Danken und Denken - Predigtmeditation zum 2.Korintherbrief 9,6-15 von Thomas Bautz

Danken und Denken - Predigtmeditation zum 2.Korintherbrief 9,6-15 von Thomas Bautz
9,6-15

Das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm weist noch auf die gemeinsame Herkunft von Danken und Denken hin. Doch existiert der Zusammenhang nicht nur in der Etymologie der beiden Wörter. Es gibt ihn ebenso im Leben des Einzelnen wie im Leben der Gemeinschaft. Vermutlich haben Sie auch schon erlebt, wie sie mit der Zeit oder gar plötzlich mit Problemen konfrontiert wurden, die ihnen über den Kopf zu wachsen drohten. Das jeweils Belastende ist mannigfaltig: Erziehungsprobleme, Ärger innerhalb der Großfamilie, finanzielle Einbußen, plötzliche Erkrankung, Schwierigkeiten im Berufsleben und vieles mehr.

Manchmal kann es enorm helfen, wenn wir unsere Situation akzeptieren, so schwer es uns im Einzelfall auch fallen mag. Dann sollten wir uns Zeit und Muße gönnen, einmal nachzudenken, wofür in unserem Leben wir dankbar sein können.
Einer mag lange nachdenken, ein anderer kommt erstaunlich rasch zu Ergebnissen.
Den Zusammenhang von Denken und Danken erkennen wir meistens nur, wenn uns nicht bereits Probleme und Leid dermaßen überwältigt haben, dass wir ohne Hilfe nicht mehr auf die Beine kommen. Wenn ein Mensch eine tiefe Depression durchleidet, wenn jemand von einer unheilbaren Krankheit eingeholt wird oder wenn ein geliebter Mensch aus dem Leben gerissen wird, dann wäre es sinnlos und unbarmherzig zu erwarten, er oder sie solle einfach darüber nachdenken, wofür sie dankbar sein können.

Der gesunde, denkende, geistig wache Mensch findet normalerweise genügend Gründe und Tatsachen, um dankbar durchs Leben zu gehen. Natürlich ist eine solche Geisteshaltung und moralische Einstellung zum Leben nicht permanent möglich. Wir sind meist eingebunden in soziale Zusammenhänge, berufliche und familiäre Verpflichtungen, die oftmals derart viel und völlig Unterschiedliches auf uns einströmen lassen, dass wir Dankbarkeit und Moral mitunter hinten an stehen lassen oder sie nicht mehr aufrecht erhalten können.

In manchen Bereichen unseres Lebens haben wir uns an Vieles gewöhnt und nehmen es als selbstverständlich: Annehmlichkeiten, Wohlstand und die damit verbundene Bequemlichkeit im Alltag. Gesundheit, Kinder, ein relativ ausgeglichenes Klima in Deutschland. Anbau von Getreide, Obst und Gemüse, wobei wir inzwischen freilich vieles importieren: Lebensmittel im Überfluss. Man feiert seit der Reformationszeit Erntedank: Wir sind dankbar für all das.

Viele unter uns denken aber daran, wie rasch wir unseren Wohlstand für selbstverständlich erachten. Und verdrängen, dass alle Güter im Überfluss produziert und nach der Ernte einseitig verteilt werden. Unser Land gilt zu Recht als eine Überfluss- und Wegwerfgesellschaft gilt, während in vielen Ländern der Welt Armut, Mangel und Hunger vorherrschen. Es ist ein heikles Thema, das mitunter Ärger und Wut auslöst, aber auch Ohnmachtsgefühle und ein schlechtes Gewissen. Jedenfalls kann unsere Haltung gegenüber dem Ungleichgewicht, der zum Himmel schreienden Ungerechtigkeit, der groben Fahrlässigkeit im Weltwirtschaftssystem und dem daraus resultierenden, im Grunde vermeidbaren Elend nur ambivalent sein.

Der deutsche Dokumentarfilm Taste the Waste (2011) von Valentin Thurn zeigt den Umgang der Industrienationen mit Nahrungsmitteln und die globalen Ausmaße von Lebensmittelabfall. Er veranschaulicht das Ausmaß und die Etablierung von Lebensmittelverschwendung als Praxis mit globalen Konsequenzen. Und entfaltet sein Potenzial im Aufzeigen von subversiven Alternativen, die Mut auf Veränderung und Eigeninitiative machen. Der Titel spielt mit der Doppeldeutigkeit von „waste“ im Englischen: „Abfall“ und „Verschwendung“.

Wir leben in einer Welt der Extreme mit Überfluss und Hunger, Verschwendung und Mangel. Was Lebensmittel mit dem Klimawandel, dem Kampf um Land und Getreidepreise zu tun haben, beschreibt der Film facettenreich. Er zeigt Zusammenhänge auf und unternimmt eine Reise, die viele Fakten vermittelt und den Zuschauer mitunter staunend zurücklässt. Der Film erschien 2012 als Buch: Die Essensvernichter. Warum die Hälfte aller Lebensmittel im Müll landet und wer dafür verantwortlich ist von Stefan Kreutzberger/ Valentin Thurn (aktual. u. erw., 2015).

Bei Menschen mit Herz und Verstand entsteht Zorn, aber eben auch Ohnmacht gegenüber dieser „kannibalischen Weltordnung“. 2015 stirbt alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren an Hunger. 2014 starben mehr Menschen durch Hunger als in sämtlichen Kriegen, die in diesem Jahr geführt wurden.

Wie gehen wir mit diesen Fakten um? Wie schützen wir uns? Jean Ziegler, ehemaliger Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung (2000 bis 2008), inzwischen Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrats, belegt, dass dies bedrängende Thema schon seit Jahrzehnten verdrängt und tabuisiert wird. Er erinnert an den brasilianischen Arzt, Ernährungswissenschaftler, Schriftsteller, Geographen, Politik- und Sozialwissenschaftler, Diplomaten und Kämpfer gegen den Welthunger, Josué de Castro (1908–1973), der 1952 in dem berühmten Buch Géopolitique de la faim ein ganzes Kapitel dem Tabu des Hungers widmet. Er meint, die Menschen schämen sich so sehr ihres Wissens über den Skandal des Hungers in der Welt, dass sie einen Mantel des Schweigens darüber breiten. Und Jean Ziegler schreibt, diese Scham beherrsche heute noch die Bildungsstätten, die Regierungen und die Mehrheit unserer Mitmenschen.

Weil Danken und Denken zusammenhängen, vermag ich nicht mehr vorbehaltlos zu danken. Ich denke auch an die weltweite Not, die ich nur unzureichend angesprochen habe. Ein Tischgebet würde bei mir, im übertragenen Sinn, eine Magenverstimmung erzeugen. Es käme mir vor wie Heuchelei. Oder bin ich etwa undankbar? Ich glaube nicht. Ich sehe nur – wie viele Menschen heute auch in den reichen Ländern – die Gaben und Güter, von denen wir so überreichlich und selbstverständlich profitieren, im größeren Zusammenhang. Daher kann ich ein Erntedankfest bei uns nur mit gemischten Gefühlen begehen.

Es gibt noch einen anderen Grund, Erntedank mit zwiespältigen Gedanken zu betrachten: Wir haben es immer weniger mit natürlichen Gütern oder Früchten der Erde zu tun. Wir ernten in größerem Ausmaß genmanipulierte Produkte aus stark belasteten Böden. Obst und Gemüse stammen obendrein von Pflanzen, die mit Herbiziden und Insektiziden behandelt worden sind. Die Folgen all dieser Eingriffe in das natürliche Wachstum sind noch nicht völlig kalkulierbar. Dazu kommen noch die verheerenden Zustände in der Tierhaltung und Fleischindustrie. Die Tiere werden längst nur noch als Ware, als Verkaufsobjekte zur Sättigung des Marktes bzw. zur Übersättigung der Verbraucher verwertet und dazu derart mit Antibiotika vollgepumpt, dass es sich auch auf den Konsumenten auswirkt.

Mir fällt wieder einmal die verblüffend einfache Wahrheit und Weisheit eines Graffiti-Spruches ein: „Consumo, ergo sum“ (René Discount). Ich bin Konsument, also existiere ich! Kritiker unseres turbokapitalistischen Systems bezeichnen unsere Gesellschaft auch als Konsumgesellschaft. Das private und öffentliche Leben ist sehr stark auf schnellen Verbrauch der verschiedensten Güter ausgerichtet. Daran ändert auch das Gerede von der „Nachhaltigkeit“ nichts Grundlegendes. Der Begriff ist längst zum Modewort verkommen.

Nun geht es uns beim Erntedank natürlich vorwiegend um Lebens- und Nahrungsmittel. Es ist gut und wichtig, dass in den Gemeinden Obst, Gemüse, Getreidearten und verarbeitete Güter gesammelt und im Gottesdienst präsentiert werden. Die Kriegs- und Nachkriegsgeneration hat noch extremen Mangel gekannt, hat noch gewusst, was Hunger am eigenen Leib bedeutet.
Die Generation des Wirtschaftswunderlandes Bundesrepublik Deutschland und nachfolgende Generationen haben keinerlei Vorstellungen mehr von Hunger und Entbehrung. Deshalb ist es absolut notwendig, in ihnen ein Bewusstsein dafür zu wecken, welch ein enormer Reichtum an Lebens- und Nahrungsmitteln uns quasi geschenkt ist. Viele Kinder, Jugendliche und junge Leute, die ausschließlich in Großstädten leben, haben noch nie eine Ernte erlebt und werden oft kaum noch mit Erlebnissen in der freien Natur konfrontiert. Weitaus größer ist der Einfluss der digitalen, virtuellen Welt.

„An APPLE a day keeps the doctor away“, diese englische Weisheit ist heute zweideutig, und ihr Sinn hat sich verkehrt: Wer sich zu lange einem APPLE (oder Microsoftprodukt) aussetzt und unausweichlich dessen Strahlung, muss – wie in den USA längst der Fall – irgendwann doch zum Doktor. Da beiße ich doch lieber in einen echten Apfel, auch wenn dieser chemisch behandelt wurde. Immerhin suggeriert mir das Abspülen des Obstes eine gewisse Reinheit.

Bitte nicht falsch verstehen: Auch ich arbeite beruflich und privat oft lange am PC – täglich. Aber ich bin froh, wenn ich mich draußen – am liebsten im Park – wieder bewegen kann. Sehnsüchtig und dankbar denke ich an Dienstwohnungen zurück, deren günstige Lage es mir gestattete, in großzügig angelegten Parks oder sogar im Wald zu laufen.

Wenn im Frühling das Grün sprießt und die Knospen sich öffnen, wenn sich die Farbenpracht der Blüten zeigt, genieße ich den Fliederduft und lade meinen Sohn ein, es mir gleichzutun, indem wir beide daran schnuppern. Einmal zeigte eine ältere Passantin Verständnis dafür, was mir das Bewusstsein gab, dass ich nicht völlig verrückt bin. Wenn sich im Sommer Blumen stolz in ihrer Pracht in den Vorgärten präsentieren, lasse ich wiederum auch meinen Sohn diese Schönheit wahrnehmen. Begegne ich der fleißigen älteren Besitzerin des Vorgartens, der auf unserem Weg zur Straßenbahn liegt, erhält sie von mir ein großes Lob für die Pflege ihres Gartens. Neulich klagte sie mir allerdings ihr Leid, dass viele Passanten dies gar nicht zu schätzen wüssten und am Rande des Gartens ihre Hunde ihren Kot entsorgen ließen.

Im Herbst bewundern wir die farbige Vielfalt der bunten Blätter. Ich erzählte meinem Sohn, dass wir früher für die Schule und für daheim die schönsten Blätter sammelten, trockneten und in entsprechende Hefte oder Bücher mit leeren Seiten einlegten, damit sie gepresst wurden und erhalten blieben. Kastanien und Eicheln haben wir gesammelt und mit Hilfe von Streichhölzern Figuren gebastelt. Diese Tätigkeiten nehmen offenbar mehr und mehr ab.

Zum Glück gibt es immer noch viele Güter, die Leib und Seele, Herz und Verstand erfreuen. Nach meinem Empfinden wird die Freude noch größer, wenn wir einige Dinge mit anderen teilen. Das kann Materielles und Geistiges sein. Viele Menschen in unserer wirtschaftlich reichen Gesellschaft geben regelmäßig Spenden an Organisationen, die versuchen, Hunger und Armut in der Welt zu bekämpfen. Diese finanzielle Unterstützung geschieht freiwillig, und ich möchte denen, die auf diese Weise Hilfe leisten, die besten Motive unterstellen.

Die Motivation zum Geben oder Spenden wird auch im Zweiten Brief des Paulus an die Korinther angesprochen: Jeder solle von Herzen geben. Der Betrag oder die Menge ist dann nicht ausschlaggebend. Keinesfalls solle man missmutig oder unwillig spenden, auch nicht aus Zwang etwas geben. Paulus meint sogar: „Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb“ (2.Kor 9,10). Das kann ich nicht beurteilen. Aber sicher fördert Freigiebigkeit Frohsinn. Ein von Herzen freiwilliger Geber oder Spender wird fröhlicher sein Dasein bewältigen als jemand, der krampfhaft und verbissen auf Vermehrung seiner Güter und seines Geldes aus ist.

Der Beginn des Briefabschnittes bei Paulus: „Wer kärglich sät, wird auch kärglich ernten“, muss unbedingt im Kontext gelesen und verstanden werden, sonst könnte man es im Sinne des Turbokapitalismus interpretieren: „Wer zu wenig investiert, wird sein Kapital auch nicht mehren.“ Zwar habe ich das Missverständnis hier konstruiert, aber es ist nicht ganz von der Hand zu weisen, wie der Soziologe und Nationalökonom Max Weber (1864-1920) in seinem berühmten Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1920) darlegt.

Paulus aber fährt fort: „Und wer aus Segensfülle sät, wird auch in Segensfülle ernten.“ Oder: „Wer reichlich sät, der wird auch reichlich ernten.“ Oder: „Aber wer mit vollen Händen sät, auf den wartet eine reiche Ernte.“ Der Kontext im Brief des Paulus zeigt eindeutig, was gemeint ist: das Schöpfen aus einer Fülle, die dem Menschen bereits geschenkt ist. Es geht hier gerade nicht um „big business“ oder „big money“, weder um Gewinnmaximierung durch Investitionen noch um Vermehrung des Kapitals durch Börsenspekulationen. Andernorts wird Paulus diesbezüglich sehr deutlich: „Wir gehören nicht zu denen, die aus dem Glauben ein Geschäft machen.“ Saat und Ernte versteht der Apostel zu allererst als Segen, der Menschen einfach unverdient zuteilwird. Das ist aus meiner Sicht auch der erste Grund zur Dankbarkeit.

Wir Menschen leben von Anbeginn aus dem Geschenkten. Nur leider wissen es viele nicht zu schätzen. Und es ist keineswegs nur ein Vorgarten, an dem man achtlos vorübergeht oder an dessen Rand man ungefragt ein Hundeklo einrichtet. Inzwischen haben Geldliebende große Teile der Meere und Ozeane in Kloaken verwandelt, haben weite Küstengebiete mit Öl verseucht. Geldgierige verwüsten riesige Flächen des Regenwaldes und lassen lebenswichtige Gebiete durch Anbau von Monokulturen wie Palmöl veröden. Der Umweltverschmutzung wird wider besseres Wissen international noch nicht genügend Bedeutung beigemessen.

Der Turbokapitalismus – der Begriff stammt vom amerikanischen Politikwissenschaftler, Historiker, Militärstrategen und Regierungsberater Edward Luttwak (geboren 1942) aus seinem gleichnamigen Buch (2000) – weiß sich mitunter zu tarnen und schreitet als „Religion des Geldes“ einher. Pyramide, Strahlenkranz, „Gottesauge“ und der Spruch In God We Trust kennzeichnen jede Eindollarnote. Hier zeigt sich der „Monotheismus“ in seiner reinsten, perfiden, kompromisslosen Form: Das Geld duldet keine anderen Götter neben sich. Und gäbe es welche, würden diese ebenfalls ins Monetäre transformiert, geschwächt und sinnentleert. „Fortschritt“ um jeden Preis, schier grenzenloses wirtschaftliches Wachstum ohne eklatante Folgen, ist nicht nur pure Illusion, sondern wird die Schere zwischen Arm und Reich weiter extrem vergrößern.

Was uns in den reichen Ländern weiterbrächte, wäre eine neuartige Wahrnehmung des Faktums, dass wir von der scheinbar selbstverständlichen Voraussetzung einer geschenkten Ernte bereits leben dürfen. Einer Ernte, die uns als Lebensbedingung uneinholbar vorgegeben ist. Einer Ernte, der nicht nur Dank gebührt, sondern auch Verantwortung für alles und jedes, was damit zusammenhängt: Verantwortung für diesen einzigartigen blauen Planeten und für seine Bewohner – für jedes Lebewesen der Tier- und Pflanzenwelt und für uns selbst.

Manchmal höre ich das bekannte Lied, das 1968 offenbar von Louis Armstrong (1901–1971) erstmals auf einer Single veröffentlicht wurde: What a Wonderful World. Es erzählt von der Schönheit der Welt und von den Glücksmomenten im alltäglichen Leben. Die erste Strophe lautet: „I see trees of green, red roses too. I see them bloom for me and you, and I think to myself: What a wonderful world.”

Es gibt noch einen wichtigen Aspekt bei dem Thema Ernte: wer das ernten wird, was wir an Gaben und Früchten im Leben erbracht haben. Es ist nicht jedem vergönnt, die eigenen Früchte ernten zu dürfen. Dazu gehören Persönlichkeiten wie Vincent van Gogh. Er schreibt im Februar 1883 aus Den Haag an seinen Bruder Theo diese Zeilen:
„Daß ich aus den Umständen, in denen ich lebe, das Bestmögliche heraushole; daß ich alle meine Kräfte anspanne, um weiterzukommen, das ist das Wichtigste, und dafür bin ich verantwortlich […]. Aber man erwartet nicht das vom Leben, was es nicht geben kann, wie man bereits erfahren hat. Vielmehr lernt man immer deutlicher erkennen: das Leben ist nur eine Art Düngezeit, und die Ernte findet nicht hier statt. […].“

Van Gogh hat in seinen Briefen vierunddreißigmal das Thema „Ernte“, auch metaphorisch, angesprochen und als Maler (vorwiegend in Arles, im Juni 1988) umgesetzt: Weizenfeld mit Blick auf Arles (Öl auf Leinwand), Ernte in der Provence (Aquarell und Feder), Ernte in der Provence (Öl auf Leinwand), Schnitter (Die Ernte, Saint-Rémy, Juni 1989).

Vincent malte in jenem Sommer Ernte und Weizenfelder in den leuchtenden Farben oder „im Lichtrausch des Südens“. Wer so lichtvoll malt, ist sicher sehr dankbar für die Früchte des Feldes. Ich bin heute noch mit großer Dankbarkeit erfüllt, wenn ich an den riesigen Schrebergarten meines Großvaters denke: Obst- und Gemüsearten in Mengen und wunderschöne Blumen konnte man bei ihm anschauen und ernten.

Nachdenklich stimmen michWorte von Angelus Silesius (Johannes Scheffler, 1624–1677), Lyriker, Theologe und Arzt – im Epigramm Das irdische Gut ist ein Mist (Cherubinischer Wandersmann):

Das irdsche Gut ist Mist, die Armen sind der Acker,
wer´s ausführt und zerstreut, genießts zur Ernte wacker.


Literatur:
Walter Klaiber: Der zweite Korintherbrief (2012). Jean Ziegler: Wie kommt der Hunger in die Welt? Ein Gespräch mit meinem Sohn (4. Aufl. 2009). J. Ziegler: Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen (4. Aufl. 2015). Erich Ruprecht: Vincent van Gogh. Maler des Lichtes (1987). Ingo F. Walther/ Rainer Metzger: Vincent van Gogh. Sämtliche Gemälde. Bd. II. Arles, Februar 1888 – Auvers-sur-Oise, Juli 1890 (1993).

Perikope
02.10.2016
9,6-15

Dünn ist das Gewand unserer Kultur - Predigt zum 2.Korintherbrief 9,6-15 von Dörte Gebhard

Dünn ist das Gewand unserer Kultur - Predigt zum 2.Korintherbrief 9,6-15 von Dörte Gebhard
9,6-15

Liebe Gemeinde,
dünn ist das Gewand unserer Kultur. [Ablegen des Talars]
Schnell entgleitet es uns.

Darunter, dahinter, im Hirn und bei den Instinkten, ist alles bestmöglich angepasst – an die Steinzeit. So sagen die Anthropologen.
[Darunter: Fellkleid und Trinkhorn]

Denn diese Urzeit ist – nach weltgeschichtlichen Maßstäben – erst einen kleinen Augenblick lang her. Noch viel zu wenig Zeit ist für Menschen vergangen, sich auf neue Herausforderungen einzustellen.
Ötzi, der wohl berühmteste Mumienmensch der Welt, den Wanderer vor 25 Jahren in den Ötztaler Alpen fand, ist auch erst 5000 Jahre alt. Er lebte am Ende der sogenannten Steinzeit.
Aber das Forschen und Suchen geht weiter und reicht weiter zurück, bis zu zur entscheidenden Frage aus Psalm 8:
Was ist der Mensch?

Was genau macht den Menschen zum Menschen?[1]
Es ist immer noch strittig unter denen, die nach Knochen graben, die zu rekonstruieren versuchen, was war: Was unterscheidet Mensch und Tier?
Ist es das Wetter, das Frieren – spätestens im Herbst – , das dazu führt, dass sich schon lange vor Ötzi die Bewohner dieser Weltgegenden aus Fellen warme Kleider nähen mussten? Und dafür feine Werkzeuge brauchten.

Ist es die Tatsache, dass Menschen Vorräte anlegen können? Ötzi hatte getrockneten Schwarzdorn im Rucksack, so etwas wie hochdosierte Vitamintabletten. Ist es menschlich, dass man nicht von der Hand in den Mund leben muss wie die Tiere von der Pfote ins Maul?

Findige Forscher kamen auch darauf, dass es der bewegliche und deshalb geschickte Daumen sei und der aufrechte Gang, der für Weitblick sorgt.
Aber die Pinguine stehen fast aufrechter und mahnender in ihrer Antarktis und hoffen, dass die Menschen endlich Vernunft annehmen – und dafür sorgen, dass es kalt genug bleibt.

Ist es menschlich, Feuer zu machen? Ötzi hatte in einem geteerten Topf aus Birkenrinde mit Glut dabei, um bei Bedarf jederzeit ein Feuer anzuzünden. Viel weiter sind wir mit unseren Hightech-Outdoor-Ausrüstungen auch noch nicht.

Was macht den Menschen zum Menschen?
Die Entwicklungsgeschichte der Menschheit verlief nicht einlinig, so viel wissen wir inzwischen. Sie verästelte sich in zahlreiche Seitenlinien. So wie es heute Löwe und Kätzchen, Puma und Tiger gleichzeitig gibt, bevölkerten über Jahrmillionen ganz verschiedene Menschenarten die Erde. Aber warum haben genau unsere Vorfahren überlebt? Da kommt Erstaunliches ans Licht, neuerdings besonders in Kenia, am Turkana-See.
Dort, in Afrika, fand man heraus:
Es kommt nicht auf den beweglichen Daumen an, der für Computerspiele später wichtig wurde.
Es kommt nicht auf extreme Geschicklichkeit an, sondern auf viel Phantasie, räumliches Vorstellungsvermögen und gute Lehrer und Schüler. Allein findet kein Wesen den richtigen Weg. Die vorzeitlichen Werkzeugmacher müssen fähig gewesen sein, zu kommunizieren und voneinander zu lernen.

Die ersten Sprachen sind nicht erhalten geblieben.
Spuren an den afrikanischen Fundstücken aus Stein verraten jedoch, dass es keine Waffen waren. Die Steinklingen dienten dazu, Nüsse zu knacken und Pflanzenknollen zu zerteilen, um Insekten in Baumstämmen freizulegen.
Unsere Vorfahren lange vor Ötzi halfen sich mit Werkzeugen und Intelligenz, während der sogenannte Nussknackermensch sich auf seine besseren Zähne verlassen musste und auf seine Bärenkräfte.

So gab es während Millionen von Jahren in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit wahrscheinlich zwei unterschiedliche Lösungen für dieselben Probleme: Kraft oder Verstand.
Auf lange Sicht waren Geschöpfe im Vorteil, die auf Geist setzen statt auf Gewalt. Denn Körperkraft stößt an Grenzen. Beine müssen immer etwas schneller sein, so dass ein Menschenwesen seinen Feinden entkommt.
Verstand hingegen schafft ungeahnte Möglichkeiten, die noch mehr Verstand erstrebenswert machen. Um zu lernen und andere zu lehren, braucht es Kommunikation und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Beides verlangt ein ziemlich ausgereiftes Gehirn.
Je mehr Nahrung die intelligenter werdenden Wesen aber zur Verfügung hatten, umso leistungsfähiger konnten die Gehirne werden.

Fazit dieser langen Vorrede über unsere noch längere Vorgeschichte:
Geist ist viel besser als Gewalt!
Das gehört zum A und O der Bibel, am Anfang und am Ende und unzählige Male dazwischen wiederholt sie dieses Motto:
Geist statt Gewalt!
Die Schöpfungsgeschichten fangen mit dem Geist an und verurteilen sogleich die erste Gewalt.
Die Offenbarung des Johannes endet mit einer großartigen Vision vom Ende der Gewalt.

Die Knochen unserer Vorfahren offenbaren es den Archäologen auch:„Vielleicht haben weder die Intelligenz noch die Kultur, das Feuer oder der bewegliche Daumen unsere Ahnen zu Menschen gemacht. Vielleicht waren diese Errungenschaften, vielleicht war sogar die ganze Menschheitsgeschichte nur die Folge unserer Zerbrechlichkeit.

Nur wer mit seinem unvollkommenen Körper die Gemeinschaft suchte und bei ihr Schutz fand, dem gelang es zu überleben. Alle anderen Hominiden, [also menschenähnlichen Wesen, DG] scheiterten früher oder später an ihrer feindlichen Umwelt.“[2]

Woran man das heute noch erkennen kann?
An den vielen Knochen.
An den vielen Knochen mit den schweren, aber verheilten Knochenbrüchen. Eigentlich jedes andere Geschöpf wäre mit derartigen Frakturen zugrunde gegangen. Unsere Vorfahren waren schon menschlich genug, um einander zu helfen, so dass Kranke und Schwache überlebt haben, auch wenn sie selbst nicht jagen konnten. Überschaut man die großen Zeitalter, muss man zusammenfassen: Überlebt haben diejenigen, die auf den Geist statt auf Gewalt setzten – und alle, die die Schwächsten nicht zurückließen und dem Tod preisgaben, sondern sie pflegten und die Geduld hatten, Kranke zu versorgen.

Wer sind unsere Vorfahren?
Was ist der Mensch?
Im Rückblick wird es klar: Alle, die geistreich halfen und sich helfen ließen. Überlebt haben nicht die Starken, sondern diejenigen, die geholfen haben. Und überlebt haben diejenigen, die ohne Hilfe nicht überlebt hätten.

Dünn ist das Gewand dieser Kultur. [Anlegen des Talars]
Sorgfältig müssen wir es hüten und pfleglich damit umgehen.

Damit sind wir unmittelbar bei Paulus und seinem Schreiben über reiche Saat und Ernte, über fröhliche Geber – und zu guter Letzt wird das Ganze eine Predigt. Nur weniges muss ich heute den Geschichten, die die alten Knochen erzählen, noch hinzufügen.
Erstens: Gott ist der erste fröhliche Geber aller guten Gaben. In Psalm 112 heißt es: »Großzügig gibt er den Bedürftigen; seine Wohltätigkeit wird in Ewigkeit nicht vergessen werden.«
Er wird euch so reich machen, dass ihr jederzeit freigebig sein könnt.

Paulus schreibt es nur ab.
Gott gibt zuerst. Er hat angefangen.
Er hat geschaffen, was zum Leben taugt – und eine Überfülle darüber hinaus.

Schon seit Millionen Jahren war einigen, aber Paulus dann gänzlich klar: Purer Egoismus tötet.
Wohlgemerkt und an den Knochen studiert:
Purer, kraftstrotzender Egoismus tötet nicht irgendwen, sondern zuletzt den Egoisten selbst.
Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft sind nicht nur ein Zeichen von großem Geist und weitem Herzen, sondern ein entscheidender Überlebensvorteil. Finden unsere Wissenschaftler.
Es ist die Gelegenheit, Gott zu loben und sich bewusst zu werden, woher alles Gute kommt. So schreibt es Paulus:
6 Denkt daran: Wer spärlich sät, wird nur wenig ernten. Aber wer mit vollen Händen sät, auf den wartet eine reiche Ernte. 7 Jeder soll so viel geben, wie er sich in seinem Herzen vorgenommen hat. Es soll ihm nicht Leid tun und er soll es auch nicht nur geben, weil er sich dazu gezwungen fühlt. Gott liebt fröhliche Geber! (2.Kor 9,6f, Zürcher Bibel)

Es ist alles edel, gut, nützlich und überlebenswichtig, was sich beim Nachrechnen kaum oder gar nicht lohnt:
Geben und teilen, Geduld haben mit denen, die nichts zu geben oder zu teilen haben, geradezu verschwenderisch sein.
Wir sehen es den Knochen nicht mehr an, aber Paulus betont es: Fröhlich soll das alles geschehen. Guten Mutes sollen wir sein. Paulus muss diesen guten Mut gehabt haben, sonst hätte er sich nicht auf solch gefährliche Reisen begeben, sonst hätte er es nicht gewagt.
Dabei ist es dann nicht verboten, an wirklich alle, also auch an sich zu denken! Denn Paulus ist auf einer Reise zum Geldsammeln: die Korinther sollen Geld und Gaben zusammentragen für die Gemeinde in Jerusalem. Paulus drückt es – zugegeben – etwas umständlich aus, was er auch für sich hofft:
12 Dieser Liebesdienst soll ja nicht nur die Not der Gemeinde in Jerusalem lindern, sondern darüber hinaus viele Menschen zum Dank gegen Gott bewegen. 13 Wenn ihr euch in dieser Sache bewährt, werden die Brüder und Schwestern in Jerusalem Gott dafür preisen. Sie werden ihm danken, dass ihr so treu zur Guten Nachricht* von Christus steht und so selbstverständlich mit ihnen und mit allen teilt. 14 Und weil sie sehen, dass Gott euch in so überreichem Maß seine Gnade erwiesen hat, werden sie für euch beten und sich nach euch sehnen. (2.Kor 9,12-14),

Zuletzt erinnert er noch einmal daran:
15 Lasst uns Gott danken für sein unsagbar großes Geschenk! (2.Kor 9,15)

Das ist menschlich.
Dünn ist das Gewand unserer Kultur.
Allzu oft entgleitet es uns.
Dann herrschen Tod und Verzweiflung. Überall dort, wo wir nicht nur Hilfsgelder, sondern auch unsere ausgeklügelten Waffen hinschicken.

Dünn ist das Gewand unserer Kultur.
Sorgfältig müssen wir es hüten und pfleglich damit umgehen.

Darunter, dahinter, im Hirn und bei den Instinkten, ist alles bestmöglich angepasst – an die Steinzeit. Aber schon damals war es überlebenswichtig, Geist statt Gewalt herrschen zu lassen.

Dünn ist das Gewand unserer Kultur.
Gottes Geist wirkt unablässig daran, es dichter zu weben.
Geben wir fröhlich das Unsere dazu!

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

[1] Vgl. zum Folgenden insgesamt Stefan Klein: Woher wir kommen, in: Zeitmagazin Nr. 39 vom 15.09.2016.

[2] Ebd.

Perikope
02.10.2016
9,6-15

Reich bei Gott - Predigt zum 2.Korintherbrief 9,6-15 von Michael Greßler

Reich bei Gott - Predigt zum 2.Korintherbrief 9,6-15 von Michael Greßler
9,6-15

Wer da kärglich sät, der wird auch kärglich ernten; und wer da sät im Segen, der wird auch ernten im Segen. Ein jeder, wie er's sich im Herzen vorgenommen hat, nicht mit Unwillen oder aus Zwang; denn einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.
Gott aber kann machen, dass alle Gnade unter euch reichlich sei, damit ihr in allen Dingen allezeit volle Genüge habt und noch reich seid zu jedem guten Werk; wie geschrieben steht: »Er hat ausgestreut und den Armen gegeben; seine Gerechtigkeit bleibt in Ewigkeit.«
Der aber Samen gibt dem Sämann und Brot zur Speise, der wird auch euch Samen geben und ihn mehren und wachsen lassen die Früchte eurer Gerechtigkeit. So werdet ihr reich sein in allen Dingen, zu geben in aller Einfalt, die durch uns wirkt Danksagung an Gott.
Denn der Dienst dieser Sammlung hilft nicht allein dem Mangel der Heiligen ab, sondern wirkt auch überschwänglich darin, dass viele Gott danken. Denn für diesen treuen Dienst preisen sie Gott über eurem Gehorsam im Bekenntnis zum Evangelium Christi und über der Einfalt eurer Gemeinschaft mit ihnen und allen. Und in ihrem Gebet für euch sehnen sie sich nach euch wegen der überschwänglichen Gnade Gottes bei euch. Gott aber sei Dank für seine unaussprechliche Gabe! (2.Kor 9,6-15)

I. Die heutige Kollekte
Eben feiern sie Gottesdienst in Korinth.
Einer liest gerade den neuesten Brief von Paulus vor.
Jetzt ist er bei Kapitel neun.

»Denn der Dienst dieser Sammlung hilft nicht allein dem Mangel der Heiligen in Jerusalem ab, sondern wirkt auch überschwänglich darin, dass viele Gott danken.«

Paulus will Geld.
Er will, dass die Korinther eine Kollekte sammeln. Geld für die Gemeinde in Jerusalem. Unterstützung für die armen Christen dort. Und ein Zeichen der Verbundenheit.
Die Korinther fassen in ihre Geldbeutel. Da fühlen sie die blanken Denare und die anderen Münzen. Gold und Silber. Es fühlt sich glatt an. Aber auch warm.
Hart. Aber auch sicher.
Sie haben es sich verdient. Die einen in der Gerberwerkstatt. Andere als Schiffsreeder. Manche als Tagelöhner. Oder in zwielichtigen Hafenkneipen. Die Münzen fühlen sich gut an.

Ich kenne das noch ganz genau, als ich klein war. Da gab es ja diese Zwanzig-Pfennig-Stücke. Die einzigen Messingmünzen in der DDR. Ab und zu schenkte mein Vater mir eines. Ein »Goldstück«. Was war ich stolz! Ich habe in die Hosentasche gefasst. Und glücklich ließ ich die Münze durch die Finger gleiten.

So greifen die Korinther in ihre Taschen. Und fühlen mehr als Metall.

»Am Golde hängt, zum Golde drängt doch alles …«
Und beim Geld hört bekanntlich die Freundschaft auf.

Aber Paulus schreibt: Teilt!
»Denn einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.« (2.Kor 9,7b)

Die Hand greift in den Geldbeutel.
Und dann nehmen sie etwas heraus.
Für ihre Verhältnisse schon viel.
Sie haben das schon gemerkt. Aber arm geworden sind sie davon nicht. Und auch nicht verhungert.
Sie haben geteilt, so, dass man es spürt.
Und das Teilen sie verändert.

»Gott aber kann machen, dass alle Gnade unter euch reichlich sei, damit ihr in allen Dingen allezeit volle Genüge habt und noch reich seid zu jedem guten Werk.« (2.Kor 9,8)


II. Teilen macht Spaß?
„Teilen macht Spaß.“ So heißt ein Kinderlied von »Circus Lila«. Und das stimmt. Teilen macht Spaß.Und es verändert dich.
Das würde auch Paulus sofort unterschreiben. Aber er meint es noch etwas anders.
Teilt, liebe Korinther. Aber nicht nur, weil Teilen Spaß macht.
Teilt, weil Jesus das will.

»Der aber Samen gibt dem Sämann und Brot zur Speise, der wird auch euch Samen geben und ihn mehren und wachsen lassen die Früchte eurer Gerechtigkeit.« (2.Kor 9,10)


III. Wird es reichen?
Ein Sämann geht übers Land. So wie früher. Ganz früher. Wie man es von alten, romantischen Bildern kennt.
Heute säen wir mit riesigen Drillmaschinen. Computergesteuert und satellitenunterstützt. Da sitzt jedes Korn für den perfekten Ertrag.

Früher mussten sie ins Korn greifen. Tief in den Beutel. Wie die Korinther in den Geldbeutel.
Das Korn fühlt sich warm an. Glatt und glänzend.
Kostbar. Und auch sicher.
Hineingreifen. Nehmen. Und ausstreuen.
Wird es reichen?

Ein dummer Sämann geht durchs Land. Er macht die Hand nicht voll. Immer nur ein paar Körner. Es könnte ja nicht reichen. So streut er kärglich aus. Am Ende hat er sogar noch etwas übrig.
Aber auf seinem Feld wächst nur die Hälfte. Voll Sorge hat er gespart und geknausert. Und sparsam war der Ertrag. Bald war er pleite.

»Wer da kärglich sät, der wird auch kärglich ernten.« (2.Kor 9,6)


IV. Wer da sät im Segen
Nun hatten wir allerlei Wahlen in diesem Jahr, ein Brexit-Referendum, eine geschlossene Balkanroute und viele, viele Ertrunkene im Mittelmeer.
Wir hören politische Analysen, kluge und polemische.Wir hören Beschimpfungen und Positionen.

Eine Behauptung geht gerade durchs Land: Geflüchtete würden mehr bekommen als Deutsche.
Das ist schon mal eine Lüge. Die kann man mit Fakten widerlegen. Und ich bin unserem Finanzminister herzlich dankbar, dass er öffentlich erklärt: »Es gibt bisher keinen Menschen in Deutschland, der einen Euro weniger bekommt, weil Flüchtlinge zu uns gekommen sind.«

Und trotzdem behaupten das manche.
Dahinter lauert der giftige, böse Geist von Neid und Habgier und am Ende Hass: Wird es reichen?
Behalten wir mal lieber, was wir haben, für uns.
Abgesehen davon: Deutschland ist das reichste Land der Welt. Wir haben den größten Wohlstand auf Erden.

Klar können wir es machen wie die Politiker in Ungarn und Tschechien, Polen und der Slowakei, und mit niemandem teilen.
Heute lässt die Regierung in Ungarn über die Flüchtlingspolitik der EU abstimmen. Monatelang haben sie ihr Volk zu Hass aufgehetzt. Und an der ungarischen Grenze hetzen sie Hunde auf Männer, Frauen und Kinder.

»Wer da kärglich sät, der wird auch kärglich ernten.« (2.Kor 9,6)

Das wird eine Zeit lang alles beim alten lassen. Und dann wird das Land verdorren. Und vorher schon unsere Seele. Weil Geiz und Neid die Seele auffressen.
Und am Ende bleibt ein ausgedorrtes Land und ein zerstörtes Europa und ein verdorrtes Leben.

»Du Narr, heute Nacht wird man deine Seele von dir fordern, und wes wird’s sein, das du bereitet hast? So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott.« (Lk 12,20)
 

V. Wenn das Weizenkorn in die Erde fällt
»Wer da kärglich sät, der wird auch kärglich ernten; und wer da sät im Segen, der wird auch ernten im Segen.« (2.Kor 9,6)

Die Korinther fassen in ihre Geldbeutel und fühlen die blanken Münzen. Sie fassen sie an. Wie viele werden sie greifen? Eine kleine? Eine große? Zwei? Drei? Eine Handvoll?

Der Sämann streut aus.
Was wird er auf die fruchtbare Erde werfen. Ein paar Körner? Oder reiche Saat?

Und wie geben wir?

»Der aber Samen gibt dem Sämann und Brot zur Speise, der wird auch euch Samen geben und ihn mehren und wachsen lassen die Früchte eurer Gerechtigkeit.« (2.Kor 9,10)

Gott hat es ja selbst gemacht. Er hat seine Hand nicht zugemacht. Er hat reichlich ausgestreut in die Welt.
Brot und Wein und Baum und Blume. Tier und Mensch.
Und zuletzt sich selbst. Hat sich selbst gesät in die Erde. Ist am Kreuz gestorben. Und hat den Samen der Liebe ausgestreut über alle Welt:

»Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein, wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.« (Joh 12,24)
 

VI. Wird es reichen?

Ob das reicht? Ja. Das reicht für alle.
Es reicht zum Leben.
Es reicht zum Teilen.
Es reicht zum Auferstehen.

Wir brauchen nur ernten. Und weitergeben. Tief hinein greifen in unser Leben. Zugreifen. Liebe nehmen. Geben. Und aussäen.

»Gott aber sei Dank für seine unaussprechliche Gabe!« (2.Kor 9,15)
Amen.

Perikope
02.10.2016
9,6-15

Segensreiche Ernte – Predigt zum 2.Korintherbrief 9,6-15 von Heinz Behrends

Segensreiche Ernte – Predigt zum 2.Korintherbrief 9,6-15 von Heinz Behrends
9,6-15

Sie sind beide geborene Ostpreußen. 50 Jahre sind sie verheiratet und feiern mit mir Goldene Hochzeit. 50 Jahre verheiratet, davon aber nur 6 Jahre zusammengelebt. 1939 wurde er als Soldat der Wehrmacht eingezogen, 1944 geriet er in russische Gefangenschaft und wurde deportiert. Ihr gelang 1945 die Flucht in den Westen. Sie haben sich nicht wieder gesehen. Sie landete in einem Dorf mit einhundert Einwohnern in der Lüneburger Heide. Bis zu ihrer Rente arbeitete sie dort als Magd auf einem Bauernhof. Sie zog zu ihrer Tochter in meine Gemeinde im Weserbergland. Er blieb verschwunden. Von ihrem Mann hat sie nie wieder etwas gehört, obwohl sie gleich nach dem Krieg das Deutsche Rote Kreuz mit ihrem Such-Dienst eingeschaltet hatte. Ihn für tot zu erklären, wieder zu heiraten – das kam für sie nicht in Frage. Gehofft hat sie und gewartet ins Ungewisse. Wieder alles Erwarten kam 1983 eine Nachricht vom DRK: „Wir haben ihren Mann gefunden. Er ist in Kasachstan.“ Mit Erfolg beantragten sie die Familienzusammenführung. Ich war dabei, als er auf dem Bahnhof ankam. Ausgemergelt, abgearbeitet und erschöpft stieg er aus dem Zug. Aus dem jungen Mann von damals war ein uralter geworden. Ein Jahr später war der Tag ihrer Goldenen Hochzeit. „In die Kirche schaffen wir es nicht mehr“. Die Lungen waren schwach. Die Luft reichte nicht mehr für den Weg zur Kirche. Wir feierten mit der kleinen Familie und zwei Nachbarinnen in der kleinen Stube der beiden. Ich hielt die Andacht, dann deckte sie den Tisch. Die schönste Torte, frischer Kaffee. Er sprach das Dankgebet in seinem gebrochenen Deutsch. Dann sagte er: „Und jetzt, meine lieben Gäste, esst und freut Euch mit uns. Und lasst nichts übrig“. Er selbst griff hinter sich auf die Kommode, wickelte aus einem Tuch ein trockenes Stück Brot und aß. Über 30 Jahre ist das her, ich sehe das noch ganz genau vor meinen Augen. Die Dankbarkeit für 50 Jahre Ehe, Dankbarkeit für das Wiedersehen, für ein trockenes Stück Brot. Trockenes Brot war sein Leben gewesen. Ein Vorbild eines dankbaren Menschen.

Er ist für mich das Gegenbild zu Menschen unserer Tage. Martin Winterkorn, der Chef von VW, war 2010 der bestbezahlteste Manager Deutschlands. 15 Millionen Euro im Jahr. Angesprochen, ob ein VW-Arbeiter am Band das verstehe, reagierte er unwillig. Für ihn war die Sache klar und gerecht, schreibt die Wochenzeitung DIE ZEIT in ihrer Ausgabe am letzten Sonntag zum Thema „Das Märchen von der Gerechtigkeit“. „Jeder Mitarbeiter hat ja seine Entgeltregel unterschrieben und akzeptiert“, sagte er. Er begründete sein Geld mit der Verantwortung, die er zu tragen habe. Die Verantwortung für den Betrug am Dieselmotor wollte er nicht übernehmen. Er trat zurück mit einer Ausrede und einer weiteren kräftigen finanziellen Belohnung.
„Ich habe das verdient“ ist immer die Begründung. Gegenüber manchem Bank-Manager ist Winterkorn allerdings ein bescheidener Mann. Etliche haben Boni in einer 9-stelligen Zahl bekommen. Sie haben mit unverständlichen Papieren und Finanzkonstruktionen viel Geld für ihre Bank gemacht. Luftnummern, die sich 2008 in Nichts auflösten. Geld mit Geld machen, nicht mit der Hände Arbeit. Das Ergebnis: Die Weltwirtschaft stand am Abgrund. Der solide Sparer bekommt für seine Leistung bis heute kein Geld. Für Anshu Jain, den Investmentbanker der Deutschen Bank, war ein Motiv, Banker zu werden, dass nur Leistung zähle. Und die müsse belohnt werden. Geld hat eine Funktion, sie schafft keine Beziehungen mehr. Es hat sich von Beziehungen gelöst. Der Dank ist überflüssig geworden.

Der geistliche Mensch sagt, Gier und Angst sind die treibenden Kräfte des gottlosen Menschen. Die Angst ist die andere Seite der Gier. Nicht genug bekommen.
Ich frage leitende Ärzte, ob es gerecht sei, dass sie mehr Geld bekommen als die Kanzlerin. Sie antworten: „Wir haben das verdient“. Die Kanzlerin hätte ja auch Ärztin werden können. „Regen Sie sich nicht auf“, sagt der Kaufmann der Klinik, „die Gesellschaft bewertet die Gesundheit nun mal höher als die Politik“. Ja, Gesundheit ist die neue Gottheit. Früher machte man sich Sorgen um sein Seelenheil. Darum wurde der Pfarrer alimentiert, denke ich. „Das habe ich verdient“, sagt die gut verdienende Elite in unserem Land. Sie führen Selbstgespräche wie der reiche Kornbauer und vergleichen sich untereinander. Sich nach unten zu vergleichen haben sie nicht mehr nötig. Dank ist nicht nötig, es ist ja verdient.
Die Haltung der Elite hat Konsequenzen für das ganze Land. 50 % aller Deutschen sagen, es gehe nicht fair zu im Land. Sie kämen zu kurz. Unmut und Zorn über die ungerechten Verhältnisse machen sich breit. Die Gesellschaft löst ihr Versprechen der sozialen Gerechtigkeit nicht mehr ein. Eine Partei nimmt das dankbar auf. Der Wohlstand im Lande war noch nie so groß. Aber die Flüchtlinge nehmen uns alles weg, so eine zunehmende Grundstimmung, obwohl sie nicht mit Fakten hinterlegt ist. „Wo sind die Früchte Eurer Gerechtigkeit?“ würde der Apostel uns fragen. Wo man nur einseitig auf Leistung des Einzelnen ausgerichtet ist, da zerstört man die Bereitschaft zur Kooperation, schreibt DIE ZEIT.

Der alte Mann aus Kasachstan ist längst verstorben, er würde diese Welt nicht verstehen und weiter dankbar für sein Stück trockenes Brot sein. Sind nur noch die einfachen Leute dankbar? Die Witwe, die für ihre Lebensleistung 500€ im Monat bekommt?
Die Reichen fühlen sich ärmer, die Armen fühlen sich reicher, sagt die Studie in der ZEIT. Arme wollen ihre Würde bewahren. Wenn du unglücklich werden willst, musst du dich vergleichen.

Von Geld habe ich jetzt viel geredet. Denn von Geld spricht auch der Apostel Paulus in seinem Brief an die Korinther. Er wirbt für eine Kollekte zugunsten der verarmten Gemeinde in Jerusalem. Sein Wort ist zugleich ein Lehrstück für einen Christen im Umgang mit Geld. „Wer kärglich sät, wird auch kärglich ernten“, sagt er. „Und wer da reichlich sät…“, fährt er fort. Man erwartet, er sagte jetzt: „ der wird auch reichlich ernten“. Sagt er aber nicht. Er sagt „Wer da sät im Segen, der wird auch ernten im Segen“ (2.Kor 9,6). Er stellt sich einen Segensfluss vor.

Ich lebe nicht weit von der wasserreichsten Quelle Europas, der Quelle des kleinen Flusses Rhume am westlichen Harz-Rand. Mitten in einem Waldstückchen quillt aus der Erde mit einer Fläche von ca. 20 Metern Radius das Wasser aus der Erde. Es sprudelt kräftig, dann sucht es seinen Weg im Flussbett, fließt kräftig an den Dörfern im Vor-Harz vorbei, wird immer breiter und fließt bei Northeim in die Leine, von dort in die Aller, dann in die Weser. Der Strom wird breiter und breiter, bis er hinter Bremen in die Nordsee fließt. „Alle Flüsse fließen ins Meer, doch das Meer wird nicht voll“, sagt der Prediger im Alten Testament. Wie ein Strom, der immer voller und breiter wird, so fließt der Segen von einem Menschen aus, der gibt. Der freiwillig, fröhlich und gerne gibt, so der Apostel. „Dass alle Gnade unter euch reichlich sei und Ihr reich seid zu jedem guten Werk“. Den fröhlichen Gottlieb, nennen wir ihn.

Den dankbaren Menschen zeichnet aus, dass er sich als Empfangender versteht. Er lässt sich nicht an seiner Leistung messen. Er hat sich nichts verdient. Zuerst hat er bekommen. Das griechische Wort für Dank, Freude und Gabe ist dasselbe Wort: „Charis“. Aus der Freude, aus Dankbarkeit über alles, was ich empfangen habe, gebe ich weiter. Mit Hilfe meiner „charismata“, meiner Begabungen, die mir geschenkt wurden. Alles Wesentliche meines Lebens habe ich empfangen. „Alles, was ich hab, hab ich von einem anderen“, singt der Liedermacher Hermann van Veen schon in den siebziger Jahren.
Das Brot, das ich esse, habe ich nicht selbst gebacken, das Bier nicht selbst gebraut. Die Liebe wird mir geschenkt, selbst die Hoffnung und das Vertrauen. Meine Mutter hat mich dereinst empfangen. Nichts verdanke ich mir selbst. Der Dank macht Platz für einen anderen in meinem Herzen.

Die Reduzierung auf verdientes Geld zerstört eine Gesellschaft. Dietrich Bonhoeffer schreibt in seinem letzten Brief aus der Haft an seine Eltern: „Mit wie wenig ein Mensch auskommt, habe ich ja in den zwei vergangenen Jahren gelernt. Wenn man bedenkt, wie viele Menschen jetzt täglich alles verlieren, hat man eigentlich gar keinen Anspruch mehr auf irgendwelchen Besitz.“ Und dann bittet er seine Eltern um einen Waschlappen, ein Handtuch, Streichhölzer, Zahnpasta und ein paar Kaffeebohnen und vor allem um Bücher. Bücher von Pestalozzi und Plutarch. „Verzeiht, dass ich das sage. Vielen Dank. Habt vielen Dank für alles.“ „Damit Ihr in allen Dingen allezeit volle Genüge habt“, schreibt der Apostel (2.Kor 9,8).

Was hast Du in diesem Jahr alles empfangen, für das du dankbar sein willst? Du hast so viel weiterzugeben. Wenn du es tust, dann mit fröhlichem Herzen, freiwillig und gern. Sonst ist es rausgeschmissenes Geld.

Perikope
02.10.2016
9,6-15

Konfirmationspredigt zu 2.Korinther 5,20b von Angelika Volkmann

Konfirmationspredigt zu 2.Korinther 5,20b von Angelika Volkmann
5,20

Eingeladen zum Fest des Glaubens

"So bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!"

Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, liebe Gemeinde,
für Gott gibt es keinen Beweis.  Aber auch keinen Gegenbeweis.
Darüber haben wir in der Konfigruppe manches Mal geredet.
Manches, was uns sehr wichtig ist, ist unsichtbar.
Die Liebe z.B. Und eben Gott.
Gott ist bei uns wie ein unsichtbarer Freund. Mit ihm können wir sprechen, er versteht uns, er hat uns gern.
„Aber er tut ja nichts!“ hat einer von euch einmal gesagt. „Wie meinst du das?“ „Ja wenn einer auf dem Schulhof von drei anderen fertig gemacht wird und die ihn richtig schlagen und treten – dann tut Gott doch nichts!“
Ja.
So sieht es aus.
Ich glaube, dass Gott jeden Tag eine ganze Menge tut.
Gott ist anders, als wir denken.
Er verhindert nicht jede Bosheit, die ein Mensch tut.
Er verhindert nicht jedes Leid.
Doch er ist uns immer nahe.
Wir machen ihm Vorwürfe.  Und Gott bittet, dass wir uns mit ihm versöhnen.
Paulus schreibt:  So bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!

Da steht einer, mitten auf dem großen Platz, wo die vielen verschiedenen Menschen umherlaufen, und verteilt Karten. Einladungskarten. Einladungen zu einem Fest. Jeder, der es möchte, bekommt eine Karte. Außen darauf steht: Lasst euch versöhnen mit Gott!

Was soll ich? fragt eine Frau fast höhnisch, als sie die Karte in die Hand nimmt. Mich versöhnen lassen mit Gott! Da kann der lange drauf warten. Weiß er denn, was ich erlebt habe? Ich hätte ihn gut brauchen können, aber er war ja nicht da, er war ja nicht da! Als mein Kind diesen schrecklichen Unfall hatte und nun behindert ist und entstellt – weiß Gott überhaupt davon?? „Lesen Sie auch die Innenseite“, sagt ihr der Mann, der ihr die Karte gegeben hat.  Am liebsten würde die Frau die Karte in hohem Bogen wegwerfen, doch neugierig ist sie auch und schlägt die Karte auf. Da steht der Satz: „Ja, ich kenne deine Tochter, ich weiß, was mit ihr passiert ist. Nina heißt sie. Ich bin ihr täglich nahe. Sie ist unglaublich. Sie ist phantastisch.“
Das gibt’s doch gar nicht! Die Frau ist verwundert, getroffen, schaut sich verdutzt um. Auch andere stehen da und lesen in ihrer Karte. Sie liest noch einmal, was da steht, und kaum, dass sich in ihr die Frage regt:  „Aber warum hast du dann den schlimmen Unfall nicht verhindert??“  erscheint ein neuer Satz  vor ihren Augen: „Das konnte ich nicht.“ Und kurz danach darunter: „Es tut mir sehr, sehr Leid.“  Was? Du konntest es nicht? Bist du denn nicht allmächtig? „Nicht in diesem Sinne.“  Ja wie denn dann?
„Ich weiß, ich enttäusche dich. Ich bin anders, als du mich gerne hättest.“
Ja, das glaube ich allerdings auch. Und wie bist du bitteschön? „Der Unfall damals ist mir sehr nahe gegangen. Ich habe die Schmerzen deiner Tochter gespürt, ich habe sehr um deine Tochter geweint, und um dich. Ich weiß, wie es ist, wenn man entstellt ist. Und ausgelacht wird.“
Was, du warst da?
„Ich bin die ganze Zeit da. Auch bei Nina. Es berührt mich, wie lebensfroh sie ist, trotz allem. Das hat sie auch dir zu verdanken. Was du für sie getan hast, das ist großartig. Voller Liebe. Ich war auch bei dir, immer.“ Du hast mich gesehen? Alles? Der Frau steigen die Tränen in die Augen.  „Komm doch zu meinem Fest. Lass dich mit mir versöhnen!“
Nachdenklich geht die Frau mit ihrer Karte weiter …
Auch ein Mann mittleren Alters hat  eine Einladungskarte genommen. Kopfschüttelnd liest er, was außen drauf steht: Lasst euch versöhnen mit Gott! Ich kann mich nicht mit Gott versöhnen, denkt er. Mit niemandem kann ich mich versöhnen. Ich habe etwas Unverzeihliches getan. Durch den Ausruf eines Jugendlichen wird er aus seinen Gedanken gerissen: „Ej, das ist ja cool“ ruft der 17jährige. „Hey Leute, ihr müsst die Karten innen drin lesen! Das gibt es ja gar nicht! Hier steht drin, dass ich es gar nicht war, der die CDs geklaut hat! Echt, das steht hier drin! Gott weiß, dass ich unschuldig bin! Ha!“ Der Mann sieht, wie andere völlig gebannt die Innenseite der Karte studieren. Das veranlasst ihn, auch seine Karte aufzuschlagen. „Du kannst dir selber nicht verzeihen.“ steht da. Er ist wie vom Donner gerührt. Natürlich kann ich mir selber nicht verzeihen!  Er merkt gar nicht, dass er diesen Satz laut schreit. Einige schauen zu ihm hin. Darum flüstert er den nächsten Satz tonlos vor sich in: Ich habe fahrlässig den Tod eines Menschen verschuldet! Wie soll ich  mir das jemals verzeihen können!
Auf der Karte erscheint der Satz: Das ist schwer, aber es gibt einen Weg.
Was für einen Weg denn? Er ist tot! Und ich bin schuld!
Willst du es wirklich wissen?.
Ja, ich will es wissen.
Zunächst einmal: dass du zu deiner Schuld stehst, spricht für dich. Das tun die wenigsten.
Es war eben ganz eindeutig. Ich bin zu schnell gefahren.
Dann frage ich dich: Wenn du dein eigener Richter wärst, was für eine Strafe würdest du dir geben?
Ich habe einen Menschen um sein Leben gebracht. Imgrunde habe ich dadurch das Recht auf mein eigenes Leben verwirkt.
Kannst du dir vorstellen, dass jemand dieses Urteil stellvertretend für dich auf sich nimmt?
Wie? Was? So was ist doch absurd.
Nein. Es ist Liebe.
Es braucht seine Zeit. Aber du könntest, wenn du diese Worte nach und nach mit ganzer Seele verstehst, ein dankbarer und zutiefst demütiger Mensch werden. Einer, der weiß, dass einem ein solch fataler Fehler passieren kann. Du kannst deinen Fehler nie ungeschehen machen. Er wird dich zeitlebens begleiten. Aber im Guten. Jemand nimmt deine Strafe auf sich, damit du dir verzeihen kannst. Und wem viel vergeben ist, der liebt viel. Komm doch, lass dich versöhnen mit Gott! Lass dich versöhnen mit deinem eigenen Leben! Lass etwas Gutes daraus entstehen.
Ob ich vielleicht doch zu dem Fest gehe? Denkt der Mann jetzt.
Und bei dem Fest treffen sie sich alle, die Mutter mit Nina, der Mann mittleren Alters, der Jugendliche, der froh ist, nicht als Dieb zu gelten, und viele, viele andere, auch der, der auf dem Schulhof geschlagen wurde. Ihm hatte Gott gesagt: Ich war bei dir. Jeden Schlag habe ich mit dir gespürt. Sie haben dir Unrecht getan.
Alle fühlen sich wohl auf dem Fest. Alle fühlen sich beschenkt, beschenkt mit dem größten Geschenk ihres Lebens. Es ist ein besonderes Fest.  Ein Fest, bei dem Leid, Schuld und Schmerz nicht zugeschüttet werden, um feiern zu können. Ein Fest, bei dem der Gastgeber selber gezeichnet ist davon, wie wir alle bedrückt werden und bedrücken, wie wir alle belastet sind und andere belasten. Er hat alles mit allem versöhnt. In seinem Gesicht kann man das sehen. Und er feiert nun ein Fest angesichts von Schuld und Tod. Ein Fest, das darüber hinaus weist auf grenzenlose Liebe, unendliches Verzeihen und neues Leben. Ein Fest, bei dem man dies alles erleben kann.
Wir alle sind zu diesem Fest eingeladen.
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden – vielleicht denkt ihr jetzt: das Fest gibt es doch gar nicht in echt.
Dann lasst euch sagen: in eurer Seele, da gibt es viel Raum. Da hat ganz vieles Platz: Gefühle, Zuneigung, das Empfinden, geliebt zu sein, manchmal auch Vorwürfe, Selbstvorwürfe, Angst – und all das ist echt. In eurer Seele, da ist ganz viel Raum. Da hat auch dieses Fest Platz und kann euch froh machen. Ich seid nicht allein. Ihr könnt lernen, andere immer besser zu verstehen. Und jeder Gottesdienst, den wir feiern, ganz besonders jedes Abendmahl, weist uns auf dieses Fest hin.
So bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!
Ihr Konfirmandinnen und Konfirmanden sagt dazu heute euer Ja.
Wir wünschen euch ein frohes Fest, heute – und euer ganzes Leben lang.
Amen.

Liedempfehlung nach der Predigt: Eingeladen zum Fest des Glaubens, Text: Eugen Eckert, Musik: Alejandro Veciana. Aus der CD „Blatt um Blatt“, Strube-Verlag, München
 

Predigt zu 2. Korinther 5,14–19 von J.-Stephan Lorenz

Predigt zu 2. Korinther 5,14–19 von J.-Stephan Lorenz
5,14-19

Liebe Gemeinde,

an diesem Karfreitag sollen wir über die Lesung aus dem Brief des Apostel Paulus an seine Gemeinde in Korinth nachdenken.

Was mich treibt, ist die Liebe, die ich von Jesus, dem Messias empfange. Der neue Maßstab ist: weil einer für alle gestorben ist, kommt sein Tod  allen zugute, und wir sind alle tot für unsere früheren Verfilzungen und Lasten. Weil der Messias Jesus für alle gestorben ist, dürfen wir unser Leben zwar scheinbar behalten, aber doch nicht darüber verfügen, als wäre es unser eigener Besitz, sondern wir unterstellen es jetzt dem, dem wir gehören, weil er für uns gestorben ist und auferweckt worden ist. Von jetzt an hat sich unsere Beurteilung von Menschen grundlegend geändert. Der Maßstab ist nicht mehr das, was äußerlich Eindruck macht. Auch Jesus, den Messias, habe ich vielleicht einmal so beurteilt, aber das ist Vergangenheit.  Alle die mit Christus verbunden sind, sind wie neu geschaffen. Das Alte ist vergangen, alles ist neu geworden. Der Ursprung dafür liegt bei Gott, der Jesus Christus gesandt hat, damit er zwischen ihm und uns Versöhnung stiftet. Und mich hat er beauftragt, dabei zu helfen. Denn durch den Messias Jesus hat Gott zwischen sich und der Welt Versöhnung gestiftet. Er hat den Menschen in der Welt ihre Schuld vergeben und mich beauftragt die Versöhnungsbotschaft auszurichten. (2. Korinther 5, 14 – 19)

Wie immer, wenn man die Briefe des Paulus liest, kommt einem alles schwierig und unverständlich vor. Das liegt daran, dass Paulus nicht erzählt, sondern eher theoretische Sätze schreibt. Und: wir lesen sozusagen einen kleinen Ausschnitt aus einer längeren brieflichen Unterhaltung, die wir als ganze aber nicht kennen. So muss man sich den Kontext immer wieder irgendwie erschließen. Der Hauptanlass dieses Briefes ist, dass in diese Gemeinde andere Apostel gekommen sind und dort predigen. Sie scheinen sich in der Botschaft gar nicht so sehr von ihm zu unterscheiden. Aber Paulus scheint sich wie ein gekränkter Vater zu fühlen. Seine Kinder haben sich anderen „Vätern“ zugewendet.  Er wirbt also um seine Kinder, sie mögen doch bei ihm bleiben. Die Eindringlinge werde er verscheuchen, sobald er wieder nach Korinth komme. In seinem Werben wiederholt er noch einmal seine Botschaft. Das ist unser Briefabschnitt.

Worum geht in seiner Botschaft?

Wenn jemand von uns gestorben ist, dann müssen wir uns das erklären. Wir müssen einen Sinn finden, weil wir Menschen das sinn-lose nur schwer ertragen können. Bei Jesu Tod war das nicht anders. Sein Tod hat die Jünger geschockt. Sie dachten doch, wenn sie mit ihm nach Jerusalem ziehen, dann würde das Reich Gottes anbrechen. Was immer das konkret heißt. Was tatsächlich geschieht, ist Verrat, Prozess und Hinrichtung Jesu auf die grausamste Weise, die es damals gab, dem Tod am Kreuz.

Alles, was wir im Neuen Testament an Schriften lesen, sind Versuche, diesen Tod Jesu am Kreuz zu verstehen, sich einen Sinn daraus zu machen. Wie kann es sein, dass ein solcher Mensch, der so unmittelbar mit Gott in Verbindung war, der ihnen, wie kein anderer zuvor, Gott so nahe gebracht hatte, wie kann es sein, dass dieser Jesus von Gott verlassen wurde, im wahrsten Sinnen des Wortes, hängen gelassen? Jesus selbst hat seine Gottverlassenheit in Anlehnung an den 22. Psalm hinausgeschrieen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast DU mich verlassen?

Das schreit nach einer Erklärung. Paulus’ erste Feststellung ist: das alles geschah aus Liebe!  -  Wie das? Ein Tod steht für die Liebe? Es scheint, als ob das eine Unverständliche mit noch einem Unverständlichen erklärt werden soll.  

In der letzten Woche ist auf der Station E eine Krankenschwester im Nachtdienst an akutem Herzversagen gestorben. Das war für alle, besondern für das Team der Pflegenden, ein furchtbarer Schock. Wir haben dann am nächsten Morgen von ihr hier in der Kapelle Abschied genommen. Bei diesem Abschiednehmen haben wir viel über die verstorbene Schwester gesprochen, und ebenso viel über uns. Was dieses Sterben mit uns macht. Und an einer Stelle sagte dann eine Schwester: Solch ein Sterben zwingt uns ja gerade dazu, über uns selbst nachzudenken. Wer sind wir? Wie leben wir? Sind unseres Beziehungen und Werte eigentlich angemessen?

Das ist ein bemerkenswerter Satz. Denn er fasst das zusammen, was Paulus seinen Christen in Korinth sagen will.

Weil der Messias Jesus für alle gestorben ist, dürfen wir unser Leben zwar scheinbar behalten, aber doch nicht darüber verfügen, als wäre es unser eigener Besitz, sondern wir unterstellen es jetzt dem, dem wir gehören, weil er für uns gestorben ist und auferweckt worden ist

Der Tod Jesu geschah für alle Menschen. Sein Tod ermöglichte zuerst den Jüngern und Apostel, aber dann auch uns, anders auf unser Leben, auf unsere Werte, auf unsere Beziehungen zu schauen. Wir sind nicht mehr nur an unsere eigene subjektive Perspektive gebunden, also das, was wir uns so im Leben an Sinn zusammenstoppeln, sondern wir können die Perspektive Gottes einnehmen.

Ich will das mal erläutern. Wenn ich den Ärzten hier im Krankenhaus beibringen will, wie man am Besten mit Patienten und Angehörigen spricht, dann stelle ich ihnen immer ein Bild vor Augen. Es ist das Bild des Theaters. Auf der Bühne ist der Patient mit seinem Leiden, mit seinen Wünschen, Ansprüchen, seinen Gefühlen, seinen Befürchtungen und Ängsten.

Um jemanden zu verstehen, muss man sich auf seine Bühne begeben. Anders ist Verstehen nicht möglich. Im Alltag sagen wir: um jemanden zu verstehen, muss man eine Weile in seinen Schuhen gegangen sein.  Aber, um jemanden wirklich zu helfen, dazu braucht es noch einen weiteren Schritt. Man muss nämlich von Zeit zu Zeit die Bühne verlassen und sich in den Zuschauerraum setzen. Sich sozusagen das Schauspiel von einer anderen, dritten Position aus anschauen. Zum angemessenen Verstehen ist also ein Perspektivwechsel vom Mitagierenden auf der Bühne zum ruhigen, überlegenden Beobachter nötig. Würde man nur auf der Bühne bleiben, würde man sich völlig mit der Position des Anderen identifizieren. Im schlimmen Falle würde man es also selber mit der Angst zu tun bekommen, mit der Hoffnungslosigkeit, mit der Aggression, die so eine Krankheit in einem auslöst.  Man wäre kein Gegenüber mehr. Würde man nur in der Rolle des Beobachters bleiben, würde die Beziehung, das Gespräch sozusagen an Unterkühlung sterben. Dann würde man an den Anderen appellieren, er möge sich doch mal zusammenreißen. Man würde ihn mit billigen Worten abspeisen wie: das wird schon wieder. Nur Augen zu uns durch. Man würde Rat-schläge erteilen.

Hilfe geschieht anders. Im Sich-Einfühlen und beobachtenden Sich-Betreffen lassen, um daraus ein treffendes Handeln zu entwickeln.

Genau das macht Gott. Er ist in der Person Jesu sozusagen auf unseres „Bühne“ gekommen. Wenn man jemanden verstehen will, muss man ihm nahe kommen, sich in seine Geschäfte verwickeln lassen. Aber man muss sich auch wieder aus den Verwicklungen lösen. Helfen kann man nur aus der Zusammenschau beider Perspektiven, der des Identifizierten und der des Beobachters. Das ergibt das treffende, angemessene Handeln.

Im Tod Jesu geht Gott den Weg der leidenden Menschen bis zur letzen Sekunde mit. Sein Tod ermöglicht uns den Perspektivwechsel. Jetzt können wir nämlich selbst die Bühne, unsere Bühne verlassen. Jetzt können wir aus der Perspektive Gottes, aus der Perspektive seiner Liebe zu uns auf uns selber, auf unsere Beziehungen, auf unsere Mitmenschen schauen.

In den Worten des Paulus hört sich das so an:

Von jetzt an hat sich unsere Beurteilung von Menschen grundlegend geändert. Der Maßstab ist nicht mehr das, was äußerlich Eindruck macht.

Der Tod Jesu verändert unsere Maßstäbe. Der äußerliche Eindruck ist nicht mehr entscheidend. Was heißt: ob jemand alt oder jung ist, Mann oder Frau, Sklave oder Freier, Reich oder arm, ob jemand gebildet ist oder nicht so viel weiß, ob jemand krank ist oder gesund oder was es sonst noch für Gegensätze gibt – das ist jetzt alles ziemlich wurscht – wichtig ist: schaut er mit dem Blick Gottes auf die Menschen, also lebt er die Liebe Gottes zu seinen Menschen oder nicht.  Die Liebe (Gottes) entscheidet wie wir auf Menschen schauen und sie behandeln.

Dieser Perspektivwechsel hat weit reichende Folgen. Wer einen anderen mit den Augen Gottes, mit den Augen der Liebe, anschaut, erkennt in ihm einen Bruder und eine Schwester, niemals aber einen Fremden oder gar einen Feind. Alles ist dann neu. So sagt es Paulus.

Alle die mit Christus verbunden sind, sind wie neu geschaffen. Das Alte ist vergangen, alles ist neu geworden.

Dass alles Neu werden kann, ist aber nicht unser Verdienst oder unser Können. Das hat Gott uns in Jesus Christus vorgemacht. In seinem Leben und in seinem Tod hat Jesus Christus die menschliche Perspektive mit der Perspektive Gottes „versöhnt“, also ausgeglichen. Sie sind nun kein Gegensatz mehr, sondern gehören zusammen. Das griechische Wort Versöhnung heißt „katallagä“ und es kommt ursprünglich aus dem Wortschatz der Banker. Katallagä ist eine Ausgleichszahlung, die zwei Geschäftspartner tätigen, damit beide ein gutes Geschäft machen.

In der Antike haben die Menschen gedacht, man müsse den Göttern eine solche Ausgleichzahlung mit allerlei Opfergaben erbringen. Das aber ist bei Lichte gesehen magisches Denken. Wir kennen solch magisches Denken alle. Wenn ich meine Suppe aufesse, dann gibt es schönes Wetter. Manche Fußballer stehen vor einem Spiel immer mit dem rechten Fuß zuerst auf. Mit solch en Opfergaben meinen wir das „Schicksal“ beeinflussen, ausgleichen zu können. Wir wissen alle, dass das ziemlicher Blödsinn ist – und machen es doch immer wieder.

So geschieht aber kein Ausgleich zwischen Gott und den Menschen, jedenfalls nicht für uns Christen. Magisches Denken und Handeln schafft keine Geschäftsgrundlage zwischen uns und Gott.

Wie kann zwischen Gott, unserem Schöpfer, dem Allmächtigen, dem Ewigen und uns, den Geschöpfen, den Hilflosen, Verängstigten, auf den Tod zugehenden Menschen ein Ausgleich herbeigeführt werden. Ein Ausgleich, der uns an Gottes Wesen, an seiner Liebe selber Anteil haben lässt. Der uns den Perspektivwechsel schon jetzt möglich macht.

Paulus sagt. Das geschieht durch eine symbolische Handlung: dem Tod Jesu am Kreuz. So wie der Frieden zwischen zwei verfeindeten Parteien durch einen symbolischen Handschlag und Bruderkuss besiegelt wird, so haben wir Menschen durch den Tod Jesu am Kreuz unseren Anteil an der Liebe Gottes. Von nun an sind wir Partner Gottes! Wir können die Perspektive wechseln und alle Menschen als unsere Schwestern und Brüder erkennen.

In  Jesus erfährt Gott selber, wie es sich anfühlt, ein gottferner, von Gott verlassener Mensch zu sein, bis in den gottverlassenen Tod hinein. Unser Leben wird richtig, gerecht,  durch den Ausgleich, den Gott selbst herbeiführt.

Alle die mit Christus verbunden sind, sind wie neu geschaffen. Das Alte ist vergangen, alles ist neu geworden. Der Ursprung dafür liegt bei Gott, der Jesus Christus gesandt hat, damit er zwischen ihm und uns Versöhnung stiftet.

Paulus endet seinen Abschnitt mit den Worten:

Gott hat …  mich beauftragt diese Versöhnungsbotschaft auszurichten.

Wir können jetzt sagen: Gott hat uns alle beauftragt, diese frohe Botschaft allen Menschen weiterzusagen.

Gottes Heiliger Geist befestige diese Wort in euren Herzen, damit ihr das nicht nur gehört, sondern auch im Alltag erfahrt, auf daß euer Glaube zunehme und ihr endlich selig werdet, durch Jesum Christum unseren Herrn. Amen

 

Perikope
25.03.2016
5,14-19

Versöhnung – nichts für Feiglinge! - Predigt zu 2. Korinther 5,19-21 von Ruth Conrad

Versöhnung – nichts für Feiglinge! - Predigt zu 2. Korinther 5,19-21 von Ruth Conrad
5,19-21

Versöhnung – nichts für Feiglinge!

Der Predigttext zum Karfreitag steht im 2. Brief an die Korinther, Kapitel 5, die Verse 19-21. Paulus schreibt: (19) Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. (20) So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! (21) Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.

Versöhnung,
liebe Gemeinde,
Versöhnung ist nichts für Feiglinge.
Manchmal stellt man sich das Geschäft der Versöhnung ja etwas prosaisch vor.
So ein bisschen wie in dem – dann missverstandenen – Lied:
Wie ein Fest nach langer Trauer,
wie ein Feuer in der Nacht,
ein offnes Tor in einer Mauer,
für die Sonne aufgemacht.
Wie ein Licht auf steilen Klippen,
wie ein Erdteil neu entdeckt.
Wie der Frühling, wie der Morgen – so sei Versöhnung. (EG 660).
Doch wo wir uns Versöhnung zu leicht, zu sonnig, zu frisch vorstellen, da verfehlen wir womöglich ihr Wesen. Da bekommen wir vielleicht Phänomene wie „Vergessen“ oder „Verdrängen“ in den Blick, nicht aber Versöhnung.
Versöhnung nämlich ist harte Arbeit.
Eine Arbeit, bei der man sich selbst oft in zweierlei Gestalt begegnet – als Täter und als Opfer.
Man lernt sich und den anderen in wechselnden Rollen kennen.
Und deshalb benötigt man zur Versöhnung Mut, und zwar in doppelter Hinsicht:
Erstens: Versöhnung benötigt Mut als Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst und als Bereitschaft zu vergeben.
Zweitens: Versöhnung benötigt Mut als Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst und als Bereitschaft zur Reue.
Und ein drittes tritt hinzu: Versöhnung bedarf der Wiedergutmachung.

Beginnen wir mit dem ersten:
Für Versöhnung benötigt man Mut als Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst und als Bereitschaft zu vergeben.
Man kann sich das ganz gut im Blick auf die eigene Lebensgeschichte klarmachen.
Viele von uns tragen in sich Brüche und Verwundungen aus Kindheitstagen.
Da waren die Eltern, die einem immer wieder aufs Neue signalisiert haben:
Du kannst das nicht.
Du bist zu dick.
Zu dumm.
Zu faul.
Zu laut.
Stetig wurde das Gefühl genährt, nicht richtig, nicht gut genug zu sein.
So, wie man war, das war nie richtig.
Ständig wurde rumerzogen, wurden Kränkungen, vielleicht gar Schläge verteilt, nur, damit man selbst, das Kind, endlich so wäre, wie die Eltern sich ein Kind idealerweise vorstellen.
Und so hinkt man dann los ins Leben:
In der Seele verwundet, weil man sich nicht gut genug fühlt.
Im Herzen gekränkt, weil man immer nur die Grenzen, die Schwächen hat gezeigt bekommen.
Das Selbstvertrauen auf Rückzug getrimmt: Mach dich unsichtbar. Dich braucht hier keiner. Dich mag eh keiner.
Doch womöglich haben die Eltern nur weitergegeben, was sie selbst erlitten haben. Und so hängen wir über Generationen fest in endlosen Ketten von Verletzungen und Kränkungen.
Empfangen, was andere zerstört hat.
Geben weiter, was uns zerstört hat.
Dieses Einverwoben-Sein in die endlose Geschichte von zerstörerischen Erfahrungen nennt die Bibel „Sünde“.
Und die Versöhnung mit solchen Geschichten und Erfahrungen ist wahrhaft nichts für Feiglinge.
Denn hier kann es ja nicht um Vergessen oder Verdrängen gehen. Wer hier auf Vergessen oder Verdrängen setzt, läuft womöglich Gefahr, dass ihn die dunklen Erfahrungen bei Nacht anfallen; dass sie ihm immer wieder zur Falle werden; dass wir bestimmte Verhaltensmuster nie aufbrechen können; dass wir immer an die schlimmen und schwierigen Seiten unserer Geschichte gekettet bleiben.
Weder Vergessen noch Verdrängen machen frei,
so frei, dass etwas Neues, Anderes möglich wird.
Dass Friede möglich wird.
Versöhnung heißt deshalb:
Sich mutig und aufrichtig seiner eigenen, auch dunklen Geschichte erinnern.
Die eigenen Verwundungen anschauen lernen, sie nicht bagatellisieren, ihnen so einen Ort in der eigenen Biographie zu weisen. Das kann höllisch wehtun. Weil man gleichsam in den Wunden lang spaziert. Das Schlimme noch einmal vergegenwärtigt. Aber nur so habe ich die Möglichkeit, Herr zu werden über meine Erfahrungen und über das, was andere mir zugefügt haben. Indem ich meine Geschichte erzähle und durchleide, deute ich sie und gewinne ein Stück Macht zurück, auch über das Schlimme, das andere mir zugefügt haben. Ich komme in eine Position der Stärke. Aus der heraus ich dann vergeben kann.
Die Bereitschaft, dem anderen zu vergeben, das ist jener innere Friede, der mir in der aufrichtigen Auseinandersetzung mit meiner Geschichte zuwächst. Plötzlich ist er da, ich weiß nicht woher und warum, aber er fühlt sich nach Neu-Werden an.
Wie ein Regen in der Wüste,
frischer Tau auf dürrem Land. (EG 660)

Versöhnung ist harte Arbeit.
Zudem eine Arbeit, bei der wir uns oft in zweierlei Gestalt begegnen – als Opfer und als Täter.
Wir werden ja nicht nur gekränkt, wir kränken auch.
Wir müssen nicht nur einstecken. Wir teilen auch aus.
Auch hierfür haben wir reichlich Erfahrungswissen.
Da haben wir selbst einen schlimmen Fehler gemacht.
Waren so richtig gemein und haben eine andere Person, vielleicht eine Person, die uns sehr nahe steht, die wir lieben, schlimm gekränkt.
Haben Dinge gesagt, die in Beziehungen besser nicht gesagt werden.
Haben die Schwächen des anderen in blinder Wut ans Licht gezerrt,
haben sie genüsslich ausgebreitet.
Ja, wir waren böse, gehässig und in voller Absicht ungerecht und fies.
Der andere, womöglich der Partner, er ist völlig zu Recht gekränkt, zieht sich zurück, erwägt Konsequenzen.
Auch hier benötigt es zur Versöhnung Mut.
Mut als Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst und als Bereitschaft zur Reue.
Wir gehen ja in so einem Fall nicht einfach hin und sagen: Sorry, dumm gelaufen. Hab’s nicht so gemeint. Kommt nicht wieder vor.
Eine solche Banalisierung wäre eine Fortsetzung des Konfliktes mit anderen Mitteln.
Der andere käme sich – völlig zu Recht – total veralbert vor.
Wir blieben beide in dem Konflikt gefangen.
Der Weg in den Frieden, in einen neuen Zustand, er bliebe versperrt.
Wir ahnen:
Auf der Seite der Täter gehört zur Versöhnung doch auch ein schlechtes Gewissen.
Ein inneres Tribunal.
Zerknirschung.
Reue.
Ich muss mir gestehen: So toll, wie ich immer denke, bin ich nicht. Ich bin kein hoffnungslos guter, immer irgendwie mit mir authentischer Mensch voller edler, reifer Gefühle und Motive.  Ich habe auch das Zeug zum Ekelpaket. In mir schlummern Abgründe und Gehässigkeiten, die ich nicht immer unter Kontrolle habe. Manchmal brechen diese mit unbändiger Zerstörungswut aus mir heraus. Das eben nennt die Bibel „Sünde“.
Und nicht immer findet sich eine gute Entschuldigung, nach dem Motto: Wie du mir, so ich dir. Oder: Manchmal muss auch was gesagt werden, damit es weiter geht.
Nein.
Versöhnung, die dem anderen erlaubt, zu seinen Verletzungen zu stehen,
eine solche Versöhnung setzt voraus,
dass ich, der ich verletzt habe, mich bekenne,
dass ich an mir selbst leide,
dass es mir von Herzen leidtut,
dass ich Reue zeige,
mich entschuldige,
um Vergebung bitte und sie – das gebe Gott – dann erfahre.
Auch hier ereignet sich Vergebung unverhofft, unverfügbar, in der aufrichtigen Auseinandersetzung mit meinen dunklen Seiten. Und plötzlich ist er da, der Friede. Ich weiß nicht woher und warum, aber er fühlt sich nach Neu-Werden an.
Wie ein Regen in der Wüste,
frischer Tau auf dürrem Land. (EG 660)

Versöhnung,
liebe Gemeinde,
Versöhnung ist nichts für Feiglinge.
Für Versöhnung benötigt man Mut:
Erstens: Mut als Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst und als Bereitschaft zu vergeben.
Und zweitens: Mut als Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst und als Bereitschaft zur Reue.
Doch ein drittes tritt hinzu: Versöhnung bedarf der Wiedergutmachung.
Das müssen wir ehrlicherweise eingestehen.
Die Täter, Ich als Täter, kann nicht nur zerknirscht sein, mich entschuldigen, aber nicht gut zu machen suchen, was kaputt ging.
Der südafrikanische Bischof Desmond Tutu hat dies einmal eindrücklich beschrieben: „Die, die Unrecht getan haben, müssen bereit sein, so viel Wiedergutmachung zu leisten wie sie können. Sie müssen bereit sein, Ersatz und Entschädigung zu leisten. Wenn ich deinen Kugelschreiber gestohlen habe, dann kann ich nicht wirklich bereuen, wenn ich sage: ‚Bitte, vergib mir‘, und deinen Kugelschreiber trotzdem noch behalte. Wenn ich wirklich reumütig bin, dann werde ich diese aufrichtige Reue dadurch zum Ausdruck bringen, dass ich dir deinen Kugelschreiber zurückgebe. Dann wird Versöhnung, die immer auch etwas kostet, geschehen.“
Der „Kugelschreiber“ ist ein Bild. Es lässt sich beliebig fortschreiben:
Wenn ich dir deine Kindheit, dein Selbstvertrauen gestohlen habe, dann genügt es nicht, nur ein schlechtes Gewissen zu haben. Dann muss ich meinen Umgang mit dir ändern. Und an mir selbst arbeiten.
Wenn ich deine Schwächen ans Licht gezerrt und dich zutiefst beleidigt habe, dann genügt es nicht, nur „Sorry“ zu sagen. Dann muss ich meinen Umgang mit dir ändern. Und an mir selbst arbeiten.
Speziell, wenn wir den privaten Bereich überschreiten, wird deutlich, wie wichtig Wiedergutmachung ist.
Versöhnung zwischen verfeindeten Gruppen ist schwer vorstellbar, ohne Ausgleich, ohne Wiedergutmachung.
Wem weggenommen wurde, der muss wiederbekommen.
Sein Land, seine Rechte, seine Würde, seine Religion.
Denken sie an Südafrika, an Bosnien, an Ruanda, an die schwierige Geschichte der Deutschen mit dem jüdischen Volk. Hier kann es keine Versöhnung ohne Wiedergutmachung geben.
Ohne Ausgleich. Ohne Ersatz.
Versöhnung hat ihren Preis.
Sie ist nicht nur ein innerlicher Prozess.
Nein, sie kostet.
Und womöglich viel.
Jedenfalls mehr, als manchen oft lieb ist.

Versöhnung ist nichts für Feiglinge.
Zur Versöhnung benötigt man Mut:
Mut als Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst und als Bereitschaft zu vergeben.
Und: Mut als Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst und als Bereitschaft zur Reue.
Außerdem: Versöhnung bedarf der Wiedergutmachung.
All das prägt unseren Umgang mit unserer eigenen Geschichte, mit unseren nächsten Menschen, aber auch der Menschen und Völker untereinander.

Und wir wären heillos überfordert mit dieser Aufgabe der Versöhnung, hätte Gott nicht selbst uns zur Versöhnung erlöst.
All unsere Bemühungen um Versöhnung und Frieden führten nicht heraus aus unseren Verkettungen und Verstrickungen, hätte Gott nicht selbst eingegriffen und ein für alle Mal das Wort von der Versöhnung aufgerichtet.
Die Aufgabe der Versöhnung ist zu komplex. Wir kämen mit ihr nicht zu Rande, wäre nicht Gott eingetreten.
Heute, am Karfreitag, denken wir daran, dass Gott selbst sich der Versöhnung angenommen hat.
Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.
All unsere Sünde,
unser heilloses Verstrickt-Sein in die ewige Kette von Verletzen und Verletztwerden,
von Kränken und Gekränkt-Werden,
all unsere innere Niederträchtigkeit, mit der andere quälen können,
all unsere inneren Brüche, unser Leiden am Streit,
daran, nicht so zu können, wie wir wollen,
all das, was die Bibel „Sünde“ nennt und was nach Versöhnung ruft, hat Gott an den Sohn Jesus Christus gehängt.
Weil die Sünde im Sinne der Bibel eine so große, so tiefgehende ist,
weil sie unser Leben im innersten manipuliert,
weil sie hindert, dass wir die sind, die wir sein sollen und können und weil sie unsere Beziehungen untereinander vergiftet,
deshalb kann der Preis kein geringerer sein als der Sohn.
Wo Leben gekränkt und zerstört wird, muss Leben eingesetzt werden.
Wo das Herz verwundet ist, muss das zu Herzen-Gehende, der Sohn, eingesetzt werden.
Der Sohn ist der Preis der Wiedergutmachung.
Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.

Damit kommt Gott all unserem Arbeiten, Leiden und Ringen um Versöhnung zuvor.
Ja, er ermöglicht sie zu allererst.
Gott schafft an Karfreitag den Raum der Versöhnung, in dem wir alle in Frieden aufgehoben sind.
Als Opfer, denen hier die Bereitschaft und die Kraft zur Vergebung zuwächst.
Weil Gott unser Herz mit unserer Geschichte versöhnt und wir jenen inneren Frieden spüren, der nur aus den Quellen göttlicher Versöhnung fließen kann. Plötzlich ist er da, ich weiß nicht woher und warum, aber er fühlt sich nach Neu-Werden an.
Und als Täter, denen hier die Bereitschaft zur Reue, zum Kniefall vor den Wunden des Anderen zuwächst.
Weil Gott unsere Seele nicht zerbrechen lässt, wenn sie die eigene Niederträchtigkeit sieht, sondern sie neu macht. Aus Reue wächst Vergebung. Friede.
Wie ein Regen in der Wüste,
frischer Tau auf dürrem Land. (EG 660).

Der Karfreitag ist der große Versöhnungstag.
Hier schafft Gott die Möglichkeit, dass wir Versöhnung erleben können.
Weil er uns als Versöhner vorangeht.
Das Geschäft der Versöhnung ist kein Triviales.
Versöhnung hat einen hohen Preis.
Sie benötigt Mut,
Reue und Bereitschaft zu Vergebung.
Ohne dass Gott am Kreuz vorgearbeitet hätte, wäre sie nicht zu schaffen.
Wir blieben auf ewig gefangen in unseren Geschichten, in unseren Wunden, in unserer Niedertracht.
Gott sei Dank ergreift Gott die Initiative.
Gott sei Dank gibt es Karfreitag.

Versöhnung ist nichts für Feiglinge!

Versöhnung ist eine Sache des Gottesglaubens.

Und für den hat man schon immer den Mut benötigt, sich selbst realistisch zu sehen.

Und so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!

Amen

 

Perikope
25.03.2016
5,19-21

Der Tod, der Versöhnung schenkt - Predigt zu 2. Korinther 5,19-21 von Peter Schuchardt

Der Tod, der Versöhnung schenkt - Predigt zu 2. Korinther 5,19-21 von Peter Schuchardt
5,19-21

Der Tod, der Versöhnung schenkt

Liebe Schwestern und Brüder,

heute, am Karfreitag, geht es um Leben und Tod. Und es geht um mehr. Jesus stirbt am Kreuz. „Es ist vollbracht!“, das sind seine letzten Worte nach dem Evangelisten Johannes. Jesus ist am Ziel. Und mit seinem Tod geht sein Weg zu Ende. Aber sind das die passenden Worte angesichts des Todes? Hätte er nicht doch noch laut „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ schreien sollen? Kann denn so mit dem Tod sein Lebensweg wirklich enden? Jesus ist jung in unseren Augen, Anfang 30. Macht sein junges Alter seinen Tod nicht sinnlos, wie so viele jungen Menschen ohne sinn sterben, vor der Zeit, wie die Bibel sagt? Ist der Tod Jesu denn sinnlos? Wäre es nicht besser gewesen, er hätte länger gelebt, uns noch mehr von Gott erzählt, mehr Menschen geheilt, Traurige getröstet und Verlorenen wiedergefunden? Dann, ja dann, wenn er alt und lebenssatt wie Hiob von dieser Erde gegangen wäre, dann hätte das „Es ist vollbracht!“ gut gepasst. Aber so? Sollten wir nicht einfach der Trauer Raum geben, das „es ist vollbracht“ vergessen und gemeinsam: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ rufen?

Die Trauer nimmt heute einen großen Raum ein in unserem Gottesdienst. Der schwarz verhängte Altar ist ungeschmückt. Die Kerzen und die Blumen fehlen. Am Ende werden die Glocken schweigen. Die Lieder, die wir heute singen, bringen die Trauer zum Ausdruck. Denn Jesus wird hingerichtet wie ein Verbrecher. Er hat entsetzlich gelitten unter den Qualen der Folter. „Und wir dachten, er würde Israel erlösen“, sagen seine Jünger. Aber erklärt das schon den Sinn des Karfreitags, die Trauer um einen besonderen Menschen? Dann müssten wir oft in unserer Kirche zusammenkommen, weil so viele bedeutende Menschen, bedeutend für die Welt und für unser Leben, sterben. Es gibt Menschen, auch Theologen, die sehen in Jesus ein Vorbild der Mitmenschlichkeit. Sein Tod ist dann das Ende, das viel zu frühe Ende dieses vorbildlichen Lebens. Der Karfreitag wird dann ein Trauertag für ein Lebensvorbild. Aber wenn da so wäre, dann ist es doch absurd, wenn Jesus sagt: „Es ist vollbracht!“. Schade, dass es schon vorbei ist, das hätte besser gepasst. Was soll der Tod am Kreuz? Was will Gott mit diesem Tod? Oder ist er ganz außen vor, interessiert ihn das Leiden Jesu gar nicht, hat er ihn voll und ganz verlassen? Stirbt Jesus als gottverlassener Mensch, ja noch mehr: Stirbt er als gottverlassener Sohn Gottes? Das wäre gräuslich und lieblos und schrecklich und sinnlos. Denn wenn Jesus, der Sohn Gottes, ohne Gott stirbt, dann doch auch wir! Dann sind doch all die, die vor uns gegangen sind, ob alt, ob jung, ohne Gott gestorben, verloren, einsam, gottverlassen. Und das soll dann die zentrale Botschaft unseres Glaubens sein: Ihr lebt ohne Gott und ihr sterbt ohne Gott? Das wäre das, was ich Woche für Woche, bei allen Beerdigungen, den Taufen, im Konfirmandenunterricht sagen sollte? Dann würde ich den Beruf aufgeben. Denn dann wäre ich ja der Verkünder einer gräuslichen und lieblose, einen schrecklichen und trostlosen, einer sinnlosen Botschaft.

Immer wieder aber haben Menschen nach dem Sinn des Todes Jesu gesucht. Wer den Sinn nur im Leben, in der Mitmenschlichkeit Jesu finden will, scheitert ganz schnell. Denn sein Leben ist ohne seinen Tod nicht zu verstehen, genauso wie sein Tod nur mit seinem Leben zu verstehen ist! Darum lasst uns seinen Tod nun näher besehen, damit wir ihn verstehen, liebe Schwestern und Brüder. Dabei helfen uns Worte aus dem 2.Korintherbrief des Apostels Paulus. Paulus hat sich immer wieder intensiv mit dem Leben und Sterben Jesu beschäftigt. Denn das sind ja die Fragen der Menschen damals wie heute: Warum geht Jesus, dieser Mensch, dieser Sohn Gottes, in den Tod? Warum leidet er, wenn Gott doch die Liebe ist? Was hat sein Tod vollbracht? Paulus schriebt dazu: Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt. (2 Kor 5, 19-21)

Zwei Worte stehen für Paulus im Mittelpunkt, liebe Schwestern und Brüder: Versöhnung und Gerechtigkeit. Wir kennen das nur zu gut aus unserem Leben. Ich habe mich mit jemandem gestritten. Du warst nicht einig mit mir in einem wichtigen Punkt. Aber wir hängen doch aneinander. Darum gehen wir aufeinander zu und versöhnen uns wieder. Das kennt ihr, liebe Schwestern und Brüder, aus der Familie, aus der Nachbarschaft, aus der Schule. Sich mit dem anderen zu versöhnen ist lebenswichtig. Denn die Versöhnung heilt die zerbrochene Beziehung und stellt den Frieden wieder her. Und Gerechtigkeit ist das zentrale Wort für unser Leben: Gerecht sein heißt, möglichst allen das Gleiche zukommen zu lassen, die vorhandenen Dinge genau abgemessen zu teilen und zu verteilen. Wehe, einer kriegt weniger, als er verdient hat! Das ist in unseren Augen un-gerecht. Was aber ist, wenn einer mehr kriegt, als er verdient hat? Ist das dann auch un-gerecht? Irgendwie schon, sagen meine Konfirmanden.

Hier bei Paulus geht es nun aber um die Versöhnung Gottes und um seine Gerechtigkeit. Das ist weit mehr als die Versöhnung zwischen zwei menschlichen Streithähnen. Denn Gott versöhnt sich mit uns, und Gott macht uns gerecht. Wenn Gott  sich versöhnen will, dann ist die Beziehung zwischen ihm und uns gestört oder gar ganz kaputt. Und wenn wir uns ansehen, heute am Karfreitag, dann müssen wir sagen: Ja, es ist so. Die Bibel hat dafür ein Wort: Sünde. Ich weiß, heute wird davon – außer bei Verkehrssündern und Essensünden – kaum mehr davon gesprochen. Auch nicht in der Kirche. Aber das nimmt dem Wort ja nicht die Wahrheit, die es sagen will. Sünde im Sinn der Bibel meint: Wir lassen Gott, unseren Herrn, nicht Gott sein. Wir nehmen ihn nicht ernst. Wir holen ihn ab und zu, zu Weihnachten und bei Katastrophen, heraus aus der Ecke, in die wir ihn gestellt haben. Aber wir lassen ihn nicht den Herrn unseres Lebens sein. Wir gehen mit seiner Schöpfung um, als könnten wir eine neue im  Supermarkt kaufen. Wir treten die Rechte von Kindern mit Füßen. Kümmern uns mehr um herrenlose Tiere als um unsere Alten in den Pflegeheimen, die auf einen Besuch, auf ein Gespräch warten. Anderes bestimmt unser Denken und Fühlen und Handeln. Möglichst viel bekommen, danach streben wir, und zwar möglichst viel Geld. Darum dreht sich das Denken viel zu vieler. Jesus warnt uns in seinem Leben davor:  Wenn wir Gott nicht ernst nehmen, nehmen wir auch uns selbst und unseren  Nächsten nicht ernst. Da reicht ein Blick in die Zeitung um zu sehen, wie wahr das leider ist. Da kann man schon zornig werde angesichts dessen, was Menschen einander antun, weil sie Gott vergessen haben. Gott aber möchte, dass wir ihn ernst nehmen. Denn nur so können wir leben, miteinander und mit uns selbst. Nur so können wir lieben. Nun haben einige Theologen aus Gott einen zornigen Gott-Vater gemacht. Der muss seinen eigenen Sohn opfern, damit sein Zorn besänftigt wird. Das ist aber völlig falsch. Denn, so sagt es uns Paulus, Gott fordert doch kein Opfer. Es ist ganz anders: Er gibt sich selbst hin, damit Versöhnung zwischen ihm und uns geschehen kann. Denn Gott sieht: Die Sünde, die Schuld, unser ständiges Drehen nur um uns selbst, das alles hält uns gefangen. Wir sind nicht frei. Wir verheddern uns im Gestrüpp und kommen allein nicht mehr heraus. Gott aber will ja, dass wir frei leben. Darum geht er einen neuen Weg, den Paulus so beschreibt: Gott versöhnte die Welt mit sich selber. Gott verändert die gestörte Beziehung zwischen ihm und uns. Er allein macht es, nicht wir. Gott schließt Frieden mit uns, ohne dass wir auf ihn zugehen. Er geht allein den Weg zu uns. Und der führt ihn in die tiefsten Tiefen der menschlichen Abgründe. Gottlos ist diese Welt manchmal, weil wir Gott nicht die Ehre geben. Sie ist nicht gottlos, weil Gott sich aus ihr verabschiedet hätte. Ganz im Gegenteil! Er geht ja in seinem Sohn zu uns und kommt uns so nah wie nur möglich. Denn er will sich versöhnen mit uns. Gott will uns ja herausholen aus allem, was uns gefangen hält. Er will uns herausholen aus aller Verlorenheit. So lässt Jesus die Menschen, die ihm begegnen, die Versöhnung Gottes erfahren: Du bist geheilt. Du darfst leben. Du gehörst dazu. So sehr liegen wir Gott am Herzen, dass sein Sohn für uns in den Tod geht. Es kostet Gott sehr viel, damit wir leben. Es kostet ihn sein Leben.

Karfreitag geht es um Leben und Tods, das ist richtig. Christus geht in den Tod für uns. So kommt zu der Trauer über seine  Tod die Trauer über unser Leben hinzu: So sind wir. Verloren und unwürdig, weil wir Gott nicht ernst nehmen. Er aber nimmt uns ernst, nimmt unser Leben ernst und unser Verlorensein. Wir leben ja gerne an der Oberfläche und  tun so, als ob uns das alles nichts ausmacht. Aber diese Oberfläche bekommt immer mehr Risse. Und was, wenn wir dann in unsere Abgründe blicken? Oft verzweifeln wir dann und wissen keinen Ausweg. Gott aber nimmt auch unsere Sünde und unsere Schuld ernst. Es würde doch nichts bringen, würde Gott sagen: „Das ist schon in Ordnung, Schwamm drüber, ich lieb dich ja trotzdem.“ Wenn wir andauernd nicht das tun, was Gott von uns möchte, kann er nicht einfach darüber hinwegsehen. Das führt zwischen zwei Menschen in die Irre, und bei Gott und uns natürlich erst recht. Vertuschen und verschweigen bringt nix. Nur die Wahrheit wird euch frei machen, sagt uns Jesus. Und so ändert Gott die Beziehung zu uns. Er allein. Er nimmt die Unwürdigkeit von uns mit in den Tod am Kreuz. So werden wir frei davon und würdig, vor Gott zu treten. Würden wir selbst es versuchen, wir würden immer wieder scheitern. Wir scheitern tagaus, tagein in unseren Beziehungen, uns selbst gerecht und würdig zu machen. Weil Gott uns trotz allem liebt, nur darum geht er diesen schweren Weg. Nur die Wahrheit macht uns frei. Aber die Wahrheit über uns ist nicht leicht. Wir sind nicht so toll, so edelmütig, so überlegen, so frei, wie wir es gerne sein wollen. Wir wollen ernstgenommen werden, aber bitteschön nur mit unseren guten Seiten und Erfolgen. Wenn es aber um Leben und Tod geht, dann muss alles gesagt werden, die ganze Wahrheit über uns. Wir alle sind Sünder. Da ist niemand, der besser ist, sagt die Bibel. Wir alle leben getrennt von Gott. Aber nun steht das Kreuz da. Es ist unser Erkennungszeichen als Christen. Es zeigt uns, wie Jesus stirbt. Aber da Kreuz ist doch mehr als das Zeichen des Todes. Denn Gott hängt unsere Sünde, alle Gottesferne ans Kreuz. Jesus nimmt sie mit in den Tod. Gott räumt weg, was wir aufhäufen an Schuld und Versagen, damit er ungehindert zu uns kommen kann. Damit wird das Kreuz zum Zeichen des Todes der Sünde. Es wird uns zum Zeichen der Versöhnung. Gott macht uns gerecht. Er tut das, so selbstgerecht wir auch sein mögen. Wir scheitern aber immer wieder mit unseren Versuchen, uns selbst gerecht und gut zu machen. Gott macht uns nun gerecht und würdig. So können wir zu ihm kommen. Oder noch besser: Gott macht uns würdig und gerecht und gut, indem er zu uns kommt. Und damit bekommen wir alle mehr, als wir verdient haben. Das ist die Gerechtigkeit Gottes. Sie ist das Geschenk des Lebens. Und das, liebe Schwestern und Brüder, dürfen wir am Kreuz sehen. Mit Golgatha, mit Jesu Tod, hat Gott es aufgerichtet in der Welt als sein Versöhnungszeichen für alle. Das ist das Wort, das Paulus sagt und das ich heute gern an euch weitersage: Lasst euch versöhnen mit Gott! Blickt weg von euren Fehlern hin zu dem, der alle unsere Fehler und Lasten trägt. Nehmt Gottes Angebot der Versöhnung und des Lebens an. Und versucht, euch miteinander zu versöhnen, wo immer es möglich ist.

Dieses Wort ist der Grund unserer Kirche. Karfreitag geht es um Leben und Tod. Und es geht um mehr. Wir blicken am Kreuz auf den, der uns den Frieden bringt. Christus stirbt am, Kreuz, damit wir leben. Das ist vollbracht! Darum lasst uns immer, wenn wir das Kreuz sehen, daran denken: Gott macht uns diese wunderbare Lebensangebot. Lasst uns das zu Herzen nehmen. Und lasst uns dieses Wort der Versöhnung in unsere Welt bringen. Sie lebt zu oft unversöhnt und ohne Frieden. Doch nur durch Gott wird unsere Welt frei. Auch wir, liebe Schwestern und Brüder. Amen 

Perikope
25.03.2016
5,19-21

Versöhnung: Christliches Alleinstellungsmerkmal!? - Predigt zu 2. Korinther 5,(14b)19-21 von Ralf Hoburg

Versöhnung: Christliches Alleinstellungsmerkmal!? - Predigt zu 2. Korinther 5,(14b)19-21 von Ralf Hoburg
5,19-21

Versöhnung: Christliches Alleinstellungsmerkmal!?

Liebe Predigtgemeinde

In der Erinnerung meiner Kindheit war der Karfreitag ein düsterer Tag. Im dereinst noch nicht privatisierten Radio- und Fernsehprogrammen der 60er und 70er Jahre ertönte die schwere Musik des „Deutschen Requiem“ von Johannes Brahms, das sich an einer „Totenmesse“ orientiert, oder von Anton Dvorak „Stabat mater“. Allein schon die Musik verbreitete zu Hause eine gedrückte Stimmung. Der traditionell höchste Feiertag des Protestantismus glich damals und in meiner Erinnerung bis heute dem inneren Gefühl nach einer akuten kollektiven Depression. Hinzu trat dann noch die ausgedehnte Langeweile, denn die sonst zahlreichen und fröhlich kreischenden Spielkameraden in meiner Nachbarschaft saßen ebenso bedrückt in ihrem Kinderzimmer wie ich, denn sich „draußen vor der Tür“ zum Spielen zu verabreden war damals an kirchlichen Feiertagen ein „no go“. Auch das Fernsehprogramm ordnete sich brav unter die kirchlich-protestantisch diktierte Depression. Wo sonst heiter „Ekel Alfred“ oder Telly Savalas über den Fernsehbildschirm lief, war Karfreitag der Ort getragener Stimmung im Fernsehen und um 15.00 Uhr läuteten pünktlich die Glocken vom Kirchturm zur Todesstunde Christi. Keine Serie, kein Krimi oder heiterer Film flimmerte über die Mattscheibe. Der blanke Ernst lag in der Luft. Im Fernsehprogramm konnte ich dafür Filmklassiker sehen wie etwa „Das Erste Evangelium Matthäus“ des italienischen Filmregisseurs Pierre Paolo Pasolini oder den Spielfilm „In den Schuhen des Fischers“. Die Kunst des Films von Pasolini liegt in der Focussierung, bei der der gesamte Bibeltext des Matthäusevangeliums erzählt und mit eindrücklichen Filmeinstellungen teilweise in Nahaufnahme unterlegt wird. Im Zentrum: Jesus – konzentriert, spirituell, an der Welt leidend, aber ästhetisch beinahe ein erotisch wirkender Mann, der der Wirklichkeit dieser Welt entrückt zu sein scheint. Das Diktum des Neutestamentlers Rudolf Bultmann, wonach die Evangelien eine „Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung“ darstellen, traf für diesen Film im wahrsten Sinne medial zu. In einem Seminar an der Universität zum Thema Medien und Religion habe ich den Film heutigen jungen Studierenden der Religionspädagogik gezeigt und es wurde deutlich, wie sehr sich nicht nur die Sehgewohnheiten im Medienkonsum geändert haben, sondern auch religiöse und theologische Einstellungen.  Die Melancholie und die erdrückende Langsamkeit des Films sind für junge Menschen heute kaum noch auszuhalten. Im Gefühl vieler Studierenden der Religionspädagogik ist darüber hinaus aber auch der Karfreitag und damit die Bedeutung des stellvertretenden Kreuzestodes Christi zu einer „Leerformel“ überholter protestantischer Kirchlichkeit degeneriert, die mit dem eigenen Glauben nur noch wenig in Verbindung gebracht wird.   

Es wäre gelogen, wenn ich nicht zugeben würde, dass die Privatisierung des Fernsehens und der Medien ab 1984 und damit die Zurückdrängung des kirchlich legitimierten Depressionspotentials am Karfreitag für mich geradezu eine seelische, ich möchte sagen ästhetische Befreiung darstellte. Gott sei Dank: auch am Karfreitag darf dank RTL und SAT I gelacht werden.  Den jüngst verstorbenen italienischen Autor Umberto Eco, der der Verfasser  des Romans „Im Namen der Rose“ ist und in dem es im Zentrum genau über das Verbot des Lachens geht, wird dies freuen. Meine Freude dauerte indes nur ein paar Jahre, bis ich als Gemeindepastor durch die Welt der Passionslieder und ihrer Schmerzens- und Wundenanbetung im pietistischen Ostwestfalen erneut die erdrückende Last der christlichen Todessehnsucht fühlte. Ich sehe noch vor meinem inneren Auge bis heute die Trauerminen der Pastorenkollegen, die das Leiden Christi in diesen Tagen in ihrer eigenen Ästhetik abbildeten.

Heute unterscheidet sich das Fernsehprogramm am Karfreitag kaum noch von anderen Tagen und im medialen kollektiven Nutzungsdschungel spielt Karfreitag nur eine untergeordnete Rolle, die – wenn man ehrlich ist – letzten Endes eigentlich der Bedeutung der Kirche in unserer Gesellschaft entspricht. Allerdings weisen nach wie vor die Ländergesetze der Bundesrepublik Schutzvorschriften für den Karfreitag auf wie etwa „Tanz- und Feierverbote“ oder öffentliche Sportveranstaltungen, so dass bis heute gilt: Ganz ohne „depri-Stimmung“ geht es im Christentum scheinbar nicht und am Karfreitag konzentriert sich das Christentum auf seine Mitte. Deshalb ist der Karfreitag immer noch in der binnenkirchlichen Wahrnehmung ein besonderer Tag. Und vielleicht verstärkt sich das in einer Gesellschaft der Zukunft noch, wenn die immer weniger werdenden protestantischen Christen am Karfreitag unterwegs zur Kirche auf der Straße denjenigen Menschen begegnen, die sich auf den Weg zum Freitagsgebet in die Moschee begeben. Wer weiß: Es wäre doch spannend, wenn dort ein Transparent hinge: „Protestants welcome!“ und die Religionen sich begegneten. Karfreitag – ein spezieller Tag interreligiöser Begegnung auf den Straßen im Land. 

I.  „Einer für alle“ – Das Kreuz als universales Zeichen

„Einer für alle“ – das klingt wie eine abgedroschene Formel aus der bündischen Jugendarbeit der Vergangenheit. Vielfach wird der Spruch auch heute noch im Alltag gebraucht … von Kinderbüchern bis zu der Fernsehserie „Eine für alle“ oder dem Film „Einer für alle, alles im Eimer“.  Nun kommt der Spruch aber aus dem 2. Korintherbrief des Apostel Paulus und begegnet dort in einem bestimmten Zusammenhang, in dem er zwei wichtige Themen seiner Theologie damit verbindet: Den Kreuzestod Jesu Christ und die Versöhnung. Und beide Aspekte bringt er auf die Kurzformel: „Einer für alle“, mit der er die Gemeinde wieder einschwören will auf das, was er dort am Anfang seiner Wirksamkeit verkündigt hat.

Den Apostel Paulus verbindet mit der Gemeinde in Korinth ein sehr inniges, aber konfliktreiches Verhältnis. Er hatte die Gemeinde bereist und baute eine Beziehung zu ihr auf. Als Apostel kommt ihm die Bedeutung zu, die Gemeinde mit seiner Missionspredigt gegründet zu haben. So schreibt er eindrücklich im 1. Korintherbrief: „Wer ist nun Apollos? Wer ist Paulus? Diener sind sie, durch die ihr gläubig geworden seid“ (1. Kor. 3,5) Und wenig später nennt er die Grundlage seiner Verkündigung: „Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus“. (1. Kor. 3,11) Der Apostel Paulus ist ein Christusverkündiger und damit unterscheidet er sich mit seinen Briefen gänzlich von den Evangelien, in deren Mitte Jesu Wirken und Leben bis hin zu Passion und Ostern steht. Die Theologie des Apostel Paulus verdichtet sich statt der erzählerischen Breite der Evangelien auf wenige Kernerkenntnisse. Wenn man so will, ist der Apostel Paulus als selbst zum Glauben Gekommener der erste dogmatische Theologe. 

Und in diesem Zusammenhang erhält der auf den ersten Blick harmlos klingende Satz „Einer für alle“ (2. Kor. 5,14b) eine Zentralstellung, denn in ihm reflektiert Paulus zwei fundamentale Säulen des christlichen Glaubens: Einerseits den Begriff der Sühne und andererseits den Begriff der sog. Stellvertretung. Und beide Begriffe werden engstens mit dem Verständnis des Kreuzestodes Jesu Christi verbunden. Und um es vorweg zu sagen: Genau an dieser Stelle gibt es keine Überein-stimmung der ansonsten sehr eng verwandten Religionen von Christentum, Judentum und Islam. Im Kreuzestod Jesu Christi und seiner Bedeutungszuschreibung liegt das „Alleinstellungsmerkmal“ des Christentums.  

In der religiösen Vorstellungswelt von Judentum und Christentum kommt dem Begriff der „Sühne“ eine fundamentale Bedeutung zu. „Sühne“ setzt aus der Perspektive des Gläubigen das gebrochene Verhältnis des Menschen zu Gott voraus. Das ungetrübte Gottesverhältnis, wie es der Religion nach nur im paradiesischen Zustand begegnet, wird durch den Sündenfall (1. Mose 3) außer Kraft gesetzt. Auf diese Weise einer mythologischen Rede über den Sündenfall erklärt die hebräische Bibel, dass Gott und Mensch getrennt sind. Liest man die hebräischen Texte, so wird erkennbar, dass symbolisch das Volk Israel für das Verhältnis von Gott und Mensch erwählt wurde und im Verlauf der Geschichte Israels aber immer wieder vom Glauben an JHWH abgefallen ist. Um das Verhältnis von Gott und Mensch zu bereinigen, tritt das „Sühnopfer“, das stellvertretend von der Priesterschaft am Altar erbracht wird. Das Tieropfer – aus dieser Vorstellung erwächst dann später die Vorstellung vom sog. „Opferlamm“ –, dessen Israel bis heute am Versöhnungsfest, dem „Jom Kippur“ gedenkt – leitet im jüdischen Verständnis die Wende im Verhältnis zum Menschen ein. (Ps. 103; Jes. 40,16) An anderen Stellen begegnet die Vorstellung vom sog. „Sündenbock“, der stellvertretend und beladen mit den Sünden der Menschen in die Wüste geschickt wird.

Wenn nun der Apostel Paulus an dieser Stelle im 2. Korintherbrief davon spricht, „dass, wenn einer für alle gestorben ist, so sind sie alle gestorben“ (2. Kor. 5,14b), dann weitet er die aus dem jüdischen Glauben stammende Sühnopfervorstellung in eine universale Dimension. Um dies zu verstehen, bedarf es indes eines wichtigen gedanklichen Zwischenschrittes, der für die Ohren der damaligen Gemeinde völlig selbstverständlich, im heutigen Verständnis aber erklärungsbedürftig ist. Der Apostel geht davon aus, dass der Mensch im Glauben Christus in sich trägt. Der Mensch hat, so beschreibt er es an anderer Stelle, Christus wie einen Mantel angezogen. Im Glauben ist der Mensch wie neugeboren (Röm 6) und kann in seinem Leben auf das vollzogene Sühnopfer Christi vertrauen. Hier liegt der Sinn des Satzes „Einer für alle“.

Aber warum betont dies der Apostel so überaus wortreich und argumentativ? Liest man den Halbsatz aus 2. Kor. 5,14b im Kontext von Kapitel 4 und 5 wird erkennbar, mit welchem Problem der Apostel in der Gemeinde von Korinth zu kämpfen hatte. Weit weg und fern von der Gemeinde erfährt er, dass die Gemeinde offensichtlich mit der Verfolgung und dem irdischen Leben nicht mehr zurecht kam. So redet er vom „irdischen Haus“ (2. Kor. 5,1) und der Sehnsucht nach der Ewigkeit. Und nun kann die ganze Passage in einem anderen Licht gesehen werden. Der Apostel will die Gemeinde trösten und in der Krise eines irdischen Jammertals Zuversicht aussprechen. Dem „Seufzen“ der Gemeinde (2. Kor. 5,4) stellt er eben diese Erkenntnis entgegen: Weil Christus für uns als „einer“ für „alle“ gestorben ist, haben wir alle Anteil an seinem Tod und sind mit ihm mit gestorben, aber im Glauben können wir leben!  Daraus schöpft der Apostel Trost und rät der Gemeinde zur Besonnenheit. Und so formuliert er als fundamentale Glaubensbotschaft den Satz: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ (2. Kor. 5,17). Und jetzt erst macht es Sinn, weil dem Sühnopfer in der Theologie des Apostels das Verständnis der Versöhnung zur Seite gestellt wird.   

2. Ist Gott eine „mathematische Formel“?

Der Kreuzestod Jesu Christi macht also Sinn, weil er über sich hinaus weist. In der Mitte der christlichen Theologie steht die Versöhnung. Kein anderer als der Reformator Martin Luther hat deutlicher auf diesen inneren Zusammenhang hingewiesen. Für ihn repräsentiert Gott selbst die Gerechtigkeit und entspricht es seinem Wesen, dem Menschen Gnade zu erweisen. Aus diesem „fröhlichen Wechsel“ – so Luther – entspringt die Freiheit des Glaubens, als neuer Mensch in der Welt zu leben und im Hier und Jetzt Verantwortung zu übernehmen. Der „Karfreitag“ und das Kreuz als ein universales Zeichen sind demnach eingebettet in einen heilsgeschichtlichen Ablauf von der Erwählung des Menschen, seiner Trennung von Gott bis hin zur Versöhnung. In der griechisch- und russisch- orthodoxen Theologie repräsentiert jeder einzelne Gottesdienst diesen heilsgeschichtlichen Ablauf, in deren Mitte die Sühne Jesu Christi steht. Für den Apostel Paulus ist das Kreuz bzw. der stellvertretende Sühnopfertod für die Menschheit nicht ohne das lichte und helle Ereignis von Ostern zu denken.  Also ist der Karfreitag in Wahrheit gar nicht so „düster“ wie ich es am Anfang aus meiner Kindheitserinnerung beschrieben habe, denn nirgendwo anders als am Karfreitag um 15.00 Uhr in der Todesstunde Jesu Christi leuchtet das Licht des Osterereignisses bereits mit. Weshalb dann der Protestantismus dennoch und entgegen besseren theologischen Wissens in seiner Kulturgeschichte den Karfreitag lange Zeit als kollektive Depression in Gottesdiensten mit schier abgründiger Melancholie inszeniert hat, bleibt mir ein theologisches Rätsel. 

Im Zentrum des Predigttextes über 2. Kor. 5,19-21 steht ja eben nicht  die Kreuzestheologie als ein isolierter Block, wie sie Martin Luther in seinen Frühschriften 1518 zunächst noch entfaltete, sondern die Versöhnung, die auf den Menschen und sein erneuertes Gottesverhältnis zielt. Der Apostel Paulus formuliert formelhaft „Gott war in Jesus Christus“. Das klingt fast wie eine Gleichung: „Gott = Jesus Christus“. In diesen Worten spiegelt sich die theologische Tradition der Offenbarung, wie sie auch im Johannesevangelium in den bekannten Worten des Prologes zu finden ist:  „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit.“ (Joh 1,14) Das Verhältnis von Vater und Sohn ist in der Tradition der christlichen Theologie seit jeher ein besonderer Gegenstand der Reflexion. Im Ergebnis steht bis heute das christologische Dogma fest, dass in Jesus Christus die beiden Naturen von wahrem Gott (vere deus) und wahrem Menschen (vere homo) vereint sind. Der Hamburger Theologe Paul Schulz machte daraus die Frage: „Ist Gott eine mathematische Formel?“ und wurde dafür als Pfarrer aus der Kirche verbannt.  Auch wenn dem menschlichen Verstand die Gleichzeitigkeit beider Naturen ein Geheimnis bleibt, so bekennt der Glaube dies als Wahrheit. Radikal gedacht bedeutet dann diese Gleichheit und das Ineinander von Vater und Sohn, dass Gott selbst am Kreuz starb. Wie aber – so sagen Kritiker – kann dann, wenn Gott tot ist, der Wechsel vom Kreuz zur Auferstehung vollzogen werden? Denn dann ist Versöhnung eigentlich unmöglich. Friedrich Nietzsche setzte hier mit seinem berühmten Diktum an: „Gott ist tot – wir haben ihn getötet“. Der von Menschenhand verursachte Tod Jesu Christi beinhaltet als logische Folge den Tod Gottes, was Nietzsche durchaus als eine vom Menschen selbst ausgehende Befreiung von den Fesseln der Religion in der Moderne ansah.

Für den Apostel Paulus lösen sich die Widersprüche in einer reflexiven Bewegung Gottes auf. Wenn Gott sich in Jesus Christus offenbart, dann hat diese Offenbarung von Gott aus betrachtet nur den einen Sinn, nämlich die Welt mit sich selbst zu versöhnen. Aber wie das? Gegenwärtig scheint die Welt doch unversöhnter denn je zu sein. Nicht nur der Krieg in Syrien, fliehende Menschen in Afrika, Arabien und Amerika, unendlich viele Verletzungen der Menschenrechte weltweit und die Zweiteilung der Menschheit in eine arme Mehrheit und eine verschwindend geringe Minderheit von Reichen scheinen den Gedanken der Versöhnung zu verhöhnen. Karfreitag im Jahr 2016 erinnert eher an die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen denn an die real geschehene Versöhnung. Aber der Apostel Paulus beharrt darauf: „Gott war in Jesus Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.“ (2. Kor. 5,19) Aus der Sicht Gottes handelt die Welt zwar „unversöhnt“ und verharrt in Streit, Krieg und Tod. Aber – und so deute ich diesen Vers des Apostel Paulus – Gott selbst hat sich mit dieser unerlösten Welt ausgesöhnt.  Die Welt als Geschöpf Gottes entspricht nicht seinem Willen, aber im Tod Jesu Christi hat Gott das Zeichen gesetzt, dass er an dieser unversöhnten und unfriedlichen Welt festhält und sie nicht aus der Hand gibt. Die Gabe der Welt wird so zur Aufgabe der Menschen.     

3. Botschafter des Glaubens

In der Theologie des Apostel Paulus spielt der Glaube eine entscheidende Rolle. In seiner Argumentation entwickelt Paulus nun eines nach dem anderen. Im Glauben lebt der Mensch in Christus und ist eine neue Kreatur, so schrieb er an die Gemeinde in Korinth. Da nun aber Christus gekreuzigt, gestorben und begraben ist und in sich selbst die Versöhnung trägt, durch die dem Menschen die Sünden vergeben werden, bedarf es nun abermals „Vermittler“ dieser Botschaft auf der Erde. Wie die Propheten des Alten Testamentes die Botschafter und Verkünder des Gotteswortes waren, übernimmt nun der Apostel die Position des „Botschafters an Christi statt“ (2. Kor. 5,20) Der Theologe Karl Barth sprach in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts in seinem Hauptwerk von der „Offenbarung des gepredigten Wortes Gottes“ und meinte damit den Anspruch, unter dem die Predigt unter Vorbehalt des Hlg. Geistes als die Anwesenheit des Gotteswortes steht. Eigentlich steht jede Predigt und alles Handeln in der Kirche unter dem Vorbehalt, den Paulus hier beschreibt: „so bitten wir nun an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott.“ (2. Kor. 5,21) Provokativer kann eigentlich ein Satz nicht sein in einer Zeit und Welt, die so unversöhnt ist wie die Welt derzeit.

Hier liegt für mich die Bedeutung des Karfreitags in der protestantischen Theologie: Inmitten des Glamours und Glanzes, dem Gewinn und Verlust an den Börsen und in den Tempeln der Banken und dem Ramsch und Kitsch in den Kaufhäusern, bei allem Kaufrausch und Shoppingerleben, den Kreuzfahrten zu den irdischen Paradiesinseln dieser Welt daran zu erinnern, wie dennoch unfertig, fragil und bruchstückhaft die Welt ist und bleibt und die Menschen in ihr sind. Karfreitag ist „Krise“, aber nicht kollektive Depression. Karfreitag ist Erinnerung daran, wie die Welt von Gott aus gesehen nicht sein soll. Aber Karfreitag ist nicht ohne Ostersonntag. Und Ostern ist verwandt mit dem Jom Kippur im Judentum und dem Opferfest im Islam. Von hier aus gesehen öffnet sich der protestantische Hauptfeiertag dem intereligiösen Dialog, denn von Gott aus gesehen gilt: „All religions are welcome“.  

       

Perikope
25.03.2016
5,19-21