Genaues Hinsehen birgt Überraschungen - Predigt zu Lk 10,25-37 von Andreas Schwarz
25 Und siehe, da stand ein Gesetzeslehrer auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? 26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? 27 Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18). 28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben. 29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? 30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. 31 Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. 32 Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. 33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; 34 und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. 35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme. 36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war? 37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!
Vier Jahre ist es her, da sprach Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann von einer ernsthaften Bedrohung unserer Innenstädte:
Horden junger ausländischer Männer.
Die Botschaft kam an und wurde unterstützt oder heftig kritisiert.
Sie hat Spuren hinterlassen.
Wenn ich durch die Innenstadt gehe, sehe ich sie auf einmal deutlicher als vorher.
Ich spüre ein Unwohlsein, an ihnen vorbeizugehen, wenn sie am Eingang eines Einkaufszentrums stehen.
Miteinander in einer fremden Sprache reden, lachen.
Wie leicht könnte das umkippen?
Wozu sind sie als Gruppe fähig?
Was müssen Frauen denken und fühlen, wenn sie allein in deren Nähe kommen?
Welche Blicke.
Welche Sprüche.
Welche Angst.
Was ich nie wollte, ist geschehen.
Ein Satz hat sich eingeprägt und Spuren hinterlassen.
Ich denke und sehe Menschen mit mehr Vorurteilen.
Leicht fallen mir Beobachtungen auf, die diese Vorurteile unterstützen.
Dann braucht es andere, also gute Erfahrungen, die das wieder aufwiegen und in ein besseres Licht stellen.
Ich saß am Bahnsteig und wartete auf den Zug, der mich wieder nachhause bringen sollte.
Schönes Wetter, ein bisschen Wind.
Ich saß auf einer Bank und las in dem Buch, das ich mir für die Zugfahrt und die Wartezeit mitgebracht hatte.
Mein Lesezeichen war ein kleines Briefchen meiner Tochter, eine persönliche Geburtstagswidmung. Schon ein paar Jahre alt und leicht eingerissen.
Aber für mich mit großer Bedeutung.
Ein kleiner Moment Unachtsamkeit, da wehte der Wind das Briefchen weg, es landete im Gleisbett.
Ich ging sofort hinterher und sah es zwischen den Schienen liegen.
Aber das war mir zu tief – so sportlich, dann schnell wieder hochzukommen, bin ich nicht. Verboten ist es ja ohnehin.
Da verabschiedete ich mich innerlich schweren Herzens von diesem kleinen Zettel.
Am anderen Bahnsteig gegenüber saß eine Horde junger ausländischer Männer. Sie redeten und lachten miteinander. Aber einer von ihnen hatte mein Missgeschick sehr genau wahrgenommen.
Auch, dass ich wieder vom Bahnsteig zurück zur Sitzbank gegangen war, den Zettel also aufgegeben hatte.
Wir sahen uns über die ziemlich große Distanz kurz an.
Plötzlich stand er auf, sprang runter in das Gleisbett, ging zu dem Zettel, der da immer noch lag, sprang auf meiner Seite wieder hoch, kam zu mir und gab mir mit einem Lächeln im Gesicht den Zettel.
Ich konnte nur von Herzen ‚Danke‘ sagen, da war er schon wieder weg auf dem Weg zum Rest der ausländischen Horde junger Männer.
Ich habe mich so gefreut, dass ich diese persönliche Erinnerung wieder hatte und immer noch habe.
Und habe mich geschämt.
Für meine Vorurteile.
Und den unangenehmen Erfolg dieses einen Satzes von den Horden junger ausländischer Männer.
Wenn Jesus ein Gleichnis von einem barmherzigen Menschen erzählt, warum muss das ein Fremder sein, ein Ausländer?
Nichts sagt Jesus unbedacht.
Es ist Absicht und nicht Zufall.
Auch wenn die Formulierung das nahelegen könnte: Es traf sich aber. Die römisch-katholische Einheitsübersetzung sagt da tatsächlich: zufällig.
Aber dass Jesus so erzählt, dass ein Samariter barmherzig ist, ist alles andere als Zufall.
Jesus sagt und tut, was Menschen überrascht.
Ihre Erwartungen werden durcheinander gebracht.
Sie machen neue Erfahrungen, die bisherige Urteile und Vorurteile überwinden.
Spannend ist, ob Menschen sich dazu bewegen lassen.
Sich verändern zu lassen.
Neu zu denken und zu empfinden.
Anders zu handeln.
Menschen neigen dazu, sich in dem wohlzufühlen, was sie schon immer kennen; wie sie erzogen und aufgewachsen sind.
Sie lernen Bibelworte auswendig, nehmen das Bekenntnis an und haben ein Korsett, in dem das Leben und der Glaube an Gott gesichert scheinen.
Klare Regeln, einfache und schnelle Antworten auf alle Probleme.
Wie komme ich in den Himmel?
Ganz einfach: Gott und den Nächsten lieben.
Kein Problem. Mach ich. Noch was? Oder war das alles?
Das Leben ist einfach, wenn man für jede Frage die passende Antwort hat, auswendig gelernt, immer parat und zur Rechtfertigung bereit.
Aber das Leben ist konkret etwas anderes als kluge Antworten zu geben.
Nächstenliebe?
Finde ich gut.
Barmherzigkeit?
Ich bin dafür.
Aber wem denn? Wann denn? Wie denn?
Keine Ahnung.
Ich weiß nicht, wie ich die Leute finden soll, die ich lieben könnte, denen gegenüber ich barmherzig sein könnte.
Wo sind die?
Der Gesetzeslehrer will Jesus versuchen, hereinlegen, in eine Falle locken.
Er will am Ende über ihn urteilen, ob er es mit den Geboten Gottes wirklich ernst meint.
Aber plötzlich ändert sich die Richtung im Gespräch.
Es geht nicht mehr um Jesus und wie er denkt und handelt. Sondern um den Gesetzeslehrer.
Um seinen Blick auf das Leben geht es.
Um seinen Glauben, um seine Liebe zu den Menschen.
Jesus schenkt eine neue Erfahrung.
Die hilft, bisherige Urteile und Vorteile zu überwinden.
Ob der Gesetzeslehrer sich darauf einlässt, bleibt offen und damit spannend. Lukas erzählt nicht, wie er darauf reagiert, als Jesus zu ihm sagt: So geh hin und tu desgleichen.
Das Gleichnis ist am Ende offen.
Für den Gesetzeslehrer.
Und für jeden, der es hört oder liest.
Als Reaktion auf die Frage:
Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?
Die Antwort könnte tatsächlich ganz einfach sein: mit offenen Augen und offenem Herzen durchs Leben gehen.
Niemand muss jemanden suchen, damit er ihm gegenüber barmherzig ist und sich so den Himmel verdient.
Da sein, wo du bist.
Da gehen, wo du gehst.
Die Menschen sehen, die da sind und spüren, wo gerade du gebraucht wirst, mit dem, was du kannst.
Einer konnte halt gut in ein Gleisbett springen und hatte dabei auch den Mut, etwas Verbotenes zu tun.
Weil er etwas gesehen und etwas gespürt hat.
Er hat den kleinen Zettel gesehen, ohne zu wissen, was er mir bedeutet. Er hat gespürt, dass er mir wichtig war und ich nicht in der Lage, ihn mir selbst zu holen.
Er hat getan, was er konnte.
Für einen Fremden, den er nie wieder sehen wird, vermutlich.
Kleines und banales Beispiel für das Große, das Jesus erzählt.
Es muss auch gar nicht um Leben oder Tod gehen.
Sondern darum, dass jemand leidet und eine andere sieht es, fühlt mit und tut dagegen, was sie kann.
Es ist Jesus, der das Gleichnis erzählt. Und dann ist er in der Geschichte selbst auch drin.
Er hat die Menschen gesehen, mit all dem, was sie beschäftigt und worunter sie leiden.
Besonders die, die gerne übersehen wurden, weil sie unwichtig und unwürdig waren, weil man sie übersehen wollte. Er hat sich mit seiner Liebe zu ihnen selbst in Gefahr gebracht.
Ich stelle mir vor, wie dankbar der Überfallene war, weil ihm jemand geholfen hat. Egal, wo der herkam. Bemerkenswert, dass es ein ungeliebter Ausländer war.
So kommt zum Dank die Überraschung.
Nächstenliebe ist grenzenlos.
Weil Jesus grenzenlos liebt.
Darum gibt es das unter uns, offene Augen und offene Herzen füreinander.
Dass Menschen sehen, was andere brauchen, was ihnen fehlt und was sie geben können – an Zeit, an Kraft, an Gebet, an praktischer Hilfe.
Weil sie erlebt haben, dass Jesus sie liebt – ohne zu fragen, ob sie es verdient haben und woher sie kommen.
Manchmal muss ich das wieder neu lernen, weil ich mich so eingerichtet habe in dem, was mir bekannt und vertraut ist. Manchmal braucht es jemanden aus einer Horde junger ausländischer Männer, damit ich Vorurteile über Bord werfen und grenzenlos Liebe annehmen kann.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine auch durch Corona kleiner gewordene Gottesdienstgemeinde; Menschen, die seit vielen Jahren sehr treu da sind und die zentralen biblischen Texte wie eben diesen kennen. Darum habe ich den Schwerpunkt nicht auf die naheliegende und oft gesagte Nächstenliebe gesetzt. Sondern auf das Stichwort ‚Samariter‘, verbunden mit ‚fremd‘, ‚Ausländer‘, ‚Vorurteile‘. In einer Stadt mit deutlich über 40% Migration und einer Gemeinde über 50% Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion ist das durchaus ein Thema.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Diese kleine Begegnung, an sich nicht wirklich bedeutend, hat mich aber persönlich so tief berührt, dass sie Spuren hinterlassen hat.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass Dinge nicht immer so sind, wie sie scheinen, egal, was Statistik und Mehrheitsempfinden ausdrücken. Jesus Christus öffnet Augen und Ohren für Fremdes, macht sensibel für Menschen, die leicht verurteilt oder übersehen werden.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Coach hat mir sehr geholfen, die Struktur meiner Predigt besser zu sehen und zu korrigieren. Sie hat mit einfachen Fragen Brüche in meinen Konstruktionen erkennbar gemacht. Unangebrachte Verbindungswörter konnten so gestrichen werden, weil Anschlüsse sachlich einfach falsch waren.
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Die Namen der Armen - Predigt zu Lk 16,19-31 von Jürgen Kaiser
Pechrabenschwarz sind seine Hände. So schmutzig, dass ich glaube, er reibt sie mit einem Stück Kohle ein, bevor er zur Arbeit geht. Er ist dünn. Hemd, Hose, T-Shirt – alles schlottert um den mageren Körper. Die Haare sind lang und zottelig. Irgendwo muss er ein Kleiderdepot haben, denn er läuft nicht immer in den gleichen Klamotten herum. Und doch sind sie immer verdreckt. Ich höre ihn von weitem nahen, obwohl er sein Sprüchlein leise und monoton aufsagt, als sei er am Ende seiner Kräfte. Ich erkenne ihn am langsamen Schlurfen. Wenn er allerdings den Waggon wechselt, schlurft er nicht mehr, dann rennt er. Und wenn er einen Stammkunden begrüßt, redet er ganz normal, erkundigt sich, wie es ihm geht, als seien sie alte Freunde. Dann nimmt er das Geld und fällt wieder in sein stimmloses Betteln und sein Schlurfen zurück. Einmal hob er ein Hosenbein hoch und zeigte einem Stammkunden die Geschwüre am Strohhalmbein. Ich saß gegenüber und ekelte mich. Die S 25, mein Pendlerzug, ist sein Revier. Fast täglich begegnen wir uns. Manchmal noch am späten Abend, wenn es sich kaum mehr lohnt, weil die meisten Pendler längst zu Hause sind. Ich schaue in mein Handy, wenn er vorbeikommt. Ich traue mich nicht, den Blick zu heben.
***
Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Ein Armer aber mit Namen Lazarus lag vor seiner Tür, der war voll von Geschwüren und begehrte sich zu sättigen von dem, was von des Reichen Tisch fiel, doch kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren. Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben.
Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Und er rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge; denn ich leide Pein in dieser Flamme. Abraham aber sprach: Gedenke, Kind, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, du aber leidest Pein. Und in all dem besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, dass niemand, der von hier zu euch hinüberwill, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber. Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, dass du ihn sendest in meines Vaters Haus; denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual. Abraham aber sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören.
Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun. Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.
***
Die Kluft ist tief. Und es gibt keine Brücke. Man ist entweder auf der einen Seite oder auf der anderen Seite. Man kann nicht schnell hinübergehen, um auf der anderen Seite noch was zu regeln.
Die Meistererzählung im Lukasevangelium ist radikal. Sie erzählt von Himmel und Hölle und davon, dass es zwischen ihnen keinen Austausch gibt. Die tiefe Kluft zwischen Himmel und Hölle spiegelt die tiefe Kluft, die es in diesem Leben gibt zwischen einem himmlischen Leben auf Erden und einem höllischen Leben auf Erden. Auf Erden ist die Kluft oft nur ein Türspalt. Doch der Spalt öffnet sich nicht.
Der Reiche nimmt nicht zur Kenntnis, dass vor seiner Tür ein Armer liegt. Er macht nicht einmal nach dem Fest die Tür auf, um die Reste des täglichen Festmahls nach draußen zu bringen. Er wirft sie lieber in die Tonne. Er will sich dem Blick des Armen nicht aussetzen.
Auf Erden ist die Kluft oft nur ein Türspalt. Doch der Spalt öffnet sich nicht. In jenem Leben wird die Kluft dann unendlich. Davon erzählt diese Geschichte. Sie ist eine Erzählung der Beziehungslosigkeit. Wer es in diesem Leben nicht schafft, die Beziehungslosigkeit zu überwinden, wird es auch in jenem nicht mehr schaffen.
***
Von drei vergeblichen Versuchen wird berichtet, aus der Hölle selbstgewählter Isolation herauszukommen.
Zunächst bittet er um Erbarmen und einen Tropfen Wasser. Doch demütig scheint der Reiche selbst im Totenreich nicht geworden zu sein. Er ruft zu Abraham und befiehlt ihm, Lazarus zu schicken. Als Dienstbote darf Lazarus jetzt arbeiten, als der Wasserträger des Reichen. Selbst in der Hölle weigert sich der Reiche noch, Lazarus als einen Menschen wahrzunehmen, mit dem man sprechen könnte. Statt mit Lazarus spricht er mit dem Chef, mit Abraham, mit seinesgleichen. So ist er es gewohnt. Die Dinge auf höchster Ebene zu regeln. „Ich ruf beim Chef an, der kennt mich!“
In der Tat, der kennt ihn und erklärt ihm, warum der Reiche nun ist, wo er ist, und Abraham nichts für ihn tun kann: Du hast Gutes empfangen in deinem Leben, Lazarus Böses, jetzt ist es umgekehrt. Postmortal muss der Reiche die Lebenserfahrung des Armen nachholen: Die Bitten um Essensreste, um einen Tropfen Wasser werden nicht erhört. Wie auch Lazarus nun das nachholen darf, was ihm im Leben verwehrt war: sich in Sicherheit und Geborgenheit zu wissen.
Zweiter vergeblicher Versuch der Kontaktaufnahme: Als er merkt, dass er für sich selbst nichts mehr erreichen kann, wird er plötzlich sozial und denkt an die anderen. Allerdings nur an seine Brüder. Die Sippe geht vor. An die anderen denken die Reichen nur innerhalb ihrer Netzwerke. Die Reichen haben ihre eigenen Leute im Blick. Lazarus – immer noch Dienstbote – soll die Brüder warnen. Auch dies lehnt Abraham ab. Sie haben Mose und die Propheten. Jeder weiß, was zu tun ist. „Schau vor deiner Tür!“, nichts Anderes sagen auch Mose und die Propheten. Aber der Reiche kennt sich und seine Brüder. Auch wenn sie in die Gotteshäuser gehen – sie hören nicht, was dort gesagt wird. Denn wenn sie es hörten, würden sie die Tür öffnen und mit dem reden, der davor liegt.
Unglaublich der dritte Versuch: Wenn jemand von den Toten zu ihnen käme, dann würden sie umkehren. Der Auferstandene soll denen Dispens geben, die nie auf Mose und die Propheten gehört haben? Oder rechnet sich der Reiche am Ende gar aus, er selbst werde auferstehen dürfen, um seine Sippe zu warnen? Darauf das dritte Nein Abrahams: Wer Mose und die Propheten nicht hört, der sieht in einem, der von den Toten kommt, allenfalls ein Gespenst, jedoch keinesfalls einen Grund zu Selbstkritik und Umkehr. Was sagt einem ein Auferstandener schon, wenn man nicht zuvor Mose und die Propheten gehört hat?
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Dies ist eine wahre Geschichte und eine harte Geschichte. Sie ist wahr, weil sie erzählt, wie es ist. Und sie ist hart, weil sie uns jede Illusion darüber verwehrt, dass es einmal anders sein könnte. Wer es jetzt nicht schafft, wird es auch in Ewigkeit nicht schaffen. Warum kommt der Reiche selbst in der Hölle nicht zur Besinnung? Warum treiben ihn nicht einmal die Qualen, denen er dort ausgesetzt ist, zur Buße? Das ist das Verwunderliche an dieser Meistererzählung aus dem Lukasevangelium. Sie ist eine Geschichte voller Beziehungsverweigerungen. Sie erzählt von der Unmöglichkeit einer postmortalen Umkehr. Jedenfalls für den, der sich zu Lebzeiten schon geweigert hat, zur Kenntnis zu nehmen, dass vor seiner Tür ein Mensch liegt. Wer einen Menschen erst gar nicht wahrnimmt, wird auch nie auf die Idee kommen können, dass er ihm etwas schuldig geblieben ist.
Das ist hoffnungslos. Jedenfalls für den reichen Mann, um den es in dieser Geschichte ja geht. Anders für den Armen, der nicht nur entschädigt wird, sondern in dieser Geschichte auch einen Namen erhält: Lazarus, das heißt: „Gott hat geholfen“. Die Geschichte vom reichen Mann, der keinen Namen hat, ist eigentlich so trostlos, dass man sie gar nicht weitererzählen möchte. Und doch wurde sie weitererzählt und ist bekannt geworden als die Geschichte von dem, dem sie einen Namen gegeben hat, als die Geschichte vom armen Lazarus.
Wir kennen die Namen der Reichen gut, aber die Namen der Armen kennen wir nicht. An dieser Stelle zerbricht die Geschichte den Spiegel und gibt Einblick in die Welt Gottes, in der das anders sein wird. In der Welt Gottes werden die Reichen vergessen werden, denn sie haben dort keine Namen mehr. Aber der Armen wird gedacht werden. Sie heißen Lazarus und sitzen in Abrahams Schoß.
***
Es hat Jahre gedauert, bis ich endlich den Mut fand, ihm ein paar Euro in die pechrabenschwarze Hand zu drücken. Seither fragt er mich jedes Mal, wie es mir geht und ob ich in meine Kirche fahre. Neulich hatte er Geburtstag. Er wurde 26. Ich gab ihm ein paar Euro obendrauf. Seither hat er drei oder viermal im Jahr Geburtstag. Wenn ich kein Kleingeld habe, kann er wechseln. Er hat reichlich Scheine in seinen ausgebeulten Hosentaschen. Gott sei Dank! Er hat offenbar genug für das, was er unbedingt braucht – was immer es ist. Neuerdings bietet er mir an, für einen ganzen Monat im Voraus zu zahlen. So eine Art Abo. Er merkt es sich an den restlichen Tagen des Monats, muss sich nicht mehr mit mir aufhalten, sondern schlurft weiter, sagt sein monotones Sprüchlein, vergisst aber nie, mir im Vorbeischlurfen zuzuzwinkern. Er ist kein Heiliger. So lange er noch nicht in Abrahams Schoß sitzt, kann er sich sowas gar nicht leisten. Während der Pandemie fuhr ich lange Zeit nicht mit der S-Bahn. Ich machte mir Sorgen um ihn. Die Bahnen waren leer. Wird er die Lockdowns überleben? Werde ich ihn wiedersehen, wenn ich wieder die S-Bahn nehme? Von weitem hörte ich sein Schlurfen. Er war noch ein bisschen magerer geworden, aber sonst ganz der alte. Die Armen sind Überlebenskünstler. Sie überbrücken die Krisen und die Lockdowns und den Winter. Und die tiefe Kluft. Mein Freund aus der S 25 heißt Lenny. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Bildungsbürgerlich geprägte, kulturell interessierte Großstadtgemeinde, teils mit historischem Migrationshintergrund (Hugenotten) und hohem Akademikeranteil, darunter einige Theolog/inn/en und Ruhestandsgeistliche.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mir haben meine Begegnungen in der Berliner S-Bahn geholfen. In Berlin kommt man kaum mit dem ÖPNV oder zu Fuß durch die Stadt, ohne von irgendjemandem um ein paar Euro angebettelt zu werden. Man kann nicht allen was geben. Aber keinem was zu geben, ist auch keine Lösung.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Den Armen ist nicht nur mit Geld geholfen, sondern auch mit Wahrnehmung. Und sola gratia macht das Gericht nach den Werken nicht überflüssig.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich habe mir nochmal vor allem die Rahmenerzählung angesehen und stilistisch rumgefeilt.
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Programmänderung im Kopfkino - Predigt zu Lk 11,5-13 von Olaf Waßmuth
Lukas 11,5-13
5 Und [Jesus] sprach zu ihnen: Wer unter euch hat einen Freund und ginge zu ihm um Mitternacht und spräche zu ihm: Lieber Freund, leih mir drei Brote; 6 denn mein Freund ist zu mir gekommen auf der Reise, und ich habe nichts, was ich ihm vorsetzen kann, 7 und der drinnen würde antworten und sprechen: Mach mir keine Unruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen und meine Kinder und ich liegen schon zu Bett; ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben. 8 Ich sage euch: Und wenn er schon nicht aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, so wird er doch wegen seines unverschämten Drängens aufstehen und ihm geben, so viel er bedarf.
9 Und ich sage euch auch: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. 10 Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan. 11 Wo bittet unter euch ein Sohn den Vater um einen Fisch, und der gibt ihm statt des Fisches eine Schlange? 12 Oder gibt ihm, wenn er um ein Ei bittet, einen Skorpion? 13 Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten!
Liebe Gemeinde,
ich bin gut im Kopfkino: Wenn ich weiß, ich muss ein schwieriges Gespräch führen, spiele ich in Gedanken alles schon mal durch – die ganze Szene: Ich überlege, was ich sagen werde. Ich stelle mir vor, wie der andere reagieren könnte. Leider läuft in meinem Kopfkino oft der Worst-Case-Film, also: ich male mir aus, wie alles schlimmstenfalls ablaufen könnte. Das ist dann nicht immer hilfreich. Sondern manchmal auch ziemlich entmutigend.
Der Psychologe Paul Watzlawick hat pointiert beschrieben, wozu das Kopfkino führen kann. Vielleicht kennen Sie seine „Geschichte mit dem Hammer“: Ein Mann bräuchte einen Hammer, um einen Nagel in die Wand zu schlagen. Er überlegt, einen bei seinem Nachbarn auszuleihen. Aber dann fällt ihm ein, dass der Nachbar ihn im Treppenhaus immer nur flüchtig grüßt. Womöglich mag ihn der Nachbar nicht. Womöglich hält er sich für etwas Besseres. So ein arroganter Typ! Der würde ihm vermutlich kein Werkzeug borgen. Am Ende rennt der Mann ins Treppenhaus, klingelt beim Nachbarn und brüllt ihn an: „Behalten Sie doch Ihren verdammten Hammer!“
Der falsche Film im Kopfkino kann einen Menschen völlig ausbremsen, ja ihn von dem abhalten, was er eigentlich tun möchte und auch tun sollte. Der falsche Film im Kopfkino – der hält Menschen womöglich auch vom Beten ab.
Beten hat ja viel mit dem zu tun, was wir uns vorstellen. Wir sprechen zu einem unsichtbaren Gegenüber. Wir reden dabei oft über Dinge, die uns beschäftigen, obwohl sie erstmal nur in unseren Gedanken existieren. Über Wünsche, Befürchtungen und Phantasien. Welcher Film läuft da ab?
Jesus erzählt im Zusammenhang mit dem Beten drei kurze Beispiele, die davon handeln, wie jemand einen anderen um etwas bittet und damit böse auf die Nase fällt. Wir haben das eben gehört:
Ein Mensch bittet einen Freund spätabends um etwas Brot, um einen unerwarteten Gast zu bewirten. Aber der Freund liegt schon im Bett und hat keine Lust, die Tür nochmal aufzumachen. Ein hungriger Sohn bittet seinen Vater um einen Fisch – aber der gibt ihm eine Schlange. Oder er bittet ihn um ein Ei – und bekommt stattdessen einen Skorpion. Alles Worst case-Fälle, die Jesus als unmögliche Möglichkeit vor Augen malt.
Die drei Beispiele sollen so absurd sein, wie sie scheinen. Jeder erkennt gleich: Dieser Film ist falsch. Es gibt keinen Grund, sich vor einer solchen Situation zu fürchten. Und zwar deshalb nicht, weil die Menschen, die hier handeln, in einer Beziehung miteinander verbunden sind: Freund und Freund; Vater und Sohn. Wer in einer solchen Beziehung steht, kann sich beim Bitten etwas trauen. Der darf ehrlich sagen, was er braucht. Der kann mit Verständnis oder zumindest Loyalität rechnen. Das gilt schon im Zwischenmenschlichen, obwohl – wie am Ende mit einem kleinen Seitenhieb vermerkt wird – Menschen grausam und hart sein können. Um wie viel mehr aber gilt es dann bei Gott!
Gott um etwas bitten:
Vielen Menschen fallen tausend Dinge ein, warum man das gleich sein lassen kann. Beim Stichwort Gebet läuft der Film in ihrem Kopf ab:
- Es hat noch nie geholfen.
- Ich rede da bloß mit mir selbst.
- Ich mache mich lächerlich.
- Ich kenne die richtigen Worte nicht.
- Warum gibt es soviel Leid, wenn Gott auf Gebete hören würde?
- Oder: Warum soll ich beten, wenn Gott doch sowieso schon alles weiß?
Wenn man lang genug in diesen Schleifen denkt, möchte man schreien: Gott, behalt doch deinen Hammer! Oder genauer: Man sagt und bittet nichts. Und natürlich passiert dann auch nichts.
Das Schwerste beim Beten ist – meiner Erfahrung nach – damit anzufangen! Es zu wagen. Das war vermutlich schon zur Zeit Jesu so, aber heute erst recht. Beten ist vielen fremd geworden, unselbstverständlich, mit abschreckenden Bildern und Urteilen behaftet. Wo kommen andere Bilder her?
Ich selbst habe viel gelernt bei den großen alten Lehrerinnen und Lehrern der christlichen Tradition. Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, hat geistliche Übungen entworfen, die auch eine Schule des Gebets sind. Dabei schlägt er vor, sich Jesus möglichst bildlich und konkret als Gegenüber vorzustellen; als den Menschen voller Freundlichkeit und Wohlwollen, dem man rückhaltlos vertrauen kann. Das ist nicht einfach ein Trick. Auch in unserem heutigen Predigttext, der Gebetsermutigung Jesu an seine Jünger, liegt das ganze Gewicht ja auf der Beziehung zu Gott. Gott meint es uneingeschränkt gut mit mir. Besser als jeder Freund. Mindestens so gut wie Vater und Mutter. Wer betet, vertraut sich dieser Beziehung an. Wer betet, ergreift die ausgestreckte Hand Gottes.
Und was passiert dann?
Bei genauerem Hinsehen benutzt Jesus in seinen Beispielgeschichten Bilder und Vergleiche, die uns auch etwas darüber verraten, was das Gebet eigentlich ist. Was es für die, die sich darauf einlassen, bewirkt.
Ein neues Bild fürs Gebet ist das Brot, das ich empfange: Ich weiß nicht, was genau mein Gebet bringt, aber erwarten darf ich: Stärkung.
Ein neues Bild fürs Gebet ist die geöffnete Tür: Ich weiß nicht im Voraus, was mir dahinter begegnet, aber sicher sein kann ich: Es geht weiter.
Ein neues Bild fürs Gebet ist der Geist, der mich erfüllt: Es verändern sich nicht unbedingt die Verhältnisse um mich herum, aber ich gehe neu und anders mit ihnen um.
In solchen Bildern sagt Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern zu: Das Beten lohnt sich.
Weil Gott Gebete erhört. Nicht auf die einfache, scheinbar unmittelbare Weise: in der Erfüllung unserer Wünsche, in der Lösung unserer Probleme. Dass es so einfach nicht ein kann, ist nicht erst eine Erkenntnis unserer Zeit. Das wusste man schon immer. Das weiß auch Jesus.
Gott reagiert auf unser menschliches Beten, wie es der notorischen Liebe eines guten Vaters oder einer guten Mutter für die eigenen Kinder entspricht: In Weisheit, Solidarität und Fürsorge ist er für uns da. Und nicht zuletzt in Geduld. Bei ihm kann man auch mitten in der Nacht noch ankommen und klingeln. Er öffnet die Tür, wenn alle anderen Türen verschlossen sind. Von ihm bekomme ich, was ich zum Leben wirklich brauche.
Jesus will die Programmänderung im Kopfkino:
Das Gebet – es ist kein schwieriges oder riskantes Gespräch. Man kann es wagen. Es ist ganz leicht.
Es braucht keine ausgefeilte Theologie.
Keine angelernten Worte.
Keine aufgeladenen Erwartungen.
Es reicht ein einfaches, spontanes Du.
Und schon läuft ein anderer Film.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine volkskirchlich-kleinstädtische Gemeinde, in der viele Gottesdienstbesucherinnen und -besucher sich auch aktiv einbringen. Über die persönliche Glaubenspraxis, insbesondere über das eigene Beten, wird dabei aber selten gesprochen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Schwierigkeiten mit dem Gebet sind in meiner Erfahrung kein unbedingt aktuelles, aber „zeitloses“ Thema. Die bekannte Watzlawick-Geschichte brachte mich auf die Idee, dass wir uns auch beim Beten oft selbst im Weg stehen. Beflügelt hat mich der Gedanke, dass unsere Beziehung zu Gott unter ähnlichen Kommunikationsstörungen leiden könnte wie manche zwischenmenschliche Beziehung.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Entdeckt habe ich, dass Jesus nicht nur Karikaturen enttäuschten Bittens erzählt, um die Befürchtungen seiner Zuhörer*innen zu entkräften. Neben den negativen Zuspitzungen enthält die Perikope auch positive Bilder für das, was ein Gebet sein kann: Brot, das sättigt, eine Tür, die sich öffnet, Geisteskraft, die einen Menschen erfüllt. Diese Bilder führen viel weiter als die Frage der Gebetserhörung, die ich primär mit dem Text verbunden hatte.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich habe versucht, die oben beschriebene Entdeckung noch nachvollziehbarer zu machen, wohl wissend, dass sie gegenüber meiner ursprünglichen Predigtidee, negative Vorurteile gegenüber dem Gebet als falsche Blockaden zu erkennen, im Grunde einen zweiten Strang darstellt.