Die Farben der Trauer - Predigt zum Ewigkeitssonntag

Die Farben der Trauer - Predigt zum Ewigkeitssonntag
90,1-16

Liebe Gemeinde,

ist es Ihnen auch zu bunt geworden?

Mit all dem, was zum Totengedenken hier in Mexiko dazu gehört.

Mit den Farben, dem Essen, dem Rum auf dem Hausaltar.

Mit den Festen, den Gerüchen, mit der Musik…

Es ist alles so völlig anders, so laut, so bunt, so grell. Das irritiert, das verstört manche auch, oder bleibt bestenfalls ein folkloristischer Farbtupfer.
Eva Schwab ist es so ergangen, als sie nach Mexiko gekommen ist und mir selbst auch, als ich das vor drei Jahren zum ersten Mal gesehen und gehört habe.

Das Totengedenken in Mexiko ist fremd.

Und kommt ja ursprünglich auch aus anderen Traditionen. Diese Art, der Toten zu gedenken, gab es schon, als die Spanier das Christentum nach Lateinamerika gebracht haben. Es war zwar anders auf die Jahreszeiten verteilt, hat sich dann aber mit dem katholischen Allerheiligen- und Allerseelenfest verbunden. Und wird seit Jahrhunderten so in Mexiko gefeiert. Auch von Menschen, die sonst keinen Bezug zu Kirche und Religion haben.

Ich selbst habe eine ganze Zeit gebraucht, um zu erfassen, was dahinter steckt. Und wahrzunehmen, dass hier kein oberflächliches, einfach nur grell buntes Treiben stattfindet.

Eigentlich gibt ja auch nur eine Farbe den Ton an: Das leuchtende Orange der Cempasúchil. Diese Blume blüht im November. Sie hat 21 - 20 Blätter. - 20: Die Zahl der Unendlichkeit. Diese „Blume der Ewigkeit“ bestimmt auf Plätzen, in Häusern, auf den Altären den Farbton.

Mit ihrer starken und hellen Farbe rückt sie den Tod und die Toten in den Blick. Erinnert an die, die schon gegangen sind.

Man spricht über sie, erinnert sich, lauscht gemeinsam den vertrauten Liedern, tauscht Geschichten aus. Und das nicht allein, sondern oft zusammen, in der Familie, sogar am Arbeitsplatz, in den Schulen, ja auf öffentlichen Plätzen.

So holen die Mexikaner den Tod aus seinem grauen Versteck.

Dem Schweigen, wo er so viel Macht über uns hat.

Wie gut das tut! Offen zu sagen, wie allein wir uns seit dem Tod eines lieben Menschen fühlen. Offen von der Angst vor dem Tod zu reden. Auch ganz offen zu fragen, wie es nach dem Tod weiter geht.

Miteinander über all das zu sprechen wie über andere alltägliche Themen auch.

So verliert der Tod wenigstens in diesem kleinen Moment seine große Macht und seine bleierne Schwere.

Über den Tod wird in Mexiko aber nicht nur gesprochen, er ist hier auch überall zu sehen. Zum Beispiel in Gestalt von Catrina. Einer eleganten, manchmal aufgetakelten Dame, modisch gekleidet und geschminkt. Aber eben tot. Eine hintergründige Kritik an der feinen Gesellschaft: Auch sie wird es treffen.

Oder die Symbole für den Tod auf dem speziellen Totenbrot: Manchmal wird der Teig wie kleine Knochen geformt. Auf den ersten Blick wirkt das makaber. Aber indem die Mexikaner dieses Brot essen, - nehmen sie dem Tod die Macht.

So offen, kritisch und unbeschwert mit dem Tod umzugehen, gelingt uns in Deutschland meist nicht. Wir sprechen höchstens im kleinen Kreis Gleichgesinnter darüber. Denen es genauso geht. Die uns verstehen und bei denen wir keine Sorge haben müssen, dass wir sie mit unseren Gedanken langweilen oder stören.

Wir verhalten uns eher so wie die Jünger in der biblischen Geschichte. Sie sind allein unterwegs, tieftraurig, in sich gekehrt und noch voller Erinnerungen an die gemeinsame Zeit, aber auch an das Sterben, den Tod ihres Freundes

Erst als der Dritte dazu kommt, ändert sich das: Sie fassen Vertrauen,

erzählen offen, wie weh es ihnen tut,

wie enttäuscht sie sind und wie ratlos.

Sie fragen sich, was jetzt aus ihrem Leben werden soll.

Er hört zu und antwortet.

Hilft ihnen, seinen Tod zu begreifen.

Das tut ihnen gut und sie bitten ihn, zu bleiben, obwohl sie noch immer nicht erkannt haben, wer da mit ihnen spricht.

Und er bleibt.

Er setzt sich mit ihnen an den Tisch.

Zum gemeinsamen Essen.

Er bricht das Brot.

So wie damals.

An jenem letzten Abend vor seinem Tod.

Das öffnet ihnen die Augen, macht es klar und sie erkennen ihn. Auferstanden, lebendig. Er. Bei ihnen. Jesus. Ganz da.

Er bleibt. Und lässt sie spüren: Gott bleibt.

Gott ist da, wo wir durch ihn die Angst vor dem Tod verlieren.

Wo wir durch ein Wort getröstet werden.

Wo uns die Nähe von Menschen stärkt.

Wo wir im Gebet die Schulter spüren, an die wir uns anlehnen können.

Wo wir in Jesu Namen Brot brechen und Wein teilen.

Dann erleben wir: Gott ist da. In all unserer Trauer, im Sterben, im Tod. Hier bei uns

und bei Ihnen.

Ich mag es inzwischen sehr, dieses strahlende Orange im November. Diese besondere Farbe der Trauer.

Sie zeigt mir, dass ich nicht zu schwarz sehen muss. Denn die Menschen, die mir so wichtig sind, und die ich so sehr vermisse, sie sind nicht endgültig verloren. Die Beziehung zu Ihnen bleibt, auch über den Tod hinweg.

Das weit verbreitete Orange im November hier in Mexiko macht mir deutlich, dass auch ich meine Trauer, auch ich meine Angst nicht verschweigen muss, runter schlucken, mit mir selbst ausmachen. Vielmehr darüber reden sollte, den Tod zur Sprache bringen, ihm so die Macht nehmen.

So ist es vielleicht auch kein Zufall, dass unsere Kirche außen orange gestrichen ist.

Ihre Fassade erinnert uns auch über den November hinaus, wenn die Totenblume Cempasuchíl längst verblüht ist, an die Liebe und das Leben. Bei jedem Gang zur Kirche. Uns und all die anderen Menschen, die auf der breiten Straße vorbei kommen und die Bedeutung dieser Farbe kennen.

Auch hier in der Kirche setzt sich diese Farbe in unserem Osterfenster fort: Der auferstandene Jesus am See Genezareth trägt ein orangenes Tuch über der Schulter. Es zeigt uns bei jedem Gottesdienst: Gott, der Himmel und Erde zusammen hält, der Tod und Leben umgreift, ist für uns da. Für unsere Lieben, die uns vorausgegangen sind. Und uns selbst, die wir um sie trauern.

Und dieses starke, typisch mexikanische Orange ist nicht nur beim Auferstandenen zu sehen, es setzt sich fort auf der Schulter von zwei Jüngern.

Es leuchtet. Ihnen damals und uns, hier in unserer Kirche.

- Möge sie auch Ihnen leuchten, diese ganz andere Farbe, wenn Sie heute ans Grab gehen, an einen lieben Menschen denken. Und gibt ihnen Kraft und Mut und Hoffnung.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

Perikope
20.11.2016
90,1-16

Dem Tod zum Trotz - Predigt zu Psalm 90 von Jens Junginger (überarb. 19.11.)

Dem Tod zum Trotz - Predigt zu Psalm 90 von Jens Junginger (überarb. 19.11.)
90

Dem Tod zum Trotz

129 Tote durch den Terroranschlag in Paris
8 tote Babys in einer oberfränkischen Kleinstadt
Weit über 2000 Tote - die in diesem Jahr bei ihrer Flucht über das Mittelmeer nach Europa ums Leben gekommen sind.

Liebe Gemeinde
diese Mitteilungen vom Tod von Menschen lassen uns den Atem stocken.
Je näher, je jünger, je unmittelbarer die verstorbenen, getöteten, ermordeten und umgekommenen Menschen uns sind,
umso mehr rückt ihr Tod uns auf den Leib,
umso mehr schockiert, verunsichert uns der Tod und macht uns bestürzt.
Der Alltag ist angehalten.
Die Zeit ist angehalten.
Es herrscht eine Art Ausnahmezustand. 

Auch am Turm unserer Stadtkirche scheint die Zeit angehalten worden zu sein.
Die Zeitanzeige fehlt.
Man hat dem Turm ein Stück seines Gesichts, genommen.

Mit dem Tod verschwindet ein Gesicht, viele Gesichter.
Uns wird eine wichtige, zum Teil prägende Person genommen.
Mit dem Tod durch Terror oder rational nicht fassbare Verzweiflungstaten
wird Leben zerstört
uns wird ein Stück der Glaube an das Gute im Menschen genommen.
Der Glaube an die Gültigkeit der Menschenwürde,
an den allgemeinen Wert der Verantwortung füreinander,
und damit ein Stück Hoffnung und Zuversicht

So verwundet wie der Turm erscheint, ohne Zeitanzeige, ohne Zifferblatt,
so sieht es bei uns aus, in uns,
angesichts des Todes eines Menschen
angesichts einer Vielzahl ausgelöschter unschuldiger Menschenleben,
durch Terror, im Meer, durch rätselhaftes Verhalten.

Der Tod verwundet uns. Er hinterlässt Leere.
Innere Leere, Unsicherheit, Hilflosigkeit, Desorientierung.

Wir halten heute die Zeit noch einmal an, ganz bewusst.
Wir denken an Menschen, deren Tod bei uns eine Leerstelle hinterlassen hat.
Wir halten die Zeit an, weil offene Fragen bleiben und wir Verunsicherung spüren.

Gemeinsam gedenken wir der Toten.
Gemeinsam erweisen wir den Toten die letzte Ehre, hier in einem öffentlichen Raum.

Wir wollen diesem unangenehmen Störenfried „Tod“ Raum geben.
Auch ein wenig trotzig.
Eben weil wir entsetzlichen Respekt vor ihm haben. Weil wir ihn nicht an uns herankommen lassen wollen. Und wenn er sich ankündigt, dann liebäugeln wir ja mit menschlicher Nachhilfe, und wollen uns zum Herr über Tod und Leben machen.

Wir wollen dem Tod einen Zeitraum geben, wie der Ladenbesitzer in einem italienischen Städtchen und seine Kollegen - mitten im Alltag.
Auf einer lauten Piazza mit Straßencafés und Souvenirläden bahnt sich der Ladenbesitzer auf einmal den Weg zur Tür, macht sie zu, kurbelt den Rollladen herunter, bleibt reglos davor stehen und blickte mit geneigtem Kopf auf den Platz.
Auch die Fenster in den anderen Läden wurden verdunkelt; es wird still.
Touristen schauen irritiert. Nur eine Glocke ist zu hören:
Ein Leichenzug verlässt die Kirche, überquert die Piazza.
Für einige Momente steht Zeit und Leben still.
In schweigendem Respekt gibt man dem Toten und seinen Angehörigen den Weg frei. (H.Prantl)

Lehre uns Gott bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden....
Lehre uns Gott bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden....
sagen, oder besser, bitten im Psalm 90 Menschen. Für sich, für uns.
Aus dem Wissen, aus der eigenen Erfahrung, dass das Leben immer wieder höchst gefährdet ist, dass es begrenzt ist.
Ja, dass es von Anderen begrenzt werden kann und wird, auf grausame Weise.
Und dass sich Menschen gegenseitig das Leben zur Hölle machen,
über andere richten und den Tod herbeiführen.

„Auf dass wir klug werden“, darum wird hier gebeten.
Will heißen: auf dass wir ein weises Herz bekommen.
Ein „weises Herz“ ?
Ich versteh es so: Dass wir mit Herz und Verstand unser eigenes und unser gemeinsames  Leben sinnvoll, erfüllend und solidarisch gestalten.
Mit den Menschen in unserer Nähe, in der Familie.
Mit Menschen, die uns fremd sind.
Mit den Menschen auf diesem Globus.
Vor allem, mit der Herzenserkenntnis, dass wir aufeinander angewiesen und voneinander abhängig sind. Mehr als jemals zuvor in der Weltgeschichte.

Zur Klugheit oder Herzensweisheit gehört,
dass wir uns selbst, als Einzelne,
dass wir uns als Tüchtigen,Mächtigen und Wohlhabenden in dieser Welt,
als die, die es zu etwas gebracht haben, gerade nicht selbstgerecht gebärden, abgrenzen und abschotten, aus Sorge und Angst,
auf ein paar Stücke vom Kuchen verzichten zu müssen, den wir dank vielerlei Zutaten und Erträgen aus allen möglichen Ländern und Regionen, zubereitet und gebacken haben.
„Denn, so sagt Jesus, wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen, (Lukas 12,48).

Wir alle, jeder einzelne, lebt von Vorrausetzungen,
die wir nicht selbst geschaffen haben.
Daran erinnern die Worte des 90ten Psalms.
Ehe denn die Berge wurden und das Meer,
und du mit der Schöpfung in den Wehen lagst,
da bist du Gott gewesen…
Tausend Jahre sind vor dir /
wie der Tag, der gestern vergangen ist,
und wie eine Nachtwache.

70, 80 Jahre währt unser Leben.
Das ist vor Gott nicht mehr oder weniger als einen Augenblick,
wie eine kurze Nachtwache, zwischen dem gestrigen und morgigen Tag.

Was tun wir Menschen in einem solchen Augenblick Gottes,
der immerhin einige Jahrzehnte umfasst, eine Generation?
Was tun wir langfristig und nachhaltig den Bergen und dem Meer an? Den Mitmenschen?
Mit dem Ressourcenverbrauch, mit Rodung, Raubbau, Erderwärmung und Waffenlieferungen?

Was machen wir aus diesem Augenblick?

Lohnt sich dafür die Mühe und Arbeit? Macht das Sinn?
Oder ist eine derartig ausgerichtete Arbeit nicht doch eher vergebliche Mühe,
und kein sinnvolles, lebensförderndes Wirken und Tätig sein?

Erd- und weltgeschichtlich betrachtet ist die Zeitspanne eines Menschenlebens,
einer Generation, gleich einem Gras,
das am Morgen noch sprosst,
das am Morgen blüht und sprosst
und des Abends welkt und verdorrt.

Die Beter des Psalms erlebten diese kostbare Zeit
an sich selbst als eine Zeit, in der das solidarische Dasein Miteinander und Füreinander
die tragende und lebensförderliche Gegenseitigkeit, außer Kraft gesetzt wurde.

Es ist die Zeit nach der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil.
Eine Zeit sich ausbreitender Verarmung.
Menschen werden nichts satt, arbeiten in einen löchrigen Beutel, so beschreibt der Prophet Haggai die Lage (Haggai 1,6).
Die persische, später hellenistischen Weltmacht fordern Tribute und unterdrücken die Bevölkerung.
Darin hat der resignative Ton, der die Klage des 90sten Psalms zunächst durchzieht, seinen Grund:

Dass wir, so sagen die Betenden – unter diesen Bedingungen - so vergehen,
darin zeigt sich Gottes Zorn und sein Grimm, dass wir so plötzlich dahinmüssen.

Zorn, Grimm das kennen wir (auch),
wir empfinden und teilen es,
über die Taten von Terroristen,
über Korruption, Ausnutzung,
über gezielte strategisch geplante Ungerechtigkeit.
Ein Zorn, den auch Jesus angesichts gottwidrigen Verhaltens kennt.    

Der Zorn Gottes wird sichtbar und spürbar im Zerfallen einer Gemeinschaft,
die die gegenseitige Verantwortung füreinander aufgegeben hat oder nicht ernst nimmt,
in einer Gesellschaft, in einer Staaten- und Weltgemeinschaft.

Wer aber glaubt es, dass sich darin Gottes Erzürnen offenbart?
Und wer nimmt das jemand ernst?
So fragen die Beter.
Anders formuliert:
Wieviel Leid und Tod, Terror, Flucht und Elend muss noch geschehen?
Eine berechtigte, eine nachvollziehbare Frage.
Gleichwohl bleiben die Betenden nicht im Grundsätzlich unkonkret Allgemeinen.
Sie bleiben Realisten:

Ja! Sagen sie, Verfehlungen sind nicht grundsätzlich zu vermeiden. Wir sind alle Menschen.
Es gibt Verfehlungen zu denen Menschen, wir Menschen, fähig sind:
Heftige, üble, böse, brutale.
Leidende und Sterbende werden ausgegliedert und sich selbst überlassen.
Rücksichtslose Habgier erzeugt fruchtbares Elend.
Kinder werden Eltern erbärmlich vernachlässigt.
Menschen werden in Ihrer Alterseinsamkeit einfach vergessen.
Menschen aus anderen Kulturen erfahren Ablehnung und Hass.
Bösartige Geschwätzigkeit macht sich breit

Und doch reden die Betenden hier nicht der Aussichtslosigkeit das Wort!

Gott ist und bleibt unsere Zuflucht ist, seit Generationen,
sagen sie sich und uns.
Darauf können und dürfen wir vertrauen.
D.h. Gott ist und bleibt zwar nicht der, der immer alles so herrlich regiert, richtet und lenkt.
Das wäre eine Lüge und eine Verlogenheit Gott gegenüber.

Aber er ist und bleibt unsere Zuflucht,
so wie es für Kinder oft Eltern sind,
wie es für immer noch viele Menschen, eine Kirche wie diese ist,
die deshalb möglichst viel offen sein muss, mitten im Alltag.
Er ist und bleibt unsere Zuflucht,
wie es die diakonisch und psychologische Beratung und Pflege ist,
wie wir es als Christen für Flüchtende sein wollen,
wie wir es sein wollen als Mitarbeitende in den Kirchengemeinden.

Gott ist und bleibt unsere Zuflucht,
für die Verstorbenen, die Leid tragenden, die Ermordeten
für die Trauernden,
für uns alle, die das Leben der Kinder, der kommenden Generationen
zum Guten gestalten wollen.  

Die Beter dieses bekannten Psalms behalten ihr Vertrauen.
Trotz widriger Erfahrungen und Beobachtungen.
Sie sind weder todesverliebt, so wenig wie wir, noch haben sie resigniert,
oder geben sich nur noch deprimierenden Moll-Tönen hin,
auch wenn es einem manchmal danach zumute sein kann.

Sie sind und bleiben ungeduldig Hoffende, wenn sie fragen
Wie lange.... soll das noch so gehen?
Wie lange …soll diese Zerrissenheit und der Unfrieden noch andauern?
Wie lange …soll mich der Tod diese Menschen noch belasten und umtreiben?

Diese Betenden – und da sprechen sie einem aus dem Herzen –
sind von einer tiefen Sehnsucht beseelt, von einer Sehnsucht, in die sie uns mit den Bitten einstimmen lassen möchten.
Und vielleicht seufzen wir da ein wenig mit:

Kehre dich doch endlich wieder zu uns und sei uns gnädig!
Fülle uns frühe mit deiner Gnade,
gib uns nun ebenso viele Freudenjahre!
Lass uns noch erleben, dass du handelst
in und durch die, die deinen willen geschehen lassen
zeig unseren Kindern deine große Macht!
Herr, unser Gott, sei freundlich zu uns!

Lass uns
den natürlichen schmerzfreien Tod annehmen
den Menschen gemachten gewaltsamen Tod bekämpfen,
das sterben von Menschen begleiten,
lass uns Menschlichkeit und solidarische Gegenseitigkeit leben,
mit den Menschen, die zu uns kommen,
mit den vernachlässigten und ausgebeuteten Regionen der Welt.

Lehre uns gerade dafür Arbeit und Mühe aufwenden, und lass es gelingen,
das Werk unsere Hände, Du Gott, unsere Zuflucht.

Liebe Gemeinde
Mit dem Ewigkeitssonntag halten wir die Alltagszeit an, um uns anhand der Gedanken des 90ten Psalms noch einmal bewusst zu machen, dass wir sterben müssen, auf dass wir ein weises Herz bekommen.
Wir kommen in den Worten dieser Psalmbeter selbst mehrfach vor.
In Worten, die uns teilweise als Redewendungen bekannt sind,
mit unserer unterschiedlichen, wechselnden Stimmungen vor:

Als trauernd Klagende, als sehnsüchtig Hoffende,
als die, die den Tod Beklagen,
die die Verstorbenen ehren,
als die, die wir Leid, Verzweiflung und Unrecht,
und das Sterben anderer miterlebt haben,
als solche, die wir wiederum den gewaltsamen Tod
und die Zerrissenheit unter Menschen und Völkern erleben.
als die, die gegen den Augenschein des Faktischen,
sich immer wieder von Gott angenommen und gestärkt erleben.
In eben dieser mehrfachen, manchmal hin und her gerissenen, Existenz erleben wir uns.
Gerade in solchen Momenten und Phasen
da bleibt  uns nichts anderes,
als Gott um Beistand und Zuspruch,
um Trost und Ermutigung zu bitten.
Und uns zugleich uns an dem Schönen und Beglückenden zu erfreuen,
das wir erleben, und Gott gerade dafür zu loben:

„Der du allen Leben den Atem schenkst
hab Du Gott mit uns noch Geduld

Sei gnädig, gib die Kraft
der Todesnot zu widersteh’n,
die Menschenhochmut schafft
gib, Gott, uns Weisheit,
unsre Zeit
in Lob und Klage zu besteh’n.(Eckert)

Rühr uns an, Gott unser Zuflucht,
lass uns untereinander in Berührung kommen
die Hand auch des ganz Anderen fassen
zum Trost, zur Stärkung, für uns selbst
   
lass deine Freundlichkeit in uns durch Mark und Bein gehen
lass sie in unser Herz und in den Verstand fließen
lass uns die Trauer
und deine Einladung annehmen,
das Leben zu feiern
dem Tod zum Trotz.

Amen


Literatur:
„damit wir klug werden“ - Vortrag von Prof. Dr. Christl M. Maier
http://www.kirchentag-wuerttemberg.de/fileadmin/mediapool/einrichtungen/E_dekt_la_wue/Vortrag_Losung_Dr._Maier.pdf
Sölle/Schrottroff, Hannas Aufbruch, Aus der Arbeit feministischer Befreiungstheologie, Gütersloh 1990
Prantl, Heribert, Letzte Ehre, in: Süddeutsche Zeitung vom 30.Oktober 2015;  http://www.sueddeutsche.de/politik/totenmonat-november-letzte-ehre-1.2715422
Eckert, Eugen; Gott ist mein Lied, ist meine Macht, München 1996

 

Perikope

"Was wirklich trägt": ZDF-Predigt im Dom zu Brandenburg am 17. Mai 2015

"Was wirklich trägt": ZDF-Predigt im Dom zu Brandenburg am 17. Mai 2015
90,10

"Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

Liebe Gemeinde!

"Die Zeit läuft mir davon!" So kommt es einem vor, der in begrenzter Zeit viel vorhat. Ein anderer langweilt sich und findet: "Die Zeit geht gar nicht vorbei." Im einen wie im andern Fall erlebt man: Die Zeit ist begrenzt. Das gilt auch für unser Leben im Ganzen: Es währt siebzig Jahre, wenn es hoch kommt, sind es achtzig Jahre. So steht es im 90. Psalm. Er erinnert uns daran, wie federleicht unsere Zeit wiegt, vergleicht man sie mit Gottes Ewigkeit: Tausend Jahre wie ein Tag.

Doch heute denken viele anders als der Psalmist. Ein neues Wort zeigt das überdeutlich. Es heißt "Echtzeit". Was heute in der Wirtschaft zählen soll, muss in "Echtzeit" geliefert werden. Ob Brot oder Autoteile, Medikamente oder Computer: der verabredete Termin ist exakt einzuhalten. Zu früh ist genauso verkehrt wie zu spät. Im Computerzeitalter wird "Echtzeit" vor allem von Rechensystemen verlangt. Sie müssen zu jedem Zeitpunkt anfallende Daten zuverlässig verarbeiten und punktgenau weiterleiten. Dabei entstehen unvorstellbar kurze Zeitanforderungen, vor allem natürlich auf den Finanzmärkten.

Die Echtzeit bemisst sich nicht nach Tagen, Stunden oder Minuten. Sekunden reichen nicht; auf Millisekunden, ja sogar Mikrosekunden kommt es an. Nicht in einer Tausendstelsekunde, sondern in einer Millionstelsekunde wird reagiert. Das ist für uns Menschen gar nicht möglich, nur Computer können das.

Echtzeit fasziniert. Dieses Zauberwort zieht Jugendliche an, Jungunternehmer lieben es, in der zeitgenössischen Musikszene breitet es sich aus. Echtzeit ist Jetztzeit. Die Botschaft heißt: Ergreife Deine Chancen jetzt. Wage Neues. Nutze den Augenblick; und genieße den Tag. Schau nicht zurück; und warte nicht auf das, was kommt. Wir wollen alles  - jetzt.

Doch auf einmal weitet sich der Horizont. Ein anderer Atem weht. "Tausend Jahre sind vor dir wie ein Tag". Der Rhythmus der Zeit erhält wieder Raum. Sie schrumpft nicht auf die Gegenwart zusammen. Wir lassen uns auf die Vergangenheit ein und schauen auf Zukunft aus. Wir wagen wieder, uns zu erinnern; und wir sind kühn genug, zu hoffen. Wir nehmen sogar 850 Jahre in den Blick: im Vergleich zu Gottes Ewigkeit nicht einmal ein Tag. Unser Leben, auch wenn es siebzig oder achtzig Jahre währt, ist im Zeituniversum Gottes wie ein Wimpernschlag. Wenn wir die Zeit nutzen wollen, die Gott uns schenkt, brauchen wir einen Sinn für die Begrenztheit und Endlichkeit unseres Lebens. "Lehre uns, unsere Tage zu zählen. Das macht uns klug, so gewinnen wir ein weises Herz."

Hier im Dom begegnet uns auf Grabmälern ein geflügelter Tod. Er flüstert uns zu: "Memento mori", zu Deutsch: "Denke daran, du bist sterblich". Selbst unsere größten Taten machen uns nicht unsterblich; wir bleiben Menschen mit begrenzter Vollmacht.

Manchmal werden wir mit dieser Wahrheit sehr hart konfrontiert. So erging es Steve Jobs, dem Herrscher über das Computer-Imperium Apple, die Firma mit dem angebissenen Apfel. Völlig unerwartet traf ihn die Diagnose: Bauchspeicheldrüsenkrebs . Er nahm den Kampf mit der Krankheit auf und lebte noch sieben Jahre in voller Intensität. Doch das "Memento mori" war ihm begegnet: "Denke daran, du bist sterblich". Er verstand: "Unser Leben dauert siebzig, vielleicht auch achtzig Jahre. Auch noch das Schönste daran ist mit Mühe errungen."

Als Steve Jobs eingeladen war, zu einer Gruppe von Hochschulabsolventen zu sprechen, redete er nicht über die Echtzeit, sondern über den Tod. Niemand will sterben, sagte er. Aber uns allen ist der Tod gemeinsam. Er ist für das Leben unentbehrlich. Er sorgt für den Wechsel. Das Alte vergeht, Neues beginnt.

Eine solche Einsicht gewinnt nur, wer sich dafür Zeit lässt. Wir brauchen nicht alles – jetzt. Wir können uns erinnern – und wir können hoffen. Wir entwickeln Neugierde für das, was war – und wir strecken uns aus nach dem, was kommt. Unser Atem wird weit. Wir lassen uns wieder Zeit dafür, auszuatmen und einzuatmen. Wir erinnern uns an die, denen wir unser Leben verdanken. Und wir denken an die, auf deren Leben wir unsere Hoffnung setzen.

Dieser macht uns den langen Atem leicht. Vor 850 Jahren wurde sein Fundament gelegt. Seine Steine sind alt. Aber jede Generation hat sich das älter werdende Gebäude auf ihre Weise angeeignet. Unsere Generation hat das Fundament auf dem schwankenden Grund der Havelinsel neu befestigt; und zuletzt haben wir den Innenraum festlich gestaltet. Er hat ein Festgewand angelegt, um Geburtstag zu feiern.

Dreißig Generationen sind bisher durch diesen Dom gegangen, haben in ihm gesungen und gebetet, haben ihr Leid und ihre Freude vor Gott gebracht. Sie haben Irrtümer begangen und sie bereut, sie haben Gott um Kraft gebeten und mutig gehandelt. In diesem Dom zählt die Echtzeit nicht nach tausendstel Sekunden, sondern sie zählt im Rhythmus von tausend Jahren. Das öffnet unseren Blick für das Wunder des Lebens.

Jedes einzelne Leben ist in Gottes Zeitrechnung nur ein Wimpernschlag. Und doch ist für Gott jedes Menschenleben wichtig. "Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst. Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott; mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt." In der Echtzeit Gottes gehören die Generationen zusammen. In ihrem Kommen und Gehen werden sie durch Gottes Treue getragen, in der Endlichkeit ihres Lebens wissen sie sich in Gottes Ewigkeit geborgen. Sie jubeln mit den Engeln und fallen niemals tiefer als in Gottes Hand.

In das Vertrauen auf Gottes Treue nimmt uns dieser Dom hinein – in den Proportionen des Raums, im Klang der Musik, im Hören wie im Beten.  Jede Generation darf in diesem Haus Gottes ihre Spuren hinterlassen. In seine frühste Zeit tauchen wir ein, wenn wir am Altar vorbei in die Krypta hinunter gehen. Hier finden wir die ältesten Bauteile. Zu ihnen gehören die Kapitelle am Abschluss der Säulen. Rätselhafte Wesen zeigen sie, halb Mensch, halb Tier. Als die Kapitelle hergestellt wurden, war man offenbar nicht einmal sicher, wofür man sie verwenden wollte – vielleicht gar nicht für eine Kirche. Deshalb sind auch die heute verdeckten Seiten von den Bildhauern kunstvoll gestaltet.

Die Krypta führt uns aber auch an unsere Gegenwart heran. in ihr befindet sich eine Gedenkstätte für Menschen, die in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft um ihrer Überzeugung willen verfolgt und ums Leben gebracht wurden. 

Unter ihnen war Dietrich Bonhoeffer, der sich am Widerstand gegen Hitlers Herrschaft beteiligte und deshalb am 9. April 1945 umgebracht wurde. Er wollte herausfinden, worauf es ankommt, und fand dabei Halt an unserem Psalm. Den Willen Gottes im eigenen Leben erkennen; das tun, was nötig ist und anderen weiter hilft; das Leben fröhlich bejahen und dem Jammern nicht die Herrschaft überlassen; redlich sein im persönlichen wie im öffentlichen Leben: so konnte er beschreiben, worauf es ankommt. Dabei entdeckte er die Stationen auf dem Weg der Freiheit: "Nicht im Möglichen schweben, sondern das Wirkliche tapfer ergreifen."

Auf Gottes Treue verließen sich die Bildhauer der frühen Zeit ebenso wie Dietrich Bonhoeffer und seine Freunde. Auf Gottes Treue baute der Forstmeister, der die Wälder des Doms über Jahrzehnte bewahrte und pflegte; auf sie verlassen sich Lernende und Lehrende in unseren Schulen ebenso wie die Gestalter des Museums. Wer die Stille dieses Doms sucht, sich an der Musik freut, die in ihm erklingt, im Hören und Beten mit Gottes Geist verschmilzt, erlebt einen Ort, der das Vertrauen auf Gottes Treue stärkt.

Wir alle können das erleben. Zuversichtlich können wir dann mit unserem Psalm sagen: "Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich und fördere das Werk unserer Hände." Amen.

Perikope
17.05.2015
90,10

In seiner Hand sind die Tiefen der Erde

In seiner Hand sind die Tiefen der Erde
95,1-8a

Ich lese als Predigtwort die Verse 1 bis 8 aus dem 95. Psalm, dem Wochenpsalm für die am Sonntag beginnende Woche Rogate:

 

Kommt herzu, lasst uns dem Herrn frohlocken

und jauchzen dem Hort unseres Heils!

Lasst uns mit Danken vor sein Angesicht kommen

und mit Psalmen ihm jauchzen!

Denn der Herr ist ein großer Gott

und ein König über alle Götter.

Denn in seiner Hand sind die Tiefen der Erde,

und die Höhen der Berge sind auch sein.

Denn sein ist das Meer, und er hat´s gemacht,

und seine Hände haben das Trockene bereitet.

Kommt, lasst uns anbeten und knien

und niederfallen vor dem Herrn, der uns gemacht hat.

Denn er ist unser Gott,

und wir das Volk seiner Weide und Schafe seiner Hand.

Wenn Ihr doch heute auf seine Stimme hören wolltet. Verstockt euer Herz nicht…“

(Psalm 95, 1-8a – Wochenpsalm zum Sonntag Rogate)

 

 

Liebe Gemeinde!

Heute ist ein Tag der Dankbarkeit. Denn heute vor 70 Jahren, am 8. Mai 1945, endeten – mit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht – die Gewaltherrschaft der NS-Diktatur und der Zweite Weltkrieg in Europa. Die Zahl der Opfer, die dieser Krieg weltweit gefordert hat, lässt sich nur schätzen: Um die 80 Millionen Tote, ungezählte Verwundete an Leib und Seele, Vertriebene, Witwen und Waisen.

Heute ist ein Tag der Dankbarkeit. Denn heute vor 50 Jahren, zum 20. Jahrestag des Kriegsendes, wurde der Grundstein der Versöhnungskirche gelegt, in der wir heute zusammen Gottesdienst feiern. Sie ist hier, auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau, zu einem Symbol der Verbundenheit mit den Opfern, einem Ort des Erinnerns und der Umkehr geworden.

Heute ist ein Tag der Dankbarkeit. Aber ist deswegen heute auch ein Tag des Frohlockens, und des Jubelns, wie es der Wochenpsalm für die kommende Woche Rogate intoniert? "Kommt herzu, lasst uns dem Herrn frohlocken und jauchzen dem Hort unseres Heils!" – So beginnt der 95. Psalm. Können wir an einem Tag wie dem heutigen frohlocken, können wir an einem Ort wie diesem jauchzen?

Zwei Bibelworte werden hier, in der Versöhnungskirche, sichtbar. Und beides sind Psalmverse: Von der Zuflucht, die wir unter Gottes Flügeln finden, erzählt der 57. Psalm. Und Psalm 130 erinnert uns daran, dass wir auch in den tiefsten Momenten des Lebens nicht von Gott verlassen sind.

Die Psalmen – seit Jahrtausenden werden sie gesprochen und gesungen. Sie sind Teil der jüdischen und der christlichen Tradition. Die Glaubenserfahrungen des einzelnen Beters kommen in ihnen zum Ausdruck, aber auch die Gottesbegegnungen der versammelten Gemeinde. Klage und Dank, Verzweiflung und Zuversicht, sogar Wut und Rachegedanken haben Raum in den Psalmen, genauso wie die Hoffnung auf Versöhnung.

Jedes Mal, wenn ich in den Palmen lese oder aus ihnen singe – etwa im Introitus –, dann berührt es mich, wie in diesen Versen all das zur Sprache kommt, was das Leben im Glauben ausmacht. Denn vor Gott kann es, darf es sein: das Hadern wie die Gewissheit, das Lob wie die Trauer, die Höhen und die Tiefen.

Auch der 95. Psalm, der so jubelnd beginnt, verschweigt die Tiefen nicht, die wir an diesem Ort hier besonders deutlich spüren. Der Jubel mündet in die Warnung vor Verstockung. Der Jubel weiß von den Tiefen der menschlichen Existenz, von den dunklen Seiten der menschlichen Existenz, deren fürchterliche Konsequenzen an dem Ort, an dem wir heute Gottesdienst feiern, in so bedrückender Weise sichtbar geworden sind.

Die Architektur Helmut Strifflers, der leider vor kurzer Zeit verstorben ist und diesen Tag jetzt selbst nicht mehr erleben kann, hilft uns, das nicht zu vergessen, gerade dann, wenn wir jubeln. Diese Architektur ermöglicht es allen Besucherinnen und Besuchern der Versöhnungskirche, an diesem Ort Schritt für Schritt dem Gang hinab in die Tiefe zu folgen. Denn Versöhnung ist nur möglich, wo wir aufrichtig erinnern, wo wir eigene Schuld bekennen und Unrecht beim Namen nennen, wo wir die Trauer aushalten und unsere Augen und Herzen nicht verschließen vor dem unfasslichen Leid. Versöhnung ist nur möglich, wo wir den Weg in die Tiefe mitgehen. In die Tiefe menschlichen Leids. Aber auch in die Tiefe menschlicher Schuld, das solches Leid verursacht.

In einer öffentlichen Erklärung zum heutigen 8. Mai haben Kardinal Marx und ich im Namen unserer Kirchen formuliert: "Es ist sehr schmerzhaft zu erkennen, dass auch Christen und Kirchen durch ihr Tun und durch ihr Schweigen schuldig geworden sind und dass der Riss zwischen Tätern und Opfern mitten durch die Kirchen ging. Wir gedenken voller Dankbarkeit der mutigen Zeuginnen und Zeugen, die dem Unrecht und der Barbarei widerstanden. Wir bekennen aber auch, dass die Kirchen sich dem Unrecht nicht deutlich widersetzt haben und auch viele Christen sich der menschenverachtenden Ideologie des Nationalsozialismus und den daraus entspringenden verbrecherischen Taten bereitwillig geöffnet haben."

Wir müssen diesen Weg in die Tiefen der eigenen Verantwortung, in die Tiefen der Schuld, die im Namen unseres Volkes geschehen ist, mitgehen, auch am heutigen Tage. Und hier – unten – hören wir nun aus dem 95. Psalm: "In seiner Hand sind die Tiefen der Erde, und die Höhen der Berge sind auch sein. Denn der Herr ist ein großer Gott und ein König über alle Götter."

Gott ist auch hier unten an unserer Seite. Und hilft uns immer wieder von dem zu reden, was jedes Mal von Neuem fassungslos macht und auch bei uns, die wir später geboren sind, Scham auslöst. Dass der Herr Gott ist und kein anderer, wurde mit Füßen getreten. Während der Nazi-Diktatur spielten sich andere auf als Herren über Leben und Tod. Setzten sich an Gottes statt. Hier an der Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers erinnern wir uns an die über sechs Millionen Jüdinnen und Juden, die ermordet wurden, an die Sinti und Roma, die Homosexuellen, die geistig und körperlich Behinderten und die Menschen, die um ihrer politischen oder religiösen Überzeugungen willen in den Konzentrationslagern getötet wurden. Und während Einzelne sich zu Göttern aufspielten und entschieden über Leben und Tod, schwiegen viele andere, schauten weg, versuchten zu verdrängen und zu vergessen.

Versöhnung aber ist nur möglich, wo wir – wie hier geleitet durch die Architektur des Kirchenraumes – in die Tiefe gehen und eben nicht vergessen oder verdrängen, sondern uns erinnern. Versöhnung ist nur möglich, wo wir – wie heute begleitet durch die Worte des 95. Psalms – niemals vergessen, dass allein Gott unser Gott ist, dass Leben und Tod in seiner Hand liegen, dass kein Mensch sich an Gottes statt stellen darf, und wir alle zum Widerstand gerufen sind, wo dies geschieht, auch heute.

"Kommt, lasst uns anbeten und knien und niederfallen vor dem Herrn, der uns gemacht hat. Denn er ist unser Gott, und wir das Volk seiner Weide und Schafe seiner Hand." – so heißt es im 95. Psalm. Dass hier vor 50 Jahren eine Kirche errichtet worden ist, dass sie "Versöhnungskirche" genannt worden ist, war die Antwort auf genau diesen so eindringlichen Ruf.

Im Bereich der KZ-Gedenkstätte eine christliche Kirche zu errichten, erschien vor über 50 Jahren vielen als unmöglich, angesichts dessen, dass der Widerstand der Kirchen gegen den Nationalsozialismus nicht grundsätzlicher, nicht mutiger war, als er es über weite Strecken gewesen ist. Doch dann waren es evangelische Christen aus den Niederlanden um Dirk de Loos, Menschen, die selber im Konzentrationslager Dachau inhaftiert waren, die die Initiative ergriffen und sich für den Bau eines evangelischen Andachtsraumes einsetzten. Dank ihres Engagements wurde vor 50 Jahren der Grundstein gelegt, damit eben doch genau hier ein Ort entstehen konnte, an dem wir gemeinsam vor Gott niederfallen, wie es der 95. Psalm sagt.

Darf man an einem solchen Ort jubeln? Ja, man darf jubeln. Vielleicht muss man sogar jubeln, sogar dann, wenn es ein verzweifeltes Jubeln ist. Auch wer selbst nicht mehr jubeln kann, weil er zu viel Leid erlebt hat, braucht andere, die stellvertretend für ihn ein Ja zum Leben sprechen. Die stellvertretend für ihn jubeln. Jubeln ist nicht herausgeplärrte gute Stimmung. Erst recht nicht ist es Triumphgeheul. Echtes Jubeln weiß auch vom Leid. Echtes Jubeln ist Ausdruck einer Dankbarkeit, die weiß, wie wenig selbstverständlich das ist, was uns geschenkt ist. Echtes Jubeln weiß um die Tiefen. Und genau deswegen ist es ein Jubeln, das aus vollstem Herzen kommt. "Denn in seiner Hand sind die Tiefen der Erde, und die Höhen der Berge sind auch sein."

In der Hebräischen Bibel heißt das Buch der Psalmen "sefer tehillim", auf Deutsch: "Buch der Preisungen". Klage, Verzweiflung und Wut werden in den Psalmen in Worte gefasst, und genauso – und da hinein verwoben – finden Hoffnung, Dank und Lobpreis ihren Ausdruck.

In die Mauern der Versöhnungskirche sind viele solche "Preisungen" eingeschrieben. Diese Mauern haben in den 50 Jahren ihres Bestehens viel Klage und Verzweiflung gehört. Und sie haben Hoffnung und Dank gehört.

Beides bewegt uns auch heute. Klage über alles Leben, das durch Mord und Terror an diesem Ort geschändet und ausgelöscht wurde. Klage über alles Leben, das heute an unterschiedlichen Orten der Welt geschändet und ausgelöscht wird.

Und es bewegt uns Dankbarkeit. Dass vor genau 70 Jahren der Zweite Weltkrieg endete und Europa befreit wurde von der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus. Dass vor genau 50 Jahren der Grundstein zu diesem Kirchenraum gelegt wurde und damit ein Ort entstanden ist, der in diesen 50 Jahren das Versprechen, das in seinem Namen liegt, tatsächlich eingelöst hat. Ja, dieser Ort ist zum Ort der Versöhnung geworden. Viele Menschen – mich eingeschlossen – haben hier bewegende Gottesdienste erlebt, die alle miteinander die Grundmelodie der Versöhnung zum Ausdruck gebracht haben. Alle, die hier diese Grundmelodie im Herzen gespürt haben, gehen mit dieser Grundmelodie im Herzen wieder heraus – und werden Botschafter der Versöhnung.

Ja, es ist heute ein Tag der Dankbarkeit. "Lasst uns mit Danken vor sein Angesicht kommen und mit Psalmen ihm jauchzen! Denn der Herr ist ein großer Gott und ein König über alle Götter. Denn in seiner Hand sind die Tiefen der Erde, und die Höhen der Berge sind auch sein!"

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

Perikope
10.05.2015
95,1-8a

"Gott, sammle meine Tränen in deinen Krug"

"Gott, sammle meine Tränen in deinen Krug"
56,9

Ansprache über Psalm 56,9 von Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, im ökumenischen Gottesdienst zum Gedenken an die Opfer des Flugzeugabsturzes in den französischen Alpen, 17. April 2015 im Kölner Dom

I.

Unbegreifliches ist geschehen, liebe Angehörige der Passagiere und der Crew des verunglückten Flugzeuges, verehrte Staats- und Ehrengäste, liebe Trauergemeinde im Hohen Dom zu Köln und im Land.

Unbegreifliches ist geschehen. Eltern und Kinder, Männer und Frauen, Freunde und Freundinnen, Kollegen und Kolleginnen wurden aus dem Leben gerissen. Menschen wurden abgeschnitten von ihren Lieben und von allem, was noch bis vor dreieinhalb Wochen so selbstverständlich schien.

Unbegreifliches wurde getan. Abgründe klaffen auf, in Seele und Menschenherz. Nie für möglich gehalten, kaum je geahnt und doch wirklich gemacht - auch für, nein gegen so viele, die leben und lieben konnten und wollten und sollten. Unbegreiflich!

Das Unbegreifliche muss ausgehalten werden. Familien, Häuser und Nachbarschaften; Schulen, Städte und Dörfer, ein ganzes Land, ja mehr als nur ein Land rücken zusammen im Aushalten-Müssen und im Begreifen-Wollen. Menschen reichen einander die Hände. Tun das Wenige, das getan werden kann - und das Viele, das getan werden muss. Geben Nähe und halten Abstand. Leihen Ohren und versuchen Worte. Schenken Zeit und gehen mit. Teilen Kräfte und Ohnmacht. Sie bleiben da, halten mit aus, schweigen, beten und weinen. Unbegreiflich auch das. Und doch - Gott sei Dank! - wirklich.

II.

Mitten da hinein hören wir – wiederum unbegreiflich, ja beinahe unsagbar: Einmal und einst komme eine Zeit, in der all dies aufhören wird; in der es zur Ruhe und zum Frieden kommt. Alles rastlose Tun und ohnmächtige Aushalten, alles Fragen und Weinen. Weil Gott selbst alles neu macht. Weil Gott selbst abwischen wird alle Tränen.

Und bis dahin? Was wird bis dahin aus den Tränen? Aus den vielen Tränen, die schon geweint wurden in Tagen und Nächten, allein und gemeinsam, zu Hause und in der Fremde. Geweint von jenem ersten unwirklichen Moment an, als die Nachricht kam – bis heute. Was wird aus all den Tränen, die noch geweint werden müssen – bis einmal und endlich, vielleicht...?

Gott, sammle meine Tränen in deinen Krug. So betet ein Mensch in der Bibel Israels. Ein Mensch in großer Not. Er kann nicht warten, bis irgendwann irgendwie irgendeiner vielleicht... . Jetzt will er wissen und spüren, dass Gott da ist. Für ihn und für alle und alles, was er verloren hat. Jetzt.

Womöglich hat dieser Mensch in all dem Unbegreiflichen eines längst begriffen; er spürt es in seiner Wut und Todtraurigkeit: Kein Mensch, kein Luftfahrtexperte und Psychologe – auch keine Bischöfin und kein Kardinal – kann eine Brücke schlagen über den Abgrund, der aufgerissen ist zwischen mir und dem Leben, zwischen mir und der Welt und in mir selbst.

Gott selbst muss da sein für mich und für die, die ich verloren habe. Gott selbst muss einstehen für das, was geschehen ist und was er hat geschehen lassen. Gott selbst muss das Unbegreifliche zu seiner Sache machen. Bis hin zur kleinsten Träne, die ich geweint habe, die ich noch weinen muss oder schon gar nicht mehr weinen kann.

Gott, sammle meine Tränen in deinen Krug, bittet dieser Mensch. Mehr nicht. Aber weniger kann er nicht verlangen. Wir rufen heute mit seinen Worten. Rufen miteinander und füreinander: Ach Gott, in Jesu Namen sammle doch unsere Tränen in deinen Krug. Mach Menschentränen zu Gottestränen. Wenn wir schon fragen und klagen müssen, wo du warst, als aus hellem Morgen finstere Nacht wurde, als es tiefdunkel wurde – erst in einem Herzen und dann in den Herzen so vieler anderer – so müssen wir, Gott, doch dies jetzt erbitten und verlangen: Sammle unsere Tränen in deinen Krug. Mach unser Weinen zu deinem.

III.

So viel wurde geweint in diesen Tagen. Von so Vielen. Und dann sind da Tränen, die können von so vielen Männern und Frauen, Eltern, Kindern, Jugendlichen nun nie mehr geweint werden: Freudentränen; Tränen des Glücks und der Rührung; Tränen des Verstehens, Tränen des Wiedersehens.

Muss, wer lebt, auch diese Tränen noch mitweinen? Stellvertretend für alle, die das nicht mehr können? Oder dürfen wir hoffen, dass Gott es tut? Erbitten dürfen wir es. Ja, wir müssen es erbitten: Ach Gott, im Namen Jesu, der lachte und litt und weinte und starb, sammle doch nicht nur meine Tränen in deinen Krug. Die, die ich vergoss und noch vergießen werde. Ach Gott, sammle und bewahre das ungelebte Leben, das ungeweinte und das ungelachte Leben derer, die wir verloren haben. Hüte auch ihre Tränen, Gott, und verwandle sie. Wen, wenn nicht dich, könnten wir darum bitten?

IV.

Nie sind wir mehr Mensch als dann, wenn wir weinen. Nie ist unsere Menschlichkeit stärker gefragt als da, wo andere weinen. Nie ist die menschliche Würde sichtbarer und verletzlicher. Wie gut ist es, wenn wir weinen können. Miteinander und füreinander.

Und wie würdelos ist es, ein Geschäft mit den Tränen von Menschen zu treiben. Die Tränen der Trauernden gehören niemandem als ihnen selbst. Und wenn er der letzte und der einzige wäre, der dafür einsteht: Gott tut es. Er sammelt und birgt die Tränen. Er ehrt und schützt die Menschen, die sie weinen. Und wenn es nur eins wäre, was Gott von uns Menschen und unserer Gesellschaft erbittet: Dies erbittet und dies verlangt er.

Um Gottes und um der Menschen willen: Achtet die Tränen. Ehrt und schützt diejenigen, die sie weinen.

V.

Tränen fließen – und Tränen versiegen. Zurückhalten kann man sie kaum. Herbeizwingen kann man sie gar nicht. Und festhalten auch nicht. Tränen fließen – und Tränen gehen aus. Sie trocknen – und sie werden weggewischt. Zu voreilig manchmal. Und oft, gottlob, auch zärtlich. Vergänglich sind sie, die Tränen. Und deshalb unendlich kostbar – wie das Leben selbst. Auch bei Gott. Gerade bei Gott.

Ob dann, wenn in Gottes Krug eine jede Träne gesammelt und gezählt und bewahrt ist – ob dann auch Menschen aufhören können und aufhören dürfen, über dem Unbegreiflichen zu weinen? An dieser Hoffnung will ich festhalten.

Darum will ich und muss ich Gott bitten. Auch für alle, die es jetzt nicht können:

Sammle du, Gott, unsere Tränen in deinen Krug. Halte fest, was wir nicht festhalten können - so wie du Jesus, dein Kind, unsern Menschenbruder, gehalten hast. Noch durch Sterben und Tod hindurch. Bewahre wie einen Schatz, was wir hergeben müssen. Sammle du, Gott, die Tränen und all jene, um die sie geweint wurden. Bewahre sie, wenn ich mich müde getrauert habe und nicht mehr weinen kann. Und sollte ich eines Tages vielleicht sogar wieder lachen können, so halte die Tränen und die Beweinten weiter in Acht.

Dann, Gott, werde ich gewiss sein, dass du wirklich alles neu machst und alles veränderst: Mich, jede Träne und jeden Menschen. In Jesu Namen.

Amen.

Gott nahe zu sein, ist mein Glück - Predigt zu Psalm 73,28 (Jahreslosung) von Heinz Janssen

Gott nahe zu sein, ist mein Glück - Predigt zu Psalm 73,28 (Jahreslosung) von Heinz Janssen
73,28

Gott nahe zu sein, ist mein Glück

Zum Verständnis der Jahreslosung

"Gott nahe zu sein, ist mein Glück", heißt die Jahreslosung für 2014 A.D. mit Worten aus Psalm 73,Vers 28 nach der Einheitsübersetzung (1980). Bei den sieben Worten handelt es sich um den ersten Versteil, der das einleitende betonte „Und ich / Ich aber / Was mich betrifft“ weg lässt. In der Hebräischen Bibel wird durch diese Voranstellung signalisiert, dass eine gewichtige Aussage über die sprechende Person folgt. Ein Mensch spricht seine Erfahrung mit Gott aus und will sie dankbar weiter geben. 

Im ursprünglich hebräischen  Wortlaut sind es fünf Worte, auf die sich die Jahreslosung bezieht, wobei das erste („wa-ani“/„und ich“) ausgelassen wird. Für das Verständnis der kurzen Jahreslosung, die im letzten Psalmvers steht und der immerhin 28 Verse voraus gehen, in deren Kontext sie gehört, ist ein Vergleich einiger Übersetzungen mit der Einheitsübersetzung der Jahreslosung hilfreich, ich teile sie in drei Versionen ein:

1) Aber das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte. (Martin Luther, 1545/Rev. 1984)
An Gott mich halten, ist mir höchstes Gut! (Moses Mendelssohn 1783/1788)
      Ich aber: Gott zu nahen, ist mir gut. (Elberfelder B. 1905/Rev. 1993)
      …ich aber, Gott nahn ist mir das Gute. (Martin Buber 1958/1982)
      Gott zu nahen, ist köstlich für mich. (Jerusalemer B. 1968)

2) Mir aber ist es köstlich, Gott nahe zu sein. (Zürcher Bibel 1942/1967)
      …dir nahe zu sein, ist mein ganzes Glück. (Gute Nachricht B.1997)
      Dir nahe zu sein, das ist mein Glück. (Artur Weiser, Kommentar, Altes Testament 
      Deutsch 14/15, 1950/1966)

3) Mir aber ist deine Nähe köstlich. (Hermann Gunkel, Kommentar 1929/1968)
      Mir aber ist Gottes Nähe beglückend. (Hermann Menge 1949/2008)
      Ich aber – deine Nähe ist mir köstlich. (Hans-Jochim Kraus, Biblischer
      Kommentar XV/2, 1961/1978)
      Mir aber ist die Nähe Gottes köstlich. (Schlachter 1951)
      Ich aber, Gottes Nähe ist mir Glück. (Naftali Herz Tur-Sinai al. Harry
      Torczyner 1954/1993/1997)
      Mir aber ist deine Nähe kostbar. (Jörg Zink 1966)
      Was aber mich betrifft: Gottes Nähe ist gut für mich. (BigS 2006/2007)
      Für mich aber ist Gottes Nähe beglückend! (Neue Genfer Übers./Psalmen
      2011)

Eine wörtliche Übersetzung des Wortlautes in der Hebräischen Bibel:
טוב ואני קרבת אלהים לי / wa'ani qiravat 'aelohim li tov, ergibt: Und ich – die Nähe / das Nahen Gottes (war / ist / wird sein) mir / für mich gut. Die Verständnisschwierigkeit dieser „Selbsterfahrung“ ist die Rede von der Nähe bzw. vom Nahe Gottes. Im hebräischen Wortlaut klingen zwei Aussagen an: Es kann die Nähe Gottes im Sinne von „Gott ist mir nahe“ gemeint sein und ebenso die Nähe zu Gott im Sinne von „Ich nähere mich Gott (an)“ – Beides, so wörtlich, (war/ist/wird sein) mir/für mich gut (das hebräische Wort für „gut“ kann auch mit „angenehm“ oder „schön“ übersetzt werden). In der hebräischen Sprache schwingen Gottes und des Menschen Aktivität mit. Gottes Aktivität betonen die oben unter 3) genannten (entsprechend der griechischen Septuaginta) Übersetzungen, die Aktivität des Menschen die unter 1) aufgeführten Übersetzungen (sie entsprechen der lateinischen Vulgata). Die Übersetzungen unter 2) stehen dem hebräischen Bibeltext am nächsten, sie deuten auf beide Aktivitäten (wie auch die englische Übersetzung, Rev. Standard Version 1952 / New International Version BR / US 1984: But for me it is good to be near God).

Mein menschliches Suchen der Nähe Gottes (im Gotteshaus, im persönlichen Lesen und Studium der Bibel, im Gespräch darüber, im Gebet) verstehe ich gesamtbiblisch als Antwort auf den Zuspruch der Nähe Gottes im Ersten wie im Zweiten Testament. Darum hat für mich liturgisch der „Gnadenspruch“ auf das Kyriegebet hin eine besondere Bedeutung: Es ist der „Trost des Evangeliums“ (so ein Präfamen aus der liturgischen Tradition), das mir zugesprochen, in meine persönliche Lebenssituation hineingesprochen wird. Gut für mich zu wissen, dass Gott mir nahe ist, seine Nähe tut mir gut, auch und gerade, wenn es mir nicht gut geht, ich in Sorge bin und Unglück mich bedrängt. Darum ist die Übersetzung „mein Glück“ nicht ganz zutreffend und leicht missverständlich. Denn die Nähe Gottes, Sein mir Nahesein in schweren Zeiten, ist gut für mich, auch wenn damit das Schwere noch nicht überwunden ist.

„In meinen Herrn, JHWH, habe ich meinen Zufluchtsort (M. Buber: „meine Bergung“) gesetzt, heißt es in der Fortsetzung der Jahreslosung. Der Psalmist hat neues Vertrauen gefasst. Es war tief erschüttert worden, wie wir im Psalm erfahren: Warum wird er, der sich zu Gott halten will, so (durch Krankheit, V.26) geplagt, warum muss er so leiden, während ein anderer, der von Gott nichts wissen will, sich so selbstsicher, sich selbst genug, als Maß aller Dinge sieht, scheinbar im Glück badet (V.2-16)?  „Beinahe"(V.2) wäre er "ausgeglitten"/ "ausgerutscht", vom geraden Weg abgekommen, an Gott irre geworden. Was ihm in seinem Umfeld sichtbar vor Augen war, konnte ihm zu einem beängstigenden Widerspruch zu dem „guten“ Gott (V.1) werden.

Aber der sich wie von Gott und der Welt verlassen fühlte und lange Zeit vergeblich über sich nachsann (V.16), hatte im "Heiligtum Gottes", dem Tempel, die Nähe Gottes, seine innige Zuwendung, erfahren, die Wende, die sein weiteres Leben bestimmen wird (V.17). Er weiß sich jetzt von Gott an die Hand genommen (V.23) und von der Gewissheit getragen, wie sie später Joachim Neander besingt: „In wieviel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet“ (EG 316,3). In diesem Sinn sehe ich die bildnerische Gestaltung der Psalmworte auf der Jahreslosungsfahne für die Gemeinde in Langensteinbach / Ev. Landeskirche in Baden durch den Pekinger Künstler Dao Zi (www.ekiba.de und www.evkila.de): Ich bin umhüllt, beschützt und geborgen in der Nähe Gottes. Nichts, aber auch gar nichts, kann mich scheiden von Seiner Liebe, durch Jesus von Nazareth ist der Raum der Gottesnähe und innigster Gemeinschaft neu geöffnet (Römer 8,37-39).

Zur Vertonung und zum liturgischen Gebrauch der Jahreslosung

(Vertonung der Jahreslosung siehe unten unter "Downloads")

Die Vertonung der Jahreslosung im Vierviertel-Takt symbolisiert den unaufhaltsamen Weg der Zuwendung Gottes zu seinem Volk Israel und den Völkern. Sein „Heilsplan“ ist unumstößlich, keine Macht kann ihn verhindern. Heilsam für die Menschen, wenn sie sich zu diesem Gott hinwenden. Die Vertonung endet harmonisch auf der Dominante, die eine (Auf)lösung in die Tonika erwarten lässt. Sie signalisiert zunächst musikalisch, dass nach dem zweimaligen Durchgang weiter gesungen werden kann. Inhaltlich soll mit der Dominante ein „offener Schluss“ markiert werden, weil das volle, vollkommene, Glück zum eschatologischen Heilsgut gehört, zu dem von Gott verheißenen und von uns im Glauben erhofften ewigen Leben.  Die Stetigkeit und Unermüdlichkeit Gottes, Seine Treue, betont das ostinato-Motiv: „Gott ist nahe, nahe ist Gott“, jetzt schon, in Zeit und Ewigkeit.

Die Jahreslosung kann in der Liturgie zuerst einstimmig in Verbindung mit dem liturgischen Gruß (Salutatio) oder einer freien Begrüßung, die an die Losung erinnert, gesungen werden, ein zweites Mal als Antiphon zum Eingangspsalm, wobei sie nach dem Psalm statt des "Gloria patri" angestimmt werden kann. Ein drittes Mal kann sie den Gnadenspruch / Zuspruch aus Gottes Wort aufnehmen. Ferner eignet sie sich als Übergang aus einer Stille nach dem Fürbittgebet zum Vater unser. Hier und nach dem Gnadenspruch ist eine Beschränkung auf den ersten Teil gut möglich. Schließlich kann sie - nachdem inzwischen die Melodie bekannt ist -  als zweistimmiger Kanon zusammen mit der (nicht nur in der tiefen Lage singbaren) ostinato-Strophe  vor dem Segen erklingen.

Dass ich neben der englischen Übersetzung auch den ursprünglich hebräischen Wortlaut unterlegt habe, ist dem tiefen Respekt und der großen Dankbarkeit geschuldet, die ich gegenüber unseren jüdischen „älteren Schwestern und Brüdern“ und ihrer Religion empfinde: Aus ihren Händen haben wir die Hebräische Bibel, einen unermesslichen köstlichen Schatz, den wir leicht missverständlich „Altes Testament“ nennen. Ist uns, wenn wir in unseren Gottesdiensten und persönlich z. B. in die wunderbaren Psalmen einstimmen, immer bewusst, wem wir sie verdanken?  Und nicht zuletzt: Aus ihrem Volk, aus Nazareth, kommt Jesus, „das Geheimnis Gottes“, „in welchem verborgen liegen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“ (Kolosser 2,2f.), mehr als alles Glück der Welt, unser Glück.
 

Gott nahe zu sein ist mein Glück - Predigt zu Psalm 73,28 von Monika Waldeck

Gott nahe zu sein ist mein Glück - Predigt zu Psalm 73,28 von Monika Waldeck
73,28

Gott nahe zu sein ist mein Glück.

An der Frage, was Glück ist, scheiden sich die Geister.

Sind es besondere Augenblicke?
Ist es ein Zufall, der einem etwas schenkt, wie zum Beispiel einen Lottogewinn?
Ist es der Sinn im Leben überhaupt?

Wir haben in der Losung für 2014 Worte aus unserer biblischen Tradition, die wir daraufhin befragen können:
Gott nahe zu sein ist mein Glück.
 
Ich möchte Ihnen einige Verse aus dem Psalm lesen, die vor unserer Jahreslosung stehen:

Fast wären meine Füße gestrauchelt, beinahe wäre ich gefallen.
Denn ich habe mich über die Prahler ereifert, als ich sah, dass es diesen Frevlern so gut ging.
Sie leiden ja keine Qualen, ihr Leib ist gesund und wohlgenährt.
Sie kennen nicht die Mühsal der Sterblichen, sind nicht geplagt wie andere Menschen.
Sie höhnen, und was sie sagen, ist schlecht; sie sind falsch und reden von oben herab.
Wahrhaftig, so sind die Frevler: Immer im Glück, häufen sie Reichtum auf Reichtum.
Mein Herz war verbittert, mir bohrte der Schmerz in den Nieren;
ich war töricht und ohne Verstand, war wie ein Stück Vieh vor dir.
Also hielt ich umsonst mein Herz rein und wusch meine Hände in Unschuld.
Und doch war ich alle Tage geplagt und wurde jeden Morgen gezüchtigt.


Da ist einer richtig unzufrieden.

Das kommt mir bekannt vor.
Das kenne ich aus eigenen Erfahrungen und aus Gesprächen mit Anderen.

„Immer muss ich an den Feiertagen arbeiten, während es sich die Kollegen zu Hause gemütlich machen“, beklagt sich eine Schwester, die im Pflegedienst arbeitet.

Ein Patient schwankt zwischen Ärger und Verzweiflung:
„Ich mache das Fernsehen an und sehe den ganzen Tag all die Leute, die ihr Lebtag nicht gearbeitet haben und trotzdem einen Haufen Geld besitzen. Und dann sehe ich mich selbst, mit der kleinen Rente und den kaputten Knochen nach all den Jahren harter Arbeit, dann packt mich die Wut.
Und das ist noch gut, schlimmer ist es, wenn ich dann denke, es lohnt sich alles für mich nicht mehr. Was habe ich denn noch zu erwarten?“

Aber auch finanzielle Absicherung ist kein Garant für ein glückliches Leben:
„Ich habe genug Geld, um sorglos leben zu können“, sagte neulich ein Mann bei meinem Besuch, „aber ich bin krank und niemand kann mir helfen. Ich würde sonst was dafür bezahlen, wenn ich gesund werden könnte.“

Manchmal sind solche Klagen oder Wutausbrüche wichtig, um sich zu entlasten und wieder einen freien Blick zu bekommen.
Manchmal ist es nötig, die Wut zum Anlass zu nehmen, ungerechte Verhältnisse in der Gesellschaft anzuklagen und  möglicherweise politisch zu verändern.

Wer jedoch nicht nur seine augenblickliche Lage unerträglich findet und das loswerden muss, sondern wessen Stimmung dauerhaft depressiv ist oder sogar in der Lebensbilanz so negativ ausfällt, der braucht einen Blick von außen.

Wenn die Welt nur noch schwarz oder weiß erscheint, gut oder böse, wenn es keine Zwischentöne mehr gibt, kein „sowohl-als auch“, kein Nebeneinander von gegensätzlichen Gefühlen und Gedanken mehr möglich ist, dann braucht man ein Gegenüber, das hilft, die Perspektive zu erweitern.

Damit sollte niemand allein bleiben.
Manchmal hilft das Gespräch mit einem Seelsorger, oder auch Psychotherapie. Die Wirksamkeit von solchen Gesprächen und evtl. auch medizinischen Hilfsangeboten ist unumstritten.

Unserem Psalmbeter in seiner Not standen solche Möglichkeiten nicht zur Verfügung.
Er findet selbst einen Weg zu seiner seelischen Heilung.
Er beginnt nachzudenken und sagt:

Da sann ich nach, um das zu begreifen; es war eine Qual für mich,
Ich aber bleibe immer bei dir, du hältst mich an meiner Rechten.
Du leitest mich nach deinem Ratschluss und nimmst mich am Ende auf in Herrlichkeit.
Was habe ich im Himmel außer dir? Neben dir erfreut mich nichts auf der Erde.
Ich aber - Gott nahe zu sein ist mein Glück. Ich setze auf Gott, den Herrn, mein Vertrauen.


Er bleibt bei seiner Einschätzung darüber, dass es in der Welt ungerecht zugeht, er sieht sich nicht in der Lage, daran strukturell etwas zu ändern.

Aber trifft eine wichtige lebenserhaltende Entscheidung.
Er verändert seine Blickrichtung, seine Perspektive.
Er schaut nicht mehr neidvoll zu „denen da“, die im Licht stehen. Er hört auf, sich zu vergleichen.
Er schaut Gott an, er beginnt mit ihm direkt zu sprechen:
„Du“ sagt er. „Du bist da, mir gegenüber, siehst mich und meine Situation.“
An der hat sich nichts geändert, äußerlich.
Aber da ist nun eine Lebensfreude und Kraft, die dadurch entsteht, dass er sich mit Gott verbunden und von ihm wertgeschätzt fühlt.
Gott als Gegenüber zu wissen gibt ihm Kraft und Sicherheit. Gott hält seinen Gefühlen von Selbstunsicherheit, seinem Neid auf die Anderen, denen es vermeintlich besser geht, seiner Kränkungswut stand. Dadurch kann er seinen Blick wenden, sich selbst erträglich werden.

Uns Christen ist der Gedanke, dass Gott sich auf den Weg zu uns Menschen gemacht hat, um „sich uns auszusetzen“ und uns ein Gegenüber zu sein, ganz vertraut.
Gerade erst zu Weihnachten haben wir das gefeiert. Gott wird Mensch, um uns nahe zu sein.
Der Psalmbeter sagt: Dass ich darauf antworte, dass ich mich Gott nahe fühle, das ist mein Glück.

Die anderen, die er als Frevler bezeichnet, sollen weiter glücklich sein. Er kann es nun ertragen.
Denn seine Nähe zu Gott stillt die unerträglichen Neid- und Hassgefühle, das macht ihn stark.

Was bedeutet das für unser Leben, unseren Neid gegenüber anderen, die es vermeintlich besser haben, unsere Lebenszufriedenheit, unsere Suche nach Glück?

Es würde helfen, wenn wir immer öfter wagten, uns nicht  mit anderen zu vergleichen, sondern auf den eigenen Weg zu sehen.
So, wie es Papst Johannes 23. In seinen „Guten Vorsätzen“ beschrieben hat, die ja traditionsgemäß auch an den Übergang des Jahres gehören:
Johannes 23. schreibt:

Nur für heute werde ich …
• … mich bemühen, den Tag zu erleben, ohne das Problem meines Lebens auf einmal lösen zu wollen.
• …. große Sorgfalt in mein Auftreten legen: vornehm sein in meinem Verhalten; ich werde niemand kritisieren, ja ich werde nicht danach streben, die anderen zu korrigieren oder zu verbessern - nur mich selbst.
• … in der Gewissheit glücklich sein, dass ich für das Glück geschaffen bin - nicht für die andere, sondern auch für diese Welt.
• … mich an die Umstände anpassen, ohne zu verlangen, dass die Umstände sich an meine Wünsche anpassen.
• … zehn Minuten meiner Zeit einer guten Lektüre widmen; wie die Nahrung  für das Leben des Leibes notwendig ist, ist eine gute Lektüre notwendig für das Leben der Seele.
• … eine gute Tat verbringen, und ich werde es niemandem erzählen.
• … etwas tun, zu dem ich keine Lust habe: sollte ich mich in meinen Gedanken beleidigt fühlen, werde ich dafür sorgen, dass es niemand merkt.
• … ein genaues Programm aufstellen. Vielleicht halte ich mich nicht genau daran, aber ich werde es aufsetzen - und ich werde mich vor zwei Übeln hüten: der Hetze und der Unentschlossenheit.
• … fest glauben - selbst wenn die Umstände das Gegenteil zeigen sollten -  dass die gütige Vorsehung Gottes sich um mich kümmert, als gäbe es sonst niemanden auf der Welt.
• … keine Angst haben. Ganz besonders werde ich keine Angst haben, mich an allem zu freuen, was schön ist - und ich werde an die Güte glauben.

Lassen Sie uns also auf Gott schauen und uns von seinem zugewandten, liebevollen Blick aufrichten.
Gott nahe zu sein ist mein Glück.
Darauf können wir uns verlassen, in allem, was kommt.

Amen.

Perikope
01.01.2014
73,28

Gotteserfahrungen - Predigt zu Psalm 73,28 von Klaus Pantle

Gotteserfahrungen - Predigt zu Psalm 73,28 von Klaus Pantle
73,28

Gotteserfahrungen

„Gott nahe zu sein ist mein Glück.“ (Psalm 73,28)

1
Unbeschwert ließen sich die beiden durch die Tage am Meer treiben. Ihr Lebensrhythmus ergab sich von selbst: Schweigen und wenig reden, lesen und träumen, miteinander essen, und schlafen, die Verschmelzung ihrer Körper und das sich wieder lösen. Als die Zeit zu Ende ging, fragte Nik sich wo sie geblieben war: „Wir waren ganz im Diesseits, ganz in der Wirklichkeit und doch war das alles überwirklich, blau wie der Himmel und das Meer, grün wie die Olivenbäume, bunt wie die Blumen, wohlriechend wie der Lavendel, der Thymian, die Pinien, das Meer, der Wind, strahlend wie die Sonne, wie sie Herz und Körper wärmt und alle Ängste und Grenzen weg schmelzen lässt. Ewigkeit in der Zeit. Du merkst es nicht im Vollzug. Erst wenn es vorüber ist, begreifst du es als gelebtes Glück - im Rückblick in der Erinnerung. Und dir wird klar, dass solche Liebe ein Geschenk ist, ein Abglanz göttlicher Liebe, die du nicht wirst festhalten können.“

Schlaftrunken richtete sich Sophie auf. Draußen begann es zu dämmern. Verblüfft nahm sie durch das geöffnete Fenster das ohrenbetäubende Schreien der Vögel wahr. Zu Hause war sie gewohnt, von Autolärm geweckt zu werden. Hier auf der Insel holten sie die Vögel aus dem Schlaf. Wie laut die ihr vorkamen ohne das gewohnte Grundrauschen des in der Stadt allezeit gegenwärtigen Verkehrslärms. Behutsam ließ sie sich wieder zurück sinken und lauschte dem vielstimmigen Chor. Bald konnte sie verschiedene Stimmen unterscheiden, stakkatoartige und schrill trompetende Töne, langgezogene tiefe Schreie großer Vögel und dazwischen feine, filigrane Melodiesequenzen der kleinen. Über Vögel wusste sie wenig und außer den langgezogenen Schreien der Möwen konnte sie die gehörten Stimmen keinen einzelnen Vogelarten zuordnen. Aber in diesem Moment begriff sie etwas von der Faszination, die Vogelgesänge auf den Komponisten Olivier Messiaen ausgeübt hatten.  Für diesen legten die Gesänge der Vögel Zeugnis ab für die Herrlichkeit und Vielfalt der Schöpfung Gottes. Vogelgesang verstand er als Prototyp des von Freude und Dankbarkeit erfüllten Lobgesangs. Deshalb sammelte und notierte er Vogelstimmen und komponierte sie in seine Musik ein – in diese Musik voller wechselnder Klangfarben, flächiger Akkorde und überraschender Rhythmen, die nichts anderes bewirken wollte als die Hörerinnen und Hörer in einen Abglanz der blendenden Herrlichkeit Gottes zu tauchen. Eingehüllt in den Gesang der Vögel wurde Sophie überwältigt von einem kaum je gekanntes Gefühl der Freude und der Leichtigkeit.

2
„Gott nahe zu sein ist mein Glück.“ Für den Beter des 73. Psalms war sein Glück - die Gottesnähe – erreichbar und zu spüren im Jerusalemer Tempel. Dort, ganz besonders im innersten Zentrum - im „Allerheiligsten“ - wohnte Gott. Hier war seine Schechina, war der „Glanz Gottes“ präsent, und wer in den Tempel kam und darin verweilte, der spürte seine Kraft und wurde erfüllt mit Glück.
Diesen Tempel gibt es nicht mehr. Er und mit ihm das Allerheiligste wurden zerstört und die Schechina, so wird erzählt, zog mit dem Volk Gottes ins Exil. Die Glück spendende Gegenwart Gottes aber, sein Glanz, ist nach wie vor gegenwärtig in dieser Welt. Aber er ist nicht mehr an einen bestimmten Ort gebunden.

Wo fühle ich mich Gott nahe? Was ist mein Glück?
Es gibt heutzutage keine allgemeine und für alle Glaubenden gültige Antwort auf diese Fragen. Die Gestalt, in der wir Christinnen und Christen den in unsere Welt gekommenen „Glanz Gottes“ (Ps. 50,2) verkörpert sehen, hat uns verheißen, dass er bei uns sein werde „bis an der Welt Ende“ (Mt. 28,20). Anzutreffen, wahrzunehmen, spürbar bleibt Gott demnach in dieser Welt - an allen möglichen Orten, zu allen möglichen Zeiten, in allen möglichen Gestalten, Begegnungen und Erfahrungen. Es hängt von uns, den Glaubenden ab, ob wir Gottes Glanz in manchmal alltäglichen oder gelegentlich auch herausragenden Erfahrungen spüren, erkennen und als solchen begreifen. Insofern muss jeder und jede für sich selbst immer wieder diese Fragen beantworten: Wo fühle ich mich Gott nahe? Was ist mein Glück? Was dem einen eine Gotteserfahrung ist, mag für die andere eine profane Begebenheit sein. Was der einen ihr Glück bedeutet, mag dem anderen gleichgültig sein.

Und doch gibt es eine Erfahrung, die über diese eingangs geschilderten akzidentiellen und episodischen als Gotteserfahrungen begriffenen Glücksmomente in der Liebe oder in der Natur hinausgeht – eine Erfahrung, die so tief und nachhaltig sein kann, dass sie bleibt. Was bleibt ist das Gefühl: ich bin geliebt über den Moment hinaus, in einem tieferen Sinne als mich ein Mensch überhaupt lieben könnte. Es ist das Vertrauen, akzeptiert zu sein wie ich bin: lustig und traurig, beseelt und bedrückt, im-perfekt und begabt, in-valide und voller Lebenslust. Es ist die innere Gewissheit: ich bin gehalten als ganze Person mit meinen multiplen Identitäten, so fragmentiert sie auch sein mögen - und zwar von je her und dauerhaft, nicht nur bis am mein persönliches Weltende sondern sogar darüber hinaus. Ich bin - ich muss nichts sein. Ich bin gehalten – in allem was mir geschieht. In allem! Das ist mein Glück!

In der gewaltigen romanischen Kirche
            drängten sich die Touristen im 
            Halbdunkel.

Gewölbe klaffend um Gewölbe
            und kein Überblick.

Kerzenflammen flackerten.

Ein Engel ohne Gesicht umarmte
                                               mich

und flüsterte durch den 
            ganzen Körper:

"Schäm dich nicht, Mensch zu sein,
                                               sei stolz!
In dir öffnet sich Gewölbe um Gewölbe,
                                                           endlos.
Du wirst nie fertig, und es ist,
                                   wie es sein soll."

Ich war blind vor Tränen
und wurde auf die sommersiedende
            Piazza hinausgeschoben

zusammen mit Mr und Mrs Jones,
Herrn Tanaka und Signora Sabatini
und in ihnen allen öffnete sich Gewölbe
                                        um Gewölbe, endlos.


3
Solche Glückserfahrungen, die anhaltende Gottesgewissheit zurück lassen, immunisieren gegen das Trommelfeuer der „Glücksverheißungen“, mit denen wir Großstadtbewohner/-innen vor allem im Dezember geradezu bombardiert wurden. Sich solch einem Trommelfeuer aus Werbung, Angebot und Rummel zu entziehen ist gar nicht so leicht. Erich Fromms Bestandsaufnahme von vor fast sechzig Jahren trifft unwesentlich modifiziert noch immer gerade großstädtische Lebenswirklichkeit präzise: „Das Glück des Menschen besteht heute darin, sich zu vergnügen. Vergnügen liegt in der Befriedigung des Konsumierens und ‚Einverleibens‘: von Waren, Bildern, Essen, Trinken, Zigaretten, Menschen, (elektronischen Geräten und allen verfügbaren Medien). Alles wird konsumiert, wird geschluckt.“ Je mehr, je billiger/je teurer, je öfter, desto besser.

Dahinter steht die gar nicht so neue Ideologie, die eine wesentliche Grundlage unserer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen (und leider oft auch kirchlichen) Kultur ist: Die Ideologie, dass das größte Glück in der größten Zahl liegt, im permanenten immer mehr, im ständigen Wachstum. Fast jedes Moment unseres individuellen wie sozialen Lebens, unser gesamtes Denken, Handeln und selbst unser Glauben ist durchdrungen und wird geprägt vom Diktat dieser Art von Ökonomie. Ja, noch unser Körper und unser Verhältnis zu unserem Leib ist davon kolonisiert. Selbst dem kritischsten Geist fällt es schwer, sich dem Sog dieser Ideologie zu entziehen. Biographie-Coaches versprechen Hilfe zu einer glücklichen Symbiose von arbeitsmarktkompatiblem Lebenslauf und gefühlter Individualität. „Sie sind gestresst? In unserem Wellness-Paradies erleben Sie glückliche Stunden“ „Wir beraten Sie und verhelfen Ihnen zu einem gut abgestimmten Lebensrhythmus zwischen Erholung und Spaß!“ (auf neudeutsch LORAF: „Lifestyle of Relief and Fun“). „Machen Sie Ihr Glück bei der Schnäppchenjagd in unserem neuesten Preisvergleichsportal, das Sie als App auf Ihr Smartphone laden können.“ Als „Glücksoasen“ werden die in unseren Städten an allen Ecken aus dem Boden sprießenden Shopping-Zentren gepriesen (die Harald Welzer erhellend „Shopping-Gulags“ nennt).

Eine vergleichsweise neue Entwicklung ist, dass bei uns die alte Wunschwelt des „Alles immer“ weitgehend Realität geworden zu sein scheint. Die unsere gesamte Lebenswirklichkeit durchdringende expansive Wirtschaftskultur scheint sich in einem kleinen allgegenwärtigen Ding zum Symbol zu verdichten: im Smartphone. Darin scheint alle Lebensglücksverheißung konzentriert zu sein: jeder will und soll ständig erreichbar sein und jeden erreichen können und alles geht sofort und überall: „Sofortness“ und „Präsentismus“ sind die goldenen Kälber der Gegenwart. Wie bei fast allen technischen Entwicklungen ist dieses Ding per se weder gut noch schlecht. Es kommt darauf an, wie der Mensch es nutzt beziehungsweise sich von ihm benutzen lässt. Was der Anglizismus „smart“ eigentlich bedeutet, scheint den Wenigsten bewusst zu sein. Ein „smarter“ Mensch taugt kaum zum Glücksvermittler. „Smart“ nennt man im Amerikanischen jemanden dem man Bewunderung zollt obwohl man von ihm gelinkt wurde. „Smart“ begibt man sich, wenn man nicht achtsam ist, in eine sich in einem Gerät konzentrierende Vielfalt von Hörigkeiten und bringt seine Zeit und seine Freiheit als Opfergabe dar. Wem und zu wessen Glück auch immer.

4
Wo fühle ich mich Gott nahe? Was ist mein Glück?
Aufgrund der Erkenntnis, dass manch tiefe Glückserfahrung im Leben erst im Rückblick als solche erkennbar wird könnte man die Fragestellung auch umkehren. In gewissen christlichen Frömmigkeitstraditionen stellte man sich die Frage: Wie möchte ich einmal vor meinen Herrn treten? Dahinter steckt die Vorstellung von sich selbst im Tempus Futur zwei. Jenseits solch einer bedrohlich-apokalyptisch-frommen Drohkulisse kann ich mich heute mit Blick auf meine nähere oder fernere Zukunft fragen: Was möchte ich erfahren haben? Wie werde ich gewesen sein? So formuliert und bedacht mögen diese Fragen dazu verhelfen, mich selbst und mein Leben in der kommenden Zeit an den Wertigkeiten echten Glücks auszurichten. Solche Futur-zwei-Imaginationen können tatsächlich Wirklichkeit verändern. Ich konzentriere mich auf das, was mir wirkliches Glück bringt. „Indem man sich Zukunft vorstellt, bereitet man Zukunft vor und ändert die Gegenwart“ (Robert Misrahi). Wünschen und Träumen – fokussiert auf das, wodurch der Glanz Gottes hindurch scheint - können mir helfen, gelegentlich die Schwelle zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit zu überschreiten.

Was möchte ich im Jahr 2014 erfahren haben? Wie werde ich darin gewesen sein? Vielleicht weniger „Habender“ als „Seiender“. Was brauche ich wirklich zum Leben und zum glücklich sein? Vielleicht lieber „Zeit statt Zeug“. Konzentration statt Zerstreuung. Entschleunigung statt Alles-immer-sofort. Ge-lassen-heit statt Anspannung - um „große Augenblicke“, Momente, in denen der Glanz Gottes mein Leben überblendet, überhaupt wahrnehmen zu können.

Vor allem ist mir das wichtig, worauf alle Glücks- und Gotteserfahrungen am Ende hinaus laufen: Liebe. Sie ist die Vermittlerin des allerhöchsten Glücks – und damit wichtiger noch als Glaube und Hoffnung (1. Korinther 13,13). (Dass Liebe auch wehtun kann, wissen wir alle. Aber in dieser Welt ist Glück ohne die Kehrseite, den Schmerz, gar nicht als solches begreifbar.) Aus ihr strömt und in sie fließt alles Wesentliche. Im Verlauf der Jahre und im Älterwerden dämmert mir vielleicht dass im Blick auf eine reife Lebenspraxis Liebe in erster Linie ein Geben ist. Lieben ist wichtiger als geliebt werden. Zu lieben ist höchster Ausdruck von Kraft, Erlebnis gesteigerter Vitalität. Ich möchte ein Liebender gewesen sein. Denn „Gott ist Liebe. Und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Joh. 4,16). Gott nahe zu sein heißt in der Liebe sein. In der Liebe bin ich eingehüllt in Gottes Glanz. Das ist mein höchstes Glück. Und es kann in mir die Freude auslösen, die mich singen lässt zum Lobe Gottes - frei wie ein Vogel am Himmel.

Literatur:
Erich Fromm, Die Kunst des Liebens, Frankfurt/M. 1976, S. 117
Robert Misrahi, Leviathan und der Garten. Der Utopie die Wirksamkeit zurückgeben – eine bessere Welt ist möglich, in: Lettre International 103/2013, S. 42
Tomas Tranströmer, Sämtliche Gedichte, München 1997, S. 216
Harald Welzer, Selbst Denken. Eine Anleitung zum Widerstand, Frankfurt/Main 2013
www.zeit-statt-zeug.de
 

Perikope
01.01.2014
73,28

Predigt zu Psalm 73,28 von Andreas Pawlas

Predigt zu Psalm 73,28 von Andreas Pawlas
73,28

„Gott nahe zu sein ist mein Glück!“ 

Liebe Gemeinde!

„Glück“ ist wirklich das entscheidende Stichwort zum Jahresanfang! Denn zum Beginn des Neuen Jahres beschäftigt die Menschen ganz intensiv, ob das Neue Jahr nun Glück bringen wird – oder schlimmer Weise etwa nicht. Aber wie sollte dazu nun die neue Jahreslosung passen „Gott nahe zu sein ist mein Glück“? Denn auf den ersten Blick scheint das wieder einmal nur ein sehr spezielles Wort für einen kleinen Kreis hoch engagierter Christenmenschen zu sein. Aber unter uns normalen Menschen da ist man doch viel zu sehr mit den ganz irdisch erkennbaren Anzeichen oder Zeichen für das Glück im Neuen Jahr beschäftigt. Davon zeugen nur zu deutlich die ganzen Schornsteinfeger und Glücksschweinchen in den Geschäften. Und entsprechend schenkt man sich auch gern vierblättrige Kleeblätter als Symbole für das Glück, das man sich und anderen nun einmal zum Jahresanfang und für das ganze Jahr wünschen möchte. Und bitte, wer wollte sich denn davon ausschließen, anderen derart Glück zu wünschen! Nein, das ist doch ganz selbstverständlich!

Aber einen Moment! Nüchtern gesehen müsste das doch eigentlich überraschen, dass man einander so zum Jahresanfang Glück wünscht. Denn irgendwie kann das gar nicht in unser modernes Zeitalter gehören. Denn was predigen etwa Euch jungen Leuten die internationalen PISA-Experten? Ihr müsst gefälligst in der Schule tüchtig sein, damit alles gut wird. Und gibt es dabei auch nur einen, der da von irgendeinem Glück spricht, das man haben sollte oder könnte? Nein, ganz offenkundig wird unterstellt, dass man alle großen Ziele dieser Welt durch tüchtiges Lesen und Rechnen usw. erreichen könnte. Denn wozu würde man sich sonst die große Mühe machen, diese ganzen sorgfältigen Maßstäbe für Lese- und Rechenfähigkeit zu entwickeln? Und so mühen sich um Euch über alle Maßen, damit Ihr tüchtig lernt nicht nur Eure Lehrer, sondern Eure Eltern, eben weil ihnen das Glück von Euch Kindern wirklich am Herzen liegt. Aber trotzdem wünscht man sich zum Jahresanfang „Viel Glück!“

Und natürlich wünscht man einander auch in den Betrieben und Verwaltungen zum Jahresanfang Glück! Allerdings, warum denn nur? Denn das Marketingkonzept und der Produktionsplan für 2014 stehen doch schon lange fest. Auch sind die Haushalte der Städte und Kommunen in der Regel schon längst beschlossen. Und das heißt doch, dass man sich damit verbindlich festgelegt hat, was man in 2014 alles machen will. Und jeder weiß auch, dass das auch so sein muss, dass man sich so festlegt, denn sonst kommt das Chaos. Also noch einmal, wozu dann am Jahresanfang das aufmunternde „Viel Glück!“?

Und wozu wünscht man sich auch in der Familie Glück zum Neuen Jahr? Denn auch dort steht doch alles fest: Die Berufstätigkeit von Mutter und Vater, die schulische Laufbahn der Kinder und dass Oma immer älter wird, das ist doch ganz normal? Wozu also zum Jahresanfang der Wunsch „Viel Glück!“?

So richtig hat mir das bisher noch keiner sagen können. Oder - muss man das wohl auch gar nicht sagen, weil dabei irgendwie und in aller Selbstverständlichkeit ein Wissen mitschwingt, das man nicht gewohnt ist, laut auszusprechen und das meist lieber für sich behält? Was das sein sollte? Nein, bestimmt nichts Originelles. Aber ganz gewiss etwas, was die Menschheit seit Anbeginn schon immer wusste. Nämlich, dass wir unser Geschick eigentlich nicht in unserer eigenen Hand haben. Nämlich, dass wir als menschliche Wesen genauso wie die Tiere und Pflanzen und alle Kreatur letztlich von Mächten und Kräften abhängig sind, die nicht unsere eigenen sind. Gewiss, wir wollen und müssen viel in unserem Leben und in dem Leben unserer Umwelt auf den Weg bringen und gestalten, aber ob das alles wirklich so wird, wie wir uns das einmal ausgedacht haben, so glücklich und so gut, wie wir uns das einmal vorgestellt haben das ist offensichtlich nicht in unserer Hand.

Wie viele Beispiele bekommen wir da laufend frei Haus geliefert! Denn so mancher sagt etwa: Das war schon immer mein Traum, ein eigenes Haus zu bauen. Und jetzt habe ich das Glück, es endlich geschafft zu haben. Jedoch, was nützt mir das wirklich, wenn mir dabei die Ehe zerbricht und ich in dem schönen Haus allein sitze? Oder: Ich wollte schon immer Kinder haben. Das war mein Traum. Und jetzt habe ich das Glück, Kinder zu haben. Aber was passiert? Es gibt entsetzlicher Weise nur Zank und Streit. Oder: Ich wollte schon immer gut verdienen und in meinem Beruf ganz oben sein. Und nun habe ich das Glück, genau da zu sein und Geld spielt keine Rolle. Aber was muss ich mit einem Male merken? Doch, wie mir die Aufsichtsräte und die Steuerbehörden wie die Teufel im Nacken sitzen und wie die Mitarbeiter mich verfluchen.

Nein, so habe ich mir mein Glück bestimmt nicht vorgestellt. Nein, so sollte mein Glück bestimmt nicht sein! Aber wie soll es dann sein? Wie sollte denn mein Glück sein, damit ich mich wirklich glücklich fühle und mich auch wirklich auf das Neue Jahr freuen kann?

Nun wissen wir alle, was für eine Fülle von Angeboten es da in der heutigen Zeit gibt. Und wir wissen auch, wie uns hier die Werbung in Radio, Fernsehen, Internet mit großem Geschick bewusst oder unbewusst lockt und wie sie verspricht, uns wirklich, wirklich glücklich zu machen. Und wie das gehen soll? Dazu müssen wir doch nur eine Kleinigkeit tun, nämlich z.B. das richtige Auto, die richtige Zahnpasta, die richtige Pizza oder das richtige Urlaubsticket kaufen, ja dann, dann haben wir das wahre Glück gefunden, einfach das Paradies! So oder so ähnlich wird es uns tagtäglich in buntesten Farben und einschmeichelnden Tönen nahe gebracht.

Nun bestimmt nichts gegen Autos, Zahnpasta Pizza und Urlaub, das kann alles sehr schön sein, aber kann das das wahre Glück sein, aber kann das das wahre Paradies sein?

Trotz raffiniertester Werbung ist uns allen bewusst oder unbewusst klar, dass das nicht stimmt. Trotz raffiniertester Werbung ist uns allen klar, dass unser „wahres Leben“ anders ist. Viel zu groß sind unsere eigenen Dauerprobleme und das Elend der Welt!

Allerdings haben uns die Sätze der Werbung unbeabsichtigt auf eine Spur gebracht. Denn es sind wirklich gute Gründe, weshalb die Werbung die gerade benutzten Ausdrücke verwendet, um etwas am höchsten zu preisen. Sie benutzt ganz bewusst solche Ausdrücke, dass es etwa ein (Betten-, Back- oder Spielzeug-) „Paradies“ sei, oder dass etwas „himmlisch“ schmecke, oder etwas einfach „göttlich“ sei. Offensichtlich benutzt die Werbung hier ganz geschickt etwas, was im Gedächtnis der Menschheit schon immer so verstanden wurde, nämlich, dass das Beste und Schönste etwas ist, was letztlich - von Gott her kommt. Dass eben alles Glück im Himmel und auf Erden letztlich von Gott her kommt! Dass eben das, was unaussprechlich schön und unvorstellbar herrlich ist, letztlich von Gott her kommt!

Genau darum muss ich mir, wenn ich mir das Beste und Schönste wünschen will, oder wenn ich meinen Lieben das Beste und Schönste wünschen will mit allem Glück im Himmel und auf Erden, eben das wünschen, was von Gott her kommt! Und darum muss sie auch einfach richtig sein, diese Jahreslosung 2014 „Gott nahe zu sein ist mein Glück!“. Denn das wusste die Menschheit schon immer: Es gibt eben nichts Besseres nichts Schöneres und nichts Erfüllenderes als in der Nähe Gottes zu sein, von seiner Gegenwart umschlossen zu sein und in ihr zu versinken.

Aber wenn die Menschheit das schon immer wusste, wie kann ich das nun heutzutage erreichen? Was müsste ich denn konkret tun, damit ich so das Beste und Schönste und alles Glück im Himmel und auf Erden erreiche?

Ja, so fragen wir Menschen heutzutage. Denn jedermann ist es völlig selbstverständlich, dass man für dieses großartige Glück etwas tun muss, und das nicht zu wenig, oder zumindest muss man sehr sehr viel dafür bezahlen. So denken wir uns das eben.

Aber genau das ist viel zu kleinkariert gedacht. Denn Gott, von dem das Glück kommt und in dessen Nähe das Glück erfahren wird, der hat da ganz anderes für uns vorgesehen. Und vielleicht hat der eine oder andere davon schon etwas in den letzten Tagen spüren dürfen – nämlich zur Weihnachtszeit! Und genau die ist nämlich ein Zeichen dafür! Denn dafür, dass Gott uns als Kind in der Krippe nahe sein will, was hätten wir denn dafür tun können? Doch wirklich gar nichts! Wie hätten wir das kaufen können? Niemals! Nein, so ist alles ganz anders! Denn Gott will sich uns mit allen unseren verdrehten Erwartungen, trotz aller üblen Erfahrungen, trotz Leid, Schuld und Unvollkommenheit einfach zur Hl. Nacht schenken! Er will uns, so wie wir sind, als Menschen nahe sein und uns Heil und Lebenserfüllung schenken! Und das ist wirklich unglaublich!!

Denn was würde das nicht alles für uns bedeuten können, wenn wir auch im Neuen Jahr genau das von ihm erwarten dürften, nämlich dass der Gott, von dem das Glück kommt und in dessen Nähe das Glück erfahren wird, dieses Glück uns einfach nur schenken wollte, ja, dass er sogar Größeres, Schöneres, einfach Glücklicheres für uns vorgesehen hat, als wir uns mit unserem begrenzten menschlichen Verstand vorstellen können?

Auf jeden Fall wäre das eine unglaubliche Aussicht für das Neue Jahr! Auf jeden Fall wäre das eine Aussicht, die Mut machen, die einen anspornen und mitreißen könnte – und einen gleichzeitig dazu bringen könnte, auch anderen Mut zu machen, andere anzuspornen, zu trösten und anderen beizustehen!

Ja, was wäre das für eine Perspektive für das Neue Jahr: Eben nicht nur sich und anderen Glück wünschen, sondern aus dem Glück leben, das unser Gott uns um Christi willen schenken will, ob wir es nun verstehen oder nicht, ob wir noch eine gewisse Zeit Leiden und Fragen haben oder auch nicht! Aus dieser Perspektive eben nicht sorgenvoll verkrampft dem Glück nachjagen, und andere dabei zurückstoßen und benachteiligen, sondern tief dankbar darin leben, bei Gott das eigentliche Glück gefunden haben und deshalb das Glück anderen weitergeben und mit ihnen teilen! So soll es doch sein im Reich Gottes!

Ja, was wäre das für ein Neues Jahr, wenn davon auch nur ein Abglanz für uns erkennbar, fühlbar, schmeckbar wäre! Aber genau so steht es eben über dem Neuen Jahr als Verheißung für einen jeden von uns! „Gott nahe zu sein ist mein Glück!“ Und wer’s glaubt wird selig! Gott sei Dank! Amen.

 

Perikope
01.01.2014
73,28