ich freue mich auf die Geschichten, die unsere ukrainischen Nachbarn erzählen werden, wenn sie in der Heimat sind: Sie werden davon erzählen, wie sie alles wieder aufbauen. Und sie werden uns einladen, dass wir sie zu Hause besuchen und sie uns Gastgeberinnen sind.
Ich freue mich auf die Geschichte, die die Frau erzählen wird, die ihren gewalttätigen Mann verlassen hat und nun mit ihren Kindern friedlich und fröhlich lebt. Sie wird ihre Freundinnen einladen und mit ihnen ein Frühlingsfest feiern.
Wer gestern das vergangene Jahr noch einmal in Gedanken betrachtete, kann heute ein leeres weißes Blatt nehmen. Es wird ein Jahr voller Gnade. Es wird ein Jahr mit vielen neuen Möglichkeiten. Es wird ein Jahr, in dem sich erfüllen wird, wonach wir uns sehnen. Wie das wird, wissen wir noch nicht. Darum ist das Blatt weiß. Wir füllen es nicht mit unseren Erwartungen, Plänen und Hoffnungen, sondern lassen Raum und Platz für Geschichten.
Wie uns die Alten sungen! Wie wir nicht erst von Jesus, sondern schon von Jesaja wissen: Gottes Gnade ist bei uns.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Am Neujahrstag ist dieser Gottesdienst der einzige, gemeinsame Gottesdienst für die vier Kirchengemeinden in der Stadt – ein zentraler Segensgottesdienst. Ich gehe davon aus, dass Menschen aus allen Gemeinden kommen, die sich bewusst auf den Weg machen. Der erste Gottesdienst im neuen Jahr ist in unserer Region als Segensgottesdienst seit Jahren bekannt und beliebt, um sich stärken zu lassen für das neue Jahr. Ich sehe konkrete Frauen aus allen Gemeinden, Menschen aus den Kerngemeinden und aus der Stadtgesellschaft.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Vorstellung eines Gnadenjahres der Lebendigen finde ich ein sehr starkes Bild. Ein Jahr voller Gnade, voller liebevoller Zuneigung und Zuwendung Gottes zu uns bzw. zu denen, die Gottes Gnade brauchen. Ein Gnadenjahr ist in meiner Vorstellung ein Jahr, in dem ich Gottes Nähe immer spüre und in dem für alle gutes Leben wirklich wird. Davon träume ich, das beflügelt mich.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Macht und Stärke von Sehnsuchtsbildern und inneren Überzeugungen ist nicht zu unterschätzen. Jesus beginnt im Lukasevangelium mit einer starken inneren Haltung und Überzeugung, dass mit ihm die alten prophetischen Schriften erfüllt werden. Da begegnet mir keine vornehme Zurückhaltung oder Bescheidenheit, sondern volle Überzeugung und tiefes Wissen darum, dass sich JETZT alles ändert.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Geschichte von St Exupery war zunächst nur ein einzelner Gedankensplitter – und wurde für mich zum zentralen Bild neben dem leeren weißen Blatt: die Fragen nach Sehnsuchts-Geschichten auf dem weißen Blatt für das neue Jahr.
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Unwahrscheinlich wundervoll - Predigt zu Lk 2,1-20 von Dörte Gebhard
Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das judäische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war, auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.
Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.
Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen gen Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über die Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war. (Lk 2, 1-20, ML)
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde!
1. Unwahrscheinlich.
Unwahrscheinlich.
Ganz unwahrscheinlich.
Die Geschichte ist völlig unwahrscheinlich.
Die Säuglingssterblichkeit war vor 2000 Jahren unvorstellbar hoch. Dass ein Neugeborenes überlebte, war alles andere als selbstverständlich. Dass ein Baby in so unhygienischen Zuständen durchkam, war mehr als unwahrscheinlich. Es geschah gegen jede Statistik, wenn es schon eine gegeben hätte. Da fangen die Wunder an.
Außerdem kann ich es mir einfach nicht verkneifen: Es war doch auch unwahrscheinlich unüberlegt, sogar richtig dumm, so kurz vor dem Geburtstermin zu einem strapaziösen Fußmarsch aufzubrechen. 150 km. Dass die zwei einen Esel bei sich hatten, ist historisch ziemlich unwahrscheinlich. Lukas schreibt auch nichts davon. Den Esel rückten erst später die Künstler ins Bild. Gewissermaßen als nachträgliche, gute Wünsche. Wäre doch schön gewesen, wenn sie einen gehabt hätten.
Und: Hatten sie eigentlich keine Verwandten, die kurz vor dem Geburtstermin von fünf langen Tagesetappen zu Fuß abrieten? Es gibt doch sonst in jeder Familie so eine besorgte Mutter oder Tante, die regelmäßig ruft: «Lasst das! Bloß nicht! Wo denkt Ihr hin!?» Aber das Wunder geht weiter. Die beiden schaffen es irgendwie. Sie kommen tatsächlich in Bethlehem an. Gerade noch rechtzeitig.
Ebenso unwahrscheinlich ist außerdem die Mitteilung, dass wirklich jedermann ging, dass er sich schätzen ließe. Manche hatten wohl gar nichts, was sie hätten versteuern können. Von den Reicheren werden sich kaum alle wegen der Steuern auf den Weg gemacht haben und solche Strapazen auf sich genommen haben. Das Steueraufkommen lag und liegt nie bei 100%! Da können noch so viele Gebote und Strafandrohungen ausgehen.
Auch für die Hirten war es unwahrscheinlich aufregend, wie ihr Nachtschlaf und ihre Nachtwache diesmal unterbrochen wurde: von Engelswort und Engelschor. Einmal nicht von wilden Tieren oder Kälte, weil das Feuer erloschen war, nicht von einem vor Schmerz blökenden Schaf oder sich leise anschleichenden Dieben. Damit hätten sie gerechnet.
Auch alle, die bald darauf vom Besuch der Hirten hörten, fanden es unwahrscheinlich sonderbar. Es heißt jedenfalls, sie wunderten sich über die Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten.
Die ganze Geschichte ist also unwahrscheinlich.
Unwahrscheinlich ... wundervoll.
2. Anders!
Deshalb erzählen wir sie von Jahr zu Jahr, von Generation zu Generation, von Zeitalter zu Zeitalter. Weil es ganz anders kommt, als man zu denken gewöhnt ist.
Wenn ich sie höre, werden meine sonstigen Prognosen und Erwartungen durcheinandergebracht. Die Geschichte von Jesu Geburt befreit von allem, was man leider immer schon kommen sieht. Sie überholt die Vorhersagen und Hochrechnungen der Experten. Sie steht quer zu allem, was sonst sehr wahrscheinlich ist.
Ich spüre:
Es kommt anders, als ich denke.
Ich werde zuversichtlicher:
Es kommt ganz anders, als die meisten immer meinen.
Es kommt vor allem anders, als die Influencer uns einflüstern.
Tatsächlich! Es wird sehr anders kommen, wenn alle mitdenken!
Zuerst geht es um Kaiser Augustus, den großen, römischen Imperator. Er hat sich sicher viel ausgemalt, manche Widersacher auch gefürchtet. Aber es ist unwahrscheinlich, dass er sich auch nur annähernd vorstellen konnte, so berühmt zu werden. Berühmt für bisher alle Zeiten.
Aber eben nur besonders berühmt, weil er als Nebenfigur in der Lebensgeschichte eines Größeren vorkommt. Der Kaiser ist nur noch nebensächlich.
Wie es wohl heutigen Diktatoren ginge, wenn sie das realisierten? Christinnen und Christen haben die berechtigte Hoffnung, dass sie einmal nur noch als Randfiguren in der größeren Geschichte Gottes vorkommen.
Dann hören wir von Quirinius, dem damals zuständigen Statthalter. Er hat bestimmt seinerseits auch auf etwas bleibenden Ruhm spekuliert. Aber es ist total unwahrscheinlich, dass sich hier und jetzt noch irgendjemand an seine Schlachten gegen die Garamanten, einem Berbervolk im heutigen Libyen, und die siegreichen Kämpfe gegen die Homonadenser in Kleinasien erinnert. Dafür wurde er damals ausgezeichnet und geehrt. Dafür bekam er die Triumphalinsignien. Die hatte nicht jeder! Aber ganz gegen jede Erwartung und trotz militärischer Stärke ist auch das Römische Reich einmal untergegangen und mit ihm unzählige Erinnerungen an so viele Kriege und Schlachten. Gott sei Dank! Es kam anders, obwohl die Römer sicher emsig darüber nachdachten, wie es für sie kommen sollte.
Unwahrscheinlich ist darüber hinaus, dass sich Josef und Maria das Chaos und das überfüllte Bethlehem vorstellen konnten, als sie aufbrachen. Wenn sie das vorher gewusst hätten! Wie gut, dass sie nicht wussten, was auf sie zukam. Dass sie nicht ahnten, was bald und dann und später geschehen würde. Dann hätte sie möglicherweise der Mut verlassen. Gott segnete und behütete sie mit großer Unkenntnis über das Künftige.
Wahrscheinlich haben Josef und Maria fest damit gerechnet, dass sie eine bescheidene Unterkunft finden. Aber es kam bei ihnen anders, bevor sie daran denken konnten, was aus ihrer Zukunft werden sollte. Vielleicht hatten die beiden noch nicht mal einen Plan.
Unwahrscheinlich ist auch eine Geschichte, in der verachtete Hirten wichtiger sind als angesehene Herrscher.
3. Ängstlich?
Es kommt in der Heiligen Nacht anders, damit ich denke.
Es kommt Anderes und ein ganz Anderer, damit ich frei werde von den vielen Erwartungen, die ich mir selbst bastle und aufbürde, die ich mir selbst in den Weg lege, die sich dann oft auch erfüllen. Englisch nennt man es «self-fulfilling prophecy». Eine selbsterfüllende Prophezeiung ist eine Vorhersage, die ihre Erfüllung selbst befördert und bewirkt. Wenn ich mir ausmale, dass es nichts wird, dann wird auch sicher nichts daraus. Weil ich es gar nicht erst versuche. Wenn ich gar nicht erst anfange, ist es kein Wunder, wenn es nichts wird.
Wenn ich aber neben allen anderen Projekten auch noch zu ungewöhnlichen Spenden für unsere Partnergemeinde in Berehove/Westukraine aufrufe und in der Vorweihnachtszeit um «hässliche» Kerzen mit warmem Licht bitte – gegen Stromausfall und Kälte ... Wenn ich nach brach liegenden Skianzügen, Wolldecken und Strickmützen frage, dann komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus, was innerhalb weniger Tage zusammenkommt. Unsere Sekretärin fand noch knapp an ihren Schreibtisch, so vollgehäuft war das Büro mit Tüten und Taschen!
Wunder wachsen genau dort, wo es «jemanden Wunder nimmt» (wie man in der Schweiz sagt), was wohl passieren wird, wenn man es nur schon versucht.
Erstaunlich viele Menschen haben es immer wieder geschafft, von ihren selbstgemachten Voraussichten Abschied zu nehmen. Davon wird die Zukunft nicht leichter, aber es entsteht Raum für Gottes unwahrscheinliches Wirken, sei es so unscheinbar wie damals in Bethlehem oder so spektakulär wie damals in Bethlehem.
Aber wohin führt das heute Nacht?
In die Weite, in die Zukunft, zuletzt zu Gott.
Wir haben im 21. Jahrhundert und hierzulande nicht nur die Möglichkeit, uns von Künftigem überraschen zu lassen. Wir haben sogar ein Recht auf Unwissenheit – vor allem in medizinischen Fragen. Niemand kann gezwungen werden, sich z.B. genetisch untersuchen zu lassen, nur um dann von aktuell unheilbaren Krankheiten zu erfahren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ihn zukommen, wenn er nicht jung stirbt.
Wir dürfen überhaupt leben, ohne das Ende kennen zu müssen.
Wir dürfen sein, ohne die Wahrscheinlichkeiten von Leid und Schmerzen wissen zu müssen.
Liebe Gemeinde!
Das Unwahrscheinliche an der alten Geschichte ist jedoch noch lange nicht zu Ende:
Nicht über den Herrschern, die sich hartnäckig einbilden, über die Zukunft zu bestimmen, sondern über den Hirten tut sich der Himmel auf.
Als aber alles unwahrscheinlich offen war, bekamen sie wohl auch Angst. Ich hätte mich gefürchtet, ich spüre es genau. Daher wird den Hirten zuerst und schon von weitem zugerufen: Fürchtet euch nicht!
Gott weiß, wie schnell wir Menschen uns ängstigen, wenn wir erfahren, dass es anders kommt, als wir denken.
4. Friedlich ...
Was ist aber zuletzt das Unwahrscheinlichste an der Geschichte von Jesu Geburt?
Der Frieden.
Der Frieden, der als großes Zeichen in die Weltgeschichte einzog.
Der Frieden wurde auf die Erde gesungen. Nur für einen einzigen Augenblick. Das stimmt. Aber seither ist er nicht wieder vergessen worden.
Er wurde überliefert, wie alles Besondere, Unwahrscheinliche aufgezeichnet, bewahrt und weitergegeben wird. Ehre sei Gott in der Höhe, nur schon dafür!
Der Frieden war damals so unwahrscheinlich wie zu Weihnachten 2022.
Aber er herrscht:
Maria und Josef streiten sich nicht, trennen sich nicht, sie halten zusammen.
Maria wickelt ihr Kind in Windeln und findet einen Platz für ihr Kind, wo eigentlich nichts ist außer Rindvieh und Eseln, Stroh und Gestank. Niemand hat ihr diesen Lifehack gezeigt, aber sie legt ihr Kind in die Futterkrippe. Andere hätten vor lauter Ekel den Stall gar nicht erst betreten.
Der Frieden breitet sich aus:
Die Hirten mögen mehr oder weniger furchtsam und feige gewesen sein – von Gottes offenem Himmel angesteckt wagen sie sich ins Ungewisse. Sie brechen auf und finden den Weg und das Ziel.
Die Hirten, die Wildfremden, werden dann tatsächlich hereingelassen. Sie bleiben nicht außen vor. Sie sind mittendrin und dabei.
Auf den Ämtern und Behörden hieße das zu den gegenwärtigen Sprechzeiten: «Sie sind integriert». Was noch viel schöner ist: Sie integrieren hernach noch andere, erzählen von ihren Erfahrungen, nehmen andere mit in diese unwahrscheinliche Geschichte hinein.
Sind es viele, die auf Gottes Frieden hoffen? Ich weiß es nicht, aber ich bin dabei: Ich hoffe auf diesen Frieden, der nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist, trotz allem, was mich in Angst und Schrecken versetzt.
Lassen wir uns alle von Gott segnen und behüten – mit großer Unkenntnis über unsere Zukunft. Lassen wir uns überraschen. Ich übe, mit allem zu rechnen, sogar mit dem Guten.
Ich will mein Vertrauen in das Unwahrscheinliche wachsen lassen. Es kommt vor, so oft wie in der Weihnachtsgeschichte und vor allem öfter, als ich denke.
Wirklich?
Ganz bestimmt!
Die Geschichte ist nicht nur wahr-scheinlich. Sie wird wahr.
Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Zur Christvesper kommen die einen, die oft und meistens kommen, und die anderen, die nur einmal oder dreimal im Jahr kommen. Sie alle gehören dazu und nehmen das Fest ernst. Die Weihnachtsgeschichte ist den meisten mehr oder weniger vertraut, manchen zu vertraut, falls es das gibt. Daher soll ein neues Licht auf die alte, unwahrscheinliche Geschichte scheinen. Die Adventszeit war von einer großen Sammelaktion für unsere Partnergemeinde in Berehove/Ukraine geprägt; es wurde unwahrscheinlich(!) viel gespendet an Geld und Dingen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der in den Weiten des Internets „auf-gelesene Spruch“ „Es kommt anders, wenn man denkt.“ bildete die zündende Idee für die Predigt, gab Anlass zu Wortspielereien, nicht nur einmal. Dazu kam der Gedanke, wie unwahrscheinlich alles ist, was von Maria und Josef und allen erzählt wird, weil es bei der Kriegsberichterstattung täglich heißt: „Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden.“ Das gilt auch für die lukanische Weihnachtsgeschichte, aber das Zitat aus der Kriegsberichterstattung habe ich mit voller Absicht vermieden.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Mir bleibt die Predigt erstens, weil ich in unserem Team nur jedes vierte Jahr „dran“ bin. Den größten Trost in unfriedlichen Zeiten ziehe ich aus der Beobachtung, dass die großen Herrscher und Despoten (Augustus, Quirinius), ihre Schlachten und ihre Beiträge zu Hass, Rache, Vergeltung und Gewalt fast vergessen sind, Jesus Christus und seine friedenverbreitende Art aber nicht.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Abschließend hat die Predigt eine klarere Struktur erhalten, u.a. gegeben durch Unterüberschriften. Sie ist etwas länger geworden, wird aber von mir spontan gekürzt werden, wenn die Umstände (z.B. die Musik) es erfordern. Predigerin und hörende Gemeinde sind müder als am Sonntagmorgen.
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Gott steht uns bei und eröffnet immer wieder neue Wege - Predigt zu Lk 18,1-8 von Rainer Stahl
Liebe Leserinnen und Leser! / Liebe Schwestern und Brüder!
1 Er sagte ihnen aber ein Gleichnis davon, dass man allezeit beten und nicht nachlassen sollte,
2a und sprach:
2b »Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen.
3a Es war aber eine Witwe in derselben Stadt,
3b die kam immer wieder zu ihm und sprach:
3c ‘Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher / gegen meinen Gegner!’
4a Und er wollte lange nicht.
4b1 Danach aber dachte er bei sich selbst:
4b2 ‘Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue,
5a will ich doch dieser Witwe, weil sie mir so viel Mühe macht, Recht schaffen,
5b damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage / mir ein blaues Auge schlage.’«
6a Da sprach der Herr:
6b »Hört, was der ungerechte Richter sagt! / :
7a ‘Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen,
7b und sollte er bei ihnen lange warten / und wird er es mit ihnen hinausziehen?’
8a Ich sage euch:
8b Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze.
8c Doch / Bloß – wenn der Menschensohn kommen wird, wird er dann Glauben / Beharrlichkeit / Treue finden auf Erden?«“
Etwas Ungeklärtes in diesem Gleichnis war es, das mir den Anstoß dazu gegeben hatte, einen Zugang zum Verstehen zu gewinnen: Es wird nicht offengelegt, wer der Widersacher, wer der Gegner gewesen sein mag und warum er Widersacher, Gegner dieser Witwe geworden war (vgl. Vers 3c). So nehme ich mir die Freiheit, mir einen Fall vorzustellen: Die Witwe hat einen Verwandten, der ihr das Erbe des gestorbenen Ehemannes wegnehmen will, der glaubt, selber Ansprüche zu besitzen – und dies durchaus auf verschiedenen Wegen oder mit verschiedenem Verhalten ihr gegenüber:
+ Ihr Schwager, der ihr die Ehe anbietet, um so seinem verstorbenen Bruder doch noch Nachkommen zu schenken. – Allerdings wird in der neutestamentlichen Geschichte nicht erwähnt, dass die Witwe kinderlos geblieben war. Das imaginiere ich einfach, weil sie ja keinen Sohn um Hilfe bittet, sondern immer wieder diesen Richter aufsucht.
+ Ihr Schwager, der vorgibt, ihr auf diesem Wege das weitere Leben zu sichern. – Hätte sie ihn dann aber als Widersacher wahrgenommen? Es musste also noch mehr „im Raum“ gewesen sein.
+ Ihr Schwager, der auf diesem Wege Verantwortung für das Erbe seines Bruders oder auch einfach Zugriff auf dieses Erbe gewinnen will. – In diesem Fall hatte er sich ohne Zweifel als ihr Gegner erwiesen.
Jetzt will ich nicht auf die verschiedenen Dimensionen der für uns äußerst gewöhnungsbedürftigen Bestimmung der Leviratsehe, der Schwagerehe eingehen. Ich zitiere einfach die grundlegende Festlegung im Buch Deuteronomium / in 5. Mose 25:
5a1 „Wenn Brüder beieinander wohnen und einer stirbt ohne Söhne,
5a2 so soll die Frau des Verstorbenen nicht die Frau eines Mannes aus einer anderen Sippe werden,
5b1 sondern ihr Schwager soll zu ihr gehen
5b2 und sie zur Frau nehmen und mit ihr die Schwagerehe schließen.
6a1 Und der erste Sohn, den sie gebiert,
6a2 soll gelten als der Sohn seines verstorbenen Bruders,
6b dass dessen Name nicht ausgetilgt werde aus Israel.“
Direkt danach wird im Buch Deuteronomium / in 5. Mose 25 allerdings der wohl viel häufigere Fall behandelt, dass der Schwager nämlich nicht bereit ist, sich in der beschriebenen Weise für seinen verstorbenen Bruder einzusetzen. Deshalb geht dort die vorgestellte die Schwägerin, die Witwe zum Gericht im Tor und klagt ihren Schwager an:
7b1 „Mein Schwager weigert sich, seinem Bruder seinen Namen zu erhalten in Israel,
7b2 und will mich nicht ehelichen.“
Jetzt – so finde ich – wird unsere Gleichnis-Situation schon ein Stück weit lebendiger:
Der Schwager der Witwe im Lukasevangelium weigert sich gerade nicht, sondern er greift nach seiner Schwägerin und hat sich so als Widersacher, als Gegner erwiesen: Er will sie als Witwe im System der Abhängigkeit und Zugehörigkeit festhalten. Diese aber wehrt sich. Sie will selbstständig bleiben. Sie will den Betrieb des Mannes selber weiterführen. Sie repräsentiert die neue Zeit, nach der auch Frauen eigenständig wirken, das Erbe selbstständig weiterführen können. Ich habe einmal einen interessanten Satz gefunden: „Rechtsmündig ist die F.(rau) erst als Mutter und als Witwe.“
Wir erkennen: Die Witwe kämpft für ihr Recht, auf eigenen Füßen zu stehen. Deshalb bedrängt sie den Richter ihrer Stadt! Und dieser Richter beschließt letztlich, gegen das traditionelle Recht neuen Gesichtspunkten und Entscheidungsmöglichkeiten den Durchbruch zu ermöglichen! Aber er tut dies nicht als Überzeugter, sondern nur als Bedrängter. Er will seine Ruhe haben vor dieser ihn störenden und bedrängenden Frau:
5b „»‘[…] damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage / mir ein blaues Auge schlage’«“ – wie das griechische Wort eigentlich heißt!
Erst jetzt erfasse ich wirklich, was Jesus aus Nazareth – ich darf festhalten, dass dieses nur im Lukasevangelium erhaltene Gleichnis wirklich auf Jesus zurückgeht – seinen Zuhörerinnen und Zuhörern und auch uns zumutet:
Wir sollen an Gott festhalten, ihn mit unseren Gebeten bedrängen, selbst wenn wir gelegentlich das Gefühl haben, dass Gott uns gegenüber wie ein nur selbstinteressierter Richter handeln würde. Und wir sollen ihm gegenüber wie eine verzweifelte und ganz von ihren Problemen, Sorgen und Wünschen erfüllte Witwe auftreten. Dazu sollen wir unseren Mut aufbringen! Denn, wenn wir bei solchem beharrlichen Gebet bleiben – mit Gott können wir ja nur durch unser Gebet kommunizieren (!) –, klammern wir uns an unsere Überzeugung, dass Gott uns Gutes will, dass Gott uns gegenüber aufrichtig ist!
Bei solchem Beten wirken sich sicher auch unsere charakterlichen Voraussetzungen aus. Aber, wenn es wirklich um die Existenz geht, dann werden wir alle doch auch unsere Wohlanständigkeiten fallen lassen und für uns mit Gott wirklich ringen. Christus sagt uns dazu: Ja, das dürfen wir:
7a „»‘Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen?’«“
Ich erspüre hier einen Verstehensweg unserer jüdischen Nachbarn, den auf alle Fälle schon Lukas etwa im Jahr 73 verfolgt hatte: den Schluss vom Kleinen zum Großen. Was also gegenüber dem ungerechten Richter sinnvoll ist, das ist umso sinnvoller gegenüber Gott, gegenüber dem, der unser Leben und unser Wohlergehen will:
8a „»Ich sage euch:
8b ‘Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze.’«“
Denn Gott ist nicht einfach der Sachwalter der Tradition, des Herkommens, sondern der Förderer auch von neuen Lebensmöglichkeiten, derjenige, der uns ganz Unerwartetes möglich machen kann, vielleicht uns in unserem Leben – in Ihrem Leben wie in meinem Leben – schon möglich gemacht hatte:
Als ich auf dem Weg zur erfolgreichen Promotion B war – wie das damals in der DDR hieß (in Westdeutschland wäre das die Habilitation gewesen) –, musste ich erkennen, dass trotzdem nicht vorgesehen wurde, dass ich an der Universität Jena bleiben konnte. Warum? Weil ich neben meiner Arbeit an der Universität auf das Zweite Examen, auf das Examen der Kirche und auf die Ordination zuging. Natürlich erfuhr ich diesen Grund erst nach den politischen Veränderungen: Dass deshalb damals die Partei an der Universität, die SED, entschieden hatte, dass ich zu gehen habe, mir aber diese Promotion B nicht verweigert wurde. Aber meine Kirche schickte mich zu einem gut zweijährigen Einsatz in die Zentrale des Lutherischen Weltbundes in Genf! Und der Staat genehmigte mir diesen Auslandseinsatz! Hatte nicht damals Gott mir den für mich beinahe selbstverständlich wirkenden Weg verbaut? Und dann im Unterschied dazu mir unerwartet neue Möglichkeiten eröffnet?
Für unsere Geschichte heißt das: Gott ist derjenige, der die Lebenschancen der verwitweten Schwägerin zu tolerieren und ihr die ersehnte Zukunft zu eröffnen bereit ist, so dass sich diese Witwe auf diesem Wege weiterhin selbständig der Geschäfte ihres verstorbenen Mannes annehmen kann.
An diesem Punkt meines Erkennens habe ich darüber gegrübelt, welche moderne Herausforderung dem entsprechen könnte, was damals – vielleicht im Jahr 29 bei Jesus und eben im Jahr 73 bei Lukas – gemeint gewesen war. Da trat vor mein inneres Auge die Bewegung „#MeToo“ / „auch ich“, oder in Russisch: „#Ятоже“ [„Ja-tosche“] / „ich auch“, oder in Hebräisch: „גםאנחנו#“ [„gam-’anachnu“] / „auch wir“! Zu der es sogar die Bewegung „#HowIWillChange“ / „wie ich mich ändern will“ gibt! Diese Bewegungen legen mir die Frage vor die Füße, wie wir aufstrebende junge Menschen fördern. Erfolgreiche junge Männer und junge Frauen.
Wenn wir in unserem Leben in einer Beziehung zu Gott bleiben wollen – sei sie auch noch so schwach –: Dann wirklich selbstlos! Ohne selbstsüchtige Erwartungen – egal auf welchem Gebiet. Ich bin ein Mann. Aber ich kann sagen, dass ich immer selbstlos gefördert wurde und selber andere selbstlos zu fördern versucht habe. Damit wurden meine Lehrerinnen und Lehrer und ich mit Blick auf andere, zum Beispiel auf Studentinnen und Studenten, nicht unbedingt zu Gerechten. Aber: Wir wurden zu Menschen, die anderen immer klar in die Augen sehen konnten. Zu Menschen, denen andere nie „ein blaues Auge geschlagen“ hätten.
Gerade vor dem Hintergrund der „#MeToo“-Bewegung werden wir doch darauf aufmerksam, wie viele Menschen sich als selbstlose Förderinnen und Förderer verhalten! Auch wir, auch ich!
Darauf hebt die überraschend wirkende letzte Frage ab:
8c „»‘Doch / Bloß – wenn der Menschensohn kommen wird, wird er dann Glauben / Beharrlichkeit / Treue finden auf Erden?’«“
Diese drei Facetten des Wortes „Glauben“ zeigen mir drei Dimensionen der Zusage, die uns unser Bibelwort anbietet:
Zuerst Glaube, Vertrauen, dass das eigene Leben von Gott bewahrt bleiben wird. Gegen alle Unsicherheiten unserer gegenwärtigen Zeit können wir Gott weiter vertrauen – und wenn wir Menschen neben uns haben, die für uns Verantwortung aufbringen, auch ihnen vertrauen.
Dann Beharrlichkeit: Gerade auch Beharrlichkeit im Beten. Ich kann nur bezeugen, dass es mir selber hilft, wenn ich meine Erfahrungen und Ängste immer wieder im Gebet Gott gegenüber ausspreche! Lassen auch Sie sich auf diese Erfahrung ein!
Und schließlich Treue, Dranbleiben am Vertrauen auf Gott: Auch, wenn wir für den als gut erkannten Weg kämpfen müssen. Auch, wenn wir anderen Lebensmöglichkeiten gewähren, ihnen anbieten, ihnen nie wegnehmen. Also, dass ich offen dafür bleibe, dass sich für mich Erhofftes zwar zerschlagen kann, aber Unerwartetes zu einem Weg für mich werden kann!
Ist das nicht ein großes Angebot für uns? Ja, es ist das Angebot dieser Woche für jede und jeden von uns.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Mir stehen Lebensschicksale vor Augen, die zu grundlegenden Veränderungen geführt haben und dabei Enttäuschungen und bleibende Verletzungen, aber auch Bestärkung von Hoffnung und Lebensfreude bewirkt haben.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der entscheidende Punkt war für mich der Versuch, die im Text angedeutete Problemlage konkret imaginieren zu können: Widersacher, Gegner interpretiert als Gegenüber, der die Witwe in der traditionellen Abhängigkeit festhalten will (und dabei natürlich auch gewisse Bewahrung realisieren würde).
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass ich versuche, auch weiterhin angesichts von Krisen in meinem Leben das Vertrauen, den Glauben, die Beharrlichkeit, die Glaubenstreue gegenüber Gott durchzuhalten.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
In der abschließenden Bearbeitung habe ich die guten Rückfragen und Hinweise meines Coaches und auch noch selber Gedanken aufnehmen können, die den Text klarer gemacht haben.
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Wie finde ich Gott? - Predigt zu Lk 17,20-21 von Monika Lehmann-Etzelmüller
I Text
Als Jesus aber von den Pharisäern gefragt wurde: wann kommt das Reich Gottes? da antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten kann. Man wird auch nicht sagen: Siehe hier! oder: Siehe dort! Denn siehe, das Reich Gottes ist in eurer Mitte.
II Hauptfrage
Wo ist Gott?
Uralt ist die Frage, die über der Szene steht. Wie verwitterter Stein, aus Nacht und Himmel, aus Erinnerung und Zukunft, aus Zweifel und Erde geformt. Wo ist Gott? Eine Frage mit vielen Geschwistern. Wo ist Gott? Woran merke ich, dass er da ist? Wie finde ich sie? Kommt Gott zu uns, gerade jetzt, da wir Gotteszuversicht und Gottesmut brauchen in schwieriger Zeit? Wie kann ich die Zeichen entziffern, die Schrift lesen, wie kann ich spüren, dass er nahe ist? Bist Du da, Gott? Ich habe so lange auf dich gewartet.
III Jesus antwortet als Pharisäischer Weisheitslehrer
Es sind die Pharisäer, die so fragen. Und sie sind es, an die Jesus zuallererst die Antwort richtet. Ihnen, also den Pharisäern, sagt er: Das Reich Gottes ist in eurer Mitte. Das überrascht mich. In den Evangelien kommen die Pharisäer nicht gut weg. In vielen Geschichten erleben wir sie als welche, die Jesus aufs Glatteis führen wollen, ihn missverstehen und schlecht machen. Doch hier hören wir einer Diskussion auf Augenhöhe zu. Die Pharisäer legen Jesus eine Frage vor, die in der jüdischen Theologie bis heute zentral ist: Wann kommt Gott? Wie lange müssen wir noch warten? Jesus stellt sich unbefangen und ganz und gar hinein in dieses Nachdenken. In dieser Szene zeigt Jesus sich als einer der Weisen und Lehrer Israels, deren Schule bis heute das Judentum prägt. Jesus spricht als einer von ihnen. Er ist Jude. Seine Jünger sind Juden. Nur so ist zu verstehen, was Jesus sagt. Das Reich Gottes ist in eurer Mitte, sagt er. Wer wissen will, wer Gott ist, soll euch hören und auf euch sehen.
IV Eine altbekannte Erkenntnis neu ins Licht stellen: Jesus ist Jude
Das klingt so selbstverständlich. Haben wir ja schon oft gepredigt und oft gehört. Tatsächlich erleben wir, wie die Abgrenzung in unserer christlich geprägten Gesellschaft von Jüdinnen und Juden zunimmt. Der Antisemitismus nimmt zu in einem Maß, das sich vor Jahren niemand hätte vorstellen wollen. Der Mannheimer Sohn Xavier Naidoo relativiert den Holocaust und spricht in Reichsbürgerrhetorik, Kayne West bedient krude Theorien einer jüdischen Weltverschwörung. Auf Kundgebungen der AfD werden ungeniert nationalsozialistische Symbole vorgezeigt. Das hatten wir schon mal und es möge nie mehr zurückkehren. Darum ist es gerade jetzt so bedeutsam, eine altbekannte Erkenntnis ganz neu ins Licht zu stellen: Jesus ist Jude. Was Jesus sagt, ist gewoben aus den uralten Hoffnungsfäden, dem Lichtleinen und den Trotzliedern Israels. Wer nach einem Kompass sucht, kann es halten wie die Pharisäer, die vor Jesus stehen: nämlich fragen, die Juden selbst fragen, was sie hoffen, was sie brauchen und wie sie leben auch in unserem Land. Was sein muss, dass sie bleiben können.
V Das Reich Gottes ist inmitten der Gemeinde, trotz allen Versagens
Das Reich Gottes ist in eurer Mitte.
Mir sind zuerst die Pharisäer ins Auge gefallen. Jetzt lasse ich den Blick weiter wandern. Da stehen ja auch noch die Jünger. Wie werden sie die Worte Jesu wohl gehört haben: Das Reich Gottes ist in eurer Mitte, mitten in eurer Gemeinschaft. Kann das sein? Würden wir das über uns selbst sagen, über unsere Gemeinde, unsere Kirche, dass das Reich Gottes da ist, erlebbar, spürbar in unserer Mitte? Die Kirche ist oft alles andere gewesen als ein Ort, an dem Menschen Gott gefunden haben. Schreckliches geschah in ihrem Namen, das Menschen zerbrochen hat. In der Geschichte und in der Gegenwart, wenn wir z.B. an die Opfer von sexualisierter Gewalt denken, die es auch in unserer Kirche gegeben hat und gibt. Die Jünger selbst haben versagt; sie haben Jesus verraten und im Stich gelassen.
VI Räume öffnen, in denen Gott sein kann, so wie die Jüngerinnen es getan haben
Trotzdem hängt der Satz auch über ihnen. Das Reich Gottes ist in Eurer Mitte. Es ist verborgen und nicht so leicht zu sehen. Es leuchtet auf, wenn Menschen Gottes Willen tun, das Gute und die Liebe. Da war der Mut der Frauen, die bei Jesus geblieben sind. Als er starb und die Welt sich über dem Kreuz verfinstert hat, war es allein ihr Mut, der Gott in der Welt gehalten hat. Ihr Mut war übrig und er hielt stand.
Geht es darum - dass wir als Gemeinde Räume öffnen, in denen Gott und sein Reich sein kann? Ganz buchstäblich Räume mit Wärme für Seele und Haut und Füße in dem Winter, auf den wir zugehen. Oder in den Begegnungscafés, wo jeder kommen kann und jede willkommen ist. Räume aus Gebeten, aus Liedern und Gottes Wort, in denen Trost wachsen kann, Zuversicht und Mut. Räume, in denen wir Frieden leben, in der Gemeinde, in der Nachbarschaft, in der Schule, am Arbeitsplatz und in der Familie.
Gott traut es uns zu. Er traut Menschen, die Sprünge und Risse in ihrem Leben haben. Sie sind die Stellen, durch die das Licht durchdringt. Mit solchen Menschen hat Gott etwas vor.
VII Jesus PLUS: nicht nur Weisheitslehrer, sondern gelebte Gottesgegenwart
Ich habe auf die Pharisäer geschaut. Dann auf die Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger, die bis zu uns reicht. Jetzt schaue ich auf Jesus. Da steht er, in der Mitte, er sagt: Das Reich Gottes ist in eurer Mitte. Auch so kann ich es hören: Das Reich Gottes ist Jesus selbst. In ihm leuchtet es auf, in ihm wird es greifbar, mit ihm bekommt es ein Gesicht. Wer fragt, wo Gott ist; wo kann ich ihn finden; wie wirkt er zwischen uns, der kann auf Jesus schauen. Da ist Gott. Er ist in dem Kind, das geboren wird in einem Land unter fremder Besatzung, ein Flüchtlingskind vom Kindbett an. In dem Wanderprediger, der Menschen neu aufrichtet und Hoffnung lehrt: Auch du bist Gottes Kind, auch du bist willkommen in Gottes Reich. In dem Gekreuzigten, der das Dunkel ganz auf sich nimmt, sich ihm ganz preisgibt, damit wir es nicht sind. In seinen Worten und in seiner Wirksamkeit, in seinem Vertrauen und in seiner Ohnmacht, in seinem Leben und in seinem Tod und in seiner Auferstehung, da ist Gott.
VII In schwieriger Zeit bleibt es, bleibt er, wenngleich rätselhaft
Schemenhaft sehe ich zwischen den Jüngern und Pharisäern noch andere Gesichter. Wie kann ich Gott finden, so fragen auch sie. Wie kann ich Gott wieder spüren, so hat eine junge Frau gefragt. Er kommt mir so fern und schweigsam vor. Fern und schweigsam im Dürresommer, in diesem Jahr, in dem der Krieg uns so nahe gekommen ist und in dem so vieles uns bedrückt. Wo ist Gott in schwieriger Zeit? Wie kann ich ihn wiederfinden? Gottes Reich ist in Eurer Mitte. Martin Luther hat das so übersetzt: Das Reich Gottes ist inwendig in euch. Ihm war wichtig, das heraus zu meißeln: Jeder, jede kann Gott finden, ohne Umwege und ohne Einweihung. Manchmal spüren wir nichts von Gott. Erst im Zurückschauen sehen wir die Spuren. War er die Kraft, die dann doch gereicht hat? War seine Stimme in den Worten der Freundin verborgen, die Trost und Rat wusste? War da nicht sein Wort, das nährte und Kraft gab für lange Zeit: Fürchte Dich nicht. Ich werde bei dir sein. Ich glaube: In der Sehnsucht, dass Gott da ist, ist Gott auch. Gott ist mitten in dem Gefühl, dass er fehlt, mitten in dieser Sehnsucht. Er lässt sich überraschend finden, in der Stille einer leeren Kirche, im Zusammensein mit Lieblingsmenschen, im Klopfen des Regens, in der kalten Klarheit des Herbstmorgens, wenn der Winter sich langsam anschleicht.
VIII Lasst (euch auf) das Reich Gottes ein
Das Reich Gottes ist mitten unter euch.
Es ist in dem Warten Israels.
In ihrer Hoffnung: Gott ist da, wo man ihn einlässt.
Gott lässt es wachsen und leuchten in Räumen, die Menschen öffnen. Räume für andere, für die, denen es kalt geworden ist im Leben, im Herzen und auf der Haut. Raum für Hoffnungstaten und Freundlichkeit, fürs Aussprechen und Angstgestehen, für Trotzlieder und Mutgedanken.
Es legt Spuren in unser Leben, die wir entziffern können. Da war Gott da. Und da auch. Da war er die Brise Rückenwind. Da war er in der Hand auf meiner Schulter. Da war er in dem Wort, das mich satt gemacht hat, das gereicht hat für lange Zeit.
Das Reich Gottes ist da in Jesus. In seinem Angesicht sehen wir das Gesicht Gottes. Wo ist Gott? Er ist da. Gott ist da.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Vor Augen steht mir eine junge Frau, die mich gefragt hat: Wie kann ich Gott wiederfinden? Während der Coronazeit, die sie als einsame Zeit erlebt hat, nach dem Tod ihrer Mutter und mit dem neuen Bewusstsein für Krieg und Gewalt in unserer Welt, schien Gott sich immer weiter zu entfernen. Ist überhaupt etwas von ihm da in unserer Welt? Bei der Predigt in Hohensachsen, einer Gemeinde unseres Kirchenbezirks, werde ich sie in den Reihen suchen. Ob sie da sein wird? Ich glaube, nein, aber ihre Suche nach Gott wird da sein.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Gottes Reich ist in eurer Mitte – die vier Möglichkeiten, diesen Satz zu hören, habe ich bei Gerd Theißen gefunden.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Gemeinde sein bedeutet, Räume zu öffnen, in denen Gott sein kann.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Predigt verdankt ihre Zwischenüberschriften meinem Predigtcoach. Dadurch ist ihre Gliederung viel deutlicher geworden.