Heilig Abend - Predigt zu Lukas 2,1-19 von Dr. Jürgen Kaiser

Heilig Abend - Predigt zu Lukas 2,1-19 von Dr. Jürgen Kaiser
2,1-19

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt. Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens. Und als die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.

 

Sie aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Es pochte heftig. Lange schon hatte es nicht mehr so heftig gepocht. Die Worte stießen an die Wände der Herzkammern. Sie kollidierten gegeneinander. Jedes Mal fühlte sie einen kleinen Schlag. Dieses Laufen der Worte in ihrem Herzen. „Freude“ rannte gegen „Heiland“, „Christus“ stieß mit „Furcht“ zusammen, „verkündigen“ krachte gegen „widerfahren“, die „Stadt Davids“ prallte gegen die „Höhe“ und der „Friede“ stürzte auf die „Erde“. Eine Unordnung, ein Chaos der Worte - sie konnte sich nicht beruhigen. Sie hörte noch „Wohlgefallen“ und wäre dann fast in Ohnmacht gefallen, hätte sie nicht in diesem Moment nach Josef gegriffen und tief durchgeatmet. Es was alles zu viel, die Reise nach Bethlehem in ihrem Zustand, die vergebliche Suche nach einer Bleibe, die Geburt im Stall und die Hirten mit ihren wirren Worten, die sie sich nun zu Herzen nahm. Sie hatte sich aufgerichtet als sie kamen. Sie hatte gehört, was sie sagten, es bewegte sie - verstanden hat sie es nicht. Jetzt waren die Worte in ihr gefangen. Sie konnten nicht raus. Gerne hätte sie das eine oder andere Wort freigelassen, es in Josefs Ohr geschickt und mit ihm darüber gesprochen. Sie blickte ihn an. Er saß da und stierte durch ein Loch im Dach. Er zählte Sterne. Als sie ihn am Rockzipfel griff, um nicht zu fallen, schreckte er kurz auf, blickte sie an und reiste dann wieder durch das Loch in seinen Himmel, ohne ein Wort zu hinterlassen oder eines von den Worte aus ihrem Herzen mitzunehmen.
Sie lauschte wieder auf das Lärmen dieser Worte in ihr. Noch andere drängten sich hinein, ältere, auch ganz alte und feierten in ihrem weiten Herzen eine wilde Party. Eines hieß Immanuel, ein anderes gab Zeichen, eines drang mit lautem Jubel und fetter Beute ein. Es kamen welche, die wollten ihre Stiefel nicht ausziehen und den Mantel anbehalten, an dem Blut hing. Rohe Eindringlinge aus alten Zeiten, als der Feind noch Assur hieß und Babylon. Kurz darauf machten es sich Wunder-Rat und Gott-Held, Ewig-Vater und Fried-Fürst gemütlich – die Kerle kannte sich - und führten sich in ihrem Herzen auf wie Könige. Einige brachten Tiere mit. Wölfe an der Leine und Lämmer auf der Schulter, Panther ohne Leine und ein Böcklein im Schlepptau. Eine trug ihren Säugling auf dem Arm. Er spielte mit einer Otter. Sie betrachtete die bunte Gesellschaft. Ein Zirkus machte bei ihr Station. Aber es war kein Zirkus, es war Zion. Es war nicht Zauber, es war Zebaoth. Das alles waren seine Scharen, seine Söhne, seine Töchter. Maria wurde neugierig. Sie richtete sich auf, fasste sich ein Herz und erhob die Stimme: „Meine lieben Gäste, seid mir willkommen! Von weit her seid ihr gereist, um mich heimzusuchen in meinem Herzen. Ich weiß noch nicht, wie mir geschieht, doch ich danke es euch. Euer Besuch bewegt mich sehr. Es ist nun meines Herzens Wunsch, dass ihr euch einander bekannt macht. Werdet miteinander vertraut, der Heiland mit dem Friedefürst, der Gott-Held mit dem Christus und Immanuel stelle sich dem Ewig-Vater vor. Sucht euch ein Plätzchen und redet miteinander, teilt mit, woher ihr kommt und wohin ihr zieht. Und mischt euch, die Jungen mit den Alten, der alte Isai mit den himmlischen Heerscharen und die alte Weisheit mit der jungen Erkenntnis. Dann will auch ich euch kennen lernen, will erfahren, was ihr zu sagen habt, ihr großen Worte und berühmten Namen. So werde ich eines Tages verstehen, was mich jetzt so bewegt.“ Josef blickte sie entgeistert an: „Was sagst du?“ Maria setzte sich. Sie schaute kurz zu Josef und wendete dann ihren Blick zur Krippe. Sie fing an, ein Lied zu summen. Ein Willkommenslied für ihre Gäste. Dieses Lied, liebe Gemeinde, wollen auch wir nun singen:

1. Tochter Zion, freue dich,
jauchze laut, Jerusalem!
Sieh, dein König kommt zu dir,
ja er kommt, der Friedefürst.
Tochter Zion, freue dich,
jauchze laut, Jerusalem!


2. Hosianna, Davids Sohn,
sei gesegnet deinem Volk!
Gründe nun dein ewig Reich,
Hosianna in der Höh!
Hosianna, Davids Sohn,
sei gesegnet deinem Volk!

3. Hosianna, Davids Sohn,
sei gegrüßet, König mild!
Ewig steht dein Friedensthron,
du, des ewgen Vaters Kind.
Hosianna, Davids Sohn,
sei gegrüßet, König mild!

In seinem Kopf jagten die Gedanken. Ungestüm galoppierten sie ihm durchs Hirn. Er versuchte, sie zu zügeln, forschte nach einem, der Gott im Sattel hätte. Aber er bekam keinen seiner schnaubenden Gedanken zu fassen. Sie bäumten sich auf und stieben davon, ehe sie ihren Reiter offenbaren konnten. Er hob den schweren Kopf und visierte das Loch im Dach. Die Pupillen verengten sich. Er drückte das rechte Auge zusammen und nahm mit dem linken einen Stern aufs Korn. Er sah einen zweiten Stern. Er stutzte und öffnete beide Augen. Er sah einen dritten Stern. Er sah viele Sterne. Sein Blick erreichte die Tiefe der Welten. Sein Auge stürmte in Lichteseile an andere Ende des Firmaments. Es war Nacht, er aber sah das Glühen der Sonnen, es war finster, er aber sah das Funkeln der Galaxien. Da klärten sich die Gedanken in seinem Kopf. Und diese Klärung empfing er wie eine Offenbarung.
Wie klein erschien ihm jetzt die Sonne, die er kannte, wie winzig die Erde. Wie unbedeutend dieser Stall, wie nichtig wurde er sich selbst samt seiner Frau und dem Kind, drei Staubkörner im Weltenall. Was bedeutete ihr Dasein, was bedeutete selbst die Geburt seines Sohnes angesichts dieses Universums mit seinen Millionen Welten? Wenn er denn sein Sohn war! Ein letzter Zweifel störte seine Melancholie und nährte sie zugleich. Was ist der Mensch?
Er sah so viele Sonnen, er sah ihre Planeten um sie kreisen, er sah Lebewesen, die keiner auf Erden je gesehen hatte, Geschöpfe eines Gottes, der nie auf Erden war. Es gab so viele Welten. Wieso sollte Gott sich um das kleine Israel scheren, wieso im kleinen Bethlehem sich in einem Kind wiederfinden? Keiner seiner Gedanken wollte der Fährte nachgehen, die die Hirten mit ihren Worten gelegt hatten. Behaglich dagegen war ihm die Unendlichkeit vor seinem Auge. Sie gefiel ihm. Freude, feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum. Seid umschlungen, Millionen! Mit diesem Kuss der ganzen Welt entkam Josef der Enge des Stalles, den Mauern des Landes, dem Gott seiner Väter und seinen Gesetzen. Er sprang auf seine fliehenden Gedanken, gab ihnen die Sporen, packte die Tochter aus Elysium an der Hand und sprang mit ihr über den Graben, sprang hinter die Welt, ließ Räume und Zeiten dahinten, brach durch Schallmauern und schoss durch die Lichtjahre.

Er war schon längst nicht mehr bei sich, als Maria wankte und nach ihm griff. Sie schnappte tief nach Luft und fasste sich ans Herz. Er senkte den Kopf. Ihre Blicke trafen sich und trennten sich wieder. Er suchte sein Loch und ordnete die Gedanken im Kopf. Er wollte auch Maria mitnehmen auf die Himmelsreise, wollte sie mit den Reimen seiner himmlischen Empfindung einladen. Doch als er reden wollte, sagte ihm das Schweigen mehr zu. Was gab es noch zu sagen? Alle Poesie entwich aus dem Loch im Stall. War nicht jeder Gedanke bloß eine Schaltung seiner Synapsen? Waren nicht alle Gefühle bloß Effekte seiner Moleküle? War nicht alles in uns ein Ebenbild der unendlichen Welten da draußen? Jedes Gen eine Galaxie aus Atomen? Der vollkommene Kosmos, unendlich da oben und unendlich da drinnen. Ja Ebenbilder sind wir, Ebenbilder des Kosmos. Das machte ihn sprachlos. Jedes Wort störte diese Harmonie. Warum sollte Gott das Wort ergreifen? War es nötig? Wieso sollte nicht auch er es vorziehen, schweigend seine Kreise zu ziehen? Wie die Sterne und die Atome, wie die Galaxien und die Moleküle je auf ihrer Bahn. Die Hirten glaubten an Engel. Er aber empfand die Sterne in seinem Kopf. Sie waren kühl.
Da fing es doch noch an, in ihm zu reden. Ein alter Psalm, seiner Väter Lied, wollte nicht schweigen:

Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? (Ps 8,4f)
Josef sah in den Himmel und zählte die Sterne. Da wusste er: Nichts ist der Mensch. Warum sollte je ein Gott seiner gedenken? Die Melodie dieses Liedes ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Auch wir, liebe Gemeinde, wollen dieses Lied nun singen:

3. Wenn ich den Blick zu deinen Sternen wende
und zu dem Mond, den Werken deiner Hände -
was ist der Mensch, dass du, Herr, sein gedenkst,
des Menschen Kind, dass du ihm Liebe schenkst?
4. Und doch hast du am höchsten ihn gestellet,
ganz nah ihn deiner Gottheit zugesellet,
hast ihn gekrönt mit Hoheit und mit Pracht,
dass er beherrsche, was du hast gemacht. [EG 271]

Josef hatte gar nicht bemerkt, dass Maria aufgestanden war. Sie murmelte etwas vor sich hin. Er blickte sie entgeistert an und fragte: „Was sagst du?“ Maria setzte sich. Ihre Blicken suchten sich, sein Blick aus dem Kopf und ihr Blick aus dem Herzen. Aber sie fanden sich nicht. Maria sang: „Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem.“ Leise sang sie es in sich hinein.

Josef sang in sich hinein: „Wenn ich den Blick zu deinen Serne wende…“ und schloss leise an: „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium!“ So besangen sie – leise zwar, doch nicht ohne Freude - ihre Töchter, Maria die Tochter aus Zion und Josef die Tochter aus Elysium. … Da schrie laut der Sohn aus der Krippe. Der Säugling tat, was Säuglinge tun, wenn sie Hunger haben. Maria vergaß die Worte in ihrem Herzen, Josef ließ ab von den Gedanken in seinem Kopf. Die Mutter musste zusehen, dass der Säugling das Trinken lernt und der Vater musste lernen, wie man die Windeln wickelt. Nachdem der Säugling gestillt und gewickelt wieder eingeschlafen war, trafen sich ihre Blicke. „Was hast du durch das Loch gesehen, Josef?“ – „Die Sterne.“ „Konnte Abraham die Sterne zählen, als der Herr ihn hieß, gen Himmel zu sehen und die Sterne zu zählen?“, fragte Maria. Und Josef wiederholte die Verheißung: So zahlreich sollen deine Nachkommen sein! (Gen 15,35)
„Wir haben ein Kind bekommen“, sagte Maria. - „Gott hat Wort gehalten“, stellte Josef fest, und konnte gar nicht glauben, dass er das gesagt hatte, und fügt an, nun sehr bewegt: „Schwester, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen“. Sie traten gemeinsam aus dem Stall, hoben ihre Köpfe und blickten in den Sternenhimmel.
„Wieso kümmert sich der Gott, der all dies geschaffen hat, um uns?“, fragte Josef. „Wieso kümmern wir uns um das Kind?“, fragte Maria. „Weil es schreit und es uns weh tut, wenn es schreit“, antwortete Josef. „Siehst du“, sagte Maria. „Weil wir schreien und zu ihm rufen und es ihm weh tut, wenn wir schreien, deshalb kümmert Gott sich um uns. Seine Ohren hören uns über Lichtjahre und durch Schallmauern. Von seinen Millionen Welten liegt ihm ausgerechnet unsere am Herzen.“ – „Woher weiß du das?“ wollte Josef wissen. „Die Worte in meinem Herzen haben begonnen, mir ihre alten Geschichten zu erzählen. Es war immer so, seit Anbeginn der Zeit: Wir riefen und Gott hörte. Erst, wenn wir nicht mehr rufen, erst, wenn auf dieser Erde keiner mehr schreit, wird er sich anderen Welten zuwenden.“ „Sollen wir uns das wünschen?“, fragte Josef. Das Kind wurde wach und fing wieder an zu schreien. Sie kehrten in den Stall zurück. Sie wussten, was zu tun war. Und sie freuten sich sehr.
Amen.

1. Wie herrlich gibst du, Herr, dich zu erkennen,
schufst alles, deinen Namen uns zu nennen:
Der Himmel ruft ihn aus mit hellem Schall,
das Erdenrund erklingt im Widerhall.
2. Verborgen hast du dich den klugen Weisen
und lässest die Unmündigen dich preisen.
Den Leugner widerlegt des Säuglings Mund;
der Kinder Lallen tut dich, Vater, kund. [271]

Perikope
24.12.2014
2,1-19

Eine bessere Welt muss man selber machen - Predigt zu Lukas 18,28-30 von Dr. Martina Janßen

Eine bessere Welt muss man selber machen - Predigt zu Lukas 18,28-30 von Dr. Martina Janßen
18,28-30

I. Heute findet die Bundestagswahl statt. In den Wochen zuvor prägte Wahlwerbung das Straßenbild -von hipp bis solide, zwischen psychedelischem Farbenspiel und smartem Schwarz-Weiß, überall vertraute Gesichter seriös-souverän in Szene gesetzt. Das gehört dazu. Ich lasse all die Slogans auf mich wirken.

„Zukunft kann man wollen. Oder machen" (Die Grünen)

„Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“ (CDU)

„Sozial, gerecht, für alle“ (Die Linke)

„Für eine starke Wirtschaft und sichere Arbeit“ (CDU)

„Mit Mut für eine weltoffene Gesellschaft“ (Die Grünen)

„Denken wir neu“ (FDP)

„Zeit für mehr Gerechtigkeit (SPD)

„Zeig Stärke“ (Die Linke)

„Die Zukunft braucht Ideen und einen, der sie umsetzt“ (SPD)

„Ungeduld ist auch eine Tugend“ (FDP)

So in etwa klingt die Botschaft der Straße in diesen Tagen. Finde ich gut. Ja, da kann ich überall zustimmen. Zukunft, Sicherheit, Gerechtigkeit, Weltoffenheit. Das sind die Zutaten für ein Land, in dem ich gut und gerne leben will und kann. Und nicht nur ich, sondern alle. Auch der Weg dahin überzeugt mich: Mut, Stärke, Ideen und die nötige Portion Ungeduld, damit es auch bald so wird, wie es sein soll. Das klingt großartig – und alles, was ich dafür tun muss, ist heute zwei Kreuze zu machen. Das ist kein wirklich schlechter Deal, oder? Doch es bleiben ja Fragen: Halten die alle, was sie versprechen? Was versprechen die eigentlich genau? Beim ersten Lesen könnte ich bei vielem mein Kreuz machen, wenn es dann allerdings auf den zweiten Blick konkreter wird, scheiden sich die Geister. Und das ist gut so. Nur so funktioniert Demokratie.

II. Wem folge ich? Wem glaube ich? Das sind die Fragen der letzten Wochen. Ich stelle mir vor, auch Jesus stünde zur Wahl, wäre eines von den vielen Gesichtern, die mir von den Laternenmasten und Stellwänden entgegenlächeln. Wäre Jesus fotogen? Hätte er das Zeug zum smarten Posterboy? Wäre seine Partei reich genug Geld für große Wahlplakate? Gäbe es auch Kugelschreiber? Vor allem aber frage ich mich: Mit welchem Slogan würde Jesus werben? Ich blättere in der Bibel. Wie ist das, wenn man Jesus folgt? Da findet sich schon einiges, das nach Slogan klingt. „Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach“ (Lk 9, 23). „Verkauf alles, was du hast, verteil das Geld an die Armen (…); dann komm und folge mir nach“(Lk 18, 22)! „Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern, dazu auch sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein (Lk 14,26)“. „Lass die Toten ihre Toten begraben. Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes (Lk 9,60.62).“

Nein, Jesus! – ruft der Wahlkampfmanager in mir – so doch nicht! So wird das nichts! Die Leute geben dir ihr Kreuz, weil sie ihrs ja gerade loswerden wollen. Die wollen nicht Haus und Hof und Familie oder gar ihr eigenes Leben verlieren, sondern Gerechtigkeit, Wohlstand und Sicherheit gewinnen! Du darfst doch nichts fordern, du musst versprechen, verheißen, verführen, mit einer frohen Botschaft locken. Und wenn sie sich nachher als Fake News erweist: egal! Nichts verlangen, sondern versprechen, verheißen - und wenn es dann nach der Wahl doch anders kommt: vertrösten! Wer soll dich denn wählen, wenn du von ihm mehr als zwei Kreuze auf dem Wahlschein forderst? „Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich.“ Ach, Jesus, die wollen ihr Kreuz loswerden und loslegen mit der Selbstverwirklichung, nicht ihr Kreuz tragen und sich verleugnen! So wird das nichts. Ich geb’s zu. Mit der 5%-Hürde würde es bei Jesus schwierig werden. Nachfolge Jesu ist kein Zuckerschlecken. Damit nimmt man kaum einen für sich ein. Menschen ticken anders. Was springt für mich dabei raus? Geht die Rechnung auf? So zu denken, ist menschlich. Allzu menschlich. So menschlich dachten damals vielleicht auch die Jünger Jesu.

Predigttext Lk 18,28-30: Da sagte Petrus: Du weißt, wir haben unser Eigentum verlassen und sind dir nachgefolgt. Jesus antwortete ihnen: Amen, ich sage euch: Jeder, der um des Reiches Gottes willen Haus oder Frau, Brüder, Eltern oder Kinder verlassen hat, wird dafür schon in dieser Zeit das Vielfache erhalten und in der kommenden Welt das ewige Leben.

III. Denken wir neu! Loslassen und abgeben kann reich machen. Sein Leben in Gottes Hand geben, sich ganz Gott überlassen und von sich selber ablassen – wie befreiend, wie bereichernd kann das sein! Das ist ja im Grunde auch der Kern von Martin Luthers reformatorischer Erkenntnis. Sich nicht auf seine Kraft, sein Geld, seine guten Werke, seine Leistung, sich nicht auf sich selbst verlassen, sondern Gott machen und sich von ihm beschenken lassen. Dann kommt es – das ewige Leben in der kommenden Welt. Ganz leicht und wie von selbst…

Loslassen und abgeben kann reich machen. Das ist nicht nur was fürs Himmelreich. Das ist was auch für hier und jetzt. Wenn ich etwas gebe von meiner Zeit, meiner Kraft, meinem Geld, werde ich nicht schwächer und ärmer. Im Gegenteil: Ich gewinne etwas. Das merk ich nicht erst im Himmel. „Jeder wird schon in dieser Zeit das Vielfache erhalten.“ Der Volksmund kennt das: „Geteilte Freude ist doppelte Freude.“ Die Bibel auch: „Geben ist seliger denn nehmen.“ Es gibt eine erstaunliche Studie von Forschern an der Universität Zürich. Verhaltens- und Neuroökonomen haben herausgefunden: Menschen, die großzügig sind und sich um ihre Mitmenschen kümmern, sind glücklicher. Geben, loslassen, teilen erzeugt ein wohliges Gefühl, einen „warm glow“. Anders gesagt: Altruismus stimuliert das Gehirn und setzt Glückshormone frei. Und noch etwas haben die Forscher herausgefunden. Es muss nicht die große Selbstaufopferung und Selbstverleugnung sein, ein bisschen von sich einzubringen und zu geben, ist auch schon gut. Man muss es nicht machen wie Jesu Jünger, die alles verlassen, alles aufgeben, nicht zurückschauen. Nachfolge Jesu geht nicht nur radikal. Das geht auch als Bürger in der Welt. Aber ein bisschen darf man sich schon anstecken lassen von dem Feuer des Anfangs: Ein bisschen von meinem Besitz den anderen geben, sich ein bisschen für das einsetzen, was einem wichtig ist, ein bisschen das Kreuz auf sich nehmen, damit es für andere leichter wird. Einfach nicht immer auf die Habenseite der Kosten-Nutzen-Rechnung schauen, sondern leben, geben. Nicht fragen: „Was bringt mir das?“, sondern sich einbringen. Ich bin mir sicher: Eh man sich versieht kommt der „warm glow“. „Jeder wird schon in dieser Zeit das Vielfache erhalten.“

Jetzt mag so mancher denken: Klingt wie Wahlwerbung. Hohe Worte. Aber was bedeutet das konkret? Das Große wächst im Kleinen. Wie das Samenkorn, das reiche Frucht bringt. Es müssen keine Heldentaten oder die totale Selbstaufgabe sein. Es reicht z.B. schon einfach beim Kirchenkaffee mitzuhelfen. Etwas Zeit und Energie abzugeben und damit Gemeinschaft für viele zu ermöglichen. Das Große wächst im Kleinen, liebevoll handgestrickt bahnt sich Zukunft ihren Weg. Für ein Land und eine Kirche, in der wir alle gut und gerne leben, braucht es nicht nur Leuchtfeuer, Hochglanzevents und Strategiepapiere, es braucht dich und mich hier und jetzt. Es braucht Ideen und uns alle, die sie umsetzen.

IV. Was das konkret bedeutet, wird auch heute klar. Man kann viel über das politische System schimpfen. „Ich geh doch eh leer aus. Bringt doch nichts. Die halten ja eh nicht, was sie versprechen.“ Tja, können sie vielleicht auch nicht immer. Es ist immer leicht, mit dem Finger auf die da oben zu zeigen und zu sagen: „Wir haben euch gewählt, damit ihr dieses Land stärker, sicherer, gerechter und zukunftsfähiger und mein Leben besser macht – und jetzt: Kommt alles anders, kommt nix voran. Ihr seid schuld!“ Das geht nicht auf. Um Deutschland stark, gerecht und weltoffen zu machen, reicht es nicht, alle vier Jahre zwei Kreuze zu machen und andere machen zu lassen. Da muss man schon mitmachen, etwas geben und ein Stück sich selbst hineingeben. Zeig Stärke für das, was dir wichtig ist! Eine bessere Welt kann man nicht delegieren. Die muss man selber machen. Das fängt übrigens mit dem Wählen heute an. Sie müssen weder ihre Familie verlassen noch ihrem Besitz anderen überlassen oder gar ihr Leben lassen, sondern einfach nur zwei Kreuze machen. Dafür bekommen Sie zwar nicht den Himmel auf Erden – und glauben Sie bloß keinem anderem als Jesus, der Ihnen das verspricht! -, aber Sie sorgen dafür, dass Demokratie eine Zukunft hat. Wählen darf man nicht nur wollen. Das muss man machen. Heute.

Amen

Perikope
24.09.2017
18,28-30

Angesehen - Predigt zu Lukas 1,39-47 von Kathrin Oxen

Angesehen - Predigt zu Lukas 1,39-47 von Kathrin Oxen
1,39-47

Elisabeth hatte die Hoffnung ja schon aufgegeben. Sie wusste, dass es so bleiben würde mit den mitleidigen Blicken und dem Getuschel. Und sie kannte die mehr oder weniger diskreten Nachfragen. Die Frage blieb ja sowieso immer die gleiche über die Jahre, nur die Zeitform wechselte. Zu Beginn hieß es: „Wollt ihr nicht oder könnt ihr nicht?“ Und als die Jahre vergingen, eines nach dem anderen, da fragten sie irgendwann: „Wolltet ihr nicht oder konntet ihr nicht?“
Die Antwort war in ihrem Fall immer schmerzhaft eindeutig. Natürlich wollen wir, aber es soll wohl nicht sein. Natürlich wollten wir, aber es sollte wohl nicht sein. Für uns gibt es keine Zukunft, bloß das bisschen Gegenwart und irgendwann sehr viel Vergangenheit. So ist das, ohne ein Kind.

Als ein Engel zu Maria kommt, kündigt er ihr an, dass sie ein Kind erwarten wird. Er hat ihr auch von Elisabeth erzählt. Eine Verwandte von Maria, ihre Cousine, deren Schicksal immer mal wieder zum Gesprächsthema wurde in der Familie.
Elisabeth und Zacharias, nein, da gibt es nichts Neues. Die werden wohl keine Kinder mehr bekommen. Ja, schade ist das. Nun sind sie ja aber auch schon viel zu alt dafür.
Aber der Engel sagt etwas anderes. Er sagt: Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Und er sagt auch: Elisabeth ist schwanger, man sieht es schon, sie ist im sechsten Monat.

Und da ist Maria losgelaufen, um es mit eigenen Augen zu sehen. Und auch, um nicht immerzu an das andere denken zu müssen, was der Engel gesagt hat und an das sie selbst lieber noch nicht so viel denken mochte. Dass auch sie, Maria, ein Kind bekommen würde, Gott weiß, wie. Unmöglich, genauso unmöglich wie bei Elisabeth. Sie ahnt schon jetzt, was auf sie zukommen wird. Mitleidige Blicke, Getuschel, leises Kopfschütteln.
Und dann ist sie bei Elisabeth. Sie sieht ihr ins Gesicht, in das faltige Gesicht einer Großmutter. Und sie sieht Elisabeths Bauch. Das Kind bewegt sich schon, sagt Elisabeth. Unmöglich. Aber nicht bei Gott.

Elisabeth und Maria begegnen sich. Zwei Frauen, die das Allerschlimmste kennen. Eine kinderlose Frau zu sein, das war ja das Allerschlimmste, was einem passieren konnte, damals. Und das andere Allerschlimmste, was einem passieren konnte, damals, war ein uneheliches Kind zu bekommen. Die eine hatte es schon hinter sich, eine Vergangenheit, ein ganzes Leben voller Enttäuschung und Leere. Die andere hat es erst noch vor sich, eine Zukunft voller Ungewissheit und Fragen.

Aber als sie zusammenkommen, da ist es, als träten sie alle aus dem Schatten der Vergangenheit zu ihnen beiden. Alle diese Frauen aus der Geschichte Gottes mit seinen Menschen. All die Frauen, die auch das Allerschlimmste kennen, die mitleidigen Blicke, das Getuschel, das leise Kopfschütteln.
Sara ist da, Abrahams Frau. Auch sie hat noch ein Kind bekommen zur Unzeit, nach endlosen Jahren ohne Hoffnung. Weiße Haare, ein faltiges Gesicht und ein schwangerer Bauch.
Hanna ist da, auch sie lange kinderlos, mit ihren Tränen und inständigen Gebeten und dem Gesicht voller Scham und Schmerz, die Mutter des Propheten Samuel.
Und Ruth und Naomi sind da, die junge Frau und die alte, nach Israel gekommen als Asylantinnen ohne eine Zukunft und später durch ein Kind eingeschrieben in den Stammbaum des großen Königs David.
So geht es zu bei Gott. Unmöglich ist da nichts. Das wissen die beiden Frauen, als sie sich begrüßen, die alte und die junge. Elisabeth und Maria.

Und alle diese Frauen sind in dem Lied, das Maria anstimmt nach dieser Begegnung. Sie singt es allein. Aber eigentlich ist es ein Chor. Der Chor der Frauen, die das Allerschlimmste kennen. Und dieser Chor singt:

Unsere Seele erhebt den Herrn, und unser Geist freut sich Gottes, unseres Heilandes; denn er hat die Niedrigkeit seiner Mägde angesehen.
Siehe, von nun an werden uns selig preisen alle Kindeskinder.

Gut, dass Maria dieses Lied singt. Gut, dass wir sie hören können, denn zu sehen ist sie kaum noch hinter all den Schleiern, die die Zeit um sie gewoben hat. Maria sieht nicht mehr aus wie eine, die das Allerschlimmste kennt.
Auf den Altären in vielen Kirchen trägt sie Kleider aus prächtigen kostbaren Stoffen, mit edlem Faltenwurf. Blau-golden ihr Gewand, sie selbst vor goldenem Hintergrund, wie in einem Schatzkästchen, das sich jederzeit schließen ließe, um sie vor unseren Blicken zu verbergen.
Wir halten Abstand und heben ein bisschen den Kopf, um sie sehen zu können. Das Gegenteil von Niedrigkeit. Sie ist ja ganz abgehoben von den Niederungen des Alltags. Ihr Gesicht bleibt ewig glatt und makellos, auch noch als sie ihren toten Sohn im Schoß hält. Selbst ihr Schmerz ist schon zum Kunstwerk geworden, in den Bildern und Figuren von ihr, in der Musik. Aber eigentlich sieht sie anders aus, Maria, und auch Elisabeth. Und wir sehen sie an.

Elisabeth, die hat einen beigen Mantel an und einen Pullover vom Kleiderstand auf dem Wochenmarkt. Sie hat eine billige Dauerwelle und eine kleine Wohnung, weil für mehr ihre Rente nicht reicht. Elisabeth und ihr Mann sitzen am Abendbrottisch und da ist Margarine und Streichwurst und dünner Tee und wenig Worte. Der Tag ist immer gleich und die Woche auch, weil selten mal Besuch kommt, denn die Kinder sind weit weg und haben ihr eigenes Leben. Die müssen auch sehen, wie sie über die Runden kommen. Das bisschen Gegenwart und viel Vergangenheit.

Und Maria, die ist eine von den Müttern, die ihren Kinderwagen durch die Fußgängerzonen schieben und die zu enge T-Shirts anhaben in grellen Farben. Zu zweit oder zu dritt gehen sie, mit so einer Art trotzigem Stolz. Eine von diesen Müttern, die noch Mädchen sind. Ihre Schwangerschaft hat wohl eher Befürchtungen als Freude ausgelöst. Ein Vater ist meistens nicht so richtig dabei. Man sieht ihnen hinterher und fragt sich, ob das wirklich sein musste und welche Zukunft außer Hartz IV sie jetzt eigentlich vor sich haben. Sie sind ja selbst fast noch Kinder.

Solche Elisabeths, solche Marias, das sind die Menschen, die Gott ansieht. Man kann das nicht nur übersehen, sondern leicht auch überhören, gerade durch die Schönheit der Musik, mit der Marias Lied, das Magnificat, so oft vertont worden ist. Aber da singt keine ansehnliche junge Frau mit Glanz noch in der Stimme. Da singt ein ganz junges jüdisches Mädchen aus der Unterschicht ihrer Zeit.
Aber dieses Mädchen ohne Ansehen singt mit der Kraft all der Frauen, die erfahren haben, dass Gott sie ansieht. Sie singt mit der dünnen alten Stimme Saras. Sie singt mit den Worten der gedemütigten Hanna und sie singt mit der Hoffnung der Asylantin Ruth auf eine Heimat. Sie singt mit der Zuversicht einer alten, armen Frau mit dem Namen Naomi.

Maria singt mit den Stimmen derer, die ohne Ansehen sind. Sie singt für die Elisabeths und die Marias unserer Zeit. Denn die kennen noch ein anderes Allerschlimmstes: Gar nicht mehr gesehen und wahrgenommen zu werden.
Die alten Frauen und ihre Männer, die zurechtkommen müssen mit dem, was am Ende ihres Lebens herauskommt an Rente und mit dem, was für das Leben dann noch übrigbleibt. Die Teenagermütter aus sozial schwierigen Verhältnissen. Und all die anderen Menschen ohne Ansehen, Frauen und Männer, ohne die Möglichkeit und am Ende auch ohne die Motivation, noch ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.
Maria singt ihr Lied für die Menschen ohne Ansehen. Und sie singt dieses Lied gegen die Menschen mit Ansehen. Auch das möchte man vielleicht lieber überhören.

Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.
Die Armen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.

Es ist, als wäre Maria ganz schnell bekleidet worden in Gold und Glanz und hoch emporgehoben, bis in den Himmel, damit man das nicht mehr hören muss. Damit man ihr Lied vergessen kann, jedenfalls seinen Text.

„Niemand will in die Tiefe sehen, wo Armut, Schmach, Not, Jammer und Angst ist, davon wendet jedermann die Augen ab. Und wo solche Leute sind, davon läuft jedermann weg, da fliehet, da scheuet, da verlässt man sie und denkt niemand daran, ihnen zu helfen, beizustehen und zu machen, daß sie auch etwas sind. Sie müssen so in der Tiefe und niedrigen, verachteten Masse bleiben.“ (Luther, Auslegung des Magnificats)

Niemand will in die Tiefe sehen. Ich auch nicht. Ich sehe sie auf meinen täglichen Wegen. Sie bringen wie ich ihre Kinder in den Kindergarten. Anders als ich haben sie keine Eile, weil nichts auf sie wartet, weil sie nirgendwo hin müssen, weil sie nirgends gebraucht werden. Menschen ohne Bildung und Ausbildung, ohne realistische Chance auf einen Arbeitsplatz. Menschen, die keine Perspektive für ihr Leben entwickeln können, die nichts mehr aus sich machen können oder wollen, die anfangen, auch äußerlich unansehnlich zu werden. Ich lebe mit ihnen, jeden Tag und begegne ihnen niemals. Die vielzitierte Spaltung der Gesellschaft in Reich und Arm, in Menschen von Ansehen und Menschen ohne Ansehen, das ist meine Wirklichkeit.

Gott gibt denen eine Stimme, die sonst keiner mehr hört. Und lässt sie singen gegen alle Regeln der Welt. Denn bei Gott ist nichts unmöglich. Das ist die Erfahrung von Sara, von Hanna und Ruth und Naomi. Das haben Elisabeth und Maria am eigenen Leib erfahren.
Und durch sie kommt diese Geschichte Gottes mit seinen Menschen auch zu uns, durch Jesus von Nazareth, geboren von einem jüdischen Mädchen am Rand der damals bekannten Welt. So entfaltet sich in Marias Lied die Verheißung Gottes für all die Menschen ohne Ansehen.
Und diese Musik kommt zu Elisabeth und ihrem Mann am Abendbrottisch, zu den Mädchenmüttern in der Fußgängerzone und zu uns heute morgen. Die Hoffnung kommt zu Menschen, die auf ganz unterschiedliche Weise die Hoffnung aufgegeben haben, dass es immer nur nach den Regeln der Welt geht. Sie kommt auch zu mir. Maria singt. Ich höre ihr Lied. Ich höre die Hoffnung in ihrer Stimme:

Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes; denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.
Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.

Und jetzt sehe ich sie. Ich sehe eine junge Frau in anderen Umständen. Ich sehe das neue Leben. Sie trägt es noch verborgen in sich. Ich höre ihr Lied. Und ich sehe die Welt in anderen Umständen.
Amen.

 

 

 

 

Perikope
02.07.2017
1,39-47

Safeword „Finde mich“ – Predigt zu Lukas 15,1-10 von Markus Kreis

Safeword „Finde mich“ – Predigt zu Lukas 15,1-10 von Markus Kreis
15,1-10

Ich bin ein Star - holt mich hier raus! Das Safeword der Teilnehmer im Dschungelcamp, liebe Gemeinde. Was Dschungelcamp heißt, versteht fast jeder. Aber was bedeutet der Begriff Safeword?
Ein Safeword gibt es im Kampfsport. Zum Beispiel beim Judo. Wer da dreimal schnell hintereinander mit der Innenseite der Hand auf die Matte haut, der spricht ein Safeword aus. Wer im Judo so abklopft, der äußert: Ich gebe den Kampf auf. Und befreit sich so schnell aus einem Hebel oder einem Würgegriff oder Ähnlichem. Damit steht er als Verlierer fest. Und doch zugleich als irgendwie gerettet. Vielleicht vor dem eigenen Ehrgeiz? Dreimal flach auf die Matte schlagen - ein stummes Safeword.
Es gibt auch gesprochene Safewords. Genauer gesagt: Es gibt Kämpfe, in denen einer ein Safeword ausspricht und nicht nur per Geste anzeigt. Damit ist dann ein Konflikt sofort beendet. „Ich bin ein Star - holt mich hier raus!“, das ist so ein Safeword. Es beendet einen Wettstreit im Dschungelcamp. Einer der Teilnehmer sagt es. Und befreit sich aus einer misslichen Lage. Damit macht er sich allerdings zum Verlierer. Was aber kaschiert wird durch den Vordersatz: Ich bin ein Star. Eigentlich könnte der Satz genau so gut heißen: Ich bin ein Loser - holt mich hier raus!

Ist ein Safeword eine Bitte oder ein Befehl? Im Kampfsport und Wettstreit ist das klar. Es gilt wie ein Befehl. Und wer dem Befehl nicht gehorcht, der nimmt sich selbst aus dem Spiel. Da mag man noch so klar der Sieger sein: Ein Sieger, der das Safeword missachtet, der macht sich zum Verlierer.
Wenn Regeln und Kontrolle fehlen, dann sieht das anders aus. In Kämpfen ohne Schiedsrichter wird das Safeword zur Bitte. Es wirkt nicht wie ein Befehl. Das Ergehen des Sprechers liegt in der Hand des Hörers. Immer wieder werden Soldaten trotz erhobener Hände erschossen. Oder Verdächtige, nach denen die Polizei fahndet. Oder Opfer, die von Verbrechern mit der Waffe bedroht werden. Der Ruf „Hände hoch!“ befiehlt, ein Safeword auszusprechen.    

Richtet sich ein Safeword immer an ein Gegenüber? Oder kann es keinen Hörer haben außer seinem Sprecher? Kann es auch ein Monolog sein? Nur zu sich selbst gesprochen? In einem inneren Kampf sozusagen. Kann man sich selbst ein Gegner sein? Einen inneren Streit auskämpfen? Und diesen mit einem Safeword beenden?
Im Dschungelcamp ficht mancher Teilnehmer diesen Kampf. Hin und her gerissen zwischen Ekel und Hunger. Zwischen Scham und Lust am Posen. Zwischen Durchhalten und Aufgeben. Zwischen der Hoffnung, geliebt zu werden, selbst wenn man aufgibt. Und der Furcht, den Fans nicht alles gegeben und deshalb sie verloren zu haben.
In diesem Kampf ein Safeword zu sagen, das heißt: sich als Verlierer zu outen. Vor sich selbst. Sich selbst als Loser zu befinden. Verlierer, weil und indem man seine Bedürfnisse ohne Ekel stillt. Verlierer, weil und indem man auf sein Schamgefühl hört. Loser, weil und indem man ablässt und nicht weiter kämpft. Loser, weil und indem man meint, deshalb nicht mehr liebenswert zu sein.

Heutzutage wird jeder zum Star - und wenn es nur für 15 Minuten ist. So kämpft es in uns, weil wir diese 15 Minuten Ruhm schon genossen haben. Oder weil wir sie noch unbedingt genießen wollen. Es kränkt uns, wenn wir uns in diesem Zwist der Gefühle als Loser zeigen und nicht als Star. Und vielleicht befinden wir uns öfter als Loser als uns lieb ist.
Wir sehnen uns danach, geliebt zu werden. Trotz und mit all unseren Schwächen und Fehlern. Wir wollen unbedingt als liebenswert wie ein Star befunden werden, was immer wir gerade getan haben. Nichts fürchten wir mehr, als keine Liebe zu finden. Ich bin ein Star - holt mich hier raus! Der Dschungelcamper, der das sagt, der meint eigentlich: Ich bin ein Loser - liebt mich trotzdem!          

Ein wahrer Star kennt und spricht nur ein Okayword. Der bedient in einem Kampf den Totmannschalter - komme, was da wolle. Der Totmannschalter ist ihnen bekannt? Ein Zugführer zum Beispiel muss alle paar Sekunden für kurze Zeit einen Schalter runter drücken. Nur dann fährt der Zug weiter. Wird der Schalter nicht mehr gedrückt, weil der Zugführer ohnmächtig geworden ist, dann stoppt der Zug sofort. Mitten auf offener Strecke. Ein echter Star zieht ohne Stopp dahin.  
Ein wahrer Star kennt kein Safeword. Der kennt und spricht nur ein Okayword. Der würgt unerfüllte Bedürfnisse hinunter. Der gibt die Rampensau und übertüncht seine Schamgefühle. Der macht weiter und lässt nicht nach. Der ist Optimist in jeder Lage und fürchtet keine Verachtung, noch Tod noch Teufel.
Ja, das gibt es auch. Auch uns dürfte im Leben schon manches Okayword über die Lippen gekommen sein. Aber so richtig wissen wir das nie: Ob in uns ein Okayword oder ein Safeword das Sagen bekommt. Deshalb sehnen wir uns danach, geliebt zu werden. Trotz und mit all unseren Schwächen und Fehlern. Wir wollen unbedingt als liebenswert befunden werden. Was immer wir gerade getan haben. Nichts fürchten wir mehr, als angesichts unserer Fehler keine Liebe zu finden.
Wie gut, dass Gott uns sein Okayword gibt. Wie schön, dass da die Geschichte vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Groschen gilt. Wir müssen nicht auf offener Strecke im Nirgendwo stecken bleiben. Gott sucht und findet uns. Befindet uns als liebenswert. Mögen wir uns auch noch so sehr als Loser vorkommen.
Gott rettet die, die sich in den Umständen ihres Lebens als Loser eingenistet haben. Er rettet die, welche sagen: Finde mich, auch wenn ich ein Loser bin. Liebe mich angesichts meiner Schwächen.

Wer sucht, der findet, das ist selbstverständlich, liebe Gemeinde. Nicht selbstverständlich ist, dass einer das findet, was er sucht. Wer hat schon mal bei Google eine Suchanfrage eingegeben? Um was ging es dabei? Und wie lautete das Ergebnis? Zu viele Treffer? Wie viele falsche Treffer? Gab es einen Volltreffer? Und woran lag das? Stimmte etwas mit der Eingabe nicht? Ist etwa falsch gesucht worden? Oder war da alles richtig? Wie bei Gott, der das Verlorene sucht. Die, die sich angesichts ihres Tuns nicht als liebenswert befinden. Gott sucht das Richtige, Gott sucht Verlorenes.

Gott sucht nicht nur das Richtige, Gott sucht richtig. Und findet deshalb. Das kennen wir Menschen auch anders. Wer da klopft, dem wird aufgetan, heißt es. Wir wissen: Der zweite Halbsatz hat es in sich! Oder wie verstehen Sie denn den Halbsatz „dem wird aufgetan“? Was ist das Verschlossene, das sich einem öffnet?
Ist das ein Mitmensch hinter einer Tür, der dem Anklopfenden entgegenkommt? Oder ist das eine Einsicht des Klopfers, die ihm plötzlich in den Sinn kommt. Eine Idee, die ihm bis zu diesem Zeitpunkt fremd war, verschlossen? Wie zum Beispiel der Gedanke, selbst falsch zu liegen. Zu irren über sich selbst, zum Beispiel über das eigene Verloren sein. Oder zu irren über andere, zum Beispiel über deren Verloren sein. 
Wer Kontakt sucht, kriegt Antworten. Manchmal eine gute, manchmal eine wenig erfreuliche. Manchmal eine wahre und manchmal eine Falschauskunft. Oder gar eine Lüge. Und keine Antwort ist halt auch eine Antwort. Und über all den verschiedenen Antworten kann einem ein Licht aufgehen. Ein Licht über den, zu dem man Kontakt sucht. Manchmal auch neue Einsichten über sich selbst. Wer im Internet Freundschaftsportale oder Whats-App nutzt, der kennt das. Der hat manch anderen besser kennengelernt. Und manchmal auch sich selbst.   

Gott kennt sich schon längst, von je her. Der braucht sich nicht mehr kennen zu lernen. Er kennt auch uns, seine Menschen. Mit ihren abweisenden Antworten. Ihm muss dazu kein Licht mehr aufgehen. Nur noch uns. Wir müssen erkennen: Er findet uns. Und wir müssen uns finden lassen. Das heißt: Auch wenn wir uns angesichts unseres Tuns nicht als liebenswert befinden, sagen wir uns doch einfach Gottes Okayword. Sprechen wir es als unser Safeword aus.
Fragen wir also Gott: Wie findest Du mich eigentlich so? Dann wird er meinen, anfangs stumm, dann zusehends deutlicher: „Ich finde dich eigentlich gut. Ohne Einschränkung liebenswert. Wer und wie immer Du auch bist und seist.“ Und wir werden uns geliebt fühlen. Was immer wir getan und erlebt haben. Amen.

Perikope
02.07.2017
15,1-10

Bob Dylan - eine Geschichte vom Suchen des Verlorenen - Predigt zu Lukas 15,1-7 von Frank Fuchs

Bob Dylan - eine Geschichte vom Suchen des Verlorenen - Predigt zu Lukas 15,1-7 von Frank Fuchs
15,1-7

Es nahten sich ihm aber allerlei Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen. Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet? Und wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. (Lk 15,1-7)

Liebe Gemeinde,
der amerikanische Sänger und Liedermacher Bob Dylan hatte die besondere Gabe, verlorenen Menschen nachzuspüren. Dies war sicherlich mit ein Grund dafür, dass er zahlreiche Preise erhielt. Zuletzt wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt.
In dem Gleichnis vom verlorenen Schaf kehren sich die Verhältnisse um. Der Hirte lässt seine Herde zurück und geht dem verlorenen Schaf nach. Voller Freude ist er darüber, dass er es gefunden hat.
Dass sich die Verhältnisse umkehren, darum geht es auch in Bob Dylans Lied „The times there are a changing“. Es entstand 1964 inmitten einer unruhigen Zeit für die Vereinigten Staaten von Amerika. In diesem Jahr griffen die USA aktiv in den Vietnamkrieg ein. In demselben Jahr hatte die Bürgerrechtsbewegung für die Gleichberechtigung der schwarzen Bevölkerung einen großen Erfolg gefeiert. Die Rassentrennung in den USA wurde offiziell aufgehoben. Doch bis wirklich alle Ungerechtigkeiten beseitigt waren, war es noch ein langer Weg. Die Aussage, dass sich die Zeiten ändern, entsprach dem Lebensgefühl einer neuen Generation. Das Lied erinnert auch an das Leben Dylans in dieser Zeit: „Der wandernde Sänger steht als Prophet an der Straßenecke, fordert die Passanten zum Stehenbleiben auf und verkündet die unmittelbar bevorstehende Zeitenwende.“ (Heinrich Detering, S.38)
In dieser Zeit war Bob Dylan Sprachrohr und Aushängeschild der Bürgerrechtsbewegung. Im Jahr zuvor hatte er sich an dem Marsch auf Washington beteiligt, der medial weltweit ausgestrahlt hat. Dort hat Bob Dylan ein eigenes Lied selbst gesungen. Sein Lied „Blowing in the wind“ wurde von Peter, Paul & Mary gesungen.
Die Zeiten änderten sich. Für die Geschichte der USA war es so etwas wie eine Zeitenwende, dass nun weiße und schwarze Bevölkerung dieselben Rechte haben sollten. Denn zuvor gab es zum Beispiel noch getrennte Sitzplätze in Bussen und Bahnen und viele weitere Bestimmungen, die die schwarze Bevölkerung diskriminiert haben. Die Sehnsucht nach einer Zeitenwende bestand auch darin, dass der Vietnamkrieg enden sollte und eine Zeit des Friedens für die Vereinigten Staaten von Amerika anbrechen sollte.
Bob Dylan war mit seiner Lyrik und seinen Liedern das perfekte Sprachrohr dieser Bewegung. Eindringlich konnte er das Unrecht, das die schwarze Bevölkerung erlitt, beim Namen nennen. Dem Gefühl der Verlorenheit dieser Menschen in der US-amerikanischen Gesellschaft gab er eine Sprache. Ganz besonders eindrucksvoll gelang ihm das in dem Lied „The Lonesome Death Of Hattie Carroll“, in dem er den Mord an der schwarzen Haushälterin und die milde Bestrafung des weißen Täters anklagt. Sein Gefühl für Gerechtigkeit zeichnet ihn ganz sicher aus und hat zu seinem Ruhm beigetragen. „Was aus meiner Musik herauskommt“, sagte er einmal, „ist der Ruf zur Handlung“. (Detering S.35)
Es gehört zu den Brüchen in seinem Leben, dass er es nicht aushielt, auf eine Rolle festgelegt zu werden. Bei der Verleihung einer Auszeichnung für sein Engagement für die Bürgerrechtsbewegung kam es kurze Zeit später zum Eklat. Er würdigte nicht die Veranstalter, sondern wehrte sich gegen sie, indem er sich schroff gegen die Vereinnahmung seiner Kunst für politische Zwecke wandte. Es zeigt sich: Im Hintergrund seines Handelns stand immer sein Ziel, er selbst sein zu dürfen. Auf dem Hintergrund solcher Ereignisse ist vielleicht leichter zu verstehen, warum er den Nobelpreis nicht persönlich entgegennahm. Oder auch warum er bei Konzerten nicht zum Publikum redet, wie ich ihn selbst einmal beim Konzert in Aschaffenburg erlebt habe.
Bob Dylan hatte schon in jungen Jahren großen Erfolg mit seiner Art, seine Liedtexte zu gestalten und musikalisch umzusetzen. Das, was ihm an Stoffen und Melodien begegnet ist, hat er immer recht frei verwendet, wie einer seiner Biographen schreibt. Wenig hat er sich darum geschert, auf seine Quellen hinzuweisen. Wie er sich bei anderen Autoren bedient hat, so ist er auch mit biblischen Motiven umgegangen. Er hat sie aufgegriffen und verwandelt – wie eben mit Gospelmotiven, dem Auszug aus Ägypten.
Sein Leben war auch von Misserfolgen und Krisen geprägt. Es gab Alben, die beim Publikum nicht ankamen. Und privat wurde seine Lebenskrise darin offenbar, dass 1977 seine Ehe mit Sara Lownds auseinanderging und ihm das Sorgerecht für die vier gemeinsamen Kinder entzogen wurde.
Sicherlich suchte er in all dem Schweren in seinem Leben nach Halt. Er fand es, in dem er sich ganz bewusst dem Christentum zuwendete. Als Auslöser gilt, dass ihm ein Fan statt Blumen ein Kreuz auf die Bühne warf. In einem Hotelzimmer erlebte er den Gekreuzigten wie damals Paulus – als etwas Reales. Dylan ließ sich taufen. Er will nun mehr darüber wissen, was ihm widerfahren ist, und besucht eine Bibelschule. Er studiert die Bibel intensiv und will von nun an ganz bewusst als Christ leben. Einmal sagte er: „Ich wollte lernen, das bewusst zu tun, was ich vorher unbewusst tat.“ Er selbst, der verloren war in seinem Leben, vernebelt durch Drogen und zu keiner festen Bindung fähig, musste sich nun selbst finden lassen.
Drei Alben sind Ende der siebziger bis Anfang der achtziger Jahre ganz mit christlichen Themen besetzt. Die Lieder brachten ihm eher begrenzten Erfolg, natürlich auch Ablehnung ein. Mit dem dritten Album war der Tiefpunkt seiner öffentlichen Anerkennung und den Verkaufszahlen erreicht. In dem Lied „I believe in you“ auf dem ersten dieser drei Alben singt Dylan daher, dass er am Glauben festhält, auch wenn Menschen ihn dafür ablehnen sollten oder es ihm Nachteile bringen sollte. In dieser Phase wird er sogar zum Verkündiger des Glaubens in seinen Liedern. Wenn er sich auch später wieder weltlichen Themen in seinen Liedern zugewandt hat, so hat er sich doch auch nie von dieser für ihn so wichtigen Phase – ja sogar vielleicht rettenden - losgesagt.
In dieser besonders bewusst christlichen Phase Bob Dylans war ich selbst ein junger Mensch. Als Jugendlicher begegnete mir Dylan als einer, der sucht und Fragen stellt in seinen Texten, der aber auch Antworten findet. Mich hat er beeindruckt, weil er ein Mensch ist, der den Menschen, der verloren ist, dem keiner mehr glaubt und der sich in den Dornen der Gesellschaft verfangen hat, aufsucht. Den schwarzen Boxer Rubin „Hurricane“ Carter, der wohl zu Unrecht wegen Mordes im Gefängnis saß, hat er aufgesucht. Mit dem Lied „Hurricane“ hat er ihm eine Stimme gegeben. Auf die Initiative Dylans hin wurde er später entlassen.
Nun wurde das Lebenswerk eines Menschen mit dem Literaturnobelpreis geehrt, der den Mut hatte, anderen Menschen, die verloren sind, wie ein guter Hirte nachzugehen. Und in der Verlorenheit seines Lebens hat er sich auch selbst finden lassen. Es passt allerdings zu ihm, wenn er sich auch darauf nicht festlegen lässt. Deshalb war er auch nicht auf all die Auszeichnungen bedacht, die ihm zuteilwurden, auch nicht den Literaturnobelpreis. Er wollte einfach er selbst bleiben. Als Superstar ist das schwer genug. Eigentlich wollte er auch gar kein Vorbild für andere sein. Sein Beispiel zeigt aber, dass es sich lohnt, anderen Menschen, die verloren sind, nachzugehen – und sich vom guten Hirten finden zu lassen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, er bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

Die biographischen Daten wurden im Wesentlichen dem Buch „Bob Dylan“ von Heinrich Detering entnommen, Stuttgart 20066. Daraus wurde zitiert.

Es wäre gut, wenn ihm Gottesdienst ein Lied bzw. Lieder von Bob Dylan erklingen würden.
Passend wäre auch das Gesangbuchlied „We shall overcome“, Hessen-Nassau 636

 

Perikope
02.07.2017
15,1-7

Gott findet uns - Predigt zu Lukas 15,1-10 von Christiane Borchers

Gott findet uns - Predigt zu Lukas 15,1-10 von Christiane Borchers
15,1-10

Liebe Gemeinde,
die kleine Mona liegt im Bett und will nicht einschlafen. Sie schluchzt, obwohl ihre Mutter bei ihr am Bett sitzt und ihr gute Nacht sagt. „Mama, wo ist Buffi?“, fragt Mona jämmerlich und ist todunglücklich. Buffi ist Monas Teddybär, ohne Buffi im Arm kann sie nicht einschlafen. „Ja, wo ist Buffi denn nur“, überlegt ihre Mutter und guckt sich im Kinderzimmer um. Ihr Blick wandert über das Regal, auf dem die Spielsachen ihrer Tochter aufbewahrt sind. Sorgfältig gleiten ihre Augen suchend über jedes einzelne Bord. Der Teddybär ist nicht dabei. „Warte ein klein wenig“, tröstet sie ihre kleine Tochter „Mama findet Buffi“. Sie erhebt sich vom Bettrand, geht suchend im Kinderzimmer umher. Im Regal ist der Teddy nicht, vielleicht in der Kommode oder im Schrank? Sie zieht die Schubladen der Kommode auf, durchstöbert den Schrank. Der Teddy bleibt verschwunden. Mona liegt still und friedlich in ihrem Bettchen, vertraut vollkommen der Mutter. Die Mutter wird ihren Buffi schon finden. Die Mutter sucht weiter, nimmt die Kissen auf der Kinderbank hoch. Auch hier ist der Teddy nicht. Vielleicht hat sie Buffi mit Monas T-Shirt und der Hose bedeckt, als sie ihre Tochter für die Nacht fertig gemacht hat. Sie sieht unter der Kleidung nach. Nein, auch hier ist Buffi nicht zu finden. Mona wird unruhig. „Mama, wo ist Buffi?“ fragt sie kläglich. „Ich weiß es nicht, mein Schatz, Mama muss weitersuchen“. Endlich entdeckt sie den verlorenen Teddy. Er lugt hinter dem Vorhang am Fenster hervor. „Hier ist dein Buffi“, sagt die Mutter freudestrahlend, greift nach dem Teddy und legt ihn ihrer Tochter in den Arm. Mona lächelt überglücklich. Liebevoll streicht ihre Mutter ihr über den Kopf „Schlaf gut, mein Liebling“ und verlässt das Kinderzimmer. Glücklich und zufrieden schläft Mona ein.

„Vom Suchen, finden und sich freuen“ erzählen die beiden Gleichnisse, die Jesus den Pharisäern und Schriftgelehrten vor Augen stellt. Es hat sich herumgesprochen, dass Jesus Sünder annimmt und mit ihnen isst. Die Pharisäer und Schriftgelehrten, die zu ihm gekommen sind, dulden das nicht. Ihrer Meinung nach verstößt Jesus mit seinem Verhalten gegen die Gesetze der Tora. Jesus stellt die Tora nicht in Frage, er hinterfragt das Bild, das sie von Gott haben.  

Im ersten Gleichnis geht es um einen Hirten, der eines von seinen hundert Schafen verloren hat. Der Hirte macht sich auf die Suche, scheut keine Mühe und sucht solange, bis er es findet. Als er es gefunden hat, nimmt er es auf die Schulter und trägt es nach Hause zu den anderen neunundneunzig Schafen. Die Herde ist wieder komplett. Die Freude des Hirten ist groß. Erfreut läuft er zu seinen Freunden und Nachbarn. Sie sollen sich mit ihm freuen, dass er sein verlorenes Schaf wieder gefunden hat.

Im zweiten Gleichnis erzählt Jesus von einer Frau, die eine Drachme verloren hat. Eifrig sucht sie das Geldstück. Als sie es in ihrem dunklen fensterlosen Haus nicht finden kann, zündet sie ein Licht an, leuchtet jede dunkle Stelle aus, nimmt einen Besen zur Hand und fegt in allen Ecken. Endlich hört sie ein Klirren, die Münze kommt zum Vorschein. Beglückt nimmt sie die wieder gefundene Drachme in die Hand, teilt ihre Freude mit ihren Freundinnen und Nachbarinnen.

Wer etwas wiederfindet, hat zuvor etwas verloren. Dem Finden geht ein Verlust voraus. Der Hirte hat ein Schaf verloren, die Frau eine Drachme. Das Schaf ist dem Hirten wichtig. Er lässt für das eine Schaf neunundneunzig andere zurück. Die Drachme ist der Frau wertvoll, sie setzt viel Energie dafür ein, dass sie diese eine Drachme wiederfindet. Warum ist dem Hirten das eine Schaf so wichtig? Warum der Frau die eine Drachme?
Das eine Schaf vermehrt kaum den Gesamtwert der Herde. Vielleicht möchte der Hirte nicht, dass ihm auch nur eines fehlt. Vielleicht gehört er noch zu den Hirten, die jedes einzelne Schaf kennen und eine Beziehung zu ihren Tieren haben. Solch ein Hirte ist unglücklich, wenn auch nur eines verloren geht. Solch ein Hirte ist in Sorge. Was kann dem Tier nicht alles passieren? Getrennt von der Herde wird es nicht überleben. Wilde Tiere werden es reißen, wenn er es nicht rechtzeitig findet. Womöglich hängt es in einer Felsspalte fest, kann sich aus eigener Kraft nicht befreien. Ein guter Hirte leidet mit, wenn auch nur einem einzigen Tier etwas zustößt.
Und wie ist es mit der einen Drachme? Der materielle Wert einer Drachme schwankte in der Antike. Stand die Drachme gut, ließ sich mit fünf Drachmen ein Ochse erwerben. Drohte eine Inflation, verlor die Drachme an Wert. Im alten Orient kann eine Drachme auch ein Teil der Mitgift oder des Brautschmuckes einer Frau sein. Der Frau ist die eine Drachme wichtig, sonst würde sie nicht so akribisch mit großem Aufwand suchen. Selbst wenn der materielle Wert der Drachme gering sein sollte, hat er ideelle Bedeutung. Das ist wie mit dem Teddybär des kleinen Mädchens, das ohne sein Kuscheltier nicht einschlafen mag. Der Teddybär hat keine Bedeutung, weil er materiell einen großen Wert darstellt. Der Teddybär hat Bedeutung, weil er dem Kind am Herzen liegt.

Wer auf die Suche geht, hat etwas verloren. Es gibt Verluste, die sind nicht schwerwiegend, sie sind einfach nur ärgerlich. Es gibt aber auch Verluste, die lösen großen Schmerz aus. Da ist Brigitte, eine Frau aus unseren Tagen. Brigitte hat ihren Mann verloren. Nicht, dass er gestorben ist, nein, er hat sie verlassen. Sie hat es lange Zeit nicht glauben wollen. Nach fast dreißigjähriger Ehe möchte Manfred die Ehe mit ihr nicht mehr führen. Sie ist fassungslos und verletzt. Es reißt ihr den Boden unter den Füßen weg. Sie und Manfred haben sich gemeinsam ihr Leben aufgebaut, haben Kinder, haben sich etwas geschaffen. Wie werden die Kinder die Nachricht aufnehmen? Was soll sie ihrer Schwester sagen, was ihren Arbeitskolleginnen und Kollegen, was ihren Verwandten und ihrem Bekanntenkreis? Brigitte ist verstört und völlig aus der Bahn geworfen. Es zerreißt ihr das Herz. Manfred will sie verlassen. Ihre Gedanken überschlagen sich, lassen sie nicht zur Ruhe kommen. Wovon soll sie leben? Ihr kleines Gehalt wird nicht ausreichen. Was wird mit dem Haus? Muss sie jetzt ausziehen? Wo soll sie wohnen? Sie fühlt sich wie abgeschnitten von ihren Wurzeln. Wo soll sie hin? Brigitte hätte nie geglaubt, dass sie je in eine solche Situation kommen könnte. Ihre Ehe ist ihr ein stabiles Fundament gewesen. Es hat die eine oder andere Schwierigkeit gegeben, das will sie nicht leugnen. Aber sie hat selbst nie das Gefühl gehabt, dass ihre Ehe gefährdet ist. „Hat er eine andere?“, ist ihr erster Gedanke gewesen, als Manfred ihr gesagt hat, dass er mit ihr nicht mehr zusammen sein will. „Nein, ich habe keine andere“, hat er ihr glaubhaft versichert. Schlagartig sei ihm klar geworden, dass er nicht so weiter leben wolle wie bisher. Er bräuchte einen Neuanfang. Neuanfang, das kann Brigitte nachvollziehen, das will sie auch. Wenn sie zurück denkt, so muss sie sich eingestehen, dass die letzten Jahre nicht harmonisch waren. Sie möchte auch einen Neuanfang, aber mit ihm und nicht ohne ihn.
Brigitte wendet ihre ganze Kraft auf, um ihren Mann zu bewegen, sich auf einen gemeinsamen Neuanfang einzulassen. „Es gibt immer Möglichkeiten“, versucht sie ihn zu überzeugen: „du musst nur wollen.“ „Nein“, hat Manfred gesagt „ich sehe keinen Sinn darin.“ Brigitte kennt ihren Mann. Er ist konsequent. Bei ihr kann es sein, dass sie es sich bei genauerer Betrachtung noch einmal etwas anders überlegt. Aber Manfred macht das nicht. Mit der Zeit merkt Brigitte, dass sie verloren hat. Ihre Bemühungen sind gescheitert. Sie hat ihn nicht zurück gewinnen können. Brigitte fühlt sich verlassen und allein. Sie fühlt sich wie das verloren gegangene Schaf oder wie die Drachme, die auf dem Boden liegt.

Es gibt Geschichten vom Verloren-Haben und vom Verloren-Sein. Nicht jeder Kraftaufwand führt zum Erfolg. Nicht immer ist am Ende Freude über Verlorenes, das wieder gefunden worden ist. Nicht immer wird am Ende alles gut. In den beiden Gleichnissen vom verlorenen Schaf und der verlorenen Drachme gibt es ein Happy-End. Die beiden Gleichnisse gehen deswegen gut aus, weil Gott selbst der Hirte ist, der die Seinen nicht im Stich lässt. Gott selbst ist die Hausfrau, die unermüdlich sucht und nicht aufgibt, bis sie die Drachme wiederfindet. Worauf sollen wir bauen, wenn unsere Bindungen sich auflösen? Wo sollen wir hin, wenn wir schutzlos umherirren? Wem können wir vertrauen, wenn wir am Boden liegen? Doch wohl auf Gott und seiner Hilfe.

Gott lässt von den Seinen nicht. Wir gehören zu ihm. Wenn wir verloren gehen, geht er uns nach. Er sucht solange, bis er uns findet. Gott gibt uns nicht auf, auch wenn wir uns aufgegeben haben. Wie der Hirte sich das verlorene und womöglich verletzte Schaf auf die Schulter legt und es nach Hause trägt, so trägt Gott uns, wenn wir verletzt sind. Wie die Frau jede Ecke ausleuchtet und die Drachme findet, so überlässt Gott uns nicht der Dunkelheit. Wie die Frau die Drachme aufhebt, so hebt Gott uns auf, wenn wir am Boden liegen. Gott kommt, um das Verlorene zu suchen und das Verletzte zu verbinden, so wie Jesus, der gesagt hat: „Ich bin gekommen, das Verlorene zu suchen und das Verirrte zurück zu bringen.“ (vgl. Lk 19,10)

Manche Pharisäer und Schriftgelehrte verurteilen Jesus. „Er nimmt die Sünder an und isst mit ihnen“ werfen sie ihm vor. Haben sie denn nicht verstanden, dass er ihnen ihre Bemühungen, nach Gottes Geboten zu leben, nicht klein redet? Haben sie nicht verstanden, dass er doch nur möchte, dass sie nicht auf andere Menschen herabblicken, die das nicht so erfolgreich praktizieren wie sie? „Ihr habt es doch gar nicht nötig, euch über andere zu erheben“. Gott hat neunneunzig Gerechte eben so lieb wie einen, der verloren war und wieder gefunden ist. Das eine Schaf bedarf in der Not Gottes besonderer Hilfe, die neunundneunzig kommen im Moment ohne ihn aus. Sie bleiben ja nicht ganz ohne Schutz. Die treuen Hirtenhunde passen auf sie auf.
Mit der Frau im Gleichnis verhält es sich ähnlich. Die verlorene Drachme braucht zwar nicht wie das Schaf ihre Hilfe. Aber wenn sie die eine Drachme nicht findet, könnte sie den Ochsen nicht kaufen oder wäre der Brautschmuck nicht komplett.

Getragen vom guten Hirten, blicken wir getrost auf einen neuen Tag. In der Gewissheit, dass Gott uns sucht, wenn wir verloren gehen, schlafen wir beruhigt am Abend ein, so wie Mona, als sie ihren Teddy im Arm hält. Und auch Brigitte darf sich der Obhut Gottes anvertrauen. Ihr Leben geht weiter. Sie darf sich Gottes Hilfe sicher sein. Gott führt alles zu einem guten Ziel. Am Ende wird Freude sein. Amen.     

Perikope
02.07.2017
15,1-10