Das Glück auf alten Sofas und harten Kirchenbänken – Predigt zu 1. Korinther 1,26-31 von Katharina Wiefel-Jenner

Das Glück auf alten Sofas und harten Kirchenbänken – Predigt zu 1. Korinther 1,26-31 von Katharina Wiefel-Jenner
1,26-31

Schaut doch euch selbst an, Brüder und Schwestern! Wen hat Gott denn da berufen? Es gibt ja nicht viele unter euch, die nach menschlichen Maßstäben klug oder einflussreich sind oder aus einer angesehenen Familie stammen. Gott hat sich vielmehr in der Welt die Einfältigen und Machtlosen ausgesucht, um die Klugen und Mächtigen zu demütigen. Er hat sich die Geringen und Verachteten ausgesucht, die nichts gelten, denn er wollte die zu nichts machen, die in der Welt etwas 'sind'. Niemand soll sich vor Gott rühmen können. Euch aber hat Gott zur Gemeinschaft mit Jesus Christus berufen. Mit ihm hat er uns alles geschenkt: Er ist unsere Weisheit – die wahre Weisheit, die von Gott kommt. Durch ihn können wir vor Gott als gerecht bestehen. Durch ihn hat Gott uns zu seinem heiligen Volk gemacht und von unserer Schuld befreit. Es sollte so kommen, wie es in den Heiligen Schriften steht: »Wer sich mit etwas rühmen will, soll sich mit dem rühmen, was der Herr getan hat.« (Übersetzung der Basisbibel).

 

Ihr Lieben,

 

seht ihr sie? Da in der zweiten Reihe links. Jetzt schaut sie ein wenig verlegen und es ist ihr peinlich, dass von ihr die Rede sein soll. Sie möge es uns verzeihen. Es ist Paulus, der den Blick auf sie lenkt.

Jeden Sonntag kommt sie. Auch als sie noch jünger war, kam sie Sonntag für Sonntag. Ihren Händen sah man an, wie hart sie arbeiten musste. Früher waren sie rau und rissig.  Gerötet. Zwischen den Fingern schälte sich die Haut. Hundert Mal am Tag waren sie im heißen Spülwasser. Wenn sie das Gesangbuch zur Hand nahm, hatten ihre geschwollenen Finger Mühe, die dünnen Seiten umzublättern. Jetzt ist sie alt. Jetzt machen Maschinen ihre Arbeit – und jüngere Frauen (mit Kopftuch). Sie sitzt und hat ihr Gesangbuch in der Hand. Sie summt die Paul Gerhardt-Verse vor sich hin. Früher hatte sie eine schöne Stimme. Ihr Rücken erinnert sich, wie der Schmerz leichter wurde, als sie „Nichts, nicht kann mich verdammen , nichts nimmt mir meinen Mut“ gesungen hat. Sie würde gerne noch öfter die alten Lieder singen. Die vertrauten Worte tun doch so gut. Die Jungen mögen nicht mehr singen: „Der Grund, da ich mich gründe, ist Christus und sein Blut“. Verstehen kann sie es nicht, dass die Konfirmanden das nicht mehr lernen. Aber als sie jung war, waren die Zeiten anders. Da waren die alten Worte verständlicher. Jetzt ist es eben anders und solange ihre Knie es erlauben, wird sie auch am nächsten Sonntag zum Gottesdienst aufbrechen. Sie wird sich auf ihren vertrauten Platz setzen und wenn es sein muss, mit ihrer altgewordenen Stimme auch diese neuen Lieder mitsingen.

 

Da hinten in der vorletzten Reihe haben sie weniger Mühe mit den neuen Liedern. Schön, dass die Teamer heute auch da sind und die Konfirmanden nicht allein gelassen haben – obwohl es doch noch so früh am Morgen ist. Normalerweise seid ihr ja im Jugendkeller. Die abgelegten Sofas dort sind durchgesessen. Das Tuch auf dem Billardtisch müsste auch mal wieder erneuert werden. Die anderen kommen mit ihren guten Zensuren nicht hierher. Die anderen haben schon ihren Studienplatz. Die anderen tragen die richtigen Marken. Die anderen haben Beziehungen. Die anderen stehen immer auf der richtigen Seite. Sie haben das hier nicht nötig, wenn es ernst wird. Sie brauchen nicht den Klang des Lobpreises auf  Gott. Sie brauchen nicht dieses warme Gefühl, wenn inmitten von abgewetzten Möbeln das Glück erwacht. Aber ihr seid hier, obwohl das Sofa im Jugendkeller altersschwach ist. Denn ihr spürt, dass es hier eine Gerechtigkeit gibt, die weiter reicht als alle Beziehungen für ein Praktikum oder einen Ausbildungsplatz. Ihr kommt, weil die Verlässlichkeit hier nicht von Zensuren abhängt. Ihr kommt, weil ihr merkt, dass das kaputte Sofa auf einem Grund steht, der auch vom Tod und anderen Katastrophen nicht erschüttert werden kann. Schaut euch gegenseitig an! Die anderen sehen gut aus. Sie werden zu den Schönen, Reichen und Mächtigen gehören. Aber ihr seid Gottes Lieblinge.

 

Wir hier sind Gottes Lieblinge, wir sind die Berufenen, sagt Paulus. Mit uns hat sich Gott eingelassen. Für uns ist Gott Mensch geworden und hat sich ganz auf unsere Seite gestellt. Was für ein unglaubliches Privileg! Gott für uns! Das könnte uns zu Kopf steigen. Eigentlich könnten wir damit doch vor den Großen, Mächtigen und Schönen der Welt auftrumpfen. Wir mit den rissigen Händen, den abgetragenen Kleidern, den ausrangierten Sofas. Wir, die keine geldwerten Beziehungen haben, die nur alte Lieder singen, die bei jedem Wettbewerb als Letzte ankommen. Wir, die vom Himmel mehr erwarten als von einer Lebensversicherung. Wir, die im Fremden den Bruder und die Schwester suchen, die sich den Frieden so dringend wünschen. Sorge muss Paulus unsertwegen nicht haben. Wir trumpfen schon nicht auf. Dafür sorgen längst die Verächter des Glaubens. Sie sagen, die Bibel sei wissenschaftlich nicht haltbar. Sie sagen, die Kirche habe so viel Schlimmes angerichtet – immer wenn es ernst wird, erinnern sie uns an Kreuzzüge, Hexenverbrennungen und Missbrauch. Und dann machen sie den Glauben für alle Kriege der Welt verantwortlich. Sie verachten uns als Gutmenschen und finden Christus nur wichtig, wenn er das Eigene vor den Fremden beschützt. Keine Sorge, Paulus. Das mit dem Rühmen um des Glaubens willen hat sich von selbst erledigt. Hier triumphiert niemand.

 

Regt sich da Widerspruch? Seht ihr das anders? Ich schaue in die zweite Reihe nach links. Ich schaue zu euch Teamern. Ihr stimmt mir also zu: weder die unbequeme Bank und die zerlesenen Seiten des Gesangsbuchs noch das alte Sofa sind ein Grund zum Auftrumpfen. Und auch, dass wir Gottes Lieblinge sind, ist kein Grund zu triumphieren? Die Gewissheit, dass wir zu Christus gehören, ist doch ein Grund? Über den Tag und die Nacht hinaus haben wir doch diese Gewissheit, dass wir bei Christus aufgehoben sind. Ich sehe, dass ihr mit Paulus auf einer Linie seid. Ihr haltet euch an den Apostel. Der kennt nur einen Grund zu triumphieren. Gott selbst ist der Grund, sich zu rühmen. Gottes Wort ist ein Grund – auch wenn man manchmal Erklärungen braucht, um es zu verstehen. Und die Liebe ist ein Grund. Und die Gerechtigkeit. Und der Frieden, den wir schon erfahren, wenn wir uns hier in der Bank von Christus ansprechen lassen. Und die Erleichterung, wenn wir uns von den alten Worten auffangen lassen. Und der gemeinsame Atem, wenn wir so beieinander sind und gemeinsam beten und singen und merken, wie Christus uns verwandelt. Das ist das Glück, dessen wir uns  mit der Zustimmung des Apostels rühmen.

 

Ich schaue noch einmal in die zweite Reihe nach links. Ich schaue noch einmal zu euch Teamern. Das neue Jahr hat gerade erst begonnen. Wer weiß, wie viele Gelegenheiten es geben wird, sich Gottes zu rühmen. Die Mächtigen und die Verächter Christi werden uns Tag für Tag genau beobachten. Zeigen wir ihnen, warum das Glück auf alten Sofas und in unbequemen Kirchbänken sitzt und über Gott jubelt.

Amen.

 

Perikope
07.01.2018
1,26-31

Berufen, ein neues Kapitel der eigenen Lebensgeschichte zu schreiben - Predigt zu 1. Korinther 1,26-31 von Thomas Volk

Berufen, ein neues Kapitel der eigenen Lebensgeschichte zu schreiben - Predigt zu 1. Korinther 1,26-31 von Thomas Volk
1,26-31

Liebe Gemeinde,

das heutige Schriftwort ist für die gedacht, die in diesem Jahr noch nicht die großen Pläne geschmiedet haben und es vielleicht auch gar nicht können, weil sie ahnen, dass sich ihr Lebensradius wieder etwas verkleinern wird.

Es ist für die, die gerade eine langwierige Krankheit hinter sich haben und fragen, ob die Kräfte für alles, was man sich vornimmt und was ansteht, auch reichen werden.

Es ist auch für die, die meinen, dass es doch auf sie gar nicht ankommt, weil die großen Geschichten ohne sie geschrieben werden.

Und schließlich ist es für alle, die sich in dieser schnelllebigen Zeit wie abgehängt vorkommen und das Gefühl haben, einfach nicht mehr mitzukommen.

 

Hören Sie aus dem 1. Korintherbrief des Apostels Paulus, aus dem 1.Kapitel, die Verse 26-31.

26 Seht doch, Brüder und Schwestern, auf eure Berufung. Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme sind berufen.

27 Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist; 28 und was gering ist vor der Welt und was verachtet ist, das hat Gott erwählt, was nichts ist, damit er zunichtemache, was etwas ist,

29 auf dass sich kein Mensch vor Gott rühme.

30 Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus, der für uns zur Weisheit wurde durch Gott und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung,

31 auf dass gilt, wie geschrieben steht (Jeremia 9,22-23): „Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!“

 

Kein Ansehen der Person

Als der Apostel Paulus diese Zeilen schreibt, da hat er nicht - wie wir heute - ein neues Kalenderjahr vor Augen, das gerade erst angefangen hat und das nicht bei allen Jubelstürme auslöst, weil es für manche wie ein hoher Berg erscheint, der erst noch erklommen werden muss.

Paulus blickt auf die Gemeinde in Korinth, die er vor einigen Jahren gegründet hat. Und jetzt, als er weitergezogen ist, hört er davon, dass es Streit gibt. Aus einigen Versen vor dem heutigen Abschnitt kann man herauslesen, dass sich die Korinther den Personen, von denen sie getauft wurden, besonders verbunden gefühlt haben (vgl. 1. Korinther 1,10-17). Es haben sich verschiedene Gruppen gebildet. Die einen fanden die toll, die so gut reden konnten. Die anderen haben die angehimmelt, denen alles leicht von der Hand ging und wieder andere fanden die umwerfend, die immerzu etwas Großartiges erlebten. Das große Ganze drohte zu platzen, die eine Gemeinschaft war in Gefahr auseinanderzubrechen.

Diesem Gezicke hält Paulus schroff vor: Der christliche Glaube ist nicht dazu da, dass wenige, bestimmte Personen zu Rang und Ansehen gebracht werden, denn niemand soll sich vor Gott rühmen (V.29).

Und es klingt wie eine aufbauende Ermunterung, wenn Paulus allen, die sich gegenüber denen, die im Rampenlicht stehen, klein, unbedeutend und schwach fühlen, schreibt: „Seht doch, Brüder und Schwestern, auf eure Berufung“ (1,26a).

 

Berufen, ein neues Kapitel der eigenen Lebensgeschichte zu schreiben

Und das ist auch für uns ein Mut machender Aufruf am Beginn eines neuen Kalenderjahres: „Schaut nicht auf andere! Blickt nicht auf deren Leben! Schaut auf Euch selbst! Auf Eure Berufung!“

„Meine Berufung? Was das ist? Die Großen in Politik, Wirtschaft und Kirche können das von sich sagen: ʹIch bin zu etwas Besonderem berufen!ʹ Aber ich kleines Menschenkind? Zu was sollte ich berufen sein? Ich komme doch mit meinem Leben kaum zurecht. So vieles ist mir schon durch die Lappen gegangen. Ich weiß noch nicht einmal genau, ob und wie sich in diesem Jahr so einiges fügen wird und wie ich alles schaffen soll? Ob ich die entscheidende Abschlussprüfung schaffe oder den immer mehr werdenden Anforderungen im Berufs- oder Alltagsleben standhalten kann? Ob und wann sich die Gesundheit einstellen wird, die ich mir so gerne wünsche? Und ob ich einmal dahin komme, den Abschied, der so wehgetan hat, einfach so stehen zu lassen, dass er mich nicht mehr quält?“

Für alle, die heute Morgen so fragen und grübeln, zu was sie berufen sein könnten, sei gesagt: „Du bist berufen, in diesem frischen Kalenderjahr ein neues Kapitel deiner Lebensgeschichte zu schreiben!“

Was du auch immer in deinem Jahrestagebuch festhalten wirst, ob es ein umfangreiches und überschwängliches Kapitel werden wird oder ob es eher kurz gehalten sein wird, ob die Dur-Töne überwiegen oder eher die Moll-Passagen - du darfst darauf vertrauen, dass Gott zwischen allen Zeilen mitschreiben wird. Er kann auch auf krummen Zeilen gerade schreiben.

Das hat Gott dir bei deiner Taufe zugesagt. Du bist berufen, dein Leben in wachsenden Ringen zu leben. Das gilt nicht nur für Hochzeiten, sondern für all die Momente, in denen man das Gefühl hat, völlig danebenzuliegen. Oder für die Tage, an denen man sich schlapp vorkommt und das Gefühl hat, wie festgefahren zu sein, während die Welt draußen sich weiterdreht. Es gilt für die Augenblicke, in denen man nur sieht, was alles nicht geht oder nicht klappt und für die Gespräche und Begegnungen, bei denen die eigene Meinung niemanden interessiert.

Du darfst auch in diesem neuen Jahr darauf vertrauen, dass Gott gerade das Törichte, das Schwache, das Geringe, und das Verachtete erwählt hat (vgl. V.27-28).

Anders gesagt: Lass das für dich gelten, was Paulus einmal an anderer Stelle an die Korinther mit einem Wort, das er von Christus empfing, so beschrieben hat: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit“ (2.Korinther 12,9).

 

… auf dass sich kein Mensch vor Gott rühme

Paulus misstraut allem Rühmen auf die eigenen Kräfte und auf das eigene Geschick deshalb so sehr, weil er selbst in den eineinhalb Jahren, in denen er in Korinth gelebt und dort viel Herzblut gelassen hat, einige Male erfahren musste, wie schnell man doch an seine Grenzen kommen kann. Er musste so manche Rückschläge und Niederlagen einstecken. Er litt an seiner eigenen Schwachheit. Er war niedergeschlagen, weil andere besser reden und überzeugen konnten, auch optisch besser angekommen sind, mehr Anerkennung bekommen haben. Ganz zu schweigen von den gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die ihm immer wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht haben.

Paulus hat immer wieder gehadert, dass so wenig von Gottes Kraft an seinem eigenen Leben ablesbar gewesen ist. Doch dann erkennt er, dass gerade in diesem Gegensatz zwischen den ungeahnten Möglichkeiten Gottes und seiner gebrochenen Existenz ein tieferer Sinn liegt. Kein Mensch soll sich vor Gott rühmen. Niemand soll sagen: Das habe ich geschafft. Und weil das das so gut hinbekommen habe, komme ich eigentlich auch alleine, ohne Gott, ganz gut klar. Nein, sagt Paulus, auch nach der Taufe, dem Fixpunkt unserer Berufung, ist und bleibt der Mensch angewiesen auf Gott.

Am Leben des Paulus sehe ich auch, dass Gottes Kräfte nur da ankommen können, wenn man nichts beschönigt oder wenn man von dem Denken abkommt, dass man doch irgendwie seines Glückes Schmied sein kann. Der christliche Glaube ist eben nicht der Zuckerguss über einem ohnehin schon mit Versicherungen und Zusatzleistungen der Krankenkasse abgesicherten Leben. Jeder Tag, den man schafft und jede Hürde, die man überwindet, „muss erbeten“ sein, wie Paul Gerhardt in dem berühmten Lied, dass Christen all ihre Wege Gott immer wieder neu anbefehlen sollen, dazu gedichtet hat (EG 361,2).

 

Was man von Gott erwarten darf

Für alle, die sich fragen, was sie schon ausrichten können, höre ich aus dem Schriftwort heraus: „Du darfst etwas von deinem Glauben erwarten.“

Damals, die Christen in Korinth sollten Mut bekommen, nicht auf die anderen zu schauen, die durch ihren Glauben zu ungeahnten Höhenflügen gelangen und dabei in Gefahr sind, dass sie das, was ihnen gelungen ist, auf die eigenen Fahnen schreiben. Ihnen sagt Paulus: „Schaut auf euch! Auf eure Berufung! Ihr gehört zu dem großen Leib Christi fest dazu.“

Heute, wo die ersten Tage eines neuen Jahres hinter uns liegen und für viele morgen der Alltag in Schule, Beruf und Haushalt wieder beginnt, gilt: „Schau nicht auf die anderen, die nach außen immer gesund erscheinen, perfekt erholt aussehen, denen alles spielend leicht zufällt und die mühelos ihr Leben zu meistern scheinen.

Schau auf dich! Du darfst von Gott erwarten, dass er dich in deinem Leben begleitet und dir allen Mut, alle Kraft und alle Zuversicht mitgeben will, die du brauchst. Aber - so hat es Dietrich Bonhoeffer einmal dazu gefügt - er gibt uns das alles nicht im Voraus, „damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern auf ihn verlassen“ (aus: Widerstand und Ergebung).

 

Sich als Teil eines großen Ganzen verstehen

Bei Paulus lese ich auch immer heraus, dass sich der christliche Glaube nicht nur auf das persönliche Befinden erstreckt und dass die anderen Menschen mit ihren Sorgen und Fragen völlig außen vor gelassen werden.

Das Leben, das mir gegeben ist, bekommt seine Qualität daher, dass ich es nicht nur für mich habe und mich nicht nur in Fragen, wie ich alles schaffen kann, erschöpfen soll. Wenn Gott mir dieses Leben geschenkt hat, dann doch dafür, dass ich es mit anderen teile. Gute Gespräche. Dasein für einen kranken Freund. Zuhören, wenn die Kinder etwas aus dem Schulalltag erzählen. Das und noch viel mehr gehört dazu, wenn Paulus schreibt: „Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus“ (V.30a).

Und es wäre für uns alle ein großes Ziel, wenn wir es schaffen würden, nicht nur unsere eigenen Fragen, die uns selbst umtreiben, sondern auch die der anderen um uns wahrnehmen.

 

Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn

Auf alle Fälle dürfen wir gespannt sein, was in knapp 360 Tagen in unserem Jahrestagebuch 2018 stehen wird. Vielleicht sind auch Zeilen darunter, die so oder so ähnlich beginnen:

Ich hätte nie gedacht, dass meine Einsamkeit von außen durchbrochen wurde…

Ich habe nach den vielen Enttäuschungen mit Gottes Hilfe wieder neu Vertrauen in das Leben gefunden …

Wie bin ich glücklich gewesen, als ich gemerkt habe, dass ich mit viel Kraft, die nicht aus mir gekommen ist, diese eine Aufgabe doch geschafft habe …

Oder: Danke, Gott, dass du mir ein stiller, aber verlässlicher, Begleiter gewesen bist …

 

Auf alle Fälle ist Neues bei Gott immer verheißungsvoll: für Junge und in die Jahre gekommene - für Gesunde und Kranke - für all die, die in diesem Jahr Großes vorhaben und bei denen, die heute meinen, dass sich in diesem Jahr ohnehin nicht viel tun wird.

Für sie, für uns alle gilt: Wir können getrost in ein neues Stück Lebenszeit hinein gehen, dürfen guten Mutes ein ganz neues Kapitel unserer Lebensgeschichte schreiben und dabei entdecken, was wir mit Gottes Hilfe alles schaffen und in die Wege leiten werden.

Von Selma Lagerlöf stammt der treffende Ausspruch, der gerade am Beginn eines neuen Jahres gilt: „Man soll nicht ängstlich fragen: „Was wird und was kann noch kommen?“ Sondern sagen: „Ich bin gespannt, was Gott jetzt noch mit mir vorhat!“

Und die Möglichkeiten Gottes, die immer größer und weiter sind, als die Aussichten, die wir gerade vor uns haben, mögen uns auf unserem Weg wieder ein Stück weiterbringen.

Amen.

Perikope
07.01.2018
1,26-31

Im Spagat – Predigt zu 1. Korinther 1, 26-31 von Luise Stribrny de Estrada

Im Spagat – Predigt zu 1. Korinther 1, 26-31 von Luise Stribrny de Estrada
1,26-31

Die Gnade unseres Herrn und Bruders Jesus Christus

und die Liebe Gottes

und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

sei mit euch allen.

Amen.

 

Liebe Schwestern und liebe Brüder!

 

„Ich habe mein Abitur mit 1,2 bestanden, dafür habe ich aber auch ordentlich gelernt. Jetzt stehen mir alle Möglichkeiten offen. Ich kann mich bloß noch nicht recht entscheiden: Studiere ich Medizin oder Psychologie oder doch lieber Wirtschaft? Egal, ich habe jedenfalls die besten Voraussetzungen für einen Superjob.“

“Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn“, ruft Paulus seiner Gemeinde zu.

„Ich habe mein Leben gut im Griff, bin erfolgreich im Beruf und habe zwei Kinder. Klar, das bedeutet viel Organisation, aber das kriege ich hin! Morgens um 7.30 Uhr gebe ich die Kinder im Kindergarten ab, dann schnell ins Büro, und nachmittags um vier hole ich sie wieder ab. Mein Chef ist zufrieden mit mir, und meine Kollegen schätzen mich. Geht alles, wenn man will!“

“Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn“, schreibt Paulus an die Christen in der großen Hafenstadt.

„Diesen Karrieresprung wollte ich immer schaffen: Nun hat es geklappt! Meine Arbeit hat sich ausgezahlt, die Überstunden, dass ich auch im Urlaub erreichbar war, dass ich mich über das Normale hinaus engagiert habe. Ich kann stolz auf mich sein. Jetzt habe ich mehr Verantwortung, bin dort im Ausland viel selbständiger als bisher und habe dann im Lebenslauf etwas vorzuweisen, was nicht jeder hat. Super!“

“Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn“, hören wir von Paulus, dem Apostel.

So wenig passt das, was Paulus sagt, in unsere Welt. Wir rühmen uns lieber unserer selbst. Wir werden dazu trainiert, uns gut darzustellen, uns blendend zu verkaufen und andere von uns zu überzeugen. Ohne das geht es gar nicht. Wer nicht auf sich aufmerksam macht, wer nicht heraussticht und besser als die anderen ist, der bringt es nicht weit. Er oder sie wird schnell zum Verlierer.

So wie die Menschen, die Paulus vor Augen hat. Er wendet sich an die anderen, die nicht gewonnen haben. Er meint die, die weder klug noch weise sind, diejenigen, die anderen nichts zu sagen haben und die keiner kennt. Diejenigen, die übersehen werden, weil nichts Besonderes an ihnen ist, und die, auf die andere herabsehen, weil sie es zu nichts gebracht haben. Sie machen die Gemeinde in der großen Hafenstadt Korinth aus. Der einzige, der auf diese Menschen aufmerksam geworden ist, ist Gott. Er beruft sie, damit sie seine Gemeinde bilden. Und merkwürdigerweise sind sie, gerade sie, Gott recht.

Paulus beschreibt in seinem Ersten Brief an die Gemeinde in Korinth die Berufung in die Gemeinschaft mit diesen Worten:

Seht doch, Brüder und Schwestern, auf eure Berufung. Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist; und was gering ist vor der Welt und was verachtet ist, das hat Gott erwählt, was nichts ist, damit er zunichtemache, was etwas ist, auf dass sich kein Mensch vor Gott rühme. Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus, der für uns zur Weisheit wurde durch Gott und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung, auf dass gilt, wie geschrieben steht (Jeremia 9,22-23): »Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!« (1.Korinther 1,26-31 in der Lutherübersetzung von 2017)

Zwei Welten, zwei Lebensentwürfe. Die Welt, in der wir leben, in der alles auf Leistung aufbaut. Daneben die Welt, die Paulus skizziert, in der es um die Berufung durch Gott geht. Wer an Gott glaubt, muss nicht alles selbst machen und herstellen, sondern bekommt das für sein Leben Entscheidende von Gott geschenkt. Paulus umreißt es mit den vier Worten: Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung. All das kommt von Gott her.

Sind wir berufen? Gehören wir in diese Welt hinein, die Paulus uns vor Augen malt? Haben wir Zugang zu ihr? Ich verstehe Paulus so, dass er, wenn er an die Christen und Christinnen in Korinth schreibt, nicht nur sie im Blick hat, sondern auch die Christen in den anderen Gemeinden, die er kennt. Über den Graben der Zeit hinweg sind diese Worte auch an uns heute gerichtet und wollen uns berühren und nahe kommen. So wage ich es, sie auf uns zu beziehen, die wir uns in diesem beginnenden Jahr 2018 zur Gemeinde halten. Wahrscheinlich stimmen nicht alle Details, wahrscheinlich sind unter uns auch Menschen, die angesehen sind und es in ihrem Leben zu etwas gebracht haben. Aber mir geht es um die Zielrichtung von dem, was Paulus sagt: Gott hat uns zum Glauben gerufen, und dabei interessiert ihn nicht, was wir darstellen und wer wir sind. Er will, dass wir zu ihm gehören.

Wir sind „in Christus“, so nennt es Paulus. Das klingt wie ein besonderer Raum, in den wir eingetreten sind. Oder, um es anders zu beschreiben: Wir sind eins mit Jesus Christus, ein Leib, so wie wir es im Abendmahl erleben. Wir gehören zu ihm und er zu uns. Ich habe Anteil an Christi Weisheit. Ich bin durch ihn gerechtfertigt. Ich muss mich nicht selbst anstrengen, um vor mir und vor anderen zu bestehen. Der Sinn meines Lebens wird mir geschenkt: Ich bin geliebt, so, wie ich bin. Ich bin davon erlöst, alles selbst zu machen und zu verantworten. Ein anderer hat es mir abgenommen, Jesus Christus. Er ist für mich in den Tod gegangen und auferstanden.

Hält das der Probe aufs Exempel stand? Trägt mich das im neuen Jahr? Ich werde weiter in dieser Welt leben. Ich werde weiter mit ihren Werten und ihren Herausforderungen umgehen und in ihnen bestehen müssen. Aber Paulus erinnert mich daran, dass das nicht alles ist. Es gibt daneben eine andere Welt, in der Gottes Werte gelten. In ihr bin ich berufen, gerechtfertigt und erlöst. Das ist unabhängig von dem, was ich schaffe und erreiche.

Ich bin, wir Christinnen und Christen sind in beiden Welten zuhause. Wir leben, bildlich gesprochen, im Spagat: mit einem Bein im Hier und Jetzt, mit dem anderen Bein in Gottes Reich. Eine Welt ergänzt und korrigiert die andere. Nein, ich brauche nicht alle Verrenkungen mitzumachen, muss nicht den größten Flachbildschirm und das neueste Handy haben, nicht die spektakulärsten Urlaubsfotos vorweisen können oder die meisten Likes auf meiner Facebookseite. Gott ist das egal. Aber natürlich lebe ich jetzt und bin darauf angewiesen, dass andere Menschen mich achten, mögen und lieben. Ich muss dafür sorgen, dass ich meinen Lebensunterhalt verdiene und ein Dach über dem Kopf habe. Aber mein Leben besteht aus mehr als aus der Sorge um das Alltägliche. Seinen Sinn erhält es durch Gott. Vor ihm möchte und muss ich mich verantworten. Sein Urteil zählt für mich - viel mehr als das Urteil anderer Menschen.

Das zeigt sich konkret darin, dass wir uns in unserer Gemeinde weiter für Flüchtlinge engagieren, obwohl sich die öffentliche Meinung geändert hat. Die Begeisterung über die Flüchtlinge, die vor zwei Jahren dominierte, ist verflogen. Stattdessen hören wir Nachrichten über geplante Abschiebungen, die Begrenzung des Familiennachzugs und über die Gefahr, die von Terrorverdächtigen ausgeht. Wir lassen uns davon nicht beirren. In unserer Gemeinde gibt es nun im dritten Jahr das Internationale Café, in dem Flüchtlinge willkommen sind. Ehrenamtliche helfen ihnen, deutsch zu lernen und unterstützen sie bei Behördengängen und Arztbesuchen. Es ist Arbeit im Kleinen, nichts Spektakuläres, aber ich bin davon überzeugt, dass dieses Engagement Menschen hilft, sich hier in einer für sie fremden Welt zurecht zu finden. Dass sie Vertrauen fassen zu Deutschen und merken, dass es Menschen gibt, die ihnen helfen, hier anzukommen.

Warum wir uns für Flüchtlinge engagieren? Weil das in Gottes Sinne ist. Gott erinnert sein Volk immer wieder daran, dass es selbst erlebt hat, wie es ist, fremd zu sein. Viele Jahre haben sie in Ägypten gelebt, später eine lange Zeit in Babylon. Deshalb sollen die, die an ihn glauben, andere Menschen gut behandeln, wenn sie als Fremde zu ihnen kommen und bei ihnen wohnen. Gott sagt: „Die Fremdlinge sollst du nicht bedrängen und bedrücken, denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen“ (2.Mose 22,20).

So loben wir Gott, unseren Herrn, der uns Mut macht, uns für Flüchtlinge einzusetzen. Wir loben unseren Herrn, der uns einen langen Atem gibt, um durchzuhalten. Wir loben unseren Gott, der die Menschen, die seinen Schutz brauchen, in Obhut nimmt.

Amen.

Perikope
07.01.2018
1,26-31

„Nimm Platz!“ - Predigt zu 1. Korinther 1,26-31 von Wolfgang Grosse

„Nimm Platz!“ - Predigt zu 1. Korinther 1,26-31 von Wolfgang Grosse
1,26-31

Gnade mit euch, ihr vom Geist Getriebenen, ihr getauften Gotteskinder, ihr Klugen und Großen, ihr Zweifler und Verstoßenen, ihr Vornehmen und Einflussreichen, ihr Armen und Schwachen, liebe Schwestern und Brüder, und auch mit mir unter euch,
Gnade sei mit uns allen!

 

I. Wir sind dabei

Wir sind dabei. In der Schar der Gnade Gottes, am großen Tisch von Gottes Festmahl. Heute.  Doch wo sitze ich? Was hat mich angesprochen?  Wo bin ich hängen geblieben? Was hat mich berührt? Bei wem habe ich Platz genommen? Wo würde ich gerne sitzen? Wo sitze ich tatsächlich? So, wie ich jetzt hier bin. Im 7 Tage alten Neuen Jahr. Immer noch mit der Geschichte des Vergangenen. Immer noch mit den guten Vorsätzen des Neuen. Immer noch ich. Mit Allem. Dem Hellen und Dunklem. Dem Guten und Schlechten. Dem Reichtum und der Armut. Dem Glauben und Zweifel. Schaut euch mal an.

 

II. Gegensätze 1

Schaut euch mal an. Nehmt wahr, wer heute hier ist. Wer neben euch sitzt. Oder vor euch. Oder hinter euch. Oder schräg gegenüber.  Seht in die Augen.  Die Leuchtenden. die Glänzenden. Die Erwartungsvollen. Die Traurigen. Die Müden. Die Zweifelnden. Seht, die jungen Hände. Die Falten im Gesicht. Das sind wir. WIR Gemeinde in … und alle haben wir Platz in der Gnade Gottes. Das ist wunderbar. Wir alle hier an diesem Sonntagmorgen am Tisch Gottes. Studium oder Lehre? Lohn oder Gehalt? Gänsebraten oder Kartoffelsuppe? VIP-Lounge oder Stehplatz? Bitte Platz nehmen an der Festtafel Gottes! Wir sind hier, so wie wir sind. Alleine das zählt. Weil wir nach Gott fragen. Und Gott nach uns fragt. Gnade sei mit uns.

 

III. Rückblick

Da sind wir also. Im neuen Jahr. Am 1. Sonntag nach Epiphanias. Und die Weihnachtszeit klingt aus. Die Hirten waren gekommen. Arm und elend und verachtet. Die Weisen waren gekommen. Oder Sterndeuter. Oder Könige. Wer weiß das schon so genau. Jedenfalls durchaus prunkvoll. Alle waren gekommen. Alle waren gekommen zum neuen König. In all seiner Pracht. Waren gekommen zum Kind. In aller Erniedrigung in der Krippe. So standen die Hirten neben den Königen. Der dreckige Leinenumhang neben dem Purpurmantel. Sie aßen gemeinsam vom Brot des Lebens an der Festtafel Gottes im Stall, während das Kind schlief. Keiner musste sich schämen. Es gab keine Unterschiede mehr. Wir gesellten uns zur Krippe. So wie wir sind. Gemeinsam mit den Hirten und Königen fragten wir nach Gott. Denn wir alle tragen dieselbe große Hoffnung in uns. Damals wie heute.

Hoffnung:
Dass uns jemand tröstet. Dass uns jemand führt und leitet. Dass uns jemand heil macht. Dass Frieden wird. Dass jemand Brücken baut. In einer Welt scheinbar unüberbrückbarer Gegensätze.

Gegensätze von Arm und Reich. Von angeblich klug bis dumm. Von ganz Oben bis ganz Unten. Von Dazugehören bis Ausgestoßen Sein. Die Hirten und Könige damals. Wir heute hier, so wie wir sind. Alle mit der großen Hoffnung auf Gott. Denn Gott überbrückt die Gegensätze, die uns gefangen halten.

 

IV. Gegensätze 2

Es fängt schon im Kindergarten an: „Du gehst da nicht zum Kindergeburtstag. Der Papa ist arbeitslos.“ „Mein Haus, mein Auto, meine Familie, mein Urlaub, meine Klamotten, mein Portemonnaie …“ Das alltägliche Prahlen und der versteckte Neid ist uns nicht unbekannt. Es endet schließlich bei der Trauerfeier: „Das war aber ein billiger Sarg und an den Blumen wurde auch gespart.“ Wir machen Unterschiede. Wir urteilen und verurteilen. Immer wieder. Aber nicht hier, nicht in unserer Gemeinde. Nicht bei Gott. Schaut euch an. Alle haben Platz am großen Tisch von Gottes Festmahl!

 

V. Korinth

Und dann schauen wir nach Korinth. Korinth, bis heute eine blühende Stadt. In der Antike umso mehr. Das Biarritz, Nizza oder Cannes des antiken Athen am Mittelmeer. Selbst die reichen Römer fanden es in Griechenland schön. Wer hier eine Bleibe gefunden hatte, Ferienhaus, Sommerresidenz, Liegeplatz für „meine  Yacht“, der hatte es zu was gebracht. Außer – natürlich - den ortsansässigen armen Fischern und Landarbeitern, den Sklaven, Bediensteten und Tagelöhnern … am Rande … am Rande der Stadt. Korinth war Wohlstand, war Reichtum, war Haute Volée. Die Schönen, die Reichen, die Einflussreichen, die „Oberen 10.000“ wie man so sagt. Vor knapp 2.000 Jahren hatte der Apostel Paulus die Stadt besucht. Er war gebildet und ein nicht wirklich armer, römischer Bürger, aber er war aufgrund seiner (chronischen?) Krankheit selbst kein „Winner-Typ“. Spätestens seit seiner Bekehrung gehörte er weder zur römischen noch zur griechischen Welt dazu, sowohl gesellschaftlich als auch religiös. Aber er hatte es gewagt, auf seiner 2. Missionsreise dort einzudringen. Hatte versucht Brücken zu bauen. Alle an den Tisch Gottes einzuladen. Mit seiner Botschaft von diesem Mann aus Nazareth. Paulus hatte gepredigt: Da gibt es keinen Unterschied vor Gott. „Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Juden und Griechen, zwischen Sklaven und freien Menschen, zwischen Mann und Frau. … zwischen Sparstrumpf und Aktienpaket, zwischen Mietwohung und Villa. Denn durch Jesus Christus sind alle neu geworden.“

Bei Gott sind wir alle reich und groß. Wir sind alle arm und elend. „Wir ermangeln alle des Ruhmes Gottes“, so sagte er. Niemand muss sich oder den Anderen etwas beweisen. Vor Gott zählt das nicht. Keine bemitleidenswerte Blicke. Keine neidischen Blicke. Die linke Hand weiß nicht was die rechte gibt. Eine gute Kartoffelsuppe schmeckt genauso gut wie ein trockener Gänsebraten. Das stille Lächeln über einen einzigen persönlichen Neujahrsgruß ist mindestens ebenso viel wert wie 10 gleichlautende Wünsche von sog. Geschäftsfreunden. Wissen wir alle. Menschenhände reichen über den Tisch von Gottes Festtafel, berühren sich und teilen gemeinsam dasselbe Brot. Das ist Gnade. Und Gott ist groß. Und wir sind groß, weil wir loslassen können und klein werden dürfen. Gotteskinder sind wir. Alle gleich.

Gott verbindet. Er reicht allen die Hand. Er lädt alle an den Tisch. Niemand muss sich schämen ob der Person. Egal ob Hirte oder König. Wir alle sind auf der Suche nach Gott, nach Gottes Gnade. Was für ein Affront damals. Paulus war deshalb durchaus nicht bei allen willkommen. Aber er hatte es trotzdem  hinbekommen, eine kleine, christliche Gemeinde zu gründen. Ohne Kirche. Ohne Prunk. Ganz im Verborgenen. Voller Zweifel. Aber versichert: Gott ist gnädig. Gott schaut mich an. Er ist bei uns. Schaut euch an.

Er schreibt: (Neue Genfer Übersetzung)
Seht euch doch einmal in euren eigenen Reihen um, Geschwister: Was für Leute hat Gott sich ausgesucht, als er euch berief? Es sind nicht viele Kluge und Gebildete darunter, wenn man nach menschlichen Maßstäben urteilt, nicht viele Mächtige, nicht viele von vornehmer Herkunft. Im Gegenteil: Was nach dem Urteil der Welt ungebildet ist, das hat Gott erwählt, um die Klugheit der Klugen zunichte zu machen, und was nach dem Urteil der Welt schwach ist, das hat Gott erwählt, um die Stärke der Starken zunichte zu machen. Was in dieser Welt unbedeutend und verachtet ist und was ´bei den Menschen` nichts gilt, das hat Gott erwählt, damit ans Licht kommt, wie nichtig das ist, was ´bei ihnen` etwas gilt. Denn niemand soll gegenüber Gott ´mit vermeintlichen Vorzügen` prahlen können. Ist es bei euch nicht genauso? Dass ihr mit Jesus Christus verbunden seid, verdankt ihr nicht euch selbst, sondern Gott. Er hat in Christus seine Weisheit sichtbar werden lassen, eine Weisheit, die uns zugute kommt. Denn Christus ist unsere Gerechtigkeit, durch Christus gehören wir zu Gottes heiligem Volk, und durch Christus sind wir erlöst. »Wenn also« – um es mit den Worten der Schrift zu sagen – »jemand auf etwas stolz sein will, soll er auf den Herrn stolz sein.«

 

VI. Am Tisch Gottes

Schaut euch an! Und ich sehe Frau NN, die sich als Vorstandsvorsitzende schon seit Jahren müht und alles beieinander hält, Großes schafft, und manchmal müde Augen hat, ich sehe den Kirchenvorstand, der redlich arbeitet und immer wieder da ist, ich sehe die vielen Ehrenamtlichem in dieser Gemeinde, ich sehe die Jubelpaare des letzten Jahres, die Kindergarteneltern, die Tauffamilien, die Witwen und Witwer, ich sehe euch heute hier im Gottesdienst.

Schauen wir uns an. In aller Armut. In allem Reichtum. Gemeinsam am Tisch Gottes. Alle zusammen. Keine Unterschiede. Gegensätze sind überwunden. Wir fragen nach Gott. Und Gott fragt nach uns. Gnade IST mit uns.

Gott führt Menschen zusammen. Uns. Gotteskinder. Klug und groß, zweifelnd und verstoßen,  vornehm und mit Einfluss, arm und schwach. Schauen wir uns an. Schauen wir uns in die Augen. Schauen wir mit Gottes Augen. Da ist kein Unterschied. Da ist … ein Mensch neben mir! Am Tisch Gottes. Und wir essen gemeinsam vom Brot des Lebens. Darauf dürfen wir stolz sein.
Amen.

 

Tagesgebet:

Nicht
mit allen Wassern gewaschen
sind wir
sondern aus der Quelle des Lebens
sind wir
getauft mit lebendigem Wasser
umsonst
zum Leben.
Danke.
Amen.

Perikope
07.01.2018
1,26-31

Predigt zur Eröffnung der "Woche für das Leben"

Predigt zur Eröffnung der "Woche für das Leben"
10,23-26

„Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Niemand suche das Seine, sondern was dem andern dient…  Denn ‚die Erde ist des Herrn und was darinnen ist.‘“

Liebe Gemeinde,

„Alles ist erlaubt!“ – Das ist ein starker Satz im Eröffnungsgottesdienst der Woche für das Leben! Ein überraschender Satz zum Auftakt einer Woche, bei der es ja um den sorgsamen Umgang mit dem Leben geht, bei der es auch um den Einspruch gegen einen Umgang mit dem Leben geht, der in Spannung steht zu wesentlichen Grundorientierungen des christlichen Glaubens wie der Achtung vor der Menschenwürde und der dahinterstehenden Überzeugung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. „Alles ist erlaubt.“ Gerade aus dem Munde des Apostels Paulus, der ja nun nicht unbedingt als Protagonist eines permissiven Lebensstils bekannt geworden ist, erwartet man diese Worte erst einmal nicht. Umso mehr gilt es, diese Worte zu hören. Umso mehr gilt es, Rigidität und Moralismus hinter sich zu lassen. Umso mehr gilt es die Botschaft der Freiheit wirklich ernst zu nehmen, die Paulus so wichtig gewesen ist.

„Alles ist erlaubt“, in diesem Satz, den Paulus gleich zweimal hintereinander gebraucht, schwingt uneingeschränkte Freiheit mit. Paulus spricht an dieser Stelle über das Götzenopferfleisch und die Frage, ob Christen das essen können. Aber die Worte haben weit über diesen Zusammenhang hinaus Bedeutung. Es gibt kein generelles Verbot von bestimmten Handlungen und Tätigkeiten und schon gar kein Denkverbot. Der Glaube eines Christenmenschen ist nicht Knechtschaft, sondern er bedeutet Freiheit. Freiheit im Denken, Freiheit in den Entscheidungen und Freiheit in den Taten. Gleichzeitig gilt: Die christliche Freiheit ist keine unkoordinierte, chaotische Freiheit, die allein nach dem Lustprinzip agiert oder der Willkür des einzelnen unterliegt. Die christliche Freiheit ist eine verantwortete Freiheit. Das hat Martin Luther so treffend in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ zum Ausdruck gebracht, in der er sich auf diese Worte des Paulus bezieht.

Damit wir gründlich erkennen, was ein Christenmensch ist, und wie es um die Freiheit stehe, die ihm Christus erworben und gegeben hat, wovon Sankt Paulus viel schreibt, will ich diese zwei Sätze aufstellen: Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.

Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.

Diese zwei Sätze sind klar bei Sankt Paulus zu finden: „Ich bin frei in allen Dingen und habe mich zu jedermanns Knecht gemacht“; ebenso: „Ihr sollt niemand zu etwas verpflichtet sein, außer daß ihr euch untereinander liebet. Die Liebe aber, die ist dienstbar und untertan dem, das sie lieb hat.“

Mit der Freiheit eines Christenmenschen ist also immer die Frage verbunden: was dient dem Guten und was dient dem anderen? Es gibt wenige Themen, bei denen diese Frage so brisant wird, wie wenn wir es mit dem Beginn oder dem Ende des Lebens zu tun haben. Nirgends ist die Verantwortung größer, die uns als Christenmenschen zukommt, als wenn es um das Leben geht. Deswegen ist es gut, dass wir uns in der Woche für das Leben regelmäßig mit diesen Fragen beschäftigen.

Alles ist erlaubt! Aber was dient dem Guten, was dient dem Nächsten?

Wie gehen wir damit um, wenn wir uns ein Kind wünschen, wenn der Wunsch unerfüllt bleibt und wir vor der Frage stehen, ob oder wie wir die modernen Reproduktionstechnologien in Anspruch nehmen sollen, um ihn doch noch zu erfüllen?

Wer verstehen will, warum diese Frage so existentiell werden kann und solch tiefe Emotionen weckt, muss sich nur an seine eigenen Erfahrungen mit der Geburt von Kindern erinnern – der eigenen oder der von Freunden und Verwandten.

Es ist eine unbeschreibliche Erfahrung, ein Neugeborenes in den Armen zu halten. Ich erinnere mich selbst mit großer Bewegung an die Momente, als ich meine drei Söhne jeweils das erste Mal in den Armen hielt. Da vergisst man die Welt um sich herum, ist tief berührt und voller Staunen. Die Worte des Psalmisten, die wir zuvor gemeinsam gebetet haben kommen einem dabei in den Sinn: „Wunderbar sind deine Werke, das erkennt meine Seele“. Und man kann Martin Luthers Worten nur zustimmen: „Wenn du ein Kind siehst, hast du Gott auf frischer Tat ertappt.“ Kinder sind etwas Wunderbares, und ein eigenes Kind geschenkt zu bekommen und aufwachsen zu sehen ist etwas ganz besonders Wunderbares.

Ich verstehe daher so gut, wenn Menschen, die auf natürlichem Weg keine Kinder bekommen können, alles nur Mögliche versuchen, um dennoch Eltern zu werden. Und dank der Errungenschaften der Medizin sind die Möglichkeiten heutzutage vielfältig, vielversprechend und oft von Erfolg gekrönt. Also müsste man ja eigentlich uneingeschränkt jeden Weg bejahen, der zur Erfüllung eines bisher erfolglosen Kinderwunsches führt.

Aber wer genau hinsieht, merkt, wie kompliziert es wird, wenn wir gerade in diesem Bereich den Satz des Paulus zur Sprache zu bringen versuchen: „Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient dem Guten.“ Was dient dem Guten, was ist richtig? Ich bin ich sehr dankbar dafür, dass viele Menschen sich in unseren Kirchen und in unserer Gesellschaft ernsthaft und kritisch mit den ethischen Fragestellungen auseinandersetzen, die mit den neuen Reproduktionstechniken verbunden sind.

Unser Auftrag als Christen ist ein klares Ja zum Leben. Und jedes Leben, das nicht zur Welt kommt, ist eine Niederlage. Und dennoch stellt sich immer wieder neu die Frage, was dient dem Guten, was ist für alle Beteiligten gut und richtig?

Je mehr Möglichkeiten wir dank des Fortschritts in Medizin, Biotechnologie und Wissenschaft haben, desto mehr Verantwortung haben wir auch. Mit den modernen medizintechnischen Entwicklungen ist eine tiefe Ambivalenz verbunden. In vielen einzelnen Fällen kann man nur dankbar sein dafür, dass die moderne Medizin heute bei Krankheiten helfen kann und die medizinische Biotechnologie Menschen heute helfen kann, ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass sich unser Umgang mit dem Leben stillschweigend in eine Richtung verändert, die unseren Widerspruch finden muss.

Gott hat den Mensch geschaffen zu seinem Bilde. Welch ungeheure Aussage über die Kostbarkeit und die Würde des Lebens! Und diese Kostbarkeit beruht darauf, dass es eben nicht heißt: Der Mensch hat den Mensch geschaffen zu seinem Bilde. Gerade in seiner Unverfügbarkeit ist das menschliche Leben so kostbar! Möglicherweise stecken die größten Gefahren der Nutzung der neuen Biotechnologien bei der Entstehung menschlichen Lebens nicht in der bewussten Konstruktion von neuen Menschen, die manche als Frankenstein-Horrorvisionen an die Wand malen. Möglicherweise ist das viel Gefährlichere die schleichende Verfügbarmachung des Lebens, die Verbindung von Biotechnologie mit der modernen Konsumkultur.

Wer heute in den Supermarkt geht, um Kaffee zu kaufen, wird sich die Kaffeesorte aus dem Regal nehmen, die ihm am besten schmeckt. Und dagegen ist auch überhaupt nichts einzuwenden. Man darf vielleicht die Hoffnung ausdrücken, dass der Kaffee fair gehandelt ist. Etwas entscheidend Neues aber kommt ins Spiel, wenn sich diese Möglichkeit der Auswahl je nach Präferenz nun erstmals auch auf die Entstehung menschlichen Lebens erstreckt. Genau dieses entscheidend Neue kommt durch die neuen Biotechnologien ins Spiel.

Dass es sich dabei keineswegs nur um eine Sorge im Hinblick auf die Zukunft handelt, sondern um tägliche Realität, kann jeder schnell erkennen, der sich im Internet umsieht. Wer auf die Internetseiten internationaler Fortpflanzungskliniken schaut, stößt auf das Ausmaß dieser schon heute international zu beobachtenden Kommerzialisierung der Entstehung menschlichen Lebens. Mit einem gegen entsprechende Gebühr zu erwerbenden Passwort besteht etwa die Möglichkeit, Eizellen für eine künstliche Befruchtung auszuwählen und zu erwerben. Dazu wird ein genaues Profil der Spenderin gegeben, das Haar- und Augenfarbe ebenso enthält wie Zahnqualität, Bräunungsfähigkeit, Körperfigur, psychische Grundstruktur oder Intelligenzquotienten. Die All-inclusive fee für den Erwerb von Eizellen liegt zwischen $18,500 und $22,000.

Für eine Leihmutterschaft, also das Austragen des eigenen Kindes durch eine andere Frau, entstehen Kosten von 45 000 bis 50 000 Dollar, darin sind neben den medizinischen Kosten die Rechtsanwalts- und Psychotherapiekosten der Leihmutter ebenso eingeschlossen wie ihre Schwangerschaftskleidung.

Man muss sich – ich wiederhole es - angesichts des Unbehagens, das sich aufgrund einer solchen Ökonomisierung von Leben einstellt,  klarmachen, dass die meisten Menschen, die diese Angebote nutzen, eine Leidensgeschichte ersehnter und dann doch versagter Elternschaft hinter sich haben. Aber auch wenn man der Versuchung vorschneller Diskreditierung oder gar Dämonisierung der neuen Möglichkeiten der Fortpflanzungstechnik widersteht, wird man um die Frage nicht umhin kommen, ob ein solcher Umgang mit menschlichem Leben oder seinen Bestandteilen als Ware eigentlich noch einer Sozialkultur entspricht, in deren Zentrum die Würde des Menschen steht. Der Kern des Würdebegriffs liegt ja genau in der Sperre gegenüber Verzweckung, Instrumentalisierung, Ökonomisierung. Es hat seine guten Gründe, dass das deutsche Embryonenschutzgesetz gegenüber der Verzweckung menschlichen Lebens eine klare Sperre einbaut. Ich hoffe, das bleibt so.

Je größer die Möglichkeiten, desto mehr Verantwortung haben wir – gerade auch als Christen in der Gesellschaft. Die Frage stellt sich jedes Mal ganz konkret: was dient dem Guten, was dient dem Nächsten, was dient dem Leben?

Liebe Gemeinde,

„Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist“ Dass Paulus an dieses Wort aus Psalm 24,1, erinnert, tut gerade bei diesem Thema wohl. Wir Menschen mögen mit unseren Technologien alle möglichen Allmachtsfantasien entwickeln. Am Ende ist die Erde des Herrn. Und Gott wird seine Schöpfung nicht loslassen. Gott schenkt uns immer wieder ein neues Herz und einen neuen Geist und damit auch die Sensibilität für die Grenzen, die er uns als seinen guten Geschöpfen gegeben hat. Gott lässt uns mit der anvertrauten Freiheit nicht allein, sondern gibt uns die Kraft, verantwortungsvoll damit umzugehen. Liebe zu üben gegenüber Geborenen und Ungeborenen. Jedes Mal von neuem darum zu ringen, was gut ist, was aufbaut und was dienlich ist.

Das wollen wir in dieser Woche des Lebens überall in Deutschland tun. Gott begleite uns dabei mit seinem Segen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. AMEN

Perikope
23.04.2017
10,23-26

"Halt dich an deiner Liebe fest" - Predigt zu 1.Korinther 13,1-13 von Elke Markmann

"Halt dich an deiner Liebe fest" - Predigt zu 1.Korinther 13,1-13 von Elke Markmann
13,1-13

Liebe Liebende und Geliebte,

diese Anrede ist uns relativ fremd. Und doch benutzt Paulus in seinen Briefen genau diese Anrede. In seinem Brief an die Gemeinde in Rom spricht er die Gemeinde dort an mit: „An alle Geliebten Gottes […] in Rom.“ (Röm 1,7)
Auch andere Briefe sprechen immer wieder von der Liebe. Paulus lobt Gemeinden wegen ihrer großen Liebe. Er empfiehlt ihnen seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter, die oft seine Briefe überbringen. Dabei spricht er immer wieder von der Liebe.
Im Brief an die Gemeinde in Korinth steht das sogenannte „Hohelied der Liebe“, das wir vorhin gemeinsam gesprochen haben.
Hören wir noch einmal auf dieses Loblied der Liebe aus dem Brief an die Gemeinde in Korinth:

Wenn ich wie ein Mensch rede oder wie ein Engel und bin ohne Liebe, bin ich ein schepperndes Blech und eine gellende Zimbel. Und wenn ich die Gabe habe, die Zeichen der Zeit zu deuten, und alles Verborgene weiß und alle Erkenntnis habe und alles Vertrauen, so dass ich Berge versetzen kann, und bin ohne Liebe, dann bin ich nichts. Und wenn ich alles, was ich kann und habe, für andere aufwende und mein Leben aufs Spiel setze selbst unter der Gefahr, auf dem Scheiterhaufen zu enden, und bin ohne Liebe, hat alles keinen Sinn. Die Liebe hat einen langen Atem und sie ist zuverlässig, sie ist nicht eifersüchtig, sie spielt sich nicht auf, um andere zu beherrschen. Sie handelt nicht respektlos anderen gegenüber und sie ist nicht egoistisch, sie wird nicht jähzornig und nachtragend. Wo Unrecht geschieht, freut sie sich nicht, vielmehr freut sie sich mit anderen an der Wahrheit. Sie ist fähig zu schweigen und zu vertrauen, sie hofft mit Ausdauer und Widerstandskraft. Die Liebe gibt niemals auf. Prophetische Gaben werden aufhören, geistgewirktes Reden wird zu Ende gehen, Erkenntnis wird ein Ende finden. Wir erkennen nur Bruchstücke, und unsere Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, ist begrenzt. Wenn aber die Vollkommenheit kommt, dann hört die Zerrissenheit auf. Als ich ein Kind war, redete und dachte ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind. Als ich erwachsen wurde, ließ ich zurück, was kindlich war. Wir sehen vorläufig nur ein rätselhaftes Spiegelbild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Heute erkenne ich bruchstückhaft, dann aber werde ich erkennen, wie ich von Gott erkannt worden bin. Jetzt aber leben wir mit Vertrauen, Hoffnung und Liebe, diesen drei Geschenken. Und die größte Kraft von diesen dreien ist die Liebe. (1.Kor 13,1-13, Bibel in gerechter Sprache)

Ich denke, diese Zeilen sind sehr bekannt. Bei Trauungen werden sie zumindest teilweise gelesen. Mancher Trauspruch ist aus diesem Teil des Briefes zitiert.
Paulus betont, wie wichtig die Liebe in unserem Leben ist.
Er spricht hier nicht – zumindest nicht nur – von der körperlichen und erotischen Liebe zwischen zwei Menschen. Ihm geht es um die Liebe der Menschen zu Gott und untereinander. Die Liebe der Menschen untereinander entspringt der Liebe Gottes zu den Menschen. Ein vielfältiges und vielseitiges Hin und Her der Liebe zwischen Gott und Menschen also.
Für Paulus war die Liebe ganz klar das grundlegende Gefühl, die grundlegende Antriebskraft für das Miteinander in den Gemeinden, für das Miteinander der Menschen. Dass Gott uns Menschen liebt, war selbstverständlich für ihn.

Jetzt aber leben wir mit Vertrauen, Hoffnung und Liebe, diesen drei Geschenken. Und die größte Kraft von diesen dreien ist die Liebe. (1.Kor 13,13)

Nun, spätestens jetzt stellt sich mir die Frage: Ist das denn wirklich immer Liebe? Kann ich wirklich sagen, dass ich die Gemeinde liebe? Dass ich meine Kollegin liebe? Oder die Menschen in den unterschiedlichen Gruppen? Ist das wirklich Liebe? Ist das nicht eher Akzeptanz, Sympathie, Zuneigung, Nähe oder ähnliches?

Paulus spricht und schreibt griechisch. Er spricht von der Liebe mit dem Wort „Agape“. Die griechische Sprache unterscheidet zwei verschiedene Arten der Liebe: „Agape“ und „Eros“. Die deutsche Sprache kennt diese Unterscheidung auch. Wir unterscheiden im Deutschen zwischen der erotischen Liebe und der Zuneigung. Auch wir unterscheiden zwischen Agape und Eros.
„Agape“ hat aber einen ganz anderen Klang als „Liebe“. Agape verstehen wir als eine mildtätige und helfende Zuneigung oder Hinwendung. Allerdings wird Agape in den biblischen Texten immer wieder mit „Liebe“, nicht mit „Zuneigung“ übersetzt. Ich denke, dass „Agape“ auch viel mehr ist als mildtätige und helfende Zuneigung oder Hinwendung. „Agape“ ist ein großes und starkes Gefühl. Es ist ein Gefühl, das größer ist als Vertrauen und Hoffnung. Darum ist das Wort Zuneigung auch viel zu schwach.

Wie können wir diese Liebe dann verstehen? Was unterscheidet sie von der Liebe im Sinne von „Eros“ einerseits und von mildtätiger und helfender Zuneigung oder Hinwendung andererseits? Fangen wir noch einmal anders an.

(Solo oder Einspielung des Liedes „Halt´ dich an deiner Liebe fest“ von der Band „Ton, Steine, Scherben“)

Wenn niemand bei dir ist, du denkst dass keiner dich sucht
Und du hast die Reise ins Jenseits, vielleicht schon gebucht


All die Lügen, geben dir den Rest
Halt dich an deiner Liebe fest
Halt dich an deiner Liebe fest

Wenn der Frühling kommt und deine Seele brennt
Du wachst nachts auf aus deinen Träumen
Aber da ist niemand der bei dir pennt
Wenn der auf den du wartest, dich sitzen lässt
Halt dich an deiner Liebe fest
Halt dich an deiner Liebe fest

Wenn der Novemberwind deine Hoffnung verweht
Und du bist so müde weil du nicht mehr weißt, wie's weiter geht
Wenn dein kaltes Bett, dich nicht schlafen lässt
Halt dich an deiner Liebe fest
Halt dich an deiner Liebe fest

Halt dich fest
Halt dich fest ... (an deiner Liebe...)
Halt dich fest ...

Dieses Lied sang Rio Reiser mit seiner Band Ton, Steine, Scherben zum ersten Mal 1975. Der Text stand im September vorher genau so wörtlich als letzter Eintrag in Rio Reisers Tagebuch.

Halt dich an deiner Liebe fest! – Von welcher Liebe ist hier die Rede?

Rio Reise war ein gläubiger Mensch.
Es geht um das grundlegende und lebenswichtige Gefühl der Liebe. Die Liebe zu Gott, zu den Menschen, die Liebe zu sich selbst.
Selbst, wenn wir uns völlig verlassen und einsam fühlen, sollen wir an der Liebe festhalten, so singt es Rio Reiser. Liebe ist das Gefühl, das überlebenswichtig ist. Liebe ist das höchste Gebot. Wir haben es vorhin in der Lesung gehört.

Du sollst den Lebendigen, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deinem ganzen Leben und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Denken, und deine Nächsten wie dich selbst. (Mt 22,37.39) 

Liebe in diesem Sinne ist nicht so etwas Schwaches wie „Zuneigung“ oder „Hinwendung“ oder „gern haben“. Es geht um viel mehr. Es geht um grundlegendes Akzeptieren. Wenn ich liebe, bin ich offen für den oder die andere. Wie in der Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen, wie bei der erotischen Liebe, geht es darum, einander so anzunehmen, wie man ist. In Trauzeremonien versprechen sich die Partnerinnen und Partner heute nicht mehr: „Ich will dich lieben, bis der Tod uns scheidet.“ Vielmehr wird gesagt – so oder ähnlich: „Ich will Dich aus Gottes Hand annehmen als einen kostbaren und einmaligen Menschen. Ich will dich lieben und achten mit Deinen Eigenheiten. Deine Schwächen möchte ich annehmen und Deine Stärken fördern. Wann immer Du mich brauchst, will ich für dich da sein und Freude und Schmerz mit dir teilen. Ich will mit dir durch gute und schlechte Tage gehen.“
Diese Liebe entspricht der Liebe, von der Paulus spricht. Einander lieben und achten. Die Schwächen annehmen und die Stärken fördern, Freude und Schmerz teilen, einander in guten und schlechten Tagen begleiten.

Viele Schwierigkeiten und Missverständnisse, die es mit der Liebe gibt, entspringen der Tatsache, dass Liebe sich nicht vergleichen lässt. Liebt der eine mehr als die andere? Müssen wir Liebe überhaupt so messen und vergleichen?
Es ist schwer, sie so zu akzeptieren, wie sie uns entgegen gebracht wird. Werde ich geliebt, habe ich das Gefühl, ich müsste diese Liebe auf gleiche Art erwidern – umso schwieriger, wenn ich meine, das nicht zu können. Wie gehen wir mit solchen Unterschieden um? Wer das Mehr an Liebe des anderen Menschen akzeptieren und annehmen kann, kann sich glücklich schätzen.

Wer sich mehr mit dieser Frage auseinander setzen möchte, kann gut einmal den Briefwechsel zwischen Astrid Lindgren und Louise Hartung lesen. 2016 wurde dieses Buch veröffentlicht. Es ist der Briefwechsel zweier Freundinnen, die es geschafft haben, die sehr unterschiedliche Art der Liebe zwischen sich stehen lassen zu können. Sie haben ihre Freundschaft gepflegt und sich vor keiner schwierigen Frage und Unterschiedlichkeit gescheut. Es gab allerdings genau um das Thema „Liebe“ eine Art Meinungsverschiedenheit oder Streit.
Louise Hartung lebte in Berlin, war ursprünglich Sängerin, verlor aber unter den Nazis ihren Beruf. Nach dem Krieg arbeitete sie im Jugendamt in Berlin. Dort entdeckte sie auch „Pippi Langstrumpf“. Sie lud die Verfasserin Astrid Lindgren zu einem Berlinbesuch ein. Aus dieser ersten Begegnung erwuchs eine tiefe Freundschaft.
Louise Hartung beschreibt ihre Gefühle so:
„Als ich Dich sah, Astrid, wusste ich schon […] mit absoluter Gewissheit, dass ich dich nie nie mehr verlieren möchte, dass jede Form der Beziehung zu Dir mir recht wäre, wenn sie nur dahin führt, dass Du aus meinem Leben nicht mehr herausgehst. […] Dass es Dir gelungen ist, ohne dein Wollen mein Gefühlsleben so ausschließlich auszufüllen, kann nur daran liegen, dass bei aller Verschiedenheit eine tiefe Wesensverwandtschaft besteht, wie ich sie so noch nie empfunden habe, und daher auch dieses fast unerklärliche Vertrauen.“
Astrid Lindgren hat zunächst Probleme, mit dieser starken Liebe umzugehen. Sie unterscheidet zwischen Freundschaft und Liebe. Genau das tut Louise Hartung nicht.
Sie finden aber schließlich ein Gleichgewicht in ihrer Freundschaft, schreiben sich intensive und sehr offene Briefe, machen gemeinsam Urlaub und teilen viele Leidenschaften und Gedanken.
Wer gute Lektüre über das Thema „Liebe“ sucht, sollte diese Briefe dringend lesen.

Jetzt aber leben wir mit Vertrauen, Hoffnung und Liebe, diesen drei Geschenken. Und die größte Kraft von diesen dreien ist die Liebe. (1.Kor 13,13)

Einander lieben und achten. Die Schwächen annehmen und die Stärken fördern, Freude und Schmerz teilen, einander in guten und schlechten Tagen begleiten.

Du sollst den Lebendigen, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deinem ganzen Leben und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Denken, und deine Nächsten wie dich selbst. (Mt 22,37.39)

Das ist „Agape“. Das ist die Liebe, die Gemeinden und Gemeinschaften, Freundschaften und Liebespaare zusammen hält.
Und die Liebe Gottes, der uns liebt von Anbeginn der Zeit, bleibe bei uns und stärke uns im Lieben und Leben. Amen.

 

Hinweise zur Liturgie

 

Lieder:
Du bist da (Lebensweise Nr. 53)

Du bist mein Zufluchtsort (Lebensweisen Nr. 56)

Wo Menschen sich vergessen (Lebensweisen Nr 85)

Verleih uns Frieden gnädiglich (Nagel, Lebensweisen Nr. 79)

Nach dem Gottesdienst wird eine Segnung Liebender angeboten. Im Altarraum kommen liebende Einzelne, Paare oder Familien, Freundinnen, etc. und lassen sich von der Pfarrerin Segen zusprechen.

 

Quellen:
Infos von der Homepage http://www.n-tv.de/leute/buecher/Was-Rio-Reiser-kaputt-machte-article18064096.html

Astrid Lindgren. Louise Hartung: Ich habe auch gelebt! – Briefe einer Freundschaft. Berlin 2016.

 

Perikope
14.02.2017
13,1-13

Sehnsucht nach dem Paradies – Predigt zu 1. Korinther 13,8-13 von Anja Lochner

Sehnsucht nach dem Paradies – Predigt zu 1. Korinther 13,8-13 von Anja Lochner
13, 8-13

Liebe Gemeinde,

Es ist überwältigend! schwärmt einer, der hier Urlaub macht. Seit vielen Jahren schon. Und jedes Jahr wieder ist es so: überwältigend. Der erste Blick aufs Meer. Bis zum Horizont direkt in den Himmel hinein. Und dann: die Schuhe ausziehen! Mit nackten Füßen an den Flutsaum laufen, rennen!, an die Grenze zwischen Wasser und Land, zwischen festem Grund unter den Füßen und blauer Unendlichkeit.

Mama guck mal – das Meer! Ferienkinder werfen den allerersten Blick. Eigene Kindheitserinnerung wird wach an sommerlanges Buddeln am Strand. Tunnel, Burgen, Murmelbahnen. Zeit-und selbstvergessen.

Ein Theologe des 19.Jh. – Friedrich Schleiermacher war sein Name – hat den Blick auf Meer für den Grund aller Religion gehalten. Tatsächlich kommt manchem am Meer Gott nahe. Vielleicht weil seit Beginn der Zeiten sein Geist über den Wassern schwebt.

(Schauen Sie mal auf Seite 1 Ihrer Bibel nach.)

Stell dir vor, dir bleibt nur noch wenig Zeit zum Leben, sagt eine, was würdest du unbedingt noch tun. – Dies und das zählt sie auf und: noch einmal das Meer sehen.

Urlaubsträume sind oft Meeresträume. Im Urlaub suchen wir das Weite – und was ist weiter als das Meer? Der Mensch wird still angesichts des Unendlichen. Dort das ewige Kommen und Gehen - und hier das eigene kleine Leben.

Wenn ich sehe das Meer... deiner Finger Werk, Sterne, Sonne, Mond ... was ist schon der Mensch, dass du seiner gedenkst – fragt ein alter Psalm. Und er gibt selbst die Antwort: keine Sorge – Gott gedenkt ja seiner Menschen, Gott weiß, er nimmt sich seiner Menschenkinder an, sie liegen ihm am Herzen.

Das Meer verwandelt. Den härtesten Kerl in einen Romantiker. Sonnenuntergänge sind die größten Attraktionen hier – manchmal gibt es sogar Applaus! Beifall für das großartige Schauspiel am Meer. Und für ihren Regisseur.

Corinna Masekowsky:

Erich Fried hat einmal geschrieben:

Wenn man ans Meer kommt
soll man zu schweigen beginnen
bei den letzten Grashalmen
soll man den Faden verlieren

und den Salzschaum
und das scharfe Zischen des Windes einatmen
und ausatmen
und wieder einatmen

Wenn man den Sand sägen hört
und das Schlurfen der kleinen Steine
in langen Wellen
soll man aufhören zu sollen
und nichts mehr wollen wollen

nur Meer

Nur Meer

(Erich Fried)

 

Pastorin Anja Lochner:

Wenn man ans Meer kommt... soll man zu schweigen beginnen... und aufhören zu sollen und nichts mehr wollen wollen ...nur Meer, schreibt Erich Fried.

– es sind seltene glückliche Momente, in denen das gelingt.

Wenn ich ans Meer komme,

denk ich vielleicht schon wieder: ich hätte doch lieber in den Süden fahren sollen, womöglich regnet‘s morgen, wer weiß.

Denk ich vielleicht schon wieder: was sind zwei Wochen… hier müsste man sich eine Wohnung leisten können, aber wer kann das schon.

Denk ich vielleicht schon wieder: an die Kollegin gestern im Job und merke den Ärger noch immer in mir.

So ist das mit dem Paradies – es gibt so Augenblicke. Glücksmomente und nichts mehr wollen wollen. Doch kaum haben wir einen zu fassen, entwischt er uns schon wieder.

Oder wir machen ihn selbst kaputt.

Wenn die Saison zu Ende ist im Urlaubsparadies, sammeln wir, was so liegen blieb und angeschwemmt wurde - 10 Kubikmeter Plastik allein im Naturschutzgebiet am Sylter Ellenbogen. Kaum haben wir einen Zipfel zu fassen, machen wir ihn selbst kaputt.

Der Apostel Paulus schreibt von Bruchstücken. Die Zipfel, die Glücksmomente, die Lieblingsorte. Lauter Bruchstücke. Teile.

Und stets sind wir auf der Suche - und irgendwie auch süchtig, sehnsüchtig - nach dem Ganzen.

Ähnlich dem kleinen Häwelmann. Kennen Sie ihn? Theodor Storm hat die Geschichte aufgeschrieben. Der kleine Häwelmann will nicht schlafen. Er will in seinem kleinen Rollenbett lieber gefahren werden. Aber es reicht ihm nicht. Er schreit immer nur „mehr!“… „mehr...!“ Hoch hinaus will er in seinem Rollbettchen. Nicht genug kann er bekommen. Fliegt er über die Stadt, will er zum Wald, will er zum Mond und den Sternen … und immer noch: mehr, mehr! Hat er einen Zipfel zu fassen, will er das Ganze. Erlebt er einen wunderbaren Augenblick - statt ihn zu genießen,- verlangt er: verweile doch, du bist so schön. Das Glück soll ewig dauern. Und ist gewiss noch zu steigern.

Die Schmetterlinge im Bauch der Verliebten. Mehr, mehr. Nochmal, nochmal!

Paradiesisch soll das Leben sein. Perfekt. Die perfekte Liebe. Der perfekte Job. Der perfekte Körper. Gesund und schön.

Jenseits von Eden lockt noch immer die Schlange, die einst Adam und Eva im Paradies verführte. Vertraue mir… ich zeige dir, wie du vollkommen wirst. Du musst dich nicht mit Bruchstücken zufrieden geben. Ich zeige dir das Ganze, das vollkommene Glück.

Und so suchen wir unser Heil: im Urlaub auf Sylt. Und wehe es regnet! Wehe, es gibt Streit! Oder der Tisch im Lieblingsrestaurant ist besetzt. Wehe, wir stoßen auf Flüchtlinge hier im Urlaubsparadies.

Wir suchen unser Heil in Heilsversprechen. Du musst deinen BMI erreichen. Deinen ganz persönlichen Body-Mass-Index. Dann wirst du dich wohlfühlen in deinem Körper. Dann wirst du lange glücklich und gesund und begehrt leben.

Oder: lebe vegan. Und du kannst wahlweise dich selbst oder die Welt retten. Tatsächlich versprechen manche vegane Vereinigungen, dass der Körper nicht älter, sondern jünger wird!

Wir jagen dem idealen Körper, der optimalen Partnerschaft, dem vollkommenen Urlaub nach – doch das erstrebte Ziel ist nicht zu erreichen. Denn da geht mit Sicherheit immer noch was. Immer noch besser. Noch mehr. Noch perfekter. Eine gnadenlose Jagd..

Fulbert Steffenski schrieb einmal: Es gibt Leiden, das durch überhöhte Erwartung entsteht, durch die Erwartung, dass die eigene Ehe vollkommen sei; dass der Partner einen vollkommen erfülle; dass der Beruf einen vollkommen ausfülle; dass die Erziehung der Kinder vollkommen gelingt. So ist das Leben nicht. Die meisten Ehen gelingen halb, und das ist viel. Meistens ist man nur ein halber guter Vater, eine halbe gute Lehrerin, ein halber glücklicher Mensch, und das ist viel. Gegen den Totalitätsterror möchte ich die gelungene Halbheit loben, Die Süße und die Schönheit des Leben liegt im begrenzten Glück, im begrenzten Gelingen, in der begrenzten Ausgefülltheit. Hier ist uns nicht versprochen alles zu sein

Wie hat Paulus gesagt?

Jutta Ringele:

als ich ein Kind war,

redete ich wie ein Kind.

Ich urteilte wie ein Kind

und dachte wie ein Kind.

Als erwachsen geworden war,

legte ich alles Kindliche ab.

Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke.

Aber dann werde ich vollständig erkennen,

so wie Gott mich schon jetzt vollständig kennt.

Pastorin Anja Lochner:

Wir haben einen gnädigen Gott! Er hat uns erschaffen wie wir sind: begabt und begrenzt. Und vor allem geliebt! Hör auf zu jagen, sagt er. Hör auf, so gnadenlos zu sein mit dir selbst und der Welt.

Schau, was alles da ist. …. Auch wenn sicher was fehlt, etliches besser sein könnte, Schau auf das, was du bist, was dir anvertraut ist, was du kannst.

Wir können die Welt nicht in ein Paradies (zurück)verwandeln, aber wir können sie lieben und achten und vieles zum Guten wandeln, sie kein Paradies, aber doch eine Heimat sein lassen für viele.

Wir können nicht die vollkommene Liebe leben, werden uns immer wieder auch streiten, verletzen, auf die Nerven gehen. Aber wir können zu lieben versuchen, einer den anderen und auch uns selbst.

Diese Welt ist nicht das Paradies und wir werden es auf Erden auch nicht finden, es sei denn die Not und das Elend der anderen, die mit uns auf dieser selben Erde leben, sind uns gleichgültig.

Aber wir können auf paradiesische Bruchstücke stoßen, und sie sind Teile eines größeren, eines großartigen Ganzen.

Wenn man ans Meer kommt… und wenn der Sonnenuntergang so schön ist. . Wenn wir Liebe erleben. Wenn das Flüchtlingsmädchen in der Schule meiner Tochter wieder lachen gelernt hat. Lauter Bruchstücke, wie die Spiegelstücke in einem Kaleidoskop.

Jutta Ringele:

Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke.

Aber dann werde ich vollständig erkennen,

so wie Gott mich schon jetzt vollständig kennt.

Was bleibt, sind Glaube, Hoffnung, Liebe – diese drei.

Doch am größten von ihnen ist die Liebe.

Pastorin Anja Lochner:

Jetzt nur Bruchstücke, sagt Paulus, aber dann. Dann am Ende die Liebe ganz und gar. Sie ist, was bleibt. Sie ist, worauf alles ankommt.

Jetzt Bruchstücke, Hinweise , Vorgeschmack aufs Kommende. Dann ist Gott alles in allem.

Das Beste liegt vor uns, es kommt zum Schluss. Gott hält es für uns parat. Versprochen.

Amen

Perikope
28.08.2016
13, 8-13

Das mit dem Menschenfischen – Predigt zu 1. Korither 1,18-25 von Kathrin Oxen

Das mit dem Menschenfischen – Predigt zu 1. Korither 1,18-25 von Kathrin Oxen
1,18-25

Ich kenne einen, der es macht. Das mit dem Menschenfischen. Er heißt Klaus Vogel und er ist Kapitän auf großer Fahrt. Er steuerte viele Jahre lang große Containerschiffe über die Weltmeere. Er weiß, dass nach dem internationalen Seerecht alle Schiffe dazu verpflichtet sind, Schiffbrüchige außerhalb der 12-Meilen-Zone zu retten. Er hat erlebt, dass das nicht immer geschieht, wenn ein Schiff auf dem Mittelmeer unterwegs ist. Und wenn die Schiffbrüchigen in einem vollgestopften Schlauchboot sitzen und schwarze Haut haben.
Eines Tages hat er bei seiner Reederei gekündigt und zusammen mit anderen eine Hilfsorganisation gegründet. Sie heißt SOS Méditerranée. Ihr Ziel: mit einem eigenen Schiff im Mittelmeer Flüchtlinge retten. Seit Februar ist die Aquarius vor der libyschen Küste unterwegs. Klaus Vogel sagt, er hätte nicht damit gerechnet, wie schlecht es den Menschen geht, die gerettet werden. Sie waren jahrelang unterwegs. Sie sind misshandelt worden. Fast alle Frauen wurden vergewaltigt. Niemand von ihnen hat auch nur eine Vorstellung davon, was es heißt, auf das Meer hinaus zu fahren. Und man setzt sie in Boote, die höchstens ein bis zwei Tage durchhalten können, bevor sie sinken. Die Aquarius hat bis jetzt fast 2000 Menschen gerettet. An Bord wurde auch schon ein Baby geboren.
Klaus Vogel hat alles zurückgelassen am Ufer seines bisherigen Lebens. Er fischt jetzt Ertrinkende aus dem Mittelmeer. Jesus hat das so wörtlich nicht gemeint, als er vom Menschenfischen gesprochen hat. Aber er muss so etwas gemeint haben, als er sagte: Folge mir nach!

Ich kenne einen, der es macht. Ein Mensch wie Klaus Vogel rettet nicht „nur“ Flüchtlinge vor dem Ertrinken. Er rettet auch meine Hoffnung auf eine andere Welt als die Welt, in der wir gerade leben. Eine Welt, in der am liebsten alle Länder Inseln wären wie Großbritannien und ablegen wollen und sich losmachen von einer gemeinsamen Verantwortung und von gemeinsamen Werten. Eine Welt, in der aus einem Land ganz ohne Küste, aus Österreich, allen Ernstes Vorschläge kommen, dass die Flüchtlinge doch auf irgendeine Insel gebracht werden sollen. Was dann weiter mit ihnen passieren soll, hat leider niemand gesagt. Denn:

Nicht umsonst heißt es in der Schrift:
»Die Klugen werde ich an ihrer Klugheit scheitern lassen;
die Weisheit derer, die als weise gelten, werde ich zunichte machen.«
Wie steht es denn mit ihnen, den Klugen, den Gebildeten, den Vordenkern unserer Welt?

Ich habe genug von der Klugheit dieser Welt. Mir geht es so, wie es der Schriftsteller Navid Kermani sagt. Er hat bei der Trauerfeier für Rupert Neudeck gesprochen, für den anderen großen Menschenfischer, den Gründer von Cap Anamur.
Ich will „nicht die Mitleidlosigkeit aushalten, denn sie entspricht mir überhaupt nicht, weder den Anlagen, die Gott mir mitgegeben hat, noch der Fürsorge, die ich durch meine Eltern erfahren habe und schon gar nicht der Zivilisation, in der ich aufgewachsen bin. Das Mitgefühl ist der natürliche, der menschliche Impuls, nicht die Gnadenlosigkeit.“ (Navid Kermani im SPIEGEL 25/2016)

Ich habe genug von der Klugheit dieser Welt und von den Bildern im Fernsehen, die mir die Tränen in die Augen treiben. Ich weine aus Mitleid. Und aus Ohnmacht über die Gnadenlosigkeit in der europäischen Politik. Aus Wut über die Herzlosigkeit und Dummheit all der Menschen, die Leuten nachlaufen und Leute wählen, die sagen, dass es am besten ist, wenn man sich das Mitleid abgewöhnt und gnadenlos wird.

Ich war gestern im Freibad mit meinen Kindern und da waren eine ganze Menge junge Männer aus Syrien, die hatten genauso viel Spaß auf der Wasserrutsche wie mein Sohn. Und ich habe gedacht: Es ist vielleicht das erste Mal für sie, dass sie so etwas erleben: Wasser und Sonne - und keine Angst mehr haben. Und in unserer Stadt sehe ich Kinder, die ganz bestimmt nicht in Sachsen-Anhalt geboren sind und die fahren so ein bisschen mit ihrem Fahrrad herum an einem Sommerabend, wie Kinder es gerne machen, meine Kinder auch. Und die Häuser um sie herum sind heil und es fallen keine Bomben. Und sie sind hier und in Sicherheit. Ich weiß nicht, warum ich ihnen nicht gönnen sollte, was ich mir selbst doch auch wünsche, für mich und für meine Kinder. Ich habe wirklich genug von der Klugheit der Welt.
Hat Gott die Klugheit dieser Welt nicht als Torheit entlarvt?
Denn obwohl sich Gottes Weisheit in der ganzen Schöpfung zeigt,
hat ihn die Welt mit ihrer Weisheit nicht erkannt.
Deshalb hat er beschlossen, eine scheinbar unsinnige Botschaft verkünden zu lassen, um die zu retten, die daran glauben.
Die Juden wollen Wunder sehen, die Griechen fordern kluge Argumente.
Wir jedoch verkünden Christus, den gekreuzigten Messias.
Für die Juden ist diese Botschaft eine Gotteslästerung
und für die anderen Völker völliger Unsinn.
Für die hingegen, die Gott berufen hat, Juden wie Nichtjuden,
erweist sich Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit.

Ich habe genug von der Klugheit der Welt und vor allem von den Menschen, die angeblich auch noch das christliche Abendland verteidigen wollen. „Das Christentum, auf das sie sich manchmal berufen, hat sie die Gnadenlosigkeit nicht gelehrt. Wenn die deutsche oder die abendländische oder überhaupt irgendeine Kultur etwas lehrt, dann ist er der Großmut und die Gastfreundschaft.“ (Navid Kermani)
Ja, es könnte sein, dass der Großmut und die Gastfreundschaft irgendwann einmal jeden von uns etwas kostet. Ich habe bis jetzt aber noch keinen einzigen Cent unfreiwillig für all die Flüchtlinge bezahlen müssen, die jetzt bei uns sind. Was Deutschland im vergangenen Jahr getan hat, als die Grenzen offen waren, das war für die anderen Völker Europas offenbar völliger Unsinn. Für mich war es das Zeichen einer Kraft und einer Weisheit, die zu Gott gehören.

Mit der Botschaft vom Kreuz ist es nämlich so:
In den Augen derer, die verloren gehen, ist sie etwas völlig Unsinniges;
für uns aber, die wir gerettet werden, ist sie der Inbegriff von Gottes Kraft.

Ich kenne noch einen, der es gemacht hat. Gott ist nichts Besseres eingefallen, als sich an ein Kreuz nageln zu lassen, damit die Welt auf ihn aufmerksam wird. Und die Botschaft vom Kreuz steht jetzt in der Welt. Gott selbst hängt da, am Rande der Stadt, gefoltert, nackt und verrenkt, erstickt und verdurstet. Und alle schauen dabei zu. Oder schauen lieber weg, was man ja auch wirklich verstehen kann. Nein, haben sie schon zu Paulus in Korinth gesagt, so haben wir uns das mit Gott nicht vorgestellt. Das ist doch kein Gott, da am Kreuz. Das ist nur schrecklich und abstoßend.

Ich kenne einen, der es trotzdem so gemacht hat. Ich glaube: Was wir da am Kreuz sehen, das ist Liebe, in ihrer äußersten Form. Wir denken Liebe zuerst oft als das, was sich zwischen zwei Menschen abspielt. Und auch dabei geht es um Hingabe. Wer weiß das nicht? Liebe ist so, sie riskiert doch immer, dass sie nicht verstanden und nicht angenommen wird.
Und zu jeder großen Liebe gehört eine Hingabe, die mehr tut als das, was noch vernünftig oder überhaupt vernünftig wäre. Dass man sterben könnte für den anderen, das wird meistens im Überschwang der Gefühle gesagt. Aber das das tatsächlich mehr ist als nur romantische Worte, dass das wirklich passieren kann, weiß jeder, der schon einmal in die Tiefen der Liebe geraten ist:
In einer sehr großen Liebe zwischen zwei Menschen kann das so sein. Es ist in der Liebe zu dem eigenen Kind. Auch on der Hilflosigkeit an einem Krankenbett und am Sarg eines geliebten Menschen. Da gibt man etwas von seinem eigenen Leben her um der Liebe willen. Da würde man etwas von seinem eigenen Leben geben für den anderen.

Gott ist nichts anderes eingefallen, damit wir auf ihn aufmerksam werden, als uns diese Liebe und Hingabe zu zeigen. In Jesus ist sie lebendig geworden. Ein Mensch, der nicht für sich, sondern nur für andere gelebt hat. Familie und Besitz waren ihm völlig egal. So konsequent war er in seiner Liebe, dass er denen, die ihn geschlagen haben, noch die andere Wange hingehalten hat.
Sein Weg endete am Rand der Stadt, geschlagen und gekreuzigt, nackt, erstickt, verdurstet. Und Gott war in diesem Menschen. Ach, schon damals in Korinth wollten sie Gott nicht in einem solchen Menschen erkennen. Und heute auch nicht. Denn die Botschaft vom Kreuz ist Hingabe und ein Leben, das man für andere lebt.
Ich habe genug von der Klugheit der Welt. Ich will mir mein Mitleid nicht abgewöhnen müssen und meine Tränen verstecken. Und ich glaube: Gott ist in all den Menschen, die zu uns kommen als Fremde, an den Rand unserer Städte, hungrig und durstig, nackt und krank, gefoltert und gefangen. Und deswegen brauche ich Menschen wie Klaus Vogel und Rupert Neudeck. In ihnen erkenne ich die radikale Liebe und Hingabe Jesu wieder. Navid Kermani sagt über sie: „Es brauchte zu allen Zeiten einzelne Menschen, die alles geben, die so vielen Menschen helfen wie es eben nur geht, ohne zu fragen, was für sie selbst übrig bleibt.

Ich weiß nicht genau, wie Klaus Vogel es im Moment mit seinem Lebensunterhalt macht. Er geht einen Weg, den ich nicht gehen kann, weil ich so gebunden bin durch meine Familie und durch Besitz. Aber er tut, was ich am liebsten auch tun würde.
Es ist wichtig für mich, dass ich wenigstens einen kenne, der es macht.
Damit ich nicht verrückt werde an dieser Welt.
Damit ich mit gerettet werde.

Mit der Botschaft vom Kreuz ist es nämlich so:
In den Augen derer, die verloren gehen, ist sie etwas völlig Unsinniges;
für uns aber, die wir gerettet werden, ist sie der Inbegriff von Gottes Kraft.

Amen.

Perikope
26.06.2016
1,18-25