Genaues Hinsehen birgt Überraschungen - Predigt zu Lk 10,25-37 von Andreas Schwarz

Genaues Hinsehen birgt Überraschungen - Predigt zu Lk 10,25-37 von Andreas Schwarz
10,25-37

25 Und siehe, da stand ein Gesetzeslehrer auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? 26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? 27 Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18). 28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben. 29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? 30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. 31 Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. 32 Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. 33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; 34 und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. 35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme. 36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war? 37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!

 

Vier Jahre ist es her, da sprach Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann von einer ernsthaften Bedrohung unserer Innenstädte:
Horden junger ausländischer Männer.
Die Botschaft kam an und wurde unterstützt oder heftig kritisiert.
Sie hat Spuren hinterlassen.
Wenn ich durch die Innenstadt gehe, sehe ich sie auf einmal deutlicher als vorher.
Ich spüre ein Unwohlsein, an ihnen vorbeizugehen, wenn sie am Eingang eines Einkaufszentrums stehen.
Miteinander in einer fremden Sprache reden, lachen.
Wie leicht könnte das umkippen?
Wozu sind sie als Gruppe fähig?
Was müssen Frauen denken und fühlen, wenn sie allein in deren Nähe kommen?
Welche Blicke.
Welche Sprüche.
Welche Angst.

Was ich nie wollte, ist geschehen.
Ein Satz hat sich eingeprägt und Spuren hinterlassen.
Ich denke und sehe Menschen mit mehr Vorurteilen.
Leicht fallen mir Beobachtungen auf, die diese Vorurteile unterstützen.
Dann braucht es andere, also gute Erfahrungen, die das wieder aufwiegen und in ein besseres Licht stellen.

Ich saß am Bahnsteig und wartete auf den Zug, der mich wieder nachhause bringen sollte.
Schönes Wetter, ein bisschen Wind.
Ich saß auf einer Bank und las in dem Buch, das ich mir für die Zugfahrt und die Wartezeit mitgebracht hatte.
Mein Lesezeichen war ein kleines Briefchen meiner Tochter, eine persönliche Geburtstagswidmung. Schon ein paar Jahre alt und leicht eingerissen.
Aber für mich mit großer Bedeutung.
Ein kleiner Moment Unachtsamkeit, da wehte der Wind das Briefchen weg, es landete im Gleisbett.
Ich ging sofort hinterher und sah es zwischen den Schienen liegen.
Aber das war mir zu tief – so sportlich, dann schnell wieder hochzukommen, bin ich nicht. Verboten ist es ja ohnehin.
Da verabschiedete ich mich innerlich schweren Herzens von diesem kleinen Zettel.
Am anderen Bahnsteig gegenüber saß eine Horde junger ausländischer Männer. Sie redeten und lachten miteinander. Aber einer von ihnen hatte mein Missgeschick sehr genau wahrgenommen.
Auch, dass ich wieder vom Bahnsteig zurück zur Sitzbank gegangen war, den Zettel also aufgegeben hatte.
Wir sahen uns über die ziemlich große Distanz kurz an.
Plötzlich stand er auf, sprang runter in das Gleisbett, ging zu dem Zettel, der da immer noch lag, sprang auf meiner Seite wieder hoch, kam zu mir und gab mir mit einem Lächeln im Gesicht den Zettel.
Ich konnte nur von Herzen ‚Danke‘ sagen, da war er schon wieder weg auf dem Weg zum Rest der ausländischen Horde junger Männer.
Ich habe mich so gefreut, dass ich diese persönliche Erinnerung wieder hatte und immer noch habe.
Und habe mich geschämt.
Für meine Vorurteile.
Und den unangenehmen Erfolg dieses einen Satzes von den Horden junger ausländischer Männer.

Wenn Jesus ein Gleichnis von einem barmherzigen Menschen erzählt, warum muss das ein Fremder sein, ein Ausländer?
Nichts sagt Jesus unbedacht.
Es ist Absicht und nicht Zufall.
Auch wenn die Formulierung das nahelegen könnte: Es traf sich aber. Die römisch-katholische Einheitsübersetzung sagt da tatsächlich: zufällig.
Aber dass Jesus so erzählt, dass ein Samariter barmherzig ist, ist alles andere als Zufall.
Jesus sagt und tut, was Menschen überrascht.
Ihre Erwartungen werden durcheinander gebracht.
Sie machen neue Erfahrungen, die bisherige Urteile und Vorurteile überwinden.
Spannend ist, ob Menschen sich dazu bewegen lassen.
Sich verändern zu lassen.
Neu zu denken und zu empfinden.
Anders zu handeln.

Menschen neigen dazu, sich in dem wohlzufühlen, was sie schon immer kennen; wie sie erzogen und aufgewachsen sind.
Sie lernen Bibelworte auswendig, nehmen das Bekenntnis an und haben ein Korsett, in dem das Leben und der Glaube an Gott gesichert scheinen.
Klare Regeln, einfache und schnelle Antworten auf alle Probleme.
Wie komme ich in den Himmel?
Ganz einfach: Gott und den Nächsten lieben.
Kein Problem. Mach ich. Noch was? Oder war das alles?
Das Leben ist einfach, wenn man für jede Frage die passende Antwort hat, auswendig gelernt, immer parat und zur Rechtfertigung bereit.
Aber das Leben ist konkret etwas anderes als kluge Antworten zu geben.
Nächstenliebe?
Finde ich gut.
Barmherzigkeit?
Ich bin dafür.
Aber wem denn? Wann denn? Wie denn?
Keine Ahnung.
Ich weiß nicht, wie ich die Leute finden soll, die ich lieben könnte, denen gegenüber ich barmherzig sein könnte.
Wo sind die?

Der Gesetzeslehrer will Jesus versuchen, hereinlegen, in eine Falle locken.
Er will am Ende über ihn urteilen, ob er es mit den Geboten Gottes wirklich ernst meint.
Aber plötzlich ändert sich die Richtung im Gespräch.
Es geht nicht mehr um Jesus und wie er denkt und handelt. Sondern um den Gesetzeslehrer.
Um seinen Blick auf das Leben geht es.
Um seinen Glauben, um seine Liebe zu den Menschen.
Jesus schenkt eine neue Erfahrung.
Die hilft, bisherige Urteile und Vorteile zu überwinden.
Ob der Gesetzeslehrer sich darauf einlässt, bleibt offen und damit spannend. Lukas erzählt nicht, wie er darauf reagiert, als Jesus zu ihm sagt: So geh hin und tu desgleichen.

Das Gleichnis ist am Ende offen.
Für den Gesetzeslehrer.
Und für jeden, der es hört oder liest.
Als Reaktion auf die Frage:
Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?
Die Antwort könnte tatsächlich ganz einfach sein: mit offenen Augen und offenem Herzen durchs Leben gehen.
Niemand muss jemanden suchen, damit er ihm gegenüber barmherzig ist und sich so den Himmel verdient.
Da sein, wo du bist.
Da gehen, wo du gehst.
Die Menschen sehen, die da sind und spüren, wo gerade du gebraucht wirst, mit dem, was du kannst.

Einer konnte halt gut in ein Gleisbett springen und hatte dabei auch den Mut, etwas Verbotenes zu tun.
Weil er etwas gesehen und etwas gespürt hat.
Er hat den kleinen Zettel gesehen, ohne zu wissen, was er mir bedeutet. Er hat gespürt, dass er mir wichtig war und ich nicht in der Lage, ihn mir selbst zu holen.
Er hat getan, was er konnte.
Für einen Fremden, den er nie wieder sehen wird, vermutlich.
Kleines und banales Beispiel für das Große, das Jesus erzählt.
Es muss auch gar nicht um Leben oder Tod gehen.
Sondern darum, dass jemand leidet und eine andere sieht es, fühlt mit und tut dagegen, was sie kann.

Es ist Jesus, der das Gleichnis erzählt. Und dann ist er in der Geschichte selbst auch drin.
Er hat die Menschen gesehen, mit all dem, was sie beschäftigt und worunter sie leiden.
Besonders die, die gerne übersehen wurden, weil sie unwichtig und unwürdig waren, weil man sie übersehen wollte. Er hat sich mit seiner Liebe zu ihnen selbst in Gefahr gebracht.
Ich stelle mir vor, wie dankbar der Überfallene war, weil ihm jemand geholfen hat. Egal, wo der herkam. Bemerkenswert, dass es ein ungeliebter Ausländer war.
So kommt zum Dank die Überraschung.
Nächstenliebe ist grenzenlos.
Weil Jesus grenzenlos liebt.
Darum gibt es das unter uns, offene Augen und offene Herzen füreinander.
Dass Menschen sehen, was andere brauchen, was ihnen fehlt und was sie geben können – an Zeit, an Kraft, an Gebet, an praktischer Hilfe.
Weil sie erlebt haben, dass Jesus sie liebt – ohne zu fragen, ob sie es verdient haben und woher sie kommen.
Manchmal muss ich das wieder neu lernen, weil ich mich so eingerichtet habe in dem, was mir bekannt und vertraut ist. Manchmal braucht es jemanden aus einer Horde junger ausländischer Männer, damit ich Vorurteile über Bord werfen und grenzenlos Liebe annehmen kann.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Andreas Schwarz

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine auch durch Corona kleiner gewordene Gottesdienstgemeinde; Menschen, die seit vielen Jahren sehr treu da sind und die zentralen biblischen Texte wie eben diesen kennen. Darum habe ich den Schwerpunkt nicht auf die naheliegende und oft gesagte Nächstenliebe gesetzt. Sondern auf das Stichwort ‚Samariter‘, verbunden mit ‚fremd‘, ‚Ausländer‘, ‚Vorurteile‘. In einer Stadt mit deutlich über 40% Migration und einer Gemeinde über 50% Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion ist das durchaus ein Thema.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Diese kleine Begegnung, an sich nicht wirklich bedeutend, hat mich aber persönlich so tief berührt, dass sie Spuren hinterlassen hat.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass Dinge nicht immer so sind, wie sie scheinen, egal, was Statistik und Mehrheitsempfinden ausdrücken. Jesus Christus öffnet Augen und Ohren für Fremdes, macht sensibel für Menschen, die leicht verurteilt oder übersehen werden.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Coach hat mir sehr geholfen, die Struktur meiner Predigt besser zu sehen und zu korrigieren. Sie hat mit einfachen Fragen Brüche in meinen Konstruktionen erkennbar gemacht. Unangebrachte Verbindungswörter konnten so gestrichen werden, weil Anschlüsse sachlich einfach falsch waren.

Perikope
11.09.2022
10,25-37

Die Namen der Armen - Predigt zu Lk 16,19-31 von Jürgen Kaiser

Die Namen der Armen - Predigt zu Lk 16,19-31 von Jürgen Kaiser
16,19-31

Pechrabenschwarz sind seine Hände. So schmutzig, dass ich glaube, er reibt sie mit einem Stück Kohle ein, bevor er zur Arbeit geht. Er ist dünn. Hemd, Hose, T-Shirt – alles schlottert um den mageren Körper. Die Haare sind lang und zottelig. Irgendwo muss er ein Kleiderdepot haben, denn er läuft nicht immer in den gleichen Klamotten herum. Und doch sind sie immer verdreckt. Ich höre ihn von weitem nahen, obwohl er sein Sprüchlein leise und monoton aufsagt, als sei er am Ende seiner Kräfte. Ich erkenne ihn am langsamen Schlurfen. Wenn er allerdings den Waggon wechselt, schlurft er nicht mehr, dann rennt er. Und wenn er einen Stammkunden begrüßt, redet er ganz normal, erkundigt sich, wie es ihm geht, als seien sie alte Freunde. Dann nimmt er das Geld und fällt wieder in sein stimmloses Betteln und sein Schlurfen zurück. Einmal hob er ein Hosenbein hoch und zeigte einem Stammkunden die Geschwüre am Strohhalmbein. Ich saß gegenüber und ekelte mich. Die S 25, mein Pendlerzug, ist sein Revier. Fast täglich begegnen wir uns. Manchmal noch am späten Abend, wenn es sich kaum mehr lohnt, weil die meisten Pendler längst zu Hause sind. Ich schaue in mein Handy, wenn er vorbeikommt. Ich traue mich nicht, den Blick zu heben.

***

Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Ein Armer aber mit Namen Lazarus lag vor seiner Tür, der war voll von Geschwüren und begehrte sich zu sättigen von dem, was von des Reichen Tisch fiel, doch kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren. Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben.
Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Und er rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge; denn ich leide Pein in dieser Flamme. Abraham aber sprach: Gedenke, Kind, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, du aber leidest Pein. Und in all dem besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, dass niemand, der von hier zu euch hinüberwill, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber. Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, dass du ihn sendest in meines Vaters Haus; denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual. Abraham aber sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören.

Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun. Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.

***

Die Kluft ist tief. Und es gibt keine Brücke. Man ist entweder auf der einen Seite oder auf der anderen Seite. Man kann nicht schnell hinübergehen, um auf der anderen Seite noch was zu regeln.
Die Meistererzählung im Lukasevangelium ist radikal. Sie erzählt von Himmel und Hölle und davon, dass es zwischen ihnen keinen Austausch gibt. Die tiefe Kluft zwischen Himmel und Hölle spiegelt die tiefe Kluft, die es in diesem Leben gibt zwischen einem himmlischen Leben auf Erden und einem höllischen Leben auf Erden. Auf Erden ist die Kluft oft nur ein Türspalt. Doch der Spalt öffnet sich nicht.
Der Reiche nimmt nicht zur Kenntnis, dass vor seiner Tür ein Armer liegt. Er macht nicht einmal nach dem Fest die Tür auf, um die Reste des täglichen Festmahls nach draußen zu bringen. Er wirft sie lieber in die Tonne. Er will sich dem Blick des Armen nicht aussetzen.
Auf Erden ist die Kluft oft nur ein Türspalt. Doch der Spalt öffnet sich nicht. In jenem Leben wird die Kluft dann unendlich. Davon erzählt diese Geschichte. Sie ist eine Erzählung der Beziehungslosigkeit. Wer es in diesem Leben nicht schafft, die Beziehungslosigkeit zu überwinden, wird es auch in jenem nicht mehr schaffen.

***

Von drei vergeblichen Versuchen wird berichtet, aus der Hölle selbstgewählter Isolation herauszukommen.

Zunächst bittet er um Erbarmen und einen Tropfen Wasser. Doch demütig scheint der Reiche selbst im Totenreich nicht geworden zu sein. Er ruft zu Abraham und befiehlt ihm, Lazarus zu schicken. Als Dienstbote darf Lazarus jetzt arbeiten, als der Wasserträger des Reichen. Selbst in der Hölle weigert sich der Reiche noch, Lazarus als einen Menschen wahrzunehmen, mit dem man sprechen könnte. Statt mit Lazarus spricht er mit dem Chef, mit Abraham, mit seinesgleichen. So ist er es gewohnt. Die Dinge auf höchster Ebene zu regeln. „Ich ruf beim Chef an, der kennt mich!“
In der Tat, der kennt ihn und erklärt ihm, warum der Reiche nun ist, wo er ist, und Abraham nichts für ihn tun kann: Du hast Gutes empfangen in deinem Leben, Lazarus Böses, jetzt ist es umgekehrt. Postmortal muss der Reiche die Lebenserfahrung des Armen nachholen: Die Bitten um Essensreste, um einen Tropfen Wasser werden nicht erhört. Wie auch Lazarus nun das nachholen darf, was ihm im Leben verwehrt war: sich in Sicherheit und Geborgenheit zu wissen.

Zweiter vergeblicher Versuch der Kontaktaufnahme: Als er merkt, dass er für sich selbst nichts mehr erreichen kann, wird er plötzlich sozial und denkt an die anderen. Allerdings nur an seine Brüder. Die Sippe geht vor. An die anderen denken die Reichen nur innerhalb ihrer Netzwerke. Die Reichen haben ihre eigenen Leute im Blick. Lazarus – immer noch Dienstbote – soll die Brüder warnen. Auch dies lehnt Abraham ab. Sie haben Mose und die Propheten. Jeder weiß, was zu tun ist. „Schau vor deiner Tür!“, nichts Anderes sagen auch Mose und die Propheten. Aber der Reiche kennt sich und seine Brüder. Auch wenn sie in die Gotteshäuser gehen – sie hören nicht, was dort gesagt wird. Denn wenn sie es hörten, würden sie die Tür öffnen und mit dem reden, der davor liegt.

Unglaublich der dritte Versuch: Wenn jemand von den Toten zu ihnen käme, dann würden sie umkehren. Der Auferstandene soll denen Dispens geben, die nie auf Mose und die Propheten gehört haben? Oder rechnet sich der Reiche am Ende gar aus, er selbst werde auferstehen dürfen, um seine Sippe zu warnen? Darauf das dritte Nein Abrahams: Wer Mose und die Propheten nicht hört, der sieht in einem, der von den Toten kommt, allenfalls ein Gespenst, jedoch keinesfalls einen Grund zu Selbstkritik und Umkehr. Was sagt einem ein Auferstandener schon, wenn man nicht zuvor Mose und die Propheten gehört hat?

***

Dies ist eine wahre Geschichte und eine harte Geschichte. Sie ist wahr, weil sie erzählt, wie es ist. Und sie ist hart, weil sie uns jede Illusion darüber verwehrt, dass es einmal anders sein könnte. Wer es jetzt nicht schafft, wird es auch in Ewigkeit nicht schaffen. Warum kommt der Reiche selbst in der Hölle nicht zur Besinnung? Warum treiben ihn nicht einmal die Qualen, denen er dort ausgesetzt ist, zur Buße? Das ist das Verwunderliche an dieser Meistererzählung aus dem Lukasevangelium. Sie ist eine Geschichte voller Beziehungsverweigerungen. Sie erzählt von der Unmöglichkeit einer postmortalen Umkehr. Jedenfalls für den, der sich zu Lebzeiten schon geweigert hat, zur Kenntnis zu nehmen, dass vor seiner Tür ein Mensch liegt. Wer einen Menschen erst gar nicht wahrnimmt, wird auch nie auf die Idee kommen können, dass er ihm etwas schuldig geblieben ist.

Das ist hoffnungslos. Jedenfalls für den reichen Mann, um den es in dieser Geschichte ja geht. Anders für den Armen, der nicht nur entschädigt wird, sondern in dieser Geschichte auch einen Namen erhält: Lazarus, das heißt: „Gott hat geholfen“. Die Geschichte vom reichen Mann, der keinen Namen hat, ist eigentlich so trostlos, dass man sie gar nicht weitererzählen möchte. Und doch wurde sie weitererzählt und ist bekannt geworden als die Geschichte von dem, dem sie einen Namen gegeben hat, als die Geschichte vom armen Lazarus.

Wir kennen die Namen der Reichen gut, aber die Namen der Armen kennen wir nicht. An dieser Stelle zerbricht die Geschichte den Spiegel und gibt Einblick in die Welt Gottes, in der das anders sein wird. In der Welt Gottes werden die Reichen vergessen werden, denn sie haben dort keine Namen mehr. Aber der Armen wird gedacht werden. Sie heißen Lazarus und sitzen in Abrahams Schoß.

***

Es hat Jahre gedauert, bis ich endlich den Mut fand, ihm ein paar Euro in die pechrabenschwarze Hand zu drücken. Seither fragt er mich jedes Mal, wie es mir geht und ob ich in meine Kirche fahre. Neulich hatte er Geburtstag. Er wurde 26. Ich gab ihm ein paar Euro obendrauf. Seither hat er drei oder viermal im Jahr Geburtstag. Wenn ich kein Kleingeld habe, kann er wechseln. Er hat reichlich Scheine in seinen ausgebeulten Hosentaschen. Gott sei Dank! Er hat offenbar genug für das, was er unbedingt braucht – was immer es ist. Neuerdings bietet er mir an, für einen ganzen Monat im Voraus zu zahlen. So eine Art Abo. Er merkt es sich an den restlichen Tagen des Monats, muss sich nicht mehr mit mir aufhalten, sondern schlurft weiter, sagt sein monotones Sprüchlein, vergisst aber nie, mir im Vorbeischlurfen zuzuzwinkern. Er ist kein Heiliger. So lange er noch nicht in Abrahams Schoß sitzt, kann er sich sowas gar nicht leisten. Während der Pandemie fuhr ich lange Zeit nicht mit der S-Bahn. Ich machte mir Sorgen um ihn. Die Bahnen waren leer. Wird er die Lockdowns überleben? Werde ich ihn wiedersehen, wenn ich wieder die S-Bahn nehme? Von weitem hörte ich sein Schlurfen. Er war noch ein bisschen magerer geworden, aber sonst ganz der alte. Die Armen sind Überlebenskünstler. Sie überbrücken die Krisen und die Lockdowns und den Winter. Und die tiefe Kluft. Mein Freund aus der S 25 heißt Lenny. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Bildungsbürgerlich geprägte, kulturell interessierte Großstadtgemeinde, teils mit historischem Migrationshintergrund (Hugenotten) und hohem Akademikeranteil, darunter einige Theolog/inn/en und Ruhestandsgeistliche.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mir haben meine Begegnungen in der Berliner S-Bahn geholfen. In Berlin kommt man kaum mit dem ÖPNV oder zu Fuß durch die Stadt, ohne von irgendjemandem um ein paar Euro angebettelt zu werden. Man kann nicht allen was geben. Aber keinem was zu geben, ist auch keine Lösung.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Den Armen ist nicht nur mit Geld geholfen, sondern auch mit Wahrnehmung. Und sola gratia macht das Gericht nach den Werken nicht überflüssig.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich habe mir nochmal vor allem die Rahmenerzählung angesehen und stilistisch rumgefeilt.

Perikope
19.06.2022
16,19-31

Programmänderung im Kopfkino - Predigt zu Lk 11,5-13 von Olaf Waßmuth

Programmänderung im Kopfkino - Predigt zu Lk 11,5-13 von Olaf Waßmuth
11,5-13

Lukas 11,5-13

5 Und [Jesus] sprach zu ihnen: Wer unter euch hat einen Freund und ginge zu ihm um Mitternacht und spräche zu ihm: Lieber Freund, leih mir drei Brote; 6 denn mein Freund ist zu mir gekommen auf der Reise, und ich habe nichts, was ich ihm vorsetzen kann, 7 und der drinnen würde antworten und sprechen: Mach mir keine Unruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen und meine Kinder und ich liegen schon zu Bett; ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben. 8 Ich sage euch: Und wenn er schon nicht aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, so wird er doch wegen seines unverschämten Drängens aufstehen und ihm geben, so viel er bedarf.
9 Und ich sage euch auch: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. 10 Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan. 11 Wo bittet unter euch ein Sohn den Vater um einen Fisch, und der gibt ihm statt des Fisches eine Schlange? 12 Oder gibt ihm, wenn er um ein Ei bittet, einen Skorpion? 13 Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten!

 

Liebe Gemeinde,

ich bin gut im Kopfkino: Wenn ich weiß, ich muss ein schwieriges Gespräch führen, spiele ich in Gedanken alles schon mal durch – die ganze Szene: Ich überlege, was ich sagen werde. Ich stelle mir vor, wie der andere reagieren könnte. Leider läuft in meinem Kopfkino oft der Worst-Case-Film, also: ich male mir aus, wie alles schlimmstenfalls ablaufen könnte. Das ist dann nicht immer hilfreich. Sondern manchmal auch ziemlich entmutigend.
Der Psychologe Paul Watzlawick hat pointiert beschrieben, wozu das Kopfkino führen kann. Vielleicht kennen Sie seine „Geschichte mit dem Hammer“: Ein Mann bräuchte einen Hammer, um einen Nagel in die Wand zu schlagen. Er überlegt, einen bei seinem Nachbarn auszuleihen. Aber dann fällt ihm ein, dass der Nachbar ihn im Treppenhaus immer nur flüchtig grüßt. Womöglich mag ihn der Nachbar nicht. Womöglich hält er sich für etwas Besseres. So ein arroganter Typ! Der würde ihm vermutlich kein Werkzeug borgen. Am Ende rennt der Mann ins Treppenhaus, klingelt beim Nachbarn und brüllt ihn an: „Behalten Sie doch Ihren verdammten Hammer!“
Der falsche Film im Kopfkino kann einen Menschen völlig ausbremsen, ja ihn von dem abhalten, was er eigentlich tun möchte und auch tun sollte. Der falsche Film im Kopfkino – der hält Menschen womöglich auch vom Beten ab.

Beten hat ja viel mit dem zu tun, was wir uns vorstellen. Wir sprechen zu einem unsichtbaren Gegenüber. Wir reden dabei oft über Dinge, die uns beschäftigen, obwohl sie erstmal nur in unseren Gedanken existieren. Über Wünsche, Befürchtungen und Phantasien. Welcher Film läuft da ab?

Jesus erzählt im Zusammenhang mit dem Beten drei kurze Beispiele, die davon handeln, wie jemand einen anderen um etwas bittet und damit böse auf die Nase fällt. Wir haben das eben gehört:
Ein Mensch bittet einen Freund spätabends um etwas Brot, um einen unerwarteten Gast zu bewirten. Aber der Freund liegt schon im Bett und hat keine Lust, die Tür nochmal aufzumachen. Ein hungriger Sohn bittet seinen Vater um einen Fisch – aber der gibt ihm eine Schlange. Oder er bittet ihn um ein Ei – und bekommt stattdessen einen Skorpion. Alles Worst case-Fälle, die Jesus als unmögliche Möglichkeit vor Augen malt.
Die drei Beispiele sollen so absurd sein, wie sie scheinen. Jeder erkennt gleich: Dieser Film ist falsch. Es gibt keinen Grund, sich vor einer solchen Situation zu fürchten. Und zwar deshalb nicht, weil die Menschen, die hier handeln, in einer Beziehung miteinander verbunden sind: Freund und Freund; Vater und Sohn. Wer in einer solchen Beziehung steht, kann sich beim Bitten etwas trauen. Der darf ehrlich sagen, was er braucht. Der kann mit Verständnis oder zumindest Loyalität rechnen. Das gilt schon im Zwischenmenschlichen, obwohl – wie am Ende mit einem kleinen Seitenhieb vermerkt wird – Menschen grausam und hart sein können. Um wie viel mehr aber gilt es dann bei Gott!

Gott um etwas bitten:
Vielen Menschen fallen tausend Dinge ein, warum man das gleich sein lassen kann. Beim Stichwort Gebet läuft der Film in ihrem Kopf ab:

  • Es hat noch nie geholfen.
  • Ich rede da bloß mit mir selbst.
  • Ich mache mich lächerlich.
  • Ich kenne die richtigen Worte nicht.
  • Warum gibt es soviel Leid, wenn Gott auf Gebete hören würde?
  • Oder: Warum soll ich beten, wenn Gott doch sowieso schon alles weiß?

Wenn man lang genug in diesen Schleifen denkt, möchte man schreien: Gott, behalt doch deinen Hammer! Oder genauer: Man sagt und bittet nichts. Und natürlich passiert dann auch nichts.
Das Schwerste beim Beten ist – meiner Erfahrung nach – damit anzufangen! Es zu wagen. Das war vermutlich schon zur Zeit Jesu so, aber heute erst recht. Beten ist vielen fremd geworden, unselbstverständlich, mit abschreckenden Bildern und Urteilen behaftet. Wo kommen andere Bilder her?
Ich selbst habe viel gelernt bei den großen alten Lehrerinnen und Lehrern der christlichen Tradition. Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, hat geistliche Übungen entworfen, die auch eine Schule des Gebets sind. Dabei schlägt er vor, sich Jesus möglichst bildlich und konkret als Gegenüber vorzustellen; als den Menschen voller Freundlichkeit und Wohlwollen, dem man rückhaltlos vertrauen kann. Das ist nicht einfach ein Trick. Auch in unserem heutigen Predigttext, der Gebetsermutigung Jesu an seine Jünger, liegt das ganze Gewicht ja auf der Beziehung zu Gott. Gott meint es uneingeschränkt gut mit mir. Besser als jeder Freund. Mindestens so gut wie Vater und Mutter. Wer betet, vertraut sich dieser Beziehung an. Wer betet, ergreift die ausgestreckte Hand Gottes.

Und was passiert dann?
Bei genauerem Hinsehen benutzt Jesus in seinen Beispielgeschichten Bilder und Vergleiche, die uns auch etwas darüber verraten, was das Gebet eigentlich ist. Was es für die, die sich darauf einlassen, bewirkt.

Ein neues Bild fürs Gebet ist das Brot, das ich empfange: Ich weiß nicht, was genau mein Gebet bringt, aber erwarten darf ich: Stärkung.
Ein neues Bild fürs Gebet ist die geöffnete Tür: Ich weiß nicht im Voraus, was mir dahinter begegnet, aber sicher sein kann ich: Es geht weiter.
Ein neues Bild fürs Gebet ist der Geist, der mich erfüllt: Es verändern sich nicht unbedingt die Verhältnisse um mich herum, aber ich gehe neu und anders mit ihnen um.

In solchen Bildern sagt Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern zu: Das Beten lohnt sich.
Weil Gott Gebete erhört. Nicht auf die einfache, scheinbar unmittelbare Weise: in der Erfüllung unserer Wünsche, in der Lösung unserer Probleme. Dass es so einfach nicht ein kann, ist nicht erst eine Erkenntnis unserer Zeit. Das wusste man schon immer. Das weiß auch Jesus.
Gott reagiert auf unser menschliches Beten, wie es der notorischen Liebe eines guten Vaters oder einer guten Mutter für die eigenen Kinder entspricht: In Weisheit, Solidarität und Fürsorge ist er für uns da. Und nicht zuletzt in Geduld. Bei ihm kann man auch mitten in der Nacht noch ankommen und klingeln. Er öffnet die Tür, wenn alle anderen Türen verschlossen sind. Von ihm bekomme ich, was ich zum Leben wirklich brauche.

Jesus will die Programmänderung im Kopfkino:

Das Gebet – es ist kein schwieriges oder riskantes Gespräch. Man kann es wagen. Es ist ganz leicht.
Es braucht keine ausgefeilte Theologie.
Keine angelernten Worte.
Keine aufgeladenen Erwartungen.
Es reicht ein einfaches, spontanes Du.
Und schon läuft ein anderer Film.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Dr. Olaf Waßmuth

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine volkskirchlich-kleinstädtische Gemeinde, in der viele Gottesdienstbesucherinnen und -besucher sich auch aktiv einbringen. Über die persönliche Glaubenspraxis, insbesondere über das eigene Beten, wird dabei aber selten gesprochen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Schwierigkeiten mit dem Gebet sind in meiner Erfahrung kein unbedingt aktuelles, aber „zeitloses“ Thema. Die bekannte Watzlawick-Geschichte brachte mich auf die Idee, dass wir uns auch beim Beten oft selbst im Weg stehen. Beflügelt hat mich der Gedanke, dass unsere Beziehung zu Gott unter ähnlichen Kommunikationsstörungen leiden könnte wie manche zwischenmenschliche Beziehung.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Entdeckt habe ich, dass Jesus nicht nur Karikaturen enttäuschten Bittens erzählt, um die Befürchtungen seiner Zuhörer*innen zu entkräften. Neben den negativen Zuspitzungen enthält die Perikope auch positive Bilder für das, was ein Gebet sein kann: Brot, das sättigt, eine Tür, die sich öffnet, Geisteskraft, die einen Menschen erfüllt. Diese Bilder führen viel weiter als die Frage der Gebetserhörung, die ich primär mit dem Text verbunden hatte.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich habe versucht, die oben beschriebene Entdeckung noch nachvollziehbarer zu machen, wohl wissend, dass sie gegenüber meiner ursprünglichen Predigtidee, negative Vorurteile gegenüber dem Gebet als falsche Blockaden zu erkennen, im Grunde einen zweiten Strang darstellt.

Perikope
22.05.2022
11,5-13

Von der Ferne in die Nähe - Predigt zu Lk 23,32-49 von Ralph Hochschild

Von der Ferne in die Nähe - Predigt zu Lk 23,32-49 von Ralph Hochschild
23,32-49

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Der Predigttext für den Karfreitag steht im Evangelium nach Lukas im 23. Kapitel, die Verse 32-49.

32 Es wurden aber auch andere hingeführt, zwei Übeltäter, dass sie mit ihm hingerichtet würden. 33 Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. 34 Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun! Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los darum. 35 Und das Volk stand da und sah zu. Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes. 36 Es verspotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und brachten ihm Essig 37 und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir selber! 38 Es war aber über ihm auch eine Aufschrift: Dies ist der Juden König. 39 Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns! 40 Da antwortete der andere, wies ihn zurecht und sprach: Fürchtest du nicht einmal Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? 41 Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. 42 Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! 43 Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein. 44 Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde, 45 und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei. 46 Und Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, verschied er. 47 Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen! 48 Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um. 49 Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles.

 

Liebe Gemeinde,

“von ferne” müssen seine Freunde, die Frauen und Bekannten, das alles mit ansehen. Hilflos, sprachlos, mit Tränen in den Augen, abseits des wirklichen Geschehens. Wir kennen ihren Schmerz. Wir erinnern uns an den Anfang der Pandemie. Wie Menschen ihren schwer erkrankten Lieben nicht mehr nahekommen durften. Wie sie beim Abschied nur ihr Bild auf einem Tablet vor sich hatten. Hilflos, um Worte ringend, von ferne. Wie gern hätten sie ihre Lieben noch einmal berührt, gehalten, geherzt, gestärkt. Keiner in jenen Tagen, der nicht gefürchtet hätte, dasselbe zu erleiden.
Liebste Menschen zurücklassen und fliehen zu müssen, von ferne hilflos zuschauen müssen, wirft einen untröstlich zu Boden. Von ferne Bangen und Hoffen, wenn jemand hilf- und wehrlos unterworfen ist, einer militärischen Maschinerie, der Brutalität des Krieges, dem Kalkül der Mächtigen, es bricht das Herz.

Nur von Weitem lässt Lukas in seiner Erzählung vom Sterben Jesu die Jünger dabei sein. Die Frauen und Männer, die ihm gefolgt waren, die ihr Leben mit ihm geteilt hatten, die ihre Hoffnungen auf ihn gesetzt hatten. Bei ihm stehen, nicht gehen, im Erblassen, sein Haupt fassen (EG 85,6) - es bleibt ihnen versagt. Erstarrt, verstummt, in schmerzvollem Schweigen, so stelle ich mir sie vor.
Von Weitem nähern wir uns nach fast 2000 Jahren seiner Geschichte und doch ist es, als stünden wir an der Seite der Jünger, ja es kommt mir vor, als seien wir ihnen in den letzten Wochen mit unserer Fassungslosigkeit, unserem Entsetzen, mit unserem Ringen um die richtigen Worte ganz nahe gerückt. Was trägt uns jetzt? Wer gibt unsrem Leben Kraft? Wo finde ich einen festen Grund?

Nur von Weitem und vor allem stumm lässt Lukas Jesu Jünger zu Zeugen seines Sterbens werden. Ausgerechnet Lukas lässt sie alle in der Ferne stehen, dem so viel an den Augen- und Ohrenzeugen der Geschichte Jesu, dem so viel an ihrer Nähe zu Jesus, dem so viel an der Zuverlässigkeit ihrer Überlieferungen liegt. Er hält sie auf Distanz.
Mit der Distanz der Augenzeugen schafft Lukas einen Raum für sich. Zum Nachdenken, zum Deuten, zum eigenen Erzählen. Aus unserer Erfahrung wissen wir: Von ferne zusehen müssen - das ist quälend. Wir wissen aber auch: Distanz tut manchmal gut und ist erhellend. Der Blick vom Mond hat unser Bild der Erde verändert. Wenn sie im Weltall so herrlich in blauen, grünen und weißen Farben leuchtet, spüren wir: Die Menschen haben keinen anderen Ort in diesem Universum, um friedvoll miteinander zu leben. Wenn ich dieses Dorf mit seiner kleinen Kirche, oben vom Südhang des Belchen so unendlich schön und friedlich in diesem Tale liegen sehe, dann ahne ich, was für ein besserer Ort unsere Welt doch sein könnte und eigentlich sein müsste. Und ich höre nicht auf zu glauben, dass sie das auch werden kann.

Mit der Distanz der Augenzeugen eröffnet Lukas einen Horizont für sich, um Sinn in diesem grausamen Geschehen zu finden. Und jetzt kann er seine Geschichte vom Sterben Jesu erzählen, seine Deutung der Geschichte kann er nun weitergeben, uns und alle, die von ferne stehen, will er auf festen Grund stellen, zu festen Schritten ermutigen, wo doch die Augenzeugen schweigen.

Einen Moment ist es noch still auf Golgatha. Das Sirren der Seile, mit denen die Verurteilten aufs Kreuz gezogen wurden, es ist verklungen. Die Hammerschläge, die die Querbalken am Kreuzesstamm verankerten, sie sind verhallt. Drei Übeltäter, drei Kreuze, das Publikum schaut schweigend zu. Was ist es, das Lukas uns jetzt hören lässt?

Wir hören erste Stimmen. Die Stimmen der Mächtigen. Grell gellen sie in unseren Ohren. Stimmen, die keine Rettung suchen. Stimmen, die sich rechtfertigen müssen vor ihrem Volk. Für den Rechtsbruch und das rücksichtslose Durchpeitschen ihrer Interessen. Und wir haben sie so satt: “Rettet er sich nicht selbst, dann wird er niemand helfen können.” Es ist die billige Logik des “Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott”, mit der sie sich aus ihrer Verantwortung schleichen.
Wir hören die Stimmen der Soldaten, spottend wie sorglose Kinder. Sie verstehen nicht, wie ihre Worte verletzen und verwunden: “Bist du der König der Juden, so rette dich selbst!”
Wir hören eine verbitterte, verzweifelte Stimme. Ein verpfuschtes Leben, das nichts mehr zu erwarten hat und nichts mehr hoffen mag. Ein verlöschendes Leben, das sich nur noch zynisch die Witze der eigenen Peiniger zu eigen machen kann. “Bist du nicht der Christus? Rette dich selbst und uns!”

“Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.” Sie wissen es nicht. Sie verstehen Jesus nicht.

Eine andere Stimme drängt sich uns ans Ohr. Eine beeindruckende Stimme spricht mit Ernst und Würde. Ich spüre ihre Kraft, wie sie den unschuldigen Gerechten jetzt verteidigt: “Dieser hat nichts Unrechtes getan.” Ich höre die große innere Stärke dieser Stimme. Ihre ehrliche Bilanz eines verpfuschten Lebens. Ich höre eine Stimme, die genau weiß, auf wen sie ihre Hoffnung richten wird. “Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!”. Und ich höre die Stimme, die entlastet: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“

Eigentlich ein Wunder. Der sein Leben fern von Gott gelebt hat, kommt ganz in seine Nähe. Der sich so unfromm durch sein Leben geschlagen und geprügelt hat, er lernt die Sprache des Gebets. Der als Ausgestoßener gelebt hat, stellt sich zu den Vielen, denen Jesus schon geholfen hat. Sein kaputtes Leben, am Ende wird es doch noch heil.

Sie laden uns ein, diese beiden letzten Stimmen, die Lukas zu uns sprechen lässt. Zu den Unschuldigen zu stehen, zu uns zu stehen, auch mit unserem Scheitern, zuletzt: unsere Hoffnung ganz auf Gott zu setzen und auf sein Wort zu vertrauen.

Die Todesstunde naht. Finsternis zieht auf und der Vorhang des Tempels reißt. Zwei dramatische Zeichen. Was an diesem Ort geschieht, es wird für alle Welt bedeutsam werden: Noch einmal bäumt sich der Leib des Sterbenden und ruft: “Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!”

Unwillkürlich denke ich an jenes “Es ist vollbracht” aus dem Evangelium nach Johannes. Ja, jetzt hat Jesus sein Werk vollbracht. Er hat dem Spott und dem Leiden widerstanden. Er hat für die, die ihm unrecht tun, gebetet. Er hat dem Hilfesuchenden am Kreuz geholfen. Jetzt kann er loslassen. Jetzt kann er gehen. Mit einem Wort aus dem 31. Psalm auf den Lippen birgt er sich in Gottes Hände und weiß: “Du hast mich erlöst, du treuer Gott”. “Meine Zeit steht in deinen Händen.” (Ps 31, 6.16)

Jeder spürt die Kraft in diesen Worten. Wer Jesus ist, es wird hier für alle Menschen offenbar. “Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen!”. Das sagt keiner, der ihm menschlich nahesteht. “Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen!” - das erkennt der römische Zenturio, der Chef des Hinrichtungskommandos, der Vorgesetzte der spottenden Soldaten. Selbst er spürt: “Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen!” - Gottes Kraft bleibt und wirkt in Jesus. Weil er für die bittet, die ihm Unrecht tun. Weil er duldend und wartend dem hilft, der ihn um seine Hilfe bittet. Weil er sich nicht auf seine Kraft verlässt, sondern alles seinem Vater anvertraut.

Keinen lässt dies unberührt. „Als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten um.“ Der Schlag an die Brust. Er gibt dem Hauptmann recht: “Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen!”. Die Menschen brechen auf mit dieser Geste und Lukas' Geschichte geht mit ihnen auf den Weg. Aus der Nähe des Kreuzes zu denen, die von ferne stehen und weiter bis zu uns. Dass sich auch jetzt Menschen Jesus anvertrauen können. Gottes Kraft in ihm jetzt spüren können. Und von ihr gestärkt durchs Leben gehen und vertrauen: Er macht es gut. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Dr. Ralph Hochschild

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich denke zunächst an die Menschen einer kleinen Gemeinde im südlichen Schwarzwald, wo ich am Karfreitag predigen werde. Wer die Landschaft, in der das Dorf und seine Kirche liegen, sowohl „aus der Nähe“ [im Tal] und „aus der Ferne“ [von den Höhen] auf sich wirken lässt, wird Unterschiedliches wahrnehmen. Die Gottesdienstbesucher, die ich mir vorstelle, teilen in diesen Tagen mit vielen meiner Schülerinnen und Schülern Entsetzen, Trauer und Ratlosigkeit über den Krieg in der Ukraine, der „in der Ferne“ stattfindet, ihnen aber doch so nahekommt und -geht.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Wie wir heute stehen „alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren“. Mich hat beschäftigt: Welche Chancen bietet die Distanz, um das Geschehen zu deuten? Und: Wie kommt das, was in der Distanz ist, seien es um die 2000 Meter oder ca. 2000 Jahre, Menschen nahe?

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Beim ersten (Wieder-)Lesen der Geschichte bin ich an dem kleinen Epilog der Kreuzigungserzählung hängengeblieben. Bei Lukas sehen „alle seine Bekannten“ (und nicht nur die Frauen) „von ferne“ zu. Das fand ich bemerkenswert, weil Lukas eigentlich viel an den Augenzeugen, ihrer Nähe zu Jesus und an ihrer Überlieferung liegt. Wie kommt das, was man „von ferne“ wahrnimmt, einem „nahe“?

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Präzisierung des Verhältnisses von Nähe und Distanz. „Aus der Ferne“ zusehen zu müssen kann quälend sein, Distanz bietet aber auch die Chance, Dinge und Geschehnisse anders wahrzunehmen und zu deuten. M.E. geschieht dies in der lukanischen Erzählung, vor allem in den Wortwechseln der Kreuzigungserzählung.

Perikope
15.04.2022
23,32-49

Guter Hoffnung! - Predigt zu Lk 1,26-38 (39-56) von Anita Christians-Albrecht

Guter Hoffnung! - Predigt zu Lk 1,26-38 (39-56) von Anita Christians-Albrecht
1,26-38 (39-56)

Gnade sei mit euch und Friede von Gott und von unserem Heiland und Bruder Jesus Christus. Amen.

Solche Geschichten gibt es immer noch, liebe Gemeinde. Eine Jugendliche hat mir gerade wieder eine erzählt: Die Geschichte von Vanessa Hudgen, dem großen Star von Highschool Musical. Sie hat geschafft, wovon viele träumen. Kommt aus ärmlichen Verhältnissen und ist nun Hollywood-Star. Vanessa Hudgen – Aschenputtel – Julia Roberts als Pretty Woman: In all diesen Geschichten passiert etwas Wunderbares: Das Leben eines Menschen verläuft auf einmal ganz anders, als man es erwartet.
Eine sehr alte Version dieses bekannten Themas steht in der Bibel. Ich meine die Geschichte von Maria. Maria – wer ist das eigentlich? Eine ganz normale junge Frau aus Nazareth, einer kleinen Stadt in Galiläa. Sie kommt aus einfachen Verhältnissen. Und wie das damals so war, hat man sich etwas überlegt: Maria könnte doch gut den Josef heiraten. Der hat Zimmermann gelernt und ist keine schlechte Partie. Maria wird man nicht gefragt haben. Was sie als junge Frau denkt und fühlt und träumt, spielt keine Rolle. Aber dann passieren auf einmal seltsame Dinge: Maria sieht einen Engel. Heutzutage würde sie vielleicht in der Psychiatrie landen. Das bleibt ihr erspart. Aber es bleibt ihr nicht erspart, dass sie schwanger wird. Ohne dass sie verheiratet ist. Das Ansehen verspielt, die Achtung von vielen verloren. Ein Skandal! So war das damals. Und es kommt noch schlimmer: Was erzählt diese Maria da? Ein Kind von Gott, ganz ohne Mann? Wer’s glaubt, wird selig! Ja, Maria hat eine Begegnung mit einem Engel. Der spricht sie an, wie sie noch nie jemand angesprochen hat: Sei gegrüßt, Maria, der Herr ist mit dir; er hat dich zu Großem ausersehen! Was für eine Begrüßung!
Ich denke, so ein Gruß bedeutet eine ganze Menge. Wenn ich freundlich und herzlich begrüßt werde, wenn ich merke, dass sich jemand wirklich freut, mich zu sehen, dann hat das meistens eine sehr positive Wirkung auf mich. Und genauso kann es niederschmetternd und deprimierend sein, wenn man mich gar nicht grüßt oder mit einem unfreundlichen Tag! abspeist. Ein freundlicher Gruß kann sogar Leben retten. Davon erzählt die Literaturprofessorin Yaffa Eliah: von einem Danziger Rabbiner, der bei seinen täglichen Spaziergängen regelmäßig den deutschen Arbeiter Herrn Müller trifft und ihn immer mit Guten Morgen, Herr Müller! grüßt. Jahre später wird der Rabbiner nach Auschwitz deportiert und steht auf der Selektionsrampe. Er hört die Stimme, die einteilt, schon von weitem: Rechts, links, rechts, links, links … – Vorne angekommen, sieht er dem Mann mit den weißen Handschuhen ins Gesicht. Guten Morgen, Herr Müller! hört er sich sagen – und den anderen antworten: Guten Morgen, Herr Rabbiner! Was machen Sie denn hier? – Und die weißen Handschuhe zeigen nach rechts – zum Leben. Das war die Macht des Guten-Morgen-Grußes! hat der Rabbiner später immer wieder gesagt.

Sei gegrüßt, du Begnadete! Das bedeutet so viel wie: Gut, dass du da bist! Gut, dass es dich gibt! Ich stelle mir vor, dass Maria so etwas noch nicht erlebt hat: Solch einen Gruß, eine so herzliche Botschaft. Und dass sie auf einmal Zuversicht spürt und Energie, Vertrauen und Selbstvertrauen. Da sagte Maria: Ich gehöre dem Herrn, ich bin bereit. Es soll an mir geschehen, was du gesagt hast. Enorm, was der Zuspruch des Engels erreicht. Aber es geht noch weiter: Maria besucht ihre Cousine Elisabeth. Auch sie erwartet ein Kind. Auch sie hat schlimme Zeiten hinter sich. Sie wurde und wurde nicht schwanger. Das war eine Schande im damaligen Israel und wurde entsprechend kommentiert und betuschelt.
Auch von ihr wird Maria auf eine ganz besondere Art und Weise begrüßt: Gesegnet bist du von Gott, ruft Elisabeth ihr zu, auserwählt unter allen Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes! Ave Maria! Auch hier Zuspruch und Ermutigung. Elisabeth freut sich mit Maria über ihr besonderes Kind. Sie verstärkt das, was der Engel gesagt hat. Und auf einmal kann Maria annehmen, was mit ihr passiert. Auf einmal weiß sie: Gott ist bei mir. Er gibt mir Kraft. Er macht aus mir, einer kleinen mutlosen Frau, auf die die Leute mit Fingern zeigen, einen starken und wichtigen Menschen, der eine Aufgabe hat: Zu sagen, wie Gott sich diese Welt vorstellt.
Die Worte, die Maria dann sagt, sind bekannt und berühmt. Ganz oft hat man sie vertont: Mein Herz preist den Herrn, alles in mir jubelt vor Freude über Gott, meinen Retter! Er stürzt die Mächtigen vom Thron und richtet die Unterdrückten auf. Den Hungernden gibt er reichlich zu essen und schickt die Reichen mit leeren Händen fort. Das Magnificat. Der Engel war wichtig. Keine Frage. Aber auch Elisabeth. Ihre Nähe, ihre Worte lösen Maria aus ihrer Starre. Ihre Anerkennung setzt in Maria Kräfte frei. Wenn ich Sie jetzt fragen würde, würden Sie es mir bestätigen? Dass es auch in Ihrem Leben solche Begegnungen gab. Begegnungen, die Sie und Ihr Leben verändert, Sie zu dem gemacht haben, was Sie heute sind. Begegnungen, die vielleicht auch dazu führten, dass Sie sich engagieren, gegen Unrecht und Gewalt Ihre Stimme erheben?

Maria und Elisabeth sind schwanger. Beide sind ‚guter Hoffnung‘! Ein wunderbarer Ausdruck für eine Schwangerschaft – für die Vorfreude, den Blick nach vorne, die Aussicht, dass sich etwas ändert. Das ist eigentlich Advent, oder? Guter Hoffnung sein. Schwanger gehen – auch die Männer – mit einer großen Erwartung. Mit der Erwartung, dass sich etwas ändert. Auch über unseren persönlichen Horizont hinaus. Ich denke, diese tiefe Sehnsucht nach Veränderung spüren viele in diesen Tagen. Sie führt dazu, dass wir uns mit Weihnachten so viel Mühe machen. Wenigstens an diesen wenigen Tagen soll es anders sein, friedlicher, harmonischer, Sinn-voller.
Maria ist überzeugt, dass es irgendwann anders sein wird. Sie spürt es schon in ihrem Bauch. Auch wenn es noch verborgen ist. Und sie erlebt, was viele erleben, die ‚guter Hoffnung‘ sind: Dass die Welt sich schon jetzt verändert, weil sie in Zukunft eine andere sein wird. Der Lobgesang der Maria enthält den Sprengstoff der Hoffnung. Deshalb klebten die Menschen übrigens Marienbilder an die großen Tore der Werft in Danzig. Damals, 1980, als die freie Gewerkschaft Solidarnosc im Widerstand gegen das kommunistische Regime gegründet wurde.

Und heute?

Ich stelle mir vor, dass Lisa von Maria hört. Ihr graut vor Weihnachten. Im September ist ihre Enkeltochter gestorben. An ihrem dritten Geburtstag. Plötzlicher Kindstod. Ohne Erklärung. Der Heilige Abend ohne die Kleine. Wie sollen sie das schaffen? Nein, sie wird wohl keinen Tannenbaum aufstellen.
Ich stelle mir vor, dass Amira von Maria hört. Ihr Sohn ist 2015 nach Deutschland gekommen. Aus Syrien, wo er nicht mehr sicher war. Sie freut sich. Er hat die Sprache gelernt, studiert inzwischen, ist glücklich mit seiner Freundin. Sie skypen und whatsappen – natürlich. Aber manchmal zerreißt die Sehnsucht nach ihrem Kind ihr fast das Herz. Sechs Jahre ist es her seit ihrer letzten Umarmung. 10 Jahre Krieg und Unterdrückung in Syrien. Wie lange soll das noch dauern?
Ich stelle mir vor, dass Lea von Maria hört: Wird sich wirklich etwas ändern? Seit drei Jahren engagiert sie sich für Fridays for Future. Es muss sich doch was ändern, wenn die Welt nicht untergehen soll! Warum begreifen die Menschen das nicht? Und nun Glasgow? Das ist doch alles weit entfernt von dem, was nötig ist.

Maria, der Engel und Elisabeth – was richten sie aus im Dezember 2021?

Auch unsere Wirklichkeit wird manchmal angerührt. Von einem Wunder, von einem Traum, von Ermutigung – durch Gott und andere Menschen. Das hat Maria erlebt. Ihre Begegnung mit der himmlischen Macht und der Zuspruch durch Elisabeth haben ihr Kraft gegeben, haben ihr Mut gemacht.
Lisa, ich weiß, wie dir zumute ist, würde sie deshalb vielleicht sagen. Aber du bist nicht allein. Gott schickt dir Menschen, die dir zuhören. Die mit dir gemeinsam weinen und irgendwann wieder lachen.
Und ihr, Amira und Lea: Ja, noch ist es nicht so. Noch lassen Gerechtigkeit und Frieden auf sich warten. Aber die neue Welt Gottes kommt! Gebt die Hoffnung nicht auf. Und während ihr wartet, könnt ihr schon helfen, dass sie spürbar wird.  
Gott kommt in unsere Welt. Für Maria ist das konkret. Sie ist schwanger. Gott wird Mensch. Die Liebe wird zur Welt kommen. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pastorin Anita Christians-Albrecht

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Vor Augen habe ich Menschen, die durch die gegenwärtige (Corona-)Situation sehr verunsichert sind und ihre Gefühlslage als ‚mütend‘ (eine Mischung aus Erschöpfung und Wut) empfinden. Die Botschaft von der Hoffnung zu vermitteln, erscheint mir in diesem Jahr nicht leicht. Marias Geschichte bietet sich deshalb nach meiner Einschätzung an, um mitzugehen, zu erleben und (vielleicht neu) zu hoffen. Dazu möchte ich einladen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
‚Guter Hoffnung sein‘ – einmal mehr erlebe ich diesen Ausdruck als eine wunderbare Beschreibung für den Advent und die Veränderung von Menschen (und Welt) durch die Hoffnung auf eine andere Zukunft. Die Welt verändert sich schon jetzt, weil sie in Zukunft eine andere sein wird (und weil Gott und andere Menschen mir das zusagen) - das ist der homiletische Schlüsselsatz meiner Predigt.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
An dem Zusammenspiel von ‚himmlischer' und ‚irdischer' Ermutigung werde ich sicher noch weiterdenken. Lk. 1, 26ff. hat mir noch einmal deutlich gemacht, dass der Zuspruch und die Akzeptanz durch den Engel und die Anerkennung und Ermutigung durch Elisabeth einander ergänzen und befruchten. Beide Begegnungen zusammen schenken Maria Kraft für das, was kommt, so dass sie am Ende sogar das Magnificat singen kann.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die sorgfältige und ausführliche Redaktion durch meinen Predigtcoach war mir eine große Hilfe. Zunächst war mir die Anregung wichtig, insgesamt noch ein wenig zu konzentrieren und zu kürzen. Und wieder einmal hat sich gezeigt: Konzentration tut einer Predigt immer gut. Sehr gewinnbringend fand ich die genaue Beschäftigung mit Begriffen: Was ist Hoffnung? Was ist Sehnsucht? Bei der Hoffnung liegt der Fokus auf der Erfüllung; bei der Sehnsucht auf der Diskrepanz zur Realität. Maria trägt die Hoffnung schon in sich; die Hoffnung hat Aussicht, zur Welt zu kommen.


 

Perikope
19.12.2021
1,26-38 (39-56)