»Bleib nicht sitzen« - Predigt zu Lk 12,15-21 von Michael Greßler

»Bleib nicht sitzen« - Predigt zu Lk 12,15-21 von Michael Greßler
12,15-21

Die Gnade unsers Herrn Jesus Christus
und die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
sei mit euch allen.


I. Habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut
Lauter Segen.
Früchte, Brot und Wein am Altar.
Und wir sitzen im Erntedankgottesdienst,
wieder einmal – wieder ein Jahr.
Es ist geschmückt, so, wie es auch nur einmal im Jahr ist:
Mit Blumen. Und mit Liebe.
Erntedank.

Schön, dass wir hier sind.
Erntedank in ……………….
»Liebe Seele … habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut«.

Ja, »liebe Seele, habe nun Ruhe«.
Das ist schön und das find’ ich gut.
Jedes Jahr ein großes Erntedankfest.

Ernte-Dank.
Dank sei allen, die für unsere Nahrung arbeiten.
Auf den Feldern, mit den großen Landmaschinen,
Menschen, die sich Gedanken und Mühe machen,
die arbeiten und ihr Bestes tun.

Und Dank sei Gott: Von dem kommt ja alles.
Unsere Arbeitskraft. Und Sonne und Regen –
zum Glück mal etwas mehr Regen in diesem Jahr.
Gott ist gut und schenkt uns lauter Segen
Rundherum.

Erntedank.
Da sitzen wir – vor uns die Erntegaben.
Und es ist schön so.

Aber dann geht weiter!
Wenn der Gottesdienst zu Ende ist,
dann bleibt nicht sitzen.
Schaut Euch nochmal alles an und freut Euch.
Und dann geht los!

Die Gaben am Altar sind wunderschön.
Aber du kannst nichts mitnehmen.

Darum geh weiter.
Denk nicht, das wars schon.
Häng dich nicht daran.
Es kommt noch etwas.
Es kommt noch mehr.
Viel mehr.

Noch viel mehr Leben.
Noch viel mehr Zukunft.
Und noch viel mehr Segen.

II. Dessen Feld hatte wohl getragen
»Es war ein reicher Mensch,
dessen Feld hatte wohl getragen.«

Lauter Segen. Rundherum.
Die Felder waren fruchtbar.
Gott hat die Saat gedeihen lassen.
Die Scheunen werden zu klein, so reich ist die Ernte

»Und er dachte bei sich selbst und sprach: Was soll ich tun?
Ich habe nichts, wohin ich meine Früchte sammle.
Und sprach: Das will ich tun:
Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen,
und will darein sammeln all mein Korn und meine Güter
und will sagen zu meiner Seele:
Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat auf viele Jahre;

habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut!«

Er ist gesegnet. So reich, wie noch nie.

Wo ist das Problem?

Es ist doch schön, wenn du gesegnet bist.

Dein Feld hat wohl getragen.
Du hast einen Betrieb oder einen Arbeitsplatz.
Oder eine Rente, von der du leben kannst.
Du hat ein Haus oder eine schöne Wohnung.
Du hast zu essen und im Winter drehst du die Heizung auf.

Und wenn deine Scheunen zu klein werden,
dann handelst du klug und baust größere.

Du bist gesegnet.
Du hast soviel, dass du sogar teilen kannst.
Und heute sitzt du im Festzelt und feierst Erntedank.

»Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr!
Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern;

und wes wird’s sein, das du bereitet hast?«

»Liebe Seele,
habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut.
«

Ja. Tu das. Von Herzen gern.
Aber dann geh weiter.
Bleib nicht sitzen auf deinen vollen Scheunen.
Arbeit, Betrieb, Erfolg, schönes Haus, kleines Glück
Genieße es. Habe Ruhe, iss und trink.

Aber mach es nicht wie der reiche Kornbauer.

Da sitzt er auf seinen Gütern fest.
Und er denkt: Das ist alles. Das wars. Das reicht.
Ich habe genug für morgen und übermorgen.
Für viele Jahre und für immer.
Dabei konnte er auch nichts mitnehmen.
Nicht ein Weizenkorn. Nicht eine einzige Traube.

»Du Narr!
Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern;

und wes wird’s sein, das du bereitet hast?«

III. Geh los
Mach es anders.
Geh los, liebe Seele.
Und wenn du das tust,
dann siehst du, was da noch alles ist.

Es ist viel mehr da als deine vollen Scheunen.
Mehr als die Gaben am Altar.
Es gibt mehr als das, was du hast.

Geh los, liebe Seele
Dann siehst du auch die anderen.
Die vielleicht deine Hilfe brauchen.
Mit denen du teilen sollst.
Oder mit denen du dich freuen kannst.
Die dich brauchen. Und die du brauchst.
Dann siehst du, was zu tun ist.
Und was du sagen musst,
damit diese Welt menschlich bleibt.
Oder es wird.

Schau dich noch einmal um
Freu dich an dem, was da ist.
Aber bleib nicht sitzen auf deinem Segen.
Denk nicht, das war alles.
Schön ist es.
Aber mitnehmen kannst du es nicht.
Darum:
Geh los und sei gespannt, was noch kommt.

Genieße deine Felder und dein Leben,
deine Zeit und allen Segen, den Gott dir gibt.

Teile den Segen mit denen, die ihn auch brauchen.
Und danke Gott, dass ihr gemeinsam gesegnet seid.

Du wirst staunen:
Es gibt so viel mehr.
Segen rundherum.
Es gibt sogar mehr als deine gesegnete Zeit.
Denk nicht, die ist schon alles gewesen.
Du wirst nichts von deiner Zeit mitnehmen können.
Aber wenn du zurücklässt,
was du nicht mitnehmen kannst, wirst du viel mehr finden.
Größeres. Und das Schönste kommt ja überhaupt erst noch.
Am Ende kommt sogar das ewige Leben.

Vergiss das nicht.
Geh los. Bleib nicht sitzen. Mach dich auf.

So geht Ernte-Dank.
Amen.

Der Friede Gottes,
der höher ist, als alle Vernunft,
bewahre eure Herzen und Sinne
 in Christus Jesus.  
Amen.

 

Perikope
01.10.2023
12,15-21

Angeschlagen und aufgerichtet - Predigt zu Lukas 17,11-19 von Rudolf Rengstorf

Angeschlagen und aufgerichtet - Predigt zu Lukas 17,11-19 von Rudolf Rengstorf
17,11-19

Lukas 17,11-19
Und es begab sich, als er nach Jerusalem wanderte, dass er durch das Gebiet zwischen Samarien und Galiläa zog. Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne 13 und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser! Und da er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern! Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein. Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter. Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde? Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.


Liebe Leserin, lieber Leser!

Von zehn Kranken haben wir eben gehört, die durch eine Begegnung mit Jesus wieder gesund geworden sind. Die damit wieder teilhaben konnten an dem, was als die Hauptsache im Leben gilt:  Auch bei uns. Denn das versichern wir einander ja bei jeder sich bietender Gelegenheit; Hauptsache gesund. Darüber mag man in geistlichem Hochmut die Stirn runzeln. Doch dann ist einem vermutlich die Erfahrung bisher erspart geblieben, wie verheerend Krankheit und Leiden wirken können. Wie sie plötzlich ein Minus vor alles das setzen, was einem am Leben wertvoll und kostbar ist.

Das gilt in ganz besonderer Weise für die Menschen, bei denen damals zur Zeit Jesu Aussatz  wie etwa Lepra entdeckt worden ist  Sie waren nicht nur mit dem körperlichen Leiden von juckendem, schmerzhaftem, eiterndem Hautfraß geschlagen. Dazu kamen ekliger Geruch und entstelltes Aussehen, das sie nicht verbergen konnten und ihnen das nahm, worum wir uns nach Kräften bemühen: Ansehnlichkeit.

Noch schlimmer war die Ansteckungsgefahr, die ihre Mitmenschen dazu zwang, auf Abstand zu bleiben zu diesen Kranken. Keiner wollte mehr mit ihnen zu tun haben. Draußen vor den Dörfern und Städten mussten sie in armseligen Hütten vegetieren. Denn arbeiten und Geld verdienen war ihnen ja auch verwehrt. Sie mussten von dem leben, was ihnen von mitleidigen Verwandte und Freunden zugeschoben wurde, Und jeden, der ihnen nahe kam mussten sie mit dem Ruf „Unrein; unrein!“ warnen. Als Unreinen war ihnen auch der Zutritt   zum Tempel verwehrt. Was für eine elende Existenz: Sie ekelten sich vor sich selbst, hatten so gut wie keine Aussicht auf Besserung, erlebten sich als auch von Gott verstoßen und verzweifelten daran, dass es auf die Frage Warum keine Antwort gab. Was Wunder, dass da auch der letzte Rest von Gottvertrauen flöten ging.

Da hörten sie, dass Jesus vorbeizog, dem der Ruf des Wunderheilers vorausging. Zu Recht, denn dieser Mann hielt eben nicht wie die anderen frommen Juden auf Abstand zu den Kranken. Anders als sie meinte er nicht: Gott hat die Kranken gestraft, und man soll ihm dabei nicht ins Handwerk pfuschen. Die Begegnung mit Kranken löste in ihm kein Tabuverhalten aus Nein, das ging ihm an die Nieren und mobilisierte Hilfsbereitschaft. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Krankheit nicht länger als unabänderliches gottgewolltes Übel hingenommen, sondern etwas dagegen getan wird. Nur so kann auf lange Sicht medizinisches Wissen und Können sich entwickeln. Zudem muss Jesus auf Kranke eine enorm heilsame Ausstrahlung gehabt haben, ohne dass wir darüber Näheres sagen könnten. Jedenfalls wusste er auch hier, dass die Heilung der zehn Aussätzigen begonnen hatte. Sonst hätte er die Männer nicht zu den Priestern geschickt. Die waren nämlich so etwas wie eine Gesundheitsbehörde und hatten zu prüfen und zu bestätigen, ob und dass der Aussatz verschwunden war. Dann konnten die von ihm Befallenen wieder in die Gesellschaft aufgenommen werden.

Und tatsächlich: die zehn waren sozusagen als geheilt entlassen und konnten ihr Glück, dem Vorhof der Hölle entronnen zu sein, kaum fassen.

Und jeder von uns, der schon mal länger  im Krankenhaus war,  weiß, wie  sehnsüchtig man  auf die Entlassung wartet. Wie unerträglich die Spannung am Entlassungstag wird, wenn man auf die letzte Untersuchung und dann auch noch auf den Arztbrief warten muss, Wie groß die Erleichterung ist, wenn man dann endlich raus und alles hinter sich lassen kann. Auch die Mitpatienten, mit denen man eben noch auf Du und Du war. Und ebenso bleiben die Versprechen zurück noch mal anzurufen oder gar wieder vorbei zu kommen. Dann das  befreite Lächeln. mit dem man das „Auf Wiedersehen!“ aus dem Stationszimmer quittiert: „Nee bloß nicht. Mich seht ihr hier so schnell nicht wieder!“

Nein, mit Undankbarkeit hat das nichts zu tun. Dankeschön hatte man ja noch gesagt und auch den Obolus für die Kaffeekassen entrichtet. Aber noch wichtiger ist das „Nix wie weg!“ Nix wie weg aus einem Leben, in dem man auf seine Krankheit reduziert und von der Hilfe anderer abhängig war. Nix wie weg aus einer Lage, in der man in Angst und Ungewissheit oft so elend lange warten musste. Endlich wieder nach Hause, wo so vieles liegengeblieben war.

Wenn wir jetzt an solche befreienden Wendepunkte in unserem Leben denken, dann ist das nur ein schwacher Vergleich mit dem, was die Männer nach ihrer Entlassung durch die Priester empfunden haben. Als da der eine Mann aus Samarien sagte: „Jetzt  sollten wir aber erst noch mal zurück zu Jesus“ – da haben die anderen  sich an die Stirn getippt. „Bist du verrückt? Hast du jetzt nichts anderes zu tun? Du willst wieder zurück dahin, wo wir krank waren, ausgesetzt und wie den letzten Dreck behandelt? Um nichts in der Welt wieder hin!“ Und auf und davon waren sie. Und ich meine, Wir können den neun von dieser entsetzlichen Krankheit Geheilten nur gratulieren und es ihnen gönnen, dass sie den Wandel des Vorzeichens vom Minus zum Plus zu Hause und mit Freunden feierten und die neuen Lebensmöglichkeiten sofort ausprobierten.

Doch nun zu dem einen, der zu Jesus zurückgekehrt ist: Warum? Was hat ihn dahingetrieben? Und was hat Jesus dazu gebracht, ihn als den zu bezeichnen, dem nun wirklich geholfen ist?

Wie gesagt, er kam zurück, obwohl da der Geruch des Vergangenen hing. Die Erinnerung an all das, was ihn entwürdigt und entwertet hat. Die Erinnerung an die Zeit, in der er Gott los war. Er kam zurück, weil er wusste: Das abzuschütteln und auszublenden, das wird mir und das wird Gott nicht gerecht. Ich kann auch auf die bösen Zeiten meines Lebens zurückkommen, und ich gewinne dabei. Ich gewinne die neue tiefere Einsicht: Gott ist mir auch in meiner Gebrochenheit, in den Minuszeiten meines Lebens nahe, in denen ich mit ihm über Kreuz lag. Das alles ist und bleibt doch ein Teil von mir. So will und kann mein Schöpfer er etwas anfangen mit mir. Da kann ich ihn doch nur von Grund auf loben. Und so wird ihm von Jesus zugesagt: Ja, steh auf, geh hin. Dein Glaube hat dir geholfen.

Ist es nicht gerade das, was wir in der Kirche im Gottesdienst erleben? Die dunklen Seiten des Lebens werden an keiner Stelle ausgeblendet. Schon beim Betreten der Kirche wird der Blick gefangen von dem gebrochenen Mann am Kreuz. In Liedern und Gebeten bekennen wir uns zu dem Gott, dem wir zu verdanken haben, dass wir bei aller Gefährdung und aller Schuld noch da sind. Die Lesungen erinnern uns an den, der es nicht verschmähte, unser verletzbares Leben zu teilen und dabei Glauben zu wecken daran, dass wir nicht verloren gehen. Beim Abendmahl nehmen wir uns in den Blick als Menschen, die auf das Brot des Lebens und den Kelch des Heils angewiesen sind und bleiben. Und am Ende der Segen, der uns im Sinne Jesu zuspricht: Steh auf, geh hin, dein Glaube hat dir geholfen!. Amen.

Perikope
10.09.2023
17,11-19

Eine Dreiecksgeschichte - Predigt zu Lk 7,36-50 von Barbara Bockentin

Eine Dreiecksgeschichte - Predigt zu Lk 7,36-50 von Barbara Bockentin
7,36-50

36Einer der Pharisäer lud Jesus zum Essen ein. Jesus ging in das Haus des Pharisäers und legte sich zu Tisch.37In der Stadt lebte eine Frau, die als Sünderin bekannt war. Sie erfuhr, dass Jesus im Haus des Pharisäers zu Gast war. Mit einem Fläschchen voll kostbarem Salböl ging sie dorthin.38Die Frau trat von hintenan das Fußende des Polsters heran, auf dem Jesus lag. Sie weinte so sehr, dass seine Füße von ihren Tränen nass wurden. Mit ihrem Haar trocknete sie ihm die Füße, küsste sie und salbte sie mit dem Öl. 39Der Pharisäer, der Jesus eingeladen hatte, beobachtete das alles und sagte sich: »Wenn Jesus ein Prophet wäre, müsste er doch wissen, was für eine Frau ihn da berührt – dass sie eine Sünderin ist.«40Da wandte sich Jesus an ihn und sagte: »Simon, ich habe dir etwas zu sagen.« Er antwortete: »Lehrer, sprich!«41Jesus sagte: »Zwei Männer hatten Schulden bei einem Geldverleiher: Der eine schuldete ihm fünfhundert Silberstücke, der andere fünfzig.42Da sie es nicht zurückzahlen konnten, schenkte er beiden das Geld. Welcher von den beiden wird den Geldverleiher dafür wohl mehr lieben?«43Simon antwortete: »Ich nehme an der, dem der Geldverleiher mehr geschenkt hat. «Da sagte Jesus zu ihm: »Du hast recht.« 44Dann drehte er sich zu der Frau um und sagte zu Simon: »Siehst du diese Frau? Ich kam in dein Haus, und du hast mir kein Wasser für die Füße gebracht. Aber sie hat meine Füße mit ihren Tränen nass gemacht und mit ihren Haaren getrocknet.45Du hast mir keinen Kuss zur Begrüßung gegeben. Aber sie hat nicht aufgehört, mir die Füße zu küssen, seit ich hier bin.46Du hast meinen Kopf nicht mit Öl gesalbt. Aber sie hat meine Füße mit kostbarem Öl gesalbt.47Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind ihr vergeben. Darum hat sie so viel Liebe gezeigt. Wem aber wenig vergeben wird, der zeigt auch nur wenig Liebe.«48Dann sagte Jesus zu der Frau: »Deine Sünden sind dir vergeben.«49Die anderen Gäste fragten sich: »Wer ist dieser Mann, der sogar Sünden vergibt?«50Aber Jesus sagte zu der Frau: »Dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden.« (Basisbibel)

Eine Dreiecksgeschichte

Die Namenlose
Sie scheute sich nicht. Konzentriert tat sie, was sie tat. Zielstrebig. Ganz auf ihn fixiert. Keinen Blick für die anderen. Ohne Gedanken an das, was die anderen denken mochten.
Jeder wusste, wer sie war. Was sie war. Bekam sie deshalb keinen Namen? Wurde sie deshalb nicht angesehen? Jedenfalls nicht am helllichten Tag. Eine Meinung über sie hatte allerdings jeder von ihnen.
Sie verließ die Grenzen, die andere für sie gesteckt hatten. Ging über sie hinweg. So, als ob es sie nicht gab. So, als ob es sie nicht kümmerte. Sah die anderen nicht an. So wie sie einen längeren Blick auf sie vermieden.
Warum sie tat, was sie tat? Der, zu dem sie ging, wusste es. Gab ihrem Tun durch sein Reden einen tieferen Sinn. Einen Sinn, der sie befreite. Nach dem sie sich gesehnt hatte. Erst jetzt konnte sie beschreiben, was sie zu ihrem Tun veranlasst hatte.

Der Gastgeber
Er schrak zurück. War entsetzt. Dabei hatte er alles so schön geplant. Gepflegte Konversation. Den Gast ein wenig provozieren. Um ihn aus der Reserve zu locken. Dabei am Ende mehr zu wissen, mehr zu verstehen.
Mit der Einladung hatte er etwas gewagt. Andere könnten es zu seinem Nachteil auslegen. Obwohl sein Gast das Gesprächsthema war. Der mit seinem Reden und Handeln provozierte. Unverständnis hervorrief. Oder Bewunderung. Die an Verehrung grenzte.
Jetzt schien sein ganzes Arrangement hinfällig. Ein großes Durcheinander war es jetzt. Keine Chance, sie aufzuhalten. Was bildete sie sich ein?! Er richtete sich auf.
Er wartet darauf, dass sein Gast sie abweist. Mit dem Fuß nach ihr stößt. Sie in ihre Schranken weist. Stattdessen muss er seine Beobachterrolle verlassen. Wird selbst ein Teil dieses Schauspiels.
Sein Gast zwang ihn, genau hinzuhören, hinzusehen. Nicht nur auf sie. Nein, letztlich auf sich selbst. Unangenehm war ihm das. Die Distanz, die er zu ihr hatte, war wie weggeblasen. Er kam ihr nahe. Sah, was er vorher nicht sehen konnte. Sich nicht einmal vorstellen wollte.

Jesus
Er wusste, dass diese Einladung dem galt, den sie in ihm sahen. Einen Provokateur. Jemand, der den Mund reichlich voll nahm. Einen, dem die Leute hinterherliefen. Einen, der sich traute von Gott so zu reden, wie sie es sich nicht trauten. Einen, der sich Gott so nahe fühlte, dass es schon an Gotteslästerung grenzte. Einen, der Grenzen nicht achtete. Jedenfalls nicht die, die ihnen wichtig waren.
Die Annäherung der Frau ließ er geschehen. Er spürte sie. Tränen auf seiner Haut. Haare, die ihn berührten. Eine sanfte Massage seiner Füße, die ihn schon so weit getragen hatten. Das tat gut. Es entspannte ihn.
Die Anspannung um ihn herum wurde dadurch noch deutlicher. Ihre unausgesprochenen Fragen hallten in seinen Ohren. Um die innere Not der Frau wusste er. Er konnte sie spüren. Schließlich war sie ganz nah gekommen. Die Nöte der anderen konnte er sich vorstellen. Sie kleidete er in eine Geschichte.
Auf einmal waren sie alle einander nah. Waren verwoben in das, was er erzählte. Konnten einander nicht mehr ausweichen. Sahen sich und sahen die, die sie verurteilten. Schnitten das Band, das er um sie alle geschlungen hatte, mit einem Satz entzwei.
Die Nähe, die sie zu ihm hergestellt hatte, bekräftigte und vertiefte er: „Dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden.“

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Barbara Bockentin

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Es ist so einfach, in Schwarz-Weiß-Schemata zu denken. Ich sehe Frauen unterschiedlichen Alters im Gottesdienst. Die Mehrzahl über 70 Jahre. Ihnen ist oft genug gesagt worden: So verhält „man“ sich nicht.  Was sollen die anderen denken? Selber schuld, wenn du dich so benimmst. Du bist bedürftig!

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Oft genug ist diese Perikope mit leicht lüsternem Blick gelesen worden. Das hat mich zunächst bei der Annäherung an die Predigtaufgabe behindert.
Die Auflösung kam beim „zweiten Blick“: Wie mag sich die Frau, über die gesprochen wird, fühlen. Was bewegt Simon? Wie geht Jesus mit der Situation um?

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass Jesus es durch seine Reaktion schafft, der Frau – auch wenn sie namenlos bleibt – ein Gesicht zu verleihen, so dass sich zumindest Simon mit ihr auseinandersetzen muss.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Eine Kollegin hat meine Predigt gelesen und kommentiert. Ihre Anmerkungen haben zu Veränderungen geführt. Die Predigt ist dadurch noch lebendiger geworden.

Perikope
20.08.2023
7,36-50

Der dritte Weg - Predigt zu Lk 24, (44-49) 50-53 von Jochen Riepe

Der dritte Weg - Predigt zu Lk 24, (44-49) 50-53 von Jochen Riepe
24,44-53

I

‚Scheiden tut weh‘… aber gibt es nicht Abschiede, die ‚gesegnet‘ sind und gut tun? Eine Zeit des Abstands, die mit einer Träne im Auge freudig dem Wiedersehen entgegen blickt. Eine Distanznahme, aus der ich lerne, sodass wir einander neu begegnen können – gereifter, erwachsener, in Freiheit.
‚Er führte sie aber hinaus bis Bethanien und hob die Hände auf und segnete sie. Und es geschah, als er sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel. Sie aber beteten ihn an und kehrten zurück nach Jerusalem mit großer Freude und waren allezeit im Tempel und priesen Gott‘.

II

Er würde diesen Satz seiner Mutter nie vergessen, erzählte der junge Mann. Immer hätten sie ein Unwohlsein gespürt, ja regelrecht ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn sie nach einem Besuchstag noch einmal zum Fenster hochschauten und winkten. ‚Weint Oma jetzt? Ist sie traurig?‘ fragten die Kinder. Ja, Scheiden tut weh.
Irgendwann hatte er sich dann ein Herz gefasst und sie, etwas schamhaft und zögernd, der alten Dame gebeichtet – diese Abschiedsgefühle. Sie aber habe eher verblüfft reagiert – oder hatte sie nur so getan? – und dann wehmütig-weise lächelnd geantwortet: ‚Den Gedanken, es könnte das letzte Mal gewesen sein, kenne ich wohl‘, um dann energisch fortzusetzen: ‚Ich freue mich, wenn ihr kommt. Ich freue mich aber auch, wenn ihr geht‘.

III

Sie kehrten nach Jerusalem zurück mit großer Freude‘. Ich staune über über diesen leichten, singenden, klingenden Abschluss des Lukasevangeliums. Happy End. Jesus ist nicht mehr da, er ist ‚gen Himmel gefahren‘. Lukas erzählt zweimal vom Abschied Christi, um der Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit dieses Geschehens zu entsprechen. In der Apostelgeschichte werden wir von einer betenden, wartenden Jüngerschar lesen, harrend der Dinge, die da kommen sollen.
Im heutigen Evangelium liegt der Akzent etwas anders, so als wäre Pfingsten schon geschehen: Eine ‚gesegnete‘, ja, freudig-optimistische Schar. Menschen, die während der ‚vierzig Tage‘ nach Ostern von Jesus, dem Auferstandenen, über den Sinn alles Geschehenen aufgeklärt wurden. Er hatte mit ihnen gegessen und offen gesprochen: ‚Es muss alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht ‘ (24,44). Er hatte sie schließlich gesegnet und war dann – ‚geschieden‘. Statt sich aber nun hinter ‚verschlossenen Türen‘ (Joh 20,19) zu verbergen, zeigen sich die Jünger in der Stadt der Kreuzigung mutig und ‚mündig‘ in aller Öffentlichkeit – im Tempel, dem Ort, dem Gott seine besondere Gegenwart zugesagt hat: ‚Da soll mein Name sein‘ (1.Kön. 8, 29).

IV

Rückkehr mit ‚großer Freude‘. Sie ‚priesen Gott‘. Die Frage stellt sich allerdings von selbst: Wird hier der Schmerz und die Trauer des Abschieds nicht allzu schnell übersprungen? Ein Pfingsten vor der Zeit? Aufgeklärt, ja, eingeweiht wurden sie. Alles hat seine Ordnung, alles war so geschehen, wie die Schrift es vom ‚Menschensohn‘ vorausgesagt hat. Aber ist ihnen das wirklich mit allen Folgen klar? Die Zeit nach Ostern ist vorbei – Ende. Jesus ist nicht mehr da, seine gewiss besondere, aber doch leibliche, hörbare, greifbare Gegenwart ist ihnen – und damit uns! – genommen. Was aber sind wir ohne das Wort, ohne den Leib, den des anderen und den eigenen?
Jeder Trauernde kennt diese Situation: Schock, Resignation, Ratlosigkeit verlangen nach Ausdruck. Warum bleibt er nicht bei uns? Warum hat er mich verlassen? ‚Ja‘, mag der Evangelist darauf antworten, ‚ihr habt Recht, und ich habe das auch versucht… Manie bedeutet ‚himmelhoch jauchzend‘ etwas überspringen oder nicht wahrhaben wollen. Depression, ‚zu Tode betrübt sein‘, deutet das Gegenteil an: Bedrückung, ja, von einem Ereignis erschlagen sein … die schwere Wolke, die sich bedrohlich nähert. Es muss doch einen Weg mitten hindurch, einen dritten Weg sozusagen geben, der ins Leben zurück führt!‘

V

‚Ich freue mich, wenn ihr kommt, ich freue mich, wenn ihr geht‘. Er würde, sagte der junge Vater, diesen melancholisch getönten und dann doch schlagfertigen, humorigen Satz seiner Mutter nie vergessen. Er genieße geradezu den Trost und die Befreiung, die in ihm liege. ‚Ich habe richtig lachen müssen, und die Kinder sahen mich verwundert an.‘
Wie viele Momente eines Abschieds, wie viele unterschiedliche Stimmungen und Erlebnisweisen die Frau auf diese Weise sprechend auf den Punkt brachte. Nach einem langen Besuchstag war sie schlicht erleichtert, wenn alles geschafft war, und sie sich – erholen konnte: Leibhafte Anwesenheit von Kindern und Enkeln ist anstrengend. Besuch verlangt Vorbereitung und viel Aufmerksamkeit, und manchmal geht er uns sogar auf die Nerven.
Dann aber auch spürte er in diesen Worten so etwas wie Stolz: ‚Ihr fahrt jetzt in eure Welt zurück, und ich habe meine Welt. Ich schaffe meinen Alltag und kann durchaus für mich sorgen. Dass wir miteinander verbunden sind, das bleibt doch.‘ Und schließlich klang noch etwas Drittes mit: Ja, es kann immer das letzte Mal gewesen sein. Jede Umarmung, jeder Abschiedskuss enthält diesen Schmerz. Aber zugleich liegt in ihm die Erwartung, die Vorfreude auf eine neue Begegnung. ‚Wann sehen wir uns im nächsten Monat? Wartet nicht zu lange, dass das Heimweh nicht so groß wird.‘

VI

Der lukanische Bericht von der Himmelfahrt Jesu, vom segnenden Scheiden des Herrn und von der Freude seiner Jünger scheint mir in manchem unseren familiären Erfahrungen ähnlich. Man muss nur kurz einmal erwägen: Was, Jesus, der Auferstandene, wäre über die vierzig Tage nach Ostern hinaus auf Dauer bei ihnen geblieben… sie wären gleichsam ‚geisterhaft‘ (24,37) immer wieder in plötzlichen Erscheinungen heimgesucht, ja, überfallen worden? Ein zutiefst beängstigender, bedrückender und unfreier Kontakt. Sie hätten ihn schließlich nicht mehr ausgehalten und sich sehnsüchtig eine Rückkehr zur, wenn auch tristen, Normalität gewünscht.
Der Auferstandene aber gibt sie in seinem Abschied segnend frei und überlässt sie als Gesegnete sich selbst. Einen ‚Mund und Weisheit‘ (Lk 21,15) hatte er ihnen darum versprochen, die Fähigkeit, situationsgerecht, sozusagen schlagfertig und souverän, in bedrängenden Lagen zu sprechen. Es gilt auch umgekehrt: Sie dürfen ihn frei- und Gott übergeben – guten Gewissens, ohne Schuldgefühle, ohne Klammern, denn er ist ‚zu Gott entrückt und für die Wiederkunft bewahrt‘ (E. Hirsch). Der manische Überflieger mag dann denken: ‚Jetzt können wir endlich machen, was wir wollen‘, legt nun los und stellt das Haus auf den Kopf. Der Deprimierte mag klagen: ‚Jetzt können wir gar nichts mehr tun, dieser Schmerz vergeht nie‘. Der Weg zwischenhindurch, der österlich getröstete und mit seinem Wort beschenkte, denkt und handelt, lobt und preist in Treue zum Gehenden. Wie wir heute schon pfingstlich sagen dürfen: in der ‚Kraft des Heiligen Geistes‘ (Apg 1,8).
Die ‚(Zwischen-) Zeit der Kirche‘, die Zeit nach der Himmelfahrt des Herrn, die das Warten auf die Wiederkunft Christi ‚erträglich macht‘ (H. Conzelmann), ist darum ein – mitunter schmerzlicher –Lernprozess. Lernen, ja, in diesem kleinen, endlichen Leben mündige und weise, erwachsene Zeugen Jesu zu werden und seinen ‚Weg‘ (Apg 9,2) neu zu gehen; ein Weg, auf dem die Gemeinde immer wieder gefährdet ist und ‚wie im Sieb geschüttelt‘ (Lk 22,31) wird.  

VII

Sie kann sich selbst überheben und frohlockend im Himmel wähnen. Das Erbe Jesu wird zu einer Verfügungsmasse, aus dem sie im Hochgefühl ihrer Kräfte nehmen und verwerfen kann: ‚Wir sind die Guten‘. Sie kann aber auch eine traurige Gemeinschaft werden, die sich mit Jesu Abschied nicht abfindet, die verstummt und sich sektenhaft verschließt: ‚Herr, wohin sollen wir gehen?‘ Lukas erzählt von einem dritten Weg: Die Jünger ‚beteten ihn an‘. Die Kirche des ‚Mundes und der Weisheit‘ ist eine des Gesprächs mit Gott und des freimütigen Gesprächs untereinander. Das Leben ist nicht schwarz und weiß. Gerade in den Kontroversen dieser Zeit brauchen wir einen Raum der ‚Meinungsfreiheit‘, der Freude, des Streitens, des Leidens aneinander – und des Humors.
Denn wes das Herz voll ist, des geht der Mund über‘(Lk 6,45). Es hatte ja gedauert, bis unser junger Vater seinen Mund öffnete und seine Gedanken aussprach. Wie vieles bleibt gerade unseren Nächsten gegenüber in uns verschlossen. Wie oft haben wir in der Gemeinde das Gefühl, Wichtiges bleibe ungesagt aus Angst, eine ‚unerwünschte‘ Meinung zu vertreten. Das Schöne an unserer familiären Aussprache ist: Die Mutter hatte ergeben, versöhnlich und humorig in einem geantwortet. Sie war betroffen, fand aber zugleich Distanz. Geistesgegenwart. Das war ihre Art, zu segnen und die Scheidenden freizugeben. Ich kann mir vorstellen, wie auf der Heimfahrt Vater und Kinder fröhlich miteinander sangen. Es hatte sich etwas gelöst. Ihre Lippen waren aufgetan.

VIII

Abschied: Unser Glaube hat eine Träne in den Augen, Zeichen eines Heimwehs (Phil 1,23), das sich immer wieder meldet. ‚Wann kommt ihr wieder? Lasst es nicht zu lang werden.‘ Wird denn Jesus, der im Himmel ‚bewahrt‘ ist, wiederkommen? Werden wir ihn erkennen, oder wird er fremd sein und uns dieses peinliche Gefühl überkommen: Wir haben uns auseinander gelebt. Oder gar: Wir haben ihn vergessen.
Das sind Fragen, die alle Jünger-Freude begleitet, solange es eine Gemeinde Christi gibt. Fragen aber auch, an denen wir – miteinander sprechend – wachsen, reifen und Freiheit erlernen können. Unter einem heiteren Gotteshimmel, denn ein Zeuge Jesu zu sein ist keine Last, sondern Teilhabe an der Quelle des Lebens.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Jochen Riepe

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich erhoffe für den Tag Christi Himmelfahrt einen offenen Himmel (sky) (nicht nur für Open Air-Feiernde). Dass aber bei allen meteorologischen Unsicherheiten diesem Tag ein innerer offener Himmel (heaven) entsprechen kann, lehrt der lukanische Text (und der Posaunenchor wird diese Botschaft auf seine Weise verstärken: ‚Jesus Christus herrscht als König‘). Die Predigt möchte der Gemeinde aus Jung und Alt zum Entdecken ihres persönlichen ‚Open Air‘ anleiten.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Anekdote des jungen Vaters tritt ins Gespräch mit dem lukanischen Verständnis der Himmelfahrt Christi. Mittels ihrer Verwendung gelingt es, die Vielschichtigkeit von Trennungssituationen anzudeuten. Abschied bedeutet Schmerz, aber auch den Anfang der ‚Zwischenzeit‘ der Kirche (H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit, 7. Aufl. 1993, S. 195). Aussagen über die ‚Wiederkunftsgewissheit‘ Jesu (E. Hirsch) und die Wiedersehenserwartung seiner Gemeinde bilden den Horizont der Predigt.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Gerade in diesen politisch-gesellschaftlich polarisierten Zeiten braucht die Gemeinde in ihrer ‚Zwischenzeit‘ das offene, eben erwachsene, respektvolle und auch humorvolle Gespräch. Das macht Mühe, aber es bewahrt uns vor einer Ideologisierung bzw. Verfeindung (‚wer nicht für uns ist, der ist gegen uns‘) unserer Kommunikation oder einer bloßen Wiederholung dessen, was im ‚Mainstream‘ erwünscht ist.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich danke meiner Beraterin (Predigtcoach) für ermutigende und kritische, sehr konkrete Hinweise, die mir halfen, den Text zu straffen und seine Kohärenz zu stärken.

Perikope
18.05.2023
24,44-53

Tatsächlich Liebe?! - Predigt zu Lk 22,47-53 von Barbara Bockentin

Tatsächlich Liebe?! - Predigt zu Lk 22,47-53 von Barbara Bockentin
22,47-53

Als er aber noch redete, siehe, da kam eine Schar; und einer von den Zwölfen, der mit dem Namen Judas, ging vor ihnen her und nahte sich Jesus, um ihn zu küssen. Jesus aber sprach zu ihm: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?
Als aber, die um ihn waren, sahen, was geschehen würde, sprachen sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? Und einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab. Da sprach Jesus: Lasst ab! Nicht weiter! Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn.
Jesus aber sprach zu den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels und den Ältesten, die zu ihm hergekommen waren: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen? Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und ihr habt nicht Hand an mich gelegt. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.

Schluss

Der Moment, vor dem er sich gefürchtet hatte, war da. Unausweichlich.
Die Konsequenzen trugen beide.

Gespürt hatte er es schon einige Zeit.
Die Liebe war nicht mehr heiß. Sie war am Erlöschen.
Vor dieser Erkenntnis hatte er sich gedrückt.
Was war der Grund? Brauchte es überhaupt einen Grund?
Wusste nicht, ob das entscheidend war.
Er wusste nur, dass es Zeit war, die Beziehung zu beenden.
Nur wie?
Per WhatsApp? Freunde hatten es so gemacht. Er hielt es für feige. Nein, das kam nicht infrage. Er wollte ihr ins Gesicht sehen. Sich nicht drücken. Ihr deutlich machen, was ihn zu diesem Schritt bewogen hatte. Auch wenn er jetzt noch nicht wusste, was er sagen würde.
Deshalb suchte er sie. Er wusste wo. Schließlich kannte er sie gut.
Wie er es sich gedacht hatte, fand er sie. Ganz in Gedanken versunken saß sie da.
Sie bemerkte ihn nicht sofort. Als sie schließlich den Kopf hob und ihn sah, stand sie auf. Blickte ihm entgegen. Stutzte. Hielt in der Bewegung inne. Blieb abwartend stehen.
Er nahm all seinen Mut zusammen. Schluckte. Trat auf sie zu.
Sie verstand.
Ohne Worte.
Deutete seinen Blick.
Sah ihn an. Traurig.
Als er versuchte, sie zu umarmen, entzog sie sich ihm.
Das war zu viel.

Schutz

„Willst du den Menschensohn wirklich mit einem Kuss verraten?“
Der Moment, den Jesus gefürchtet hatte, war da.
Die Ahnung war zur Wirklichkeit geworden.
Wirklich war geworden, dass es einer von den Zwölf war.
Einer der engsten Vertrauten.
Einer von denen, mit dem er in den letzten Jahren sein Leben geteilt hatte.
Der an seiner Seite gewesen war.
Der gesehen hatte, wie er Menschen geheilt hatte.
Der ihm zugehört hatte.
Der wusste, wie er dachte. Was er glaubte.
Jetzt dieser Schritt.
Bloß nicht noch einmal zulassen, dass er ihm nahe kam.
Körperlich.
Seinem Gefühl.
Auf Abstand halten.
Bitter klangen seine Worte.
Enttäuschung schwang in ihnen mit.
Auch eine Ahnung davon, wie schwer es für Judas war.
Das Wissen darum, wie schwer es für ihn war.

Unsichtbare Schranken

Von den anderen bemerkte niemand, was da passierte. So, wie sie eben nicht gemerkt hatten, wie sehr er eben noch mit Gott gerungen hatte. So auch jetzt. Seine Angst verschloss er in sich. Auch wie schwer es ihm gefallen war, sich Gottes Willen unterzuordnen. Es war, als ob er sie bis zum letzten Moment von der einbrechenden Realität abschirmte.

So wies er alle in ihre Schranken. Indem er für sich behielt, wie ihm zumute war.
Die Häscher bezichtigte er der Feigheit. Sie taten, als ob er ein Schwerverbrecher auf der Flucht wäre. Dabei hatte er sich nie versteckt. Oder ein Blatt vor den  Mund genommen. Jetzt dies – unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Die Jünger schalt er für ihre Voreiligkeit. Er ergab sich. Er tat, worum er die Nacht über gerungen hatte.
Noch einmal tat er, was er in der Vergangenheit immer wieder getan hatte. Er wandte sich dem zu, der seine Hilfe brauchte, dem verwundeten Soldaten. Er heilte ihn. Ungeachtet dessen, was dieser vorhatte. Ungeachtet seiner Person.
Noch einmal wandte er sich Judas zu. Wies ihn zurück. Verweigerte die Berührung. Genau damit bewies er ihm, dass er ihn verstand. Dass seine Liebe zu ihm ungebrochen war. Indem er ihm eine Grenze setzte. Er wusste, dass Judas nicht anders konnte. Doch ein Liebesbeweis? Abstand, was war für beide besser.

Der Moment, vor dem er sich gefürchtet hatte, war da. Unausweichlich.
Die Konsequenzen trugen beide.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Barbara Bockentin

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Bei der Vorbereitung tauchten Menschen vor meinem inneren Auge auf, die schon einmal vor dem Scheitern einer Beziehung oder gar ihrer Ehe gestanden haben. Oder erlebt haben, wie es ist, wenn Freunde sich plötzlich abwenden.   

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Weshalb war es Jesus so wichtig, dass Judas ihm nicht nahe kam? Für dieses Verhalten habe ich nach einem Zugang gesucht.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ganz sicher wird mich weiter begleiten, dass das abwehrende Verhalten Jesu eigentlich voller Zuwendung ist.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Unterstützung, die ich bei meiner Coach durch ihre positive Resonanz fand, hat es mir leicht gemacht, zu verstehen, wo eine Überarbeitung für mein Anliegen hilfreich ist.
Dafür bin ich sehr dankbar.

 

Perikope
12.03.2023
22,47-53

Ein neues Jahr - ein weißes Blatt - Predigt zu Lk 4,16-21 von Elke Markmann

Ein neues Jahr - ein weißes Blatt - Predigt zu Lk 4,16-21 von Elke Markmann
4,16-21

Liebe Gemeinde,

ein neues Jahr hat begonnen. Ich finde, es hat etwas von einem leeren Blatt Papier. – ein leeres Blatt Papier hochhalten
Zwar weiß ich schon viele Termine für die kommenden Tage und Wochen. Aber vieles ist auch noch offen. Ob das, was im letzten Jahr schwierig war, nun leichter wird? Gestern habe ich zurück geblickt, habe das vergangene Jahr noch einmal bedacht. Dabei habe ich viel Schlimmes und viele schlechte Nachrichten gefunden: der Krieg in der Ukraine, die gestiegenen Preise für Energie und Lebensmittel, für Miete und überhaupt alles. Das Jahr hatte immer noch viele Einschränkungen durch Corona – und auch ich selbst hatte diese Krankheit schließlich. Bei eigentlich mildem Verlauf leide ich auch Monate später immer noch unter Nachwirkungen. Und so stehe ich nun hier und denke: Dieses neue Jahr bietet eine neue Chance! Nun wird es anders! Zumindest gebe ich dem neuen Jahr eine neue Chance. Ich will zuversichtlich nach vorn gucken. Ein neues Jahr schenkt neue Möglichkeiten!

Aber: Fängt mein Jahr denn wirklich mit einem leeren Blatt an? Meine Hoffnungen für das, was kommt, hängen an dem, was in der Vergangenheit war. Ich möchte weniger Krieg, weniger Krankheit, weniger Tod, weniger Einschränkung und mehr Freiheit, mehr Fröhlichkeit, mehr Leben. Mehr von dem, was gutes Leben ausmacht. Mehr gutes Leben für alle!
Um etwas zu verbessern, hilft es manchmal, sich zu erinnern. Der Blick zurück auf die Vergangenheit, auf Erkenntnisse und Voraussagen kann manchmal den Blick nach vorn schärfen.

Im Predigttext für den heutigen Gottesdienst im Lukasevangelium wird uns erzählt, wie Jesus zu wirken anfing. Er war im Jordan getauft worden. Der Teufel hatte ihn in Versuchung geführt, Jesus hatte ihm widerstanden. Und nun kam er nach Nazareth, ganz erfüllt von seiner Aufgabe. Es heißt von ihm: Jesus war erfüllt von der Kraft des Geistes. So kehrte er nach Galiläa zurück. Sein Ruf verbreitete sich in der ganzen Gegend. Er lehrte in den Synagogen und alle redeten mit Hochachtung von ihm. (Lk 4, 14-15, Basisbibel)

Predigttext: (Lk 4, 16-21 Bibel in gerechter Sprache)

16Als er nach Nazaret kam, wo er aufgewachsen war, ging er wie immer am Sabbat in die Synagoge und stand auf, um vorzulesen. 17Und es wurde ihm die Buchrolle des Propheten Jesaja gegeben, und als er sie auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben stand: 18»Die Geistkraft der Lebendigen ist auf mir, denn sie hat mich gesalbt, den Armen frohe Botschaft zu bringen. Sie hat mich gesandt, auszurufen: Freilassung den Gefangenen und den Blinden Augenlicht! Gesandt, um die Unterdrückten zu befreien, 19auszurufen ein Gnadenjahr der Lebendigen!« 20Als er die Buchrolle geschlossen hatte, gab er sie dem Diener und setzte sich. Die Augen aller Menschen in der Synagoge waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet. 21Und er begann zu ihnen zu reden: »Heute hat sich diese Schrift in euren Ohren erfüllt.«

Jesaja ist für Jesus aktuell: Das Gnadenjahr beginnt

Jesus beginnt zu lehren. Aber er fängt nicht bei Null an. Vielmehr liest er in der Synagoge in den alten Heiligen Schriften. Aufgeschlagen ist eine Textstelle aus dem Buch des Propheten Jesaja. Das, was der Prophet früher gesagt hatte, war für Jesus nun ganz aktuell: „Heute ist diese Stelle in der Heiligen Schrift in eurer Gegenwart in Erfüllung gegangen.“ Bedeutet das nicht, dass jetzt alles anders wird? Jetzt beginnt die neue Zeit. Eine Zeit der Gerechtigkeit. Eine Zeit ohne Leid und Elend. Die Gefangenen sollen frei werden, die Blinden sehend. Die Unterdrückten werden die frohe Botschaft hören.
Denn nun beginnt das Gnadenjahr Gottes, der Lebendigen. Gottes Gnade bedeutet, dass Gott sich uns zuwendet. Gott gibt das, was uns fehlt. Ein neuer Anfang beginnt jetzt. Das sah Jesus nun vor sich. Alles wird neu. Alles fängt neu an. Und das, was in den Heiligen Schriften steht, wird jetzt wahr: Alles, was lähmt, fällt von den Lahmen ab. Alles, was den Blick trübt oder das Erkennen verhindert, wird überwunden. Es wird möglich zu sehen und zu erkennen. Die Armen und Gefangenen werden eine gute Zukunft haben.
Spannend, dass Jesus dies gleich zu Beginn seines Wirkens so überzeugt weiß und verkündet. Im Lukasevangelium wird Jesus von Beginn an als Gottes Sohn, als von Gott bevollmächtigt vorgestellt. Jesus kennt seine Macht und seine Kraft. Er weiß, dass er selbst Gottes Sohn ist und welche Aufgabe er hat. Er weiß, dass mit ihm Gott selbst auf die Welt gekommen ist. Jesus weiß, dass Gott nun mitten in der menschlichen Gesellschaft wirkt. Nun beginnt Jesu öffentliches Auftreten. Jetzt beginnt eine neue Zeitrechnung. Jetzt ist Gott Mensch geworden. Jetzt kommt Gottes Gnade zu den Menschen.

„Heute hat sich diese Schrift in euren Ohren erfüllt!“
Ich ahne, was Jesus damit sagen möchte. Er spricht von Gottes Gnade. Er spricht von dem, was noch nicht ist. Er zitiert Jesaja: Freilassung den Gefangenen und den Blinden Augenlicht! Gesandt, um die Unterdrückten zu befreien, auszurufen ein Gnadenjahr der Lebendigen! Das ist genau genommen immer noch Traum. Das war auch zu Jesu Zeiten schon Traum. Deshalb streiten sich ja die Umstehenden darum, was es bedeutet. Gehen wir einmal davon aus, dass das keine frommen Wünsche sind, sondern Träume und Visionen, die Kraft geben.

Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer. Dieser Satz von Antoine St. Exupery schreibt von der Sehnsucht. Die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer lässt mich mit Leichtigkeit erkennen, wie ich ein Schiff bauen muss. Übertragen auf die alten Worte des Propheten Jesaja bedeutet das: Die Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit hilft den Unterdrückten aus der Unterdrückung heraus.
Konkret kann das heißen, dass Menschen in einem Unrechtssystem sich nicht mehr den Mund verbieten lassen, sondern sich öffentlich auf die Straßen stellen und ihre Meinung sagen. Sie sehnen sich nach Meinungsfreiheit.
Es kann heißen, dass Opfer von Gewalt sich gegen die Täter zur Wehr setzen. Die Sehnsucht nach einem Leben ohne Gewalt und Unterdrückung verleiht die Kraft zu entkommen.
In den letzten Monaten habe ich mich oft darüber gewundert, mit welcher Überzeugung und Ausdauer die Menschen in der Ukraine sich gegen den Angriff aus Russland wehren. Sie sind überzeugt: „Wir sind ein freies Land und lassen uns nicht unterdrücken!“ Die Sehnsucht nach einem freien demokratischen Leben schenkt Kraft.

Lasst uns auch heute hier für uns die Sehnsucht stärken:

Jetzt kann alles eine neue Chance bekommen. Jetzt kann ich Vergangenes und Belastendes vergessen und mich auf die gute Zukunft konzentrieren, auf das gute Leben für alle. Blicken wir optimistisch und zuversichtlich in die Zukunft! Dieses neue Jahr ist wie ein leeres Blatt. Es wartet darauf, dass schöne Geschichten darauf erzählt werden. Das weiße leere Blatt bietet Platz für so viel Gutes!
Ich freue mich auf schöne Geschichten auf unseren weißen Blättern.
Ich freue mich auf die Geschichten, die unsere ukrainischen Nachbarn erzählen werden, wenn sie in der Heimat sind: Sie werden davon erzählen, wie sie alles wieder aufbauen. Und sie werden uns einladen, dass wir sie zu Hause besuchen und sie uns Gastgeberinnen sind.
Ich freue mich auf die Geschichte, die die Frau erzählen wird, die ihren gewalttätigen Mann verlassen hat und nun mit ihren Kindern friedlich und fröhlich lebt. Sie wird ihre Freundinnen einladen und mit ihnen ein Frühlingsfest feiern.
Wer gestern das vergangene Jahr noch einmal in Gedanken betrachtete, kann heute ein leeres weißes Blatt nehmen. Es wird ein Jahr voller Gnade. Es wird ein Jahr mit vielen neuen Möglichkeiten. Es wird ein Jahr, in dem sich erfüllen wird, wonach wir uns sehnen. Wie das wird, wissen wir noch nicht. Darum ist das Blatt weiß. Wir füllen es nicht mit unseren Erwartungen, Plänen und Hoffnungen, sondern lassen Raum und Platz für Geschichten.

Wie uns die Alten sungen! Wie wir nicht erst von Jesus, sondern schon von Jesaja wissen: Gottes Gnade ist bei uns.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrerin Elke Markmann

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Am Neujahrstag ist dieser Gottesdienst der einzige, gemeinsame Gottesdienst für die vier Kirchengemeinden in der Stadt – ein zentraler Segensgottesdienst. Ich gehe davon aus, dass Menschen aus allen Gemeinden kommen, die sich bewusst auf den Weg machen. Der erste Gottesdienst im neuen Jahr ist in unserer Region als Segensgottesdienst seit Jahren bekannt und beliebt, um sich stärken zu lassen für das neue Jahr. Ich sehe konkrete Frauen aus allen Gemeinden, Menschen aus den Kerngemeinden und aus der Stadtgesellschaft.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Vorstellung eines Gnadenjahres der Lebendigen finde ich ein sehr starkes Bild. Ein Jahr voller Gnade, voller liebevoller Zuneigung und Zuwendung Gottes zu uns bzw. zu denen, die Gottes Gnade brauchen. Ein Gnadenjahr ist in meiner Vorstellung ein Jahr, in dem ich Gottes Nähe immer spüre und in dem für alle gutes Leben wirklich wird. Davon träume ich, das beflügelt mich.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Macht und Stärke von Sehnsuchtsbildern und inneren Überzeugungen ist nicht zu unterschätzen. Jesus beginnt im Lukasevangelium mit einer starken inneren Haltung und Überzeugung, dass mit ihm die alten prophetischen Schriften erfüllt werden. Da begegnet mir keine vornehme Zurückhaltung oder Bescheidenheit, sondern volle Überzeugung und tiefes Wissen darum, dass sich JETZT alles ändert.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Geschichte von St Exupery war zunächst nur ein einzelner Gedankensplitter – und wurde für mich zum zentralen Bild neben dem leeren weißen Blatt: die Fragen nach Sehnsuchts-Geschichten auf dem weißen Blatt für das neue Jahr.

 

Perikope
01.01.2023
4,16-21

Unwahrscheinlich wundervoll - Predigt zu Lk 2,1-20 von Dörte Gebhard

Unwahrscheinlich wundervoll - Predigt zu Lk 2,1-20 von Dörte Gebhard
2,1-20

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das judäische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war, auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.
Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.

Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen gen Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über die Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war. (Lk 2, 1-20, ML)

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde!

1. Unwahrscheinlich.

Unwahrscheinlich.
Ganz unwahrscheinlich.
Die Geschichte ist völlig unwahrscheinlich.
Die Säuglingssterblichkeit war vor 2000 Jahren unvorstellbar hoch. Dass ein Neugeborenes überlebte, war alles andere als selbstverständlich. Dass ein Baby in so unhygienischen Zuständen durchkam, war mehr als unwahrscheinlich. Es geschah gegen jede Statistik, wenn es schon eine gegeben hätte. Da fangen die Wunder an.
Außerdem kann ich es mir einfach nicht verkneifen: Es war doch auch unwahrscheinlich unüberlegt, sogar richtig dumm, so kurz vor dem Geburtstermin zu einem strapaziösen Fußmarsch aufzubrechen. 150 km. Dass die zwei einen Esel bei sich hatten, ist historisch ziemlich unwahrscheinlich. Lukas schreibt auch nichts davon. Den Esel rückten erst später die Künstler ins Bild. Gewissermaßen als nachträgliche, gute Wünsche. Wäre doch schön gewesen, wenn sie einen gehabt hätten.
Und: Hatten sie eigentlich keine Verwandten, die kurz vor dem Geburtstermin von fünf langen Tagesetappen zu Fuß abrieten? Es gibt doch sonst in jeder Familie so eine besorgte Mutter oder Tante, die regelmäßig ruft: «Lasst das! Bloß nicht! Wo denkt Ihr hin!?» Aber das Wunder geht weiter. Die beiden schaffen es irgendwie. Sie kommen tatsächlich in Bethlehem an. Gerade noch rechtzeitig.

Ebenso unwahrscheinlich ist außerdem die Mitteilung, dass wirklich jedermann ging, dass er sich schätzen ließe. Manche hatten wohl gar nichts, was sie hätten versteuern können. Von den Reicheren werden sich kaum alle wegen der Steuern auf den Weg gemacht haben und solche Strapazen auf sich genommen haben. Das Steueraufkommen lag und liegt nie bei 100%! Da können noch so viele Gebote und Strafandrohungen ausgehen.
Auch für die Hirten war es unwahrscheinlich aufregend, wie ihr Nachtschlaf und ihre Nachtwache diesmal unterbrochen wurde: von Engelswort und Engelschor. Einmal nicht von wilden Tieren oder Kälte, weil das Feuer erloschen war, nicht von einem vor Schmerz blökenden Schaf oder sich leise anschleichenden Dieben. Damit hätten sie gerechnet.
Auch alle, die bald darauf vom Besuch der Hirten hörten, fanden es unwahrscheinlich sonderbar. Es heißt jedenfalls, sie wunderten sich über die Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten.

Die ganze Geschichte ist also unwahrscheinlich.
Unwahrscheinlich ... wundervoll.

2. Anders!

Deshalb erzählen wir sie von Jahr zu Jahr, von Generation zu Generation, von Zeitalter zu Zeitalter. Weil es ganz anders kommt, als man zu denken gewöhnt ist.
Wenn ich sie höre, werden meine sonstigen Prognosen und Erwartungen durcheinandergebracht. Die Geschichte von Jesu Geburt befreit von allem, was man leider immer schon kommen sieht. Sie überholt die Vorhersagen und Hochrechnungen der Experten. Sie steht quer zu allem, was sonst sehr wahrscheinlich ist.
Ich spüre:
Es kommt anders, als ich denke.
Ich werde zuversichtlicher:
Es kommt ganz anders, als die meisten immer meinen.
Es kommt vor allem anders, als die Influencer uns einflüstern.
Tatsächlich! Es wird sehr anders kommen, wenn alle mitdenken!

Zuerst geht es um Kaiser Augustus, den großen, römischen Imperator. Er hat sich sicher viel ausgemalt, manche Widersacher auch gefürchtet. Aber es ist unwahrscheinlich, dass er sich auch nur annähernd vorstellen konnte, so berühmt zu werden. Berühmt für bisher alle Zeiten.
Aber eben nur besonders berühmt, weil er als Nebenfigur in der Lebensgeschichte eines Größeren vorkommt. Der Kaiser ist nur noch nebensächlich.
Wie es wohl heutigen Diktatoren ginge, wenn sie das realisierten? Christinnen und Christen haben die berechtigte Hoffnung, dass sie einmal nur noch als Randfiguren in der größeren Geschichte Gottes vorkommen.

Dann hören wir von Quirinius, dem damals zuständigen Statthalter. Er hat bestimmt seinerseits auch auf etwas bleibenden Ruhm spekuliert. Aber es ist total unwahrscheinlich, dass sich hier und jetzt noch irgendjemand an seine Schlachten gegen die Garamanten, einem Berbervolk im heutigen Libyen, und die siegreichen Kämpfe gegen die Homonadenser in Kleinasien erinnert. Dafür wurde er damals ausgezeichnet und geehrt. Dafür bekam er die Triumphalinsignien. Die hatte nicht jeder! Aber ganz gegen jede Erwartung und trotz militärischer Stärke ist auch das Römische Reich einmal untergegangen und mit ihm unzählige Erinnerungen an so viele Kriege und Schlachten. Gott sei Dank! Es kam anders, obwohl die Römer sicher emsig darüber nachdachten, wie es für sie kommen sollte.

Unwahrscheinlich ist darüber hinaus, dass sich Josef und Maria das Chaos und das überfüllte Bethlehem vorstellen konnten, als sie aufbrachen. Wenn sie das vorher gewusst hätten! Wie gut, dass sie nicht wussten, was auf sie zukam. Dass sie nicht ahnten, was bald und dann und später geschehen würde. Dann hätte sie möglicherweise der Mut verlassen. Gott segnete und behütete sie mit großer Unkenntnis über das Künftige.
Wahrscheinlich haben Josef und Maria fest damit gerechnet, dass sie eine bescheidene Unterkunft finden. Aber es kam bei ihnen anders, bevor sie daran denken konnten, was aus ihrer Zukunft werden sollte. Vielleicht hatten die beiden noch nicht mal einen Plan.

Unwahrscheinlich ist auch eine Geschichte, in der verachtete Hirten wichtiger sind als angesehene Herrscher.

3. Ängstlich?

Es kommt in der Heiligen Nacht anders, damit ich denke.
Es kommt Anderes und ein ganz Anderer, damit ich frei werde von den vielen Erwartungen, die ich mir selbst bastle und aufbürde, die ich mir selbst in den Weg lege, die sich dann oft auch erfüllen. Englisch nennt man es «self-fulfilling prophecy». Eine selbsterfüllende Prophezeiung ist eine Vorhersage, die ihre Erfüllung selbst befördert und bewirkt. Wenn ich mir ausmale, dass es nichts wird, dann wird auch sicher nichts daraus. Weil ich es gar nicht erst versuche. Wenn ich gar nicht erst anfange, ist es kein Wunder, wenn es nichts wird.
Wenn ich aber neben allen anderen Projekten auch noch zu ungewöhnlichen Spenden für unsere Partnergemeinde in Berehove/Westukraine aufrufe und in der Vorweihnachtszeit um «hässliche» Kerzen mit warmem Licht bitte – gegen Stromausfall und Kälte ... Wenn ich nach brach liegenden Skianzügen, Wolldecken und Strickmützen frage, dann komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus, was innerhalb weniger Tage zusammenkommt. Unsere Sekretärin fand noch knapp an ihren Schreibtisch, so vollgehäuft war das Büro mit Tüten und Taschen!
Wunder wachsen genau dort, wo es «jemanden Wunder nimmt» (wie man in der Schweiz sagt), was wohl passieren wird, wenn man es nur schon versucht.

Erstaunlich viele Menschen haben es immer wieder geschafft, von ihren selbstgemachten Voraussichten Abschied zu nehmen. Davon wird die Zukunft nicht leichter, aber es entsteht Raum für Gottes unwahrscheinliches Wirken, sei es so unscheinbar wie damals in Bethlehem oder so spektakulär wie damals in Bethlehem.
Aber wohin führt das heute Nacht?
In die Weite, in die Zukunft, zuletzt zu Gott.

Wir haben im 21. Jahrhundert und hierzulande nicht nur die Möglichkeit, uns von Künftigem überraschen zu lassen. Wir haben sogar ein Recht auf Unwissenheit – vor allem in medizinischen Fragen. Niemand kann gezwungen werden, sich z.B. genetisch untersuchen zu lassen, nur um dann von aktuell unheilbaren Krankheiten zu erfahren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ihn zukommen, wenn er nicht jung stirbt.
Wir dürfen überhaupt leben, ohne das Ende kennen zu müssen.
Wir dürfen sein, ohne die Wahrscheinlichkeiten von Leid und Schmerzen wissen zu müssen.

Liebe Gemeinde!
Das Unwahrscheinliche an der alten Geschichte ist jedoch noch lange nicht zu Ende:
Nicht über den Herrschern, die sich hartnäckig einbilden, über die Zukunft zu bestimmen, sondern über den Hirten tut sich der Himmel auf.
Als aber alles unwahrscheinlich offen war, bekamen sie wohl auch Angst. Ich hätte mich gefürchtet, ich spüre es genau. Daher wird den Hirten zuerst und schon von weitem zugerufen: Fürchtet euch nicht!
Gott weiß, wie schnell wir Menschen uns ängstigen, wenn wir erfahren, dass es anders kommt, als wir denken.

4. Friedlich ...

Was ist aber zuletzt das Unwahrscheinlichste an der Geschichte von Jesu Geburt?
Der Frieden.
Der Frieden, der als großes Zeichen in die Weltgeschichte einzog.
Der Frieden wurde auf die Erde gesungen. Nur für einen einzigen Augenblick. Das stimmt. Aber seither ist er nicht wieder vergessen worden.
Er wurde überliefert, wie alles Besondere, Unwahrscheinliche aufgezeichnet, bewahrt und weitergegeben wird. Ehre sei Gott in der Höhe, nur schon dafür!
Der Frieden war damals so unwahrscheinlich wie zu Weihnachten 2022.
Aber er herrscht:
Maria und Josef streiten sich nicht, trennen sich nicht, sie halten zusammen.
Maria wickelt ihr Kind in Windeln und findet einen Platz für ihr Kind, wo eigentlich nichts ist außer Rindvieh und Eseln, Stroh und Gestank. Niemand hat ihr diesen Lifehack gezeigt, aber sie legt ihr Kind in die Futterkrippe. Andere hätten vor lauter Ekel den Stall gar nicht erst betreten.

Der Frieden breitet sich aus:
Die Hirten mögen mehr oder weniger furchtsam und feige gewesen sein – von Gottes offenem Himmel angesteckt wagen sie sich ins Ungewisse. Sie brechen auf und finden den Weg und das Ziel.
Die Hirten, die Wildfremden, werden dann tatsächlich hereingelassen. Sie bleiben nicht außen vor. Sie sind mittendrin und dabei.
Auf den Ämtern und Behörden hieße das zu den gegenwärtigen Sprechzeiten: «Sie sind integriert». Was noch viel schöner ist: Sie integrieren hernach noch andere, erzählen von ihren Erfahrungen, nehmen andere mit in diese unwahrscheinliche Geschichte hinein.

Sind es viele, die auf Gottes Frieden hoffen? Ich weiß es nicht, aber ich bin dabei: Ich hoffe auf diesen Frieden, der nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist, trotz allem, was mich in Angst und Schrecken versetzt.
Lassen wir uns alle von Gott segnen und behüten – mit großer Unkenntnis über unsere Zukunft. Lassen wir uns überraschen. Ich übe, mit allem zu rechnen, sogar mit dem Guten.
Ich will mein Vertrauen in das Unwahrscheinliche wachsen lassen. Es kommt vor, so oft wie in der Weihnachtsgeschichte und vor allem öfter, als ich denke.

Wirklich?
Ganz bestimmt!
Die Geschichte ist nicht nur wahr-scheinlich. Sie wird wahr.

Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an PD Dr. Dörte Gebhard

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Zur Christvesper kommen die einen, die oft und meistens kommen, und die anderen, die nur einmal oder dreimal im Jahr kommen. Sie alle gehören dazu und nehmen das Fest ernst. Die Weihnachtsgeschichte ist den meisten mehr oder weniger vertraut, manchen zu vertraut, falls es das gibt. Daher soll ein neues Licht auf die alte, unwahrscheinliche Geschichte scheinen. Die Adventszeit war von einer großen Sammelaktion für unsere Partnergemeinde in Berehove/Ukraine geprägt; es wurde unwahrscheinlich(!) viel gespendet an Geld und Dingen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der in den Weiten des Internets „auf-gelesene Spruch“ „Es kommt anders, wenn man denkt.“ bildete die zündende Idee für die Predigt, gab Anlass zu Wortspielereien, nicht nur einmal. Dazu kam der Gedanke, wie unwahrscheinlich alles ist, was von Maria und Josef und allen erzählt wird, weil es bei der Kriegsberichterstattung täglich heißt: „Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden.“ Das gilt auch für die lukanische Weihnachtsgeschichte, aber das Zitat aus der Kriegsberichterstattung habe ich mit voller Absicht vermieden.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Mir bleibt die Predigt erstens, weil ich in unserem Team nur jedes vierte Jahr „dran“ bin. Den größten Trost in unfriedlichen Zeiten ziehe ich aus der Beobachtung, dass die großen Herrscher und Despoten (Augustus, Quirinius), ihre Schlachten und ihre Beiträge zu Hass, Rache, Vergeltung und Gewalt fast vergessen sind, Jesus Christus und seine friedenverbreitende Art aber nicht.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Abschließend hat die Predigt eine klarere Struktur erhalten, u.a. gegeben durch Unterüberschriften. Sie ist etwas länger geworden, wird aber von mir spontan gekürzt werden, wenn die Umstände (z.B. die Musik) es erfordern. Predigerin und hörende Gemeinde sind müder als am Sonntagmorgen.

Perikope
24.12.2022
2,1-20

Gott steht uns bei und eröffnet immer wieder neue Wege - Predigt zu Lk 18,1-8 von Rainer Stahl

Gott steht uns bei und eröffnet immer wieder neue Wege - Predigt zu Lk 18,1-8 von Rainer Stahl
18,1-8

Liebe Leserinnen und Leser! / Liebe Schwestern und Brüder!

1          Er sagte ihnen aber ein Gleichnis davon, dass man allezeit beten und nicht nachlassen sollte,
2a        und sprach:
2b        »Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen.
3a        Es war aber eine Witwe in derselben Stadt,
3b        die kam immer wieder zu ihm und sprach:
3c        ‘Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher / gegen meinen Gegner!’
4a        Und er wollte lange nicht.
4b1      Danach aber dachte er bei sich selbst:
4b2      ‘Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue,
5a        will ich doch dieser Witwe, weil sie mir so viel Mühe macht, Recht schaffen,
5b        damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage / mir ein blaues Auge schlage.’«
6a        Da sprach der Herr:
6b        »Hört, was der ungerechte Richter sagt! / :
7a        ‘Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen,
7b        und sollte er bei ihnen lange warten / und wird er es mit ihnen hinausziehen?’
8a        Ich sage euch:
8b        Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze.
8c        Doch / Bloß – wenn der Menschensohn kommen wird, wird er dann Glauben / Beharrlichkeit / Treue finden auf Erden?«“

Etwas Ungeklärtes in diesem Gleichnis war es, das mir den Anstoß dazu gegeben hatte, einen Zugang zum Verstehen zu gewinnen: Es wird nicht offengelegt, wer der Widersacher, wer der Gegner gewesen sein mag und warum er Widersacher, Gegner dieser Witwe geworden war (vgl. Vers 3c). So nehme ich mir die Freiheit, mir einen Fall vorzustellen: Die Witwe hat einen Verwandten, der ihr das Erbe des gestorbenen Ehemannes wegnehmen will, der glaubt, selber Ansprüche zu besitzen – und dies durchaus auf verschiedenen Wegen oder mit verschiedenem Verhalten ihr gegenüber:
+  Ihr Schwager, der ihr die Ehe anbietet, um so seinem verstorbenen Bruder doch noch Nachkommen zu schenken. – Allerdings wird in der neutestamentlichen Geschichte nicht erwähnt, dass die Witwe kinderlos geblieben war. Das imaginiere ich einfach, weil sie ja keinen Sohn um Hilfe bittet, sondern immer wieder diesen Richter aufsucht.
+  Ihr Schwager, der vorgibt, ihr auf diesem Wege das weitere Leben zu sichern. – Hätte sie ihn dann aber als Widersacher wahrgenommen? Es musste also noch mehr „im Raum“ gewesen sein.
+  Ihr Schwager, der auf diesem Wege Verantwortung für das Erbe seines Bruders oder auch einfach Zugriff auf dieses Erbe gewinnen will. – In diesem Fall hatte er sich ohne Zweifel als ihr Gegner erwiesen.

Jetzt will ich nicht auf die verschiedenen Dimensionen der für uns äußerst gewöhnungsbedürftigen Bestimmung der Leviratsehe, der Schwagerehe eingehen. Ich zitiere einfach die grundlegende Festlegung im Buch Deuteronomium / in 5. Mose 25:

5a1      „Wenn Brüder beieinander wohnen und einer stirbt ohne Söhne,
5a2      so soll die Frau des Verstorbenen nicht die Frau eines Mannes aus einer anderen Sippe werden,
5b1      sondern ihr Schwager soll zu ihr gehen
5b2      und sie zur Frau nehmen und mit ihr die Schwagerehe schließen.
6a1      Und der erste Sohn, den sie gebiert,
6a2      soll gelten als der Sohn seines verstorbenen Bruders,
6b        dass dessen Name nicht ausgetilgt werde aus Israel.“

Direkt danach wird im Buch Deuteronomium / in 5. Mose 25 allerdings der wohl viel häufigere Fall behandelt, dass der Schwager nämlich nicht bereit ist, sich in der beschriebenen Weise für seinen verstorbenen Bruder einzusetzen. Deshalb geht dort die vorgestellte die Schwägerin, die Witwe zum Gericht im Tor und klagt ihren Schwager an:

7b1      „Mein Schwager weigert sich, seinem Bruder seinen Namen zu erhalten in Israel,
7b2      und will mich nicht ehelichen.“

Jetzt – so finde ich – wird unsere Gleichnis-Situation schon ein Stück weit lebendiger:
Der Schwager der Witwe im Lukasevangelium weigert sich gerade nicht, sondern er greift nach seiner Schwägerin und hat sich so als Widersacher, als Gegner erwiesen: Er will sie als Witwe im System der Abhängigkeit und Zugehörigkeit festhalten. Diese aber wehrt sich. Sie will selbstständig bleiben. Sie will den Betrieb des Mannes selber weiterführen. Sie repräsentiert die neue Zeit, nach der auch Frauen eigenständig wirken, das Erbe selbstständig weiterführen können. Ich habe einmal einen interessanten Satz gefunden: „Rechtsmündig ist die F.(rau) erst als Mutter und als Witwe.“

Wir erkennen: Die Witwe kämpft für ihr Recht, auf eigenen Füßen zu stehen. Deshalb bedrängt sie den Richter ihrer Stadt! Und dieser Richter beschließt letztlich, gegen das traditionelle Recht neuen Gesichtspunkten und Entscheidungsmöglichkeiten den Durchbruch zu ermöglichen! Aber er tut dies nicht als Überzeugter, sondern nur als Bedrängter. Er will seine Ruhe haben vor dieser ihn störenden und bedrängenden Frau:

5b        „»‘[…] damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage / mir ein blaues Auge schlage’«“ – wie das griechische Wort eigentlich heißt!

Erst jetzt erfasse ich wirklich, was Jesus aus Nazareth – ich darf festhalten, dass dieses nur im Lukasevangelium erhaltene Gleichnis wirklich auf Jesus zurückgeht – seinen Zuhörerinnen und Zuhörern und auch uns zumutet:
Wir sollen an Gott festhalten, ihn mit unseren Gebeten bedrängen, selbst wenn wir gelegentlich das Gefühl haben, dass Gott uns gegenüber wie ein nur selbstinteressierter Richter handeln würde. Und wir sollen ihm gegenüber wie eine verzweifelte und ganz von ihren Problemen, Sorgen und Wünschen erfüllte Witwe auftreten. Dazu sollen wir unseren Mut aufbringen! Denn, wenn wir bei solchem beharrlichen Gebet bleiben – mit Gott können wir ja nur durch unser Gebet kommunizieren (!) –, klammern wir uns an unsere Überzeugung, dass Gott uns Gutes will, dass Gott uns gegenüber aufrichtig ist!

Bei solchem Beten wirken sich sicher auch unsere charakterlichen Voraussetzungen aus. Aber, wenn es wirklich um die Existenz geht, dann werden wir alle doch auch unsere Wohlanständigkeiten fallen lassen und für uns mit Gott wirklich ringen. Christus sagt uns dazu: Ja, das dürfen wir:

7a        „»‘Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen?’«“

Ich erspüre hier einen Verstehensweg unserer jüdischen Nachbarn, den auf alle Fälle schon Lukas etwa im Jahr 73 verfolgt hatte: den Schluss vom Kleinen zum Großen. Was also gegenüber dem ungerechten Richter sinnvoll ist, das ist umso sinnvoller gegenüber Gott, gegenüber dem, der unser Leben und unser Wohlergehen will:

8a        „»Ich sage euch:
8b        ‘Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze.’«“

Denn Gott ist nicht einfach der Sachwalter der Tradition, des Herkommens, sondern der Förderer auch von neuen Lebensmöglichkeiten, derjenige, der uns ganz Unerwartetes möglich machen kann, vielleicht uns in unserem Leben – in Ihrem Leben wie in meinem Leben – schon möglich gemacht hatte:

Als ich auf dem Weg zur erfolgreichen Promotion B war – wie das damals in der DDR hieß (in Westdeutschland wäre das die Habilitation gewesen) –, musste ich erkennen, dass trotzdem nicht vorgesehen wurde, dass ich an der Universität Jena bleiben konnte. Warum? Weil ich neben meiner Arbeit an der Universität auf das Zweite Examen, auf das Examen der Kirche und auf die Ordination zuging. Natürlich erfuhr ich diesen Grund erst nach den politischen Veränderungen: Dass deshalb damals die Partei an der Universität, die SED, entschieden hatte, dass ich zu gehen habe, mir aber diese Promotion B nicht verweigert wurde. Aber meine Kirche schickte mich zu einem gut zweijährigen Einsatz in die Zentrale des Lutherischen Weltbundes in Genf! Und der Staat genehmigte mir diesen Auslandseinsatz! Hatte nicht damals Gott mir den für mich beinahe selbstverständlich wirkenden Weg verbaut? Und dann im Unterschied dazu mir unerwartet neue Möglichkeiten eröffnet?

Für unsere Geschichte heißt das: Gott ist derjenige, der die Lebenschancen der verwitweten Schwägerin zu tolerieren und ihr die ersehnte Zukunft zu eröffnen bereit ist, so dass sich diese Witwe auf diesem Wege weiterhin selbständig der Geschäfte ihres verstorbenen Mannes annehmen kann.

An diesem Punkt meines Erkennens habe ich darüber gegrübelt, welche moderne Herausforderung dem entsprechen könnte, was damals – vielleicht im Jahr 29 bei Jesus und eben im Jahr 73 bei Lukas – gemeint gewesen war. Da trat vor mein inneres Auge die Bewegung „#MeToo“ / „auch ich“, oder in Russisch: „#Ятоже“ [„Ja-tosche“] / „ich auch“, oder in Hebräisch: „גםאנחנו#“ [„gam-’anachnu“] / „auch wir“! Zu der es sogar die Bewegung „#HowIWillChange“ / „wie ich mich ändern will“ gibt! Diese Bewegungen legen mir die Frage vor die Füße, wie wir aufstrebende junge Menschen fördern. Erfolgreiche junge Männer und junge Frauen.
Wenn wir in unserem Leben in einer Beziehung zu Gott bleiben wollen – sei sie auch noch so schwach –: Dann wirklich selbstlos! Ohne selbstsüchtige Erwartungen – egal auf welchem Gebiet. Ich bin ein Mann. Aber ich kann sagen, dass ich immer selbstlos gefördert wurde und selber andere selbstlos zu fördern versucht habe. Damit wurden meine Lehrerinnen und Lehrer und ich mit Blick auf andere, zum Beispiel auf Studentinnen und Studenten, nicht unbedingt zu Gerechten. Aber: Wir wurden zu Menschen, die anderen immer klar in die Augen sehen konnten. Zu Menschen, denen andere nie „ein blaues Auge geschlagen“ hätten.
Gerade vor dem Hintergrund der „#MeToo“-Bewegung werden wir doch darauf aufmerksam, wie viele Menschen sich als selbstlose Förderinnen und Förderer verhalten! Auch wir, auch ich!

Darauf hebt die überraschend wirkende letzte Frage ab:

8c        „»‘Doch / Bloß – wenn der Menschensohn kommen wird, wird er dann Glauben / Beharrlichkeit / Treue finden auf Erden?’«“

Diese drei Facetten des Wortes „Glauben“ zeigen mir drei Dimensionen der Zusage, die uns unser Bibelwort anbietet:
Zuerst Glaube, Vertrauen, dass das eigene Leben von Gott bewahrt bleiben wird. Gegen alle Unsicherheiten unserer gegenwärtigen Zeit können wir Gott weiter vertrauen – und wenn wir Menschen neben uns haben, die für uns Verantwortung aufbringen, auch ihnen vertrauen.
Dann Beharrlichkeit: Gerade auch Beharrlichkeit im Beten. Ich kann nur bezeugen, dass es mir selber hilft, wenn ich meine Erfahrungen und Ängste immer wieder im Gebet Gott gegenüber ausspreche! Lassen auch Sie sich auf diese Erfahrung ein!
Und schließlich Treue, Dranbleiben am Vertrauen auf Gott: Auch, wenn wir für den als gut erkannten Weg kämpfen müssen. Auch, wenn wir anderen Lebensmöglichkeiten gewähren, ihnen anbieten, ihnen nie wegnehmen. Also, dass ich offen dafür bleibe, dass sich für mich Erhofftes zwar zerschlagen kann, aber Unerwartetes zu einem Weg für mich werden kann!

Ist das nicht ein großes Angebot für uns? Ja, es ist das Angebot dieser Woche für jede und jeden von uns.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Dr. Rainer Stahl

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Mir stehen Lebensschicksale vor Augen, die zu grundlegenden Veränderungen geführt haben und dabei Enttäuschungen und bleibende Verletzungen, aber auch Bestärkung von Hoffnung und Lebensfreude bewirkt haben.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der entscheidende Punkt war für mich der Versuch, die im Text angedeutete Problemlage konkret imaginieren zu können: Widersacher, Gegner interpretiert als Gegenüber, der die Witwe in der traditionellen Abhängigkeit festhalten will (und dabei natürlich auch gewisse Bewahrung realisieren würde).

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass ich versuche, auch weiterhin angesichts von Krisen in meinem Leben das Vertrauen, den Glauben, die Beharrlichkeit, die Glaubenstreue gegenüber Gott durchzuhalten.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
In der abschließenden Bearbeitung habe ich die guten Rückfragen und Hinweise meines Coaches und auch noch selber Gedanken aufnehmen können, die den Text klarer gemacht haben.

 

Perikope
13.11.2022
18,1-8