Dazwischengezwitschert - Predigt zu Titus 2,11-14 von Dörte Gebhard
2,11-14

Dazwischengezwitschert - Predigt zu Titus 2,11-14 von Dörte Gebhard

"Dazwischengezwitschert"

Liebe Gemeinde am Heiligen Abend,

die Weihnachtsgeschichte des Lukas ist innen hohl.
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Obwohl sie randvoll ist, nein, überfliesst vor lauter Erfüllung: Gott kommt zur Welt.
Endlich!
Schon wieder?!
Endlich wieder!

Die Weihnachtsgeschichte ist innen hohl.
Obwohl sie alles hat, was Augen, Ohren, Nasen und Herz begehren:
Sternenglanz und himmlische Musik. Heute sind besonders die Flöten der Hirten neu zu uns vorgedrungen.
Sie hat duftendes Heu und Stroh im Stall, erzählt die Bewahrung nicht erst im letzten Moment - Bewahrung schon im ersten Moment des Lebens, bei der Geburt.
Die Weihnachtsgeschichte des Lukas, so wie wir sie eben gehört haben, ist dennoch innen hohl. Und sie bleibt es auch!
Wir werden sehen, dass ist sehr gut so!

Anders ist es nicht zu erklären, dass doch noch jede und jeder in dieser Geschichte all seine Weihnachtserlebnisse aufgehoben weiss. Diese Geschichte ist unser individuelles und gemeinsames Gedächtnis für alles, was wir mit Weihnachten verbinden: herrlich-selige Erinnerungen und herbe Enttäuschungen, himmlische Harmonien und irdische Streitereien um Kleinkram, nicht nur nach dem Motto: "Früher war mehr Lametta!"

Beides ist aufgehoben: Die überwältigenden Erlebnisse - Licht von tausend Kerzen in der Kirche und die entscheidenden Details: Immer musste an der Lichterkette für den Baum daheim am Morgen des Heiligen Abends noch gelötet werden! Der Draht war brüchig, eine neue Kette aber gab es nicht zu kaufen.
Der Lötkolben wurde in der engen Küche aufgebaut und versperrte allen alle Wege, besonders der Mutter, die vorkochen wollte. Alles sollte doch fertig sein bis zum Einsingen für den Chor. Und dann: Es begab sich aber zu der Zeit ... all das begab sich seit frühesten Kindertagen!

Die lange, christliche Geschichte, was sich seither alles begab zu den Zeiten, nachdem der Kaiser Augustus ... ist innen hohl wie ein Haus, in das man hineingehen kann, in dem man sich bergen kann, in dem man geschützt ist vor den Unbilden der Natur, vor den Unbilden der menschlichen Kultur manches Mal auch.
Sie ist innen hohl für jeden Menschen, der geboren wird, neu - und kann immer wieder und immer neu und immer mehr gefüllt werden mit allen Weihnachtsgeschichten, die wir selbst erleben mit der Weihnachtsgeschichte.

Aber so viel Zeit ist nicht immer. So viel Zeit haben wir nur in der Heiligen Nacht.
Wir brauchen Weihnachten aber auch in den hektischen Momenten unseres Lebens, wenn kaum Zeit zur Besinnung bleibt. Auch dann soll es uns zu Ohren, Augen, Nasen kommen, soll es Herz und Hände rühren, dass Gott als Mensch zur Welt kommt.
Weihnachten muss man - auch - twittern können!

Twittern ist zu deutsch "Dazwischenzwitschern".
Man verschickt über eine Internetplattform, die 2006 erfunden wurde, enorm kurze Texte, die in Bruchteilen eines Moments öffentlich sind auf der ganzen Welt. Bei allen Menschen mit Internet, die es wissen wollen. Wenn man es regelmässig macht, wird daraus ein sehr öffentliches Tagebuch im guten, alten Telegrammstil.
            Nebenbei: Natürlich, es wird entsetzlich viel Blödsinn getwittert!
            (Aber wir werfen auch nicht alle Bücher fort, weil so viel Unfug schon gedruckt wurde ...)

Die Briefschreiber des Neuen Testaments hätten uns gleichwohl um diese Zwitschermöglichkeiten beneidet: Wie gern hätten sie mit einem Klick nicht nur die Nachricht, dass Gott Mensch wurde, in die Welt hinausgetwittert!
Wir sind ängstlich und skeptisch, wenn wir anschauen, wie es um den Datenschutz bestellt ist: "Twitter sammelt personenbezogene Daten seiner Benutzer und teilt sie Dritten mit." Aber den energischen Ersterzählern der Weihnachtsgeschichte hätte genau das am meisten gefallen, dass die personenbezogenen Daten gesammelt und Dritten mitgeteilt worden wären - ohne, dass sie sich darum hätten selbst kümmern müssen!

Es kommt eben immer auf die Nachricht an!
Sie hatten damals wirklich gute Neuigkeiten für die Welt.

Der Verfasser des Titusbriefes ist jedenfalls einer, der es in der Zwitscherkunst weit gebracht hat.
(Übrigens, lange bevor sie bei einem Kirchentag im 21. Jahrhundert drauf kamen, die ganze Bibel in 3908 Kurznachrichten zusammenzufassen und so einen Rekord aufzustellen.)

Wir wissen nicht mehr, wer es war, der den Titusbrief in die Welt setzte. Ein cleverer Typ muss es jedoch gewesen sein! Denn er nennt sich Paulus, weil er weiss, dass man mit diesem Absender etwas gilt in den ersten Netzwerken der jungen Christenheit. Er erkennt, wie man Aufmerksamkeit erlangt, eines der sehr kostbaren Güter, die wir Menschen haben und einander schenken können.
Er erzählt die komplette Weihnachtsgeschichte in 11 Worten. Das sind nur 70 Zeichen, bei Twitter wären 140 Zeichen pro Nachricht erlaubt. Wir können also nachher noch etwas ergänzen:
Denn die Gnade Gottes ist erschienen,
die allen Menschen Rettung bringt.


Das ist die kürzeste Weihnachtsgeschichte, die ich kenne, wie sie im 2. Kapitel des - wiederum sehr kurzen - Titusbriefes im Neuen Testament steht.

Denn die Gnade Gottes ist erschienen,
die allen Menschen Rettung bringt.


Diese dazwischengezwitscherte Weihnachtsgeschichte passt nun ganz genau in die hohle Geschichte des Lukas, auch wenn wir selbst schon ziemlich viele Geschichten aufgefüllt haben.

Die Gnade Gottes ist für alle Menschen erschienen.
Erinnern wir uns, was das heisst: für alle Menschen.
Denn wir hier in Schöftland und Umgebung, sind ganz besondere Leute, eine echte Minderheit, nicht nur zur Weihnachtszeit:

'Wenn wir Essen im Kühlschrank haben, Kleider am Leib, ein Dach über dem Kopf und etwas Schlaf in der Nacht, dann geht es uns besser als 75% der Menschen auf der Erde.

Wenn wir Geld auf der Bank und in unseren Geldbeuteln haben und wir irgendwo ein bisschen Kleingeld sparen können, dann gehören wir zu den reichsten 8% der Weltbevölkerung.

Wenn wir niemals den direkten Gefahren eines Krieges ausgesetzt waren oder der Einsamkeit der Gefangenschaft, der Qual der Folter oder den Schmerzen des Hungers, dann geht es uns besser als 500 Millionen Menschen.

Weil wir einen Gottesdienst besuchen können ohne Furcht vor Belästigung, Verhaftung und Ermordung, sind wir besser dran als so viele Menschen, deren wirkliche Zahl auf Erden nur Gott allein kennt. Manche schreiben, es seien drei Milliarden ...

Wenn jemand auch eben nicht singen konnte, weil er oder sie erkältet ist, in der Nase, im Hals oder gar an der Seele, so konnte er doch den Text im Gesangbuch mitbeten und ist nicht einer der 780 Millionen Menschen dieser Welt, die Analphabeten sind und nicht lesen können.'[1]

Weihnachten ist für alle Menschen da. Gott wird Mensch für alle Menschen.
Können wir uns das vorstellen?
'Wir schaffen das!'[2]

Wir nehmen dazu noch einmal die hohle Geschichte des Lukas und füllen sie - nur für einen Moment - mit unserem 'Gezwitscher' aus dem 21. Jahrhundert:
Maria und Josef hatten keinen Kühlschrank. Ihnen wäre ein Kühlschrank nur lästig gewesen. Kein Esel hätte auch einen Kühlschrank so weit transportiert! Kleider hatten sie am Leib und Windeln für das Neugeborene, ein Dach über dem Kopf fanden sie nach langer Suche, Schlaf in jener Nacht ganz sicher nicht, aber auch heutzutage wird in Kreisssälen nicht geschlafen. Und bald darauf kann wenigstens Josef schon wieder träumen, also auch schlafen, wohlmöglich schnarchen, um wilde Tiere zu vertreiben.

Über Geldvorräte oder gar Sparbücher der jungen Familie wird nichts Aufschlussreiches gesagt, dass sie viel sparen konnten, bezweifle ich.
Steuern waren damals lebensgefährlich hoch. Sie aber überleben es.
Den Schmerz des Hungers kannten sie gewiss.
Ob die Eltern Jesu lesen konnten?
Mord und Totschlag entgingen sie knapp durch ihre Flucht im letzten Moment.

Nun lesen wir wieder im Titusbrief, worauf es zu Weihnachten ankommt.
Natürlich ist es wieder im halben Twitterformat:

Sie bewegt uns,
uns von Gottlosigkeit
und irdischen Begierden loszusagen


Wieder sind es 70 Zeichen, wenn man hinten den Punkt weglässt.
Den Schlusspunkt sollten wir ehrlicherweise weglassen, weil wir damit ja noch lange nicht fertig sind, mit dem Lossagen von Gottlosigkeit und irdischen Begierden.

Im Titusbrief werden also Heilige Nacht und die Konsequenzen für alle darauf folgenden Tage dieser Welt bis an ihr Ende in 140 Zeichen zusammengefasst.
Mehr braucht es nicht, jedenfalls nicht, wenn es schnell gehen muss, wie so oft bei uns.

Liebe Gemeinde

Der Rest ist schnell erzählt.

Im Titusbrief wird weitergetwittert, wie die Vorfreude auf alles Gute von Gott über Weihnachten hinaus lebendig bleibt:
Die Gnade Gottes ist erschienen ...
aber:
Gleichzeitig warten wir darauf,
dass die Hoffnung in Erfüllung geht,
die uns glückselig macht –
und darauf,
dass die
Herrlichkeit unseres großen Gottes
und Retters
Jesus Christus erscheint.

Gott kam in die Welt und unsere Hoffnung auf ein gutes Ende lebt, alle Jahre wieder und besonders zur Weihnachtszeit.

Dann können wir in der jetzigen Zeit
als besonnene und gerechte Menschen leben
und unseren
Glauben ausüben.
Und so wollte er sich ein
reines Volk erschaffen,
das ihm gehört –
ein Volk,
das nur darauf aus ist,
Gutes zu tun.
(aus Titus 2, Basisbibel 2012)


Besonnenheit und Gerechtigkeit sind und bleiben gefragt, in allen grossen und kleinen Entscheidungen für die Welt, für die Kinder, die in dieser Heiligen Nacht 2015 geboren werden.
Ein Volk sollen wir werden, das nur darauf aus ist, Gutes zu tun.
Nicht jeder einzelne soll es für sich allein versuchen, sondern alle miteinander, in grosser Gemeinschaft der sehr verschiedenen Kinder Gottes, sollen wir darauf aus sein, Gutes zu tun. Das ist die bleibende Herausforderung.
Heute schon feiern wir miteinander: Weihnachten auf der ganzen Welt.

Liebe Gemeinde
Nun warten Sie auf die grosse Zusammenfassung der langen, hohlen Weihnachtsgeschichte von Lukas und der Twitterweihnachtsnachricht im Titusbrief, auf die Zusammenfassung dieser Predigt, auf die Zusammenfassung der Weihnachtsbotschaft damals und heute, für Maria, Josef und uns, auch wenn wir ganz anders heissen.

Die Zusammenfassung lernte ich von einem koptischen Priester, Damian, der in Deutschland lebt und wirkt. Die Kopten in Ägypten und den Nachbarländern sind wohl seit 2000 Jahren und bis in die heutige Nacht die am meisten verfolgte Kirche der Welt.
Dieser beeindruckende Mensch, der sich in der langen Reihe der Märtyrer sieht, sagte:

"Lebe in der Welt, aber lass die Welt nicht in dir leben."

Wenn ich gleich "Amen." gesagt haben werde, hatte diese Predigt 11' 200 gedruckte Zeichen, das sind 80 Twitternachrichten.

Aber es genügt, die Zusammenfassung zu behalten:
"Lebe in der Welt, aber lass die Welt nicht in dir leben."

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne wie neugeboren in Jesus Christus. Amen.
 


[1] Sprachlich und inhaltlich überarbeitet; nach Norman Rentrop, 100 Zitate für 2016, Bonn u. a. 2016, Nr. 97.

[2] Ein vielgehörter und - auch in neuen Zusammenhängen - weiterverbreiteter Satz Angela Merkels zum Strom der Flüchtlinge im Jahr 2015.