„Aufgefangen in Gottes Freiheit“ – Predigt zu Apostelgeschichte 16,23-34 von Dörte Gebhard
Predigt am Sonntag Kantate, am 19. 5. 2019 um 9.30 Uhr in der Reformierten Kirche Schöftland über Apg 16, 23-34
Gnade sei mit euch von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.
Liebe Gemeinde
Gleich zuerst eine Frage:
Kennen Sie irgendeine Geschichte, in der Unschuldige ihrer Freiheit beraubt und ins Gefängnis geworfen werden? Bestimmt! Leider! Das ist zu erwarten!
Solche Geschichten gibt es abertausendfach. Amnesty international könnte leider ganze Bibliotheken mit solchen Berichten füllen.
Eine besonders aufregende Geschichte dieser Sorte steht in der Apostelgeschichte des Lukas im 16. Kapitel. Paulus und Silas sind in Philippi. Sie haben dort einen Wahrsagegeist bekämpft, der ein paar geschäftstüchtigen Herren leider viel Geld gebracht hatte. Dafür werden sie sofort wegen Unruhestiftung angeklagt und unmittelbar bestraft.
Nachdem man ihnen, Paulus und Silas, viele Schläge verabreicht hatte, ließen sie die beiden ins Gefängnis werfen. Dem Gefängniswärter wurde eingeschärft, sie besonders gut zu bewachen. Befehlsgemäß brachte er sie in die hinterste Zelle und schloss ihre Füße in den Holzblock.
Paulus und Silas sind nicht einfach Unschuldige, sondern sogar Wohltäter; sie haben gerade eine Frau befreit, aus den Fängen zwielichtiger Gestalten! Dabei haben sie allerdings für etwas Aufsehen gesorgt, denn wer lukrative Geschäfte unmöglich macht, lebt gefährlich! Bis heute. So fangen diese Geschichten an! Sie sind leider nicht neu und schon gar nicht einzigartig.
Eine zweite Frage habe ich jetzt: Waren Sie selbst schon einmal im Gefängnis? Und dort in der hintersten Zelle? Hoffentlich nicht! Das sei ferne!
Ich war schon hinter Gitter. 2001 in Paris, mitten in der Stadt, in einem verwahrlosten Bau aus dem 19. Jahrhundert, mit dem irreführenden Namen La Santé, also „Die Gesundheit“. Wie kann man ein Gefängnis bloss so nennen? Man kann es, wenn die Strasse davor schon „Rue de la santé“ heisst.
Das Gefängnis ist leider immer schon berühmt-berüchtigt, bis 1972 wegen der Hinrichtungen, Vollstreckungen der Todesstrafe, seitdem wegen der grauenhaften hygienischen Bedingungen. Das Gefängnis war 2001 vollkommen überbelegt, man musste sich drinnen einen Weg durch die Gefangenenmenge bahnen. Nun ist es seit 2014 geschlossen und wird renoviert.
Allerdings war ich seinerzeit nur kurz dort, zur Seelsorgeausbildung, und drum noch nie um Mitternacht.
Was sich damals mitten in der Nacht in Philippi zuträgt, erzählt Lukas folgendermassen:
Um Mitternacht beteten Paulus und Silas und sangen Gott Loblieder. Die anderen Gefangenen hörten ihnen zu. Plötzlich gab es ein starkes Erdbeben, dass die Fundamente des Gefängnisses erschütterte. Da sprangen alle Türen auf, und die Ketten fielen von den Gefangenen ab.
Liebe Gemeinde
Das sind doch die fabelhaften und fieberhaften Fantasien von Inhaftierten überall auf der Welt! Was sollen sich Gefangene denn Besseres wünschen als so ein passendes Erdbeben? Genau so stark, dass die Türen aufspringen, aber so schwach, dass niemandem die Decke auf den Kopf fällt?! Stark genug, um die Freiheit zu erlangen und doch so schwach, dass niemand begraben wird unter tödlichen Trümmern? Leider ist nicht überliefert, welche Lieder und wie laut man singen muss, um ein solch treffliches Erdbeben auszulösen. Wir wissen auch nichts mehr von den anderen Gefangenen, die den Gesängen lauschten, leider.
Eine dritte Frage habe ich noch:
Kennen Sie schon die Geschichte aus dem Gefängnis, in der zwei Gefangene den Wächter befreien? Wahrscheinlich nicht! Bis jetzt! Diese Geschichte steht auch nur in der Apostelgeschichte des Lukas im 16. Kapitel. Sie geht erst so richtig los, wenn alle anderen Geschichten von Befreiungen leider längst zu Ende sind. Aber Freiheit ist niemals das Ende, sondern immer der Anfang von etwas Neuem! Jetzt wird es spannender:
Der Gefängniswärter wurde aus dem Schlaf gerissen. Als er sah, dass die Gefängnistüren offen standen, zog er sein Schwert und wollte sich töten. Denn er dachte: Die Gefangenen sind entflohen.
Dieser Wächter weiss Bescheid! Der Mann hat keine Illusionen oder sowas. Und er braucht kein Fitzelchen Fantasie dazu, sich seine Zukunft auszumalen. Da er Schloss und Riegel aus nächster Nähe kennt, weiss er leider nur zu gut, wie es sein wird, wenn er gleich drin sitzt, halbnackt, halbtot, frisch verprügelt mit Ruten, in der hintersten Zelle, die Füsse im Holzblock eingeschlossen. Warum sollten es die Römer mit ihm anders machen?!
Aber Paulus schrie laut: »Tu dir nichts an! Wir sind alle noch hier.«
Sie sind noch alle da, aber es ist nichts mehr wie es war. Die Gefangenen sind frei, sie könnten fliehen. Machen sie aber nicht. Mit Gottes Hilfe kommt es überhaupt nicht so, wie es eigentlich kommen muss. Denn der Gefängniswärter muss eben auch erst noch befreit werden. Er ist noch gefangen in Finsternis, Gehorsam und Todesangst.
Der Wärter rief nach Licht. Er stürzte in die Zelle und warf sich zitternd vor Paulus und Silas nieder. Dann führte er sie hinaus und fragte: »Ihr Herren, was muss ich tun, damit ich gerettet werde?« Etwas anderes als Gefangenschaft kann sich der Wächter leider gar nicht vorstellen, er stellt sich nur einen Wechsel in der Chefetage vor und hofft, dass Paulus und Kollege die neuen Chefs werden und er so seinen alten Wächtern, den Römern, entgeht. An echte Freiheit kann er gar nicht denken, aber Silas und Paulus schaffen es mit Gottes Hilfe.
Die beiden fangen ihn auf in der Freiheit Gottes.
Sie antworteten: »Glaube an den Herrn, Jesus, dann wirst du gerettet und mit dir alle in deinem Haus.« Und sie verkündeten ihm und allen anderen in seinem Haus das Wort des Herrn. Jetzt kennen wir schon drei Sorten Gefangenschaft und Freiheit. Zuerst sind da die Mitgefangenen, die sich selbst leider nicht zu singen trauen: Sie sind äusserlich und innerlich gefangen. Dann kommen Paulus und Silas, sie sind zwar äusserlich gefangen, aber innerlich vollkommen frei. Sie sind sogar so frei, auch noch andere zu befreien. Zuerst eine Frau, dann sich selbst, jetzt vor allem ihren Wächter, denn der wiederum ist zwar äusserlich tendenziell frei, aber innerlich stark gefangen.
Diese Gefangenschaft ist am wenigsten offensichtlich, hat aber im Falle der Befreiung die herrlichsten Konsequenzen. Jetzt überschlagen sich die Ereignisse. Lukas kommt mit dem Erzählen kaum nach. In Freiheit geschieht viel mehr als in Gefangenschaft, man muss nicht einmal auf den nächsten Morgen warten. Es passiert so viel, dass leider nicht einmal Zeit bleibt, um das Waschwasser vor der Taufe auszuwechseln:
Noch in derselben Nachtstunde nahm der Wärter Paulus und Silas zu sich. Er wusch ihnen die Wunden aus. Dann ließ er sich umgehend taufen und mit ihm alle, die in seinem Haus lebten.
Anschließend führte er die beiden in sein Haus hinauf und lud sie zum Essen ein. Die ganze Hausgemeinschaft freute sich, dass sie zum Glauben an Gott gefunden hatte. Liebe Gemeinde Langsam wird es hell in Philippi, stelle ich mir vor! Die längste Nacht hat ein Ende. Hoffentlich haben sie dann das Wasser fortgeschüttet und nicht vor dem Essen auch noch Hände und Füsse darin gewaschen. Ich mag gar nicht daran denken! Taufwasser sollte frisch sein wie bei uns, finde ich!
Aber das Beste ist: Auch wir, die ganze Gemeinschaft, sind heute zum Essen eingeladen. Wir sind so frei und feiern miteinander das Heilige Abendmahl.
Nochmals: Wie frei sind wir genau? Es gibt innere und äussere Freiheit, manchmal beide, manchmal keine. Die Mitgefangenen sind gar nicht frei, Paulus und Silas sind innerlich frei und werden es äusserlich. Der Wächter ist äusserlich frei und wird es innerlich. Wir sind schon, sonst wären wir nicht hier, äusserlich frei.
Innerlich sind wir auch frei – oder werden es, wenn es wir uns daran freuen, dass wir getauft sind, wenn wir vertrauen, dass der Glaube uns gefunden hat und dass wir aufgefangen und aufgehoben sind in Gottes Freiheit. Jetzt feiern wir Abendmahl, damit geht es los!
Denn in Freiheit geschieht viel mehr als in Gefangenschaft, man muss nicht einmal auf den nächsten Morgen warten. Wir machen es wie Paulus und sein Kollege, wir fliehen nicht, wir bleiben noch etwas da.
Mit unserer Kollekte heute können wir protestantische Kirchen im Tessin aus ihren finanziellen Nöten befreien. Dort kann keine Kirchensteuer erhoben werden. Sie leben in und um Locarno von der Hand (am Portemonnaie) in den Mund.
Es passiert so viel, aber ich bin gewiss: In der Kaffeemaschine im Kirchgemeindehaus ist frisches Wasser.
Nachher gleich, beim Kirchenkaffee, können wir jemanden von der Hälfte seiner Sorgen befreien, nur schon durch Zuhören, denn geteiltes Leid ist nur noch halbes Leid.
Die Möglichkeiten, andere Menschen zu befreien sind ganz individuell, aber Gottes Reich guter Gelegenheiten näher und grösser als wir denken.
Paulus und Silas sitzen denn auch nicht ewig beim Essen, ich lese aus der Apostelgeschichte noch, was am nächsten Vormittag, ungefähr zu unserer Gottesdienstzeit geschieht:
Als es Tag geworden war, schickten die Stadtobersten die Amtsdiener und gaben dem Wärter die Anweisung: »Lass diese Leute frei!« Der Gefängniswärter gab Paulus die Nachricht weiter: »Die Stadtobersten haben mich angewiesen, euch freizugeben. Ihr dürft das Gefängnis verlassen. Der Friede Gottes begleite euch!«
Aber Paulus sagte zu den Amtsdienern: »Man hat uns ohne ordentliches Gerichtsverfahren öffentlich verprügeln lassen. Dabei besitzen wir das römische Bürgerrecht! Dann hat man uns ins Gefängnis geworfen. Und jetzt will man uns heimlich abschieben? Das kommt nicht infrage! Die Stadtobersten sollen herkommen und uns persönlich aus dem Gefängnis begleiten!« Die Amtsdiener meldeten das den Stadtobersten. Die waren sehr erschrocken, als sie erfuhren, dass Paulus und Silas das römische Bürgerrecht besaßen. Sie kamen selbst und entschuldigten sich. Dann begleiteten sie die beiden aus dem Gefängnis und baten sie, die Stadt zu verlassen. Vom Gefängnis aus gingen Paulus und Silas zu Lydia. Dort trafen sie die Brüder und machten ihnen Mut. Dann verließen sie die Stadt.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen.
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Besser dran ist, wer im tiefsten Loch summend singt, als der, der auf dem letzten Loch pfeift - Predigt zu Apostelgeschichte 16, 23 – 34 von Joachim Hempel
'ne Gefängnisgeschichte zum Sonntag 'Kantate' – wer bloß kommt auf solche Idee !? Gefängnisgeschichten werden ja nicht nur in unseren Tagen zu allermeist mit Schreckensszenarien erzählt; Kantate ist aber doch einer jener Sonntagsnamen mit Aufforderungscharakter, österliche Freude auszudrücken. Nun gut, für Christenleute sind Hase und Eier, Frühlingsspaziergang und knospende Natur noch nicht alles, was Osterbotschaft ausmacht. Wir wissen, dass fröhlicher Auferstehungshoffnung Schmerzensleid am Karfreitag vorausgeht. Irgendwie sind es wohl die zwei Seiten menschlicher Existenz, die uns trotz aller speziellen 'Happy Hour – Angebote' nicht davor bewahrt, auch Schmerz und Leid, Trauer und Misslingen als des Lebens Teil zu erleben. Aber muss es dann am „Nun singt mal schön – Sonntag 'Kantate'“ gleich eine Gefängnisgeschichte sein? Selbst wenn es dabei wieder einmal um den Apostel Paulus und seinen Kompagnon Silas geht, - hätten die Textauswähler in ihrer wundersamen Kommission nicht einen etwas frischeren Bibeltext wählen können? Hatten sie natürlich schon, denn in den Textreihen zu diesem Sonntag ist auch durchaus von lobenden, jubelnden, fröhlich motivierendem Singen und instrumentalem Posaunen-, Harfen-, Hörner- und Paukenklang die Rede. Die Welt der Gefangenen – egal wo auf dieser Erde – ist in der Regel seltener von Gotteslob und Gottesdank geprägt, da merken schon Mitgefangene, die in Ärger, Schuldbewusstsein, Reue oder auch energischem Brast über die Situation sich wieder finden, auf, wenn aus der Nachbarschaft andere Töne zu vernehmen sind: Paulus und Silas beteten zur Mitte der Nacht, laut und lobten Gott. Von Dietrich Bonhoeffer wissen wir, dass auch in den Gestapo-Gefängnissen der Nazi-Diktatur Gefangene aufmerkten, wenn er zeigte, 'wes Geistes Kind' er war und deutlich wurde, dass nichts und niemand 'uns zu scheiden vermag von der Liebe Gottes, welche erschien in Christus Jesus'. Die Apostelgeschichte berichtet geradezu begeistert, was das Gebet und der Lobpreis Gottes bewirkten, dramatische Ereignisse: Erdbeben, sprengende Fesseln, ein hilfloser Wärter, neue Freunde, neues Vertrauen, die Gerechtigkeit siegt. Die Unruhe in der mazedonischen Stadt Philippi ist groß und schwankt zwischen Bestürzung und staunender Bewunderung, - und wie das beim Erzählen von direkt Erlebtem so geht, die Geschichte erhält allerlei persönliche Anfügungen oder Sichtweisen. Ich bin sicher, der Gefängnisaufseher erzählt das Geschehen anders als die Stadtrichter, und die fröhlich Getauften jubilieren anders als die, die froh sind, Paulus und Silas am Stadttor davonziehen zu sehen.
Der Lobpreis Gottes mitten zur Gefängnisnacht erinnert an das Pfeifen aus Kindheitstagen, wenn elterlicher Auftrag einen in dunkle Keller schickte; warum auch nicht? Singen oder mindestens Summen einer vertrauten Melodie weckt Erinnerung an gute Zeiten in schlechten Zeiten. Gerade dann, ob im Gefängnis seelischer Not oder im Kerker falscher Anfeindungen, ob in der JVA oder in politisch motivierter Einzelhaft, gerade dann ist es wichtig, an gute, glückliche, friedvolle Zeiten zu erinnern, denn die Erinnerung bleibt uns als ganz persönlich-subjektive Stärke, deren Bilder und Gedanken frei sind. Darum ist eine der schlimmsten Methoden der Haft und Unterdrückung die der 'Gehirnwäsche'. So lange du weißt, wer du bist und wer du bis zu diesem Augenblick deines Lebens geworden ist, solange ist Hoffnungslosigkeit keine Macht, die dich im Griff hat. Manchmal tut es in solchen Augenblicken weh, sich zu erinnern, dass „Gottes Güte, Gottes Treu an jedem Morgen neu sind“; da sind Gottes Lob und Gottes Dank auf pelziger Zunge und mit belegter Stimme kaum artikulierbar. Aber das 'dennoch bleibe ich stets an dir“ des Psalmbeters, dieses 'dennoch' ist der kleine glimmende Funke, der nötig ist, damit das Lebenslicht nicht bricht.
Die Apostelgeschichte überliefert Paulus und Silas im Gefängnis von Philippi nicht, um eine Handlungsanweisung für Inhaftierte zu liefern, vor allem nicht dort, wo es guten Grund für diesen besonderen Ort im gesellschaftlichen Miteinander gibt. Aber die Geschichte der beiden Protagonisten ist ermutigend für jene, deren Wille, deren aufrechte Gesinnung, deren freiheitlicher Geist gebrochen werden soll. Gefängnisse sind ja nicht eo ipso Orte der Gerechtigkeit oder der wiederherzustellenden Gerechtigkeit; aber sie sind vor allem keine Orte, die zu einer 'Gottes freien Zone' erklärt werden könnten. Wir Christen sind davon überzeugt, dass Gottes Nähe an jedem Ort und zu jeder Stunde unseres Lebens spürbar, erinnerbar und betbar ist. Und so ganz nebenbei erfahren wir durch den Schreiber dieser Gefängnisgeschichte, Lukas, auch, dass der später zum erfolgreichen Apostel mutierte Paulus einen ebenso von Höhen und Tiefen, von Zustimmung und Missverstehen, von Freude und Leid geprägten Lebensweg gegangen ist, wie jede und jeder von uns auch. Die Bibel kennt den Menschen als durchgängigen Helden nicht, was sie übrigens wohltuend von griechischen und römischen Helden und ihren heroischen Kämpfen unterscheidet. Die Bibel ist, was den Menschen betrifft, ziemlich realistisch. Daher kann sie uns am Sonntag des Singens und Musizierens auch Mut machen, nicht nur 'Himmel hoch zu jauchzen' sondern auch 'Todes betrübt' auf Gott zu vertrauen. Hier liegt übrigens ein Grund, warum Christen bei Beerdigungen singen und nicht nur Klageweibern wie im Orient oder in Afrika die Töne überlassen.
„Christ ist erstanden von der Marter alle, des soll'n wir alle froh sein,
Christ will unser Trost sein. Halleluja!
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Singen befreit! - Predigt zu Apostelgeschichte 16, 23-34 von Jasper Burmester
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit uns allen ! Amen
Liebe Gemeinde !
Der Name des heutigen Sonntags hat einen fröhlichen Klang: Kantate, singet ! Und gesungen haben wir und singen werden wir noch weiter in diesem Gottesdienst, singen zu unserer Freude und zu Gottes Lob. Ein Lobgesang bildet auch den Mittelpunkt einer Geschichte, die dem Apostel Paulus und seinem Freund und Gefährten Silas einmal widerfahren ist, und die eigentlich eher betrüblich anfängt. Paulus und Silas hielten sich in der Stadt Philippi auf, es war das erste Mal, dass sie von Kleinasien herüber nach Europa gekommen waren. Da trafen sie eine stadtbekannte Sklavin, die einem reichen Bürger geghörte. Sie wurde, so heißt es, von einem unguten Geist geplagt, der sie als Wahrsagerin reden ließ. Damit verdiente ihr Besitzer viel Geld. Paulus und Silas gelang es, diese Frau von dem sie quälenden Geist zu befreien. Darüber aber waren die Bürger so erbost, dass sie mit Hilfe der römischen Stadtherren Paulus und Silas zuerst auf offener Straße demütigten, ihnen die Kleider herunterrissen und sie schlugen und sie dann ins Stadtgefängnis sperrten, in die dunkelste Zelle, in ein finsteres Kellerloch, dazu wurden ihre Füße noch in einen Holzblock verschlossen. Nun geschah, was Lukas in der Apostelgeschichte so schildert: Um Mitternacht beteten Paulus und Silas und stimmten Gott einen Lobgesang an, die übrigen Gefangenen aber hörten ihnen zu. Da geschah plötzlich ein gewaltiges Erdbeben, so dass die Grundmauern des Gefängnisses erschüttert wurden. Sogleich aber öffneten sich alle Türen, und von allen fielen die Fesseln ab. Da schreckte der Gefängniswärter aus dem Schlaf hoch, und als er die Türen des Gefängnisses offen stehen sah, zog er sein Schwert und wollte sich töten, da er der Meinung war, die Gefangenen seien entflohen. Paulus aber rief mit lauter Stimme: "Tue dir kein Leid an, wir sind ja alle hier!" Da rief er nach Fackeln, sprang hinein und fiel zitternd vor Paulus und Silas nieder. Dann führte er sie hinaus und sagte zu ihnen: "Ihr Herren, was muss ich tun, um gerettet zu werden ?" Sie aber sprachen: "Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig werden." Und sie sagten ihm das Wort Gottes samt allen in seinem Hause. Und noch zur gleichen nächtlichen Stunde nahm er sie zu sich und wusch ihnen die Striemen ab und gleich darauf ließ er sich mit seinem ganzen Hause taufen. Dann führte er sie in sein Haus hinauf und setzte ihnen ein Mahl vor und jubelte mit seinem ganzen Hause darüber, dass er zum Glauben an Gott gekommen war. Soweit der Bericht aus der Apostelgeschichte.
Liebe Gemeinde,
innerlich oder auch deutlich hörbar seiner Freude in einem schönen Augenblick Ausdruck zu verleihen, zu singen, zu jubeln, zu jauchzen, zu lachen in den Momenten, in denen es uns gut geht und Lebensfreude uns erfüllt, das können wir uns vorstellen, das ist uns vertraut, auch wenn solche Momente vielleicht selten sind in unserem Leben. Ebenso umgekehrt: In Augenblicken großer Angst, Not, Wut oder Trauer steht uns ein breites Instrumentarium lauter oder leiser Klage zur Verfügung. Aber diese Situation ist dann doch ungewöhnlich: Im Gefängnis, in Finsternis und Schrecken und unter der Folter des Fußblocks ausgerechnet Lobgesänge anzustimmen - täten wir, täte ich das auch, nächtens, in so einem Loch? Das widerspricht doch unseren Erfahrungen und auch unserem Gefühl, was "richtig" ist. Aber: In diesem Widerspruch von Gefangenschaft und Lobgesängen befinden allerdings auch wir uns. Bevor wir über diesen Widerspruch weiter nachdenken, singen wir. „Du verwandelst meine Trauer in Freude, du verwandelst meine Ängste in Mut.“ (Kanon 2-Stimmig)
Auch wenn wir uns dessen nicht immerzu bewusst sind: wir befinden uns im Widerspruch zwischen Realtität und Lobgesang aufgrund unseres Glaubens. Es ist ja dieses geradezu die Grundsituation jedes Christen: Leben im Widerspruch. Es geht um den Widerspruch zwischen dem, was wir vom Glauben her erhoffen und - sozusagen im Voraus, auf diese Hoffnung hin - besingen und wofür wir Gott loben und preisen, und dem, was unsere Wirklichkeit ist, was wir in unserer Gegenwart vorfinden und wo wir oft genug Grund zur Klage haben. Beides gehört zusammen, und wir dürfen nicht versuchen, es voneinander zu trennen, auch wenn es schwerfällt, ein solches Leben im Widerspruch auszuhalten.
Ein Lob Gottes, das die Wirklichkeit ausklammert, die Opfer eines ungezügelten Kapitalismus zum Beispiel, ein für die Leiden dieser Zeit blindes Gotteslob also lobt nicht Gott, sondern unter Ausblendung der Wirklichkeit die Zufälligkeit des eigenen Gutgehens und ist damit egoistisch, lieblos und gottlos. Und umgekehrt: Die Klage ohne die Absicht, ohne die Hoffnung auf Veränderung, Klage ohne Glauben also, bewirkt nichts als das Abgleiten in Depression und Gejammer; oder wie es in einem alten Choral heißt: "Wir machen unser Kreuz und Leid nur größer durch die Traurigkeit".
So sind wir eigentlich immer mitten drin im Spannungsfeld von Gefängnis und Lobgesang, von Klage und Hoffnungslied. Dass dieses Spannungsfeld in der Geschichte von Paulus und Silas im Gefängnis zu Philippi so deutlich wird, macht ihren bleibenden Wert aus, selbst wenn sich ihre Befreiung historisch nicht so zugetragen haben sollte und nur eine fromme Legende ist. Der Lobgesang, den sie anstimmen, erklingt zur Ehre Gottes und ebenso zur Ermutigung der Mitgefangenen, die wunderbare Befreiung der beiden hat eben nicht nur ihre persönliche Freiheit zum Ergebnis, sondern mindestens genauso die Befreiung ihres Wärters, der ja auch als Gefängnisaufseher eigentlich ein Gefangener ist, ein Gefangener des Systems, dem er dient.
Ihn hat das Geschehen weit mehr erschüttert als es das Erdbeben mit den Gefängnismauern vermochte: Seine Rolle im System der gewalttätigen Unterdrückung und des scheinheiligen Geschäftemachens wird ihm in dem Moment deutlich, wo Paulus und Silas sich völlig unerwartet verhalten, also nicht abhauen, wie es eigentlich von Gefangenen zu erwarten wäre, sondern die um seinetwillen da bleiben: Menschen, die ihre Freiheit nicht auf Kosten anderer durchsetzen.
Diese Erschütterung seines gewohnten Welt- und Menschenbildes führt den Gefängnisaufseher zu der Frage, wie denn er gerettet, wie denn er befreit werden könne, befreit zu der inneren Freiheit, die Paulus und Silas so offensichtlich zu eigen ist. Die Antwort, die er von den Aposteln erhält, ist der kürzest mögliche Taufunterricht: Glaube an den Herrn Jesus, dann wirst du und dein Haus selig werden. Daran schließt sich an: Eine biblische Unterweisung im Hause des Aufsehers und die Taufe der ganzen Familie.
Auch der Anfang und das Ende der Geschichte von Paulus und Silas bilden wieder diese Spannung ab: Am Anfang stehen Schläge und Demütigungen, am Ende ein fröhliches Mahl zusammen mit der Familie des aus seiner Rolle befreiten Aufsehers. Aus einem Vertreter eines Gewaltsystems wird ein Glaubensbruder. Das ist für diesen Menschen und sein Umfeld ein großer Schritt, aber nicht mehr als ein Anfang: Seine Bewährungsprobe kommt ja erst noch: Diese Umkehr wird ihre Wirkung noch zu beweisen haben, denn auch ein christlich gewordener Folterer bleibt ein Folterer, wenn er denn seinen Glauben nur als Privatsache ansieht.
Und: Wie wird seine bisherige Obrigkeit, die römische Justiz, darauf reagiert haben, als sie bemerkte, daß einer ihrer treuen Diener "ausgestiegen" war ?
So gradlinig und mit einem glücklichen Ende wie hier von Lukas erzählt, geht es selten zu. Und nicht immer ist die Geschichte der Befreiungen so rasant wie hier. Manche "Beben" wirken erst sehr viel später. Wenn auf den Lobgesang und das Gebet der Apostel hin in Philippi die Erde und die Grundmauern des Gefängnisses erschüttert wurden, dann wirkte sich diese Befreiung für die unmittelbar Betroffenen sofort aus. Wie viele Erschütterungen aber müssen beispielsweise noch geschehen, bis sich Israelis und Palästinenser als Nachbarn akzeptieren können, oder wie viele Spezies müssen noch aussterben bis endlich konsequente Schritte zur Erhaltung der Schöpfung unternommen werden? Was muss noch geschehen an immer deutlicheren Folgen des Klimawandels, bis endlich die ökonomisch und ökologisch nötigen Verringerungen unseres CO2 Ausstoßes kommen?
Es gibt noch sehr viel Notwendigkeit für solche befreienden Beben in dieser Welt. Es gibt auch noch viel zu viele, deren Gesang durch Kerkermauern gedämpft wird. So können wir in den Lobgesang der Apostel nur einstimmen, wenn wir zugleich mit dem Lobe Gottes ebenso lauten Protest erheben gegen jede Kerkermauer, gegen gefesselte, geschlagene Menschen, gegen gestohlene Freiheit und gebeugtes Recht, gegen gebrochenen Frieden, gegen die Vernichtung unserer ökologischen Lebensgrundlagen. Beides gehört zusammen: Wer nicht für die Juden schreit, darf auch nicht gregorianisch singen, lehrte Dietrich Bonhoeffer 1936 die jungen Vikare, die er unterrichtete. Das gilt heute - im Blick auf die Konflikte dieser Welt und ihre Opfer- nicht weniger als damals. Aus dieser Spannung kommen wir Christen nicht heraus. In sie geraten wir hinein, sobald wir uns auf Gott einlassen. In dieser Spannung bleiben wir bis zum jüngsten Tag: Zwischen Klage und Lobgesang, zwischen Not und Befreiung. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen
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Sie singen für dich - Predigt zu Apostelgeschichte 16, 23-34 von Lars Hillebold
Von schiefen Bahnen und Tönen
Seit zwei Jahren singt er im Chor und wenn nichts dazwischenkommt, wird er noch lange weiter dort singen. Es gibt ihm Kraft und Halt. Er fühlt sich verbunden mit allen anderen, die auch seine Lieder singen. An einem anderen Ort. Seine Frau. Seine Kinder. Seine Freunde. Wenn er die Texte hört, ist es ihm manchmal, als wäre ein Lied über sein Leben geschrieben. Freiheit, Freiheit, ist die einzige, die zählt. Freiheit, Freiheit, ist die einzige die fehlt. Dann muss er schon schlucken.
Manchmal ist es nur die Melodie, die seine Gefühle trifft, aber er fühlt sich verstanden. Dann steigen ihm die Tränen in die Augen; was keiner sehen soll. Manchmal wippt sein Bein wie von selbst mit. Manchmal, heimlich, wenn keiner zusieht - und das gibt es eigentlich kaum in seinem Leben - wird aus ihm ein beweglicher Tänzer.
Ja, seit drei Jahren singt er in diesem Chor. Und wenn nichts dazwischen kommt - was er sich aber erhofft - singt er noch mindestens einige Jahre weiter dort, wo er ist. Er hofft auf gute Führung. Dann kommt er vielleicht früher heraus. Im Gefängnis proben sie jede Woche: Betrüger, Einbrecher, Mörder. Der Knastchor, wie sie sagen. Wenn andere Chöre sich auf den nächsten Auftritt vorbereiten, dann ist genau das natürlich tabu. Aber eine Stunde in der Woche dürfen sie in den großen Saal. Dann lassen sie ihrer Stimme freien Lauf. „Aus vollem Herzen. Voll schief.“, sagt er und fährt fort: „Na ja, wir sind ja auch auf die schiefe Bahn gekommen. Wir singen, was die da draußen auch singen. So sind sie alle hier bei mir: Meine Frau. Meine Kinder. Meine Freunde. Mein Glauben auch. Ich sing für sie und ich sing für mich.“
Wir sind alle für dich hier
Etwas so erkennbar tun und ein Zeichen setzen, obwohl alles offensichtlich dagegenspricht: Im Gefängnis von „Freiheit“ singen, denn „sie ist die einzige, die fehlt. Freiheit, Freiheit, ist das einzige, was zählt.“ Etwas so erkennbar tun und ein Zeichen setzen, obwohl alles offensichtlich dagegenspricht: Im Gefängnis sitzen bleiben, obwohl alle Türen offen sind. Und so dem Aufseher das Leben bewahren, der sich umgebracht hätte, wenn Paulus und Silas wie alle anderen Gefangenen geflohen wären. Sie setzen ein Zeichen. Im wahrsten Sinne des Wortes: Sie bleiben sitzen. Das ist weder in der Schullaufbahn, noch in Gefängnissen ein erstrebenswertes Ziel. Doch hier ist es so.
Während die sichere Verwahrung der unschuldigen und schuldigen Verbrecher zusammenbricht, und alle das normalste erwarten, nämlich den Ausbruch. Da bleiben sie sitzen. Völlig unerwartet. Freiheit ist doch das einzige, das zählt. So unerwartet, dass der Aufseher gar nicht nachschaut, sondern sich gleich selber bestrafen will. So unerwartet, dass auch unsere Rechtsprechung Verständnis für den unwiderstehlichen Drang nach Freiheit hat, so dass Gefängnisausbruch in Deutschland nicht strafbar ist. Sie bleiben sitzen. Paulus. Silas. Sie setzen ein Zeichen für die anderen Gefangenen. Von denen wird nicht berichtet, dass sie geflohen wären, sondern fast nebenbei bemerkt; mit einem kleinen Satz: wir sind alle hier! Tu dir nichts an. Bestraf dich nicht.
Warum machst du dir 'nen Kopf?
Was gibt's da zu grübeln?
Was hast du gegen dich?
Ich versteh' dich nicht
Immer siehst du schwarz und bremst dich damit aus.
Nichts ist gut genug, du haust dich selber raus.
Wann hörst du damit auf?
Wie ich dich sehe, ist für dich unbegreiflich.
Komm' ich zeig's dir.
Ich lass' Konfetti für dich regnen.
Ich schütt' dich damit zu.
Ruf deinen Namen aus allen Boxen.
Der beste Mensch bist du.
Ich roll' den roten Teppich aus.
Durch die Stadt, bis vor dein Haus.
Du bist das Ding für mich.
Und die Chöre singen für dich.
(nach Mark Forster, Chöre)
Und Paulus und Silas rufen für ihn: „Tu dir nichts an. Wir sind alle hier.“ Sie waren geblieben, um den einen zu bewahren. Gerade den, der ihnen doch den Weg in die Freiheit versperrt hatte. Den retteten sie. Alle Gefangenen waren geblieben. Erstaunlicherweise. Paulus und Silas hatten gebetet. Die Mitgefangenen hatten sie gehört. Es hatte wohl Wirkung gezeigt. Die beiden haben vorgesungen. Die anderen stimmten mit ihrem Handeln zu. Ein Gefangenenchor war es geworden. Viele unterschiedliche Stimmen sagen das gleiche. „Tu dir nichts an. Wir sind alle hier.“ Ihr Zeichen ist hörbar. Wie ein neues Lied für den Aufseher. Noch nie gehört?! Woher kommt die Musik? Dieser Klang? Diese Stimmung? Und der, der ja die Freiheit hatte, der als Aufseher ja kommen und gehen konnte, der fragt nun: Was muss ich tun, dass ich gerettet werde?
Gott für dich
„Tu dir nichts an. Wir sind alle hier.“ Das hatte er verstanden. Die anderen tun dir Gutes an. Sie erheben ihre Stimme für dich. Sie rufen für dich. Sie singen für dich. Sie bitten dich nur eines: glaube.
Da verkörpert der Aufseher mit all seinem Tun, das, was Kirche ist. Er feiert seine Taufe. Er lädt ein. Er bringt seine Frau, seine Kinder und seine Freunde mit. Ja, sein ganzes Haus. Er wird diakonisch und pflegt die Wunden der ehemals Gefangenen. Er wird zur Gemeinschaft. Er deckt den Tisch. Und am Ende ist er fröhlich. So als hätte er ein Lied auf den Lippen:
Wie Gott mich sieht, ist fast unbegreiflich.
Komm, ich zeig's dir:
Gott lässt Wasser über mich regnen.
Schüttet mich damit zu.
Ruft meinen Namen aus allen Boxen, durch alle Mauern:
Mein Mensch bist du.
Er rollt den roten Teppich aus.
Durch die Stadt bis vor mein Haus.
Du bist Mensch für mich.
Und die Chöre singen für mich.
Paulus und Silas beten für mich.
Und die Trompeten ertönen für mich.
Und die Trommeln klingen für mich.
Und die Orgel spielt für uns.
Und die Chöre singen mit uns.
Da Capo al fine
Er zittert heute noch, wenn er daran denkt. Wie gesungen wurde, als er nach Hause kam; nach den Jahren im Gefängnis. Alle waren sie da: seine Frau, seine Kinder, seine Freunde. Alle im Haus. Nun war es so: Er konnte ein Lied davon singen, wie Freiheit zählt, wenn sie fehlt. Er wusste, wie es sich anfühlt und klingt, wenn andere auf ihn warten. Er konnte ein Lied davon singen, was Rettung meint. Dieses fromme, fremde Wort war für ihn hörbar geworden, machte wieder Sinn und hatte jetzt einen guten Klang. Gerettet.
Er würde weiter singen. Neue Lieder. Er würde üben müssen. Es klang schon oft noch schief. Es galt noch einiges gerade zu rücken. Um Verzeihung zu bitten. Sich vielleicht sogar zu versöhnen. Reinen Tisch zu machen. Es würde vielleicht noch lange dauern. Aber ein erster Ton war erklungen, in Freiheit und andere würden folgen.
Bis ein ganzes, ein neues Lied erklingt:
Gott rollt den roten Teppich aus.
Durch die Stadt bis vor dein Haus.
Gott singt für dich:
Du bist und bleibst Mensch für mich.
Amen.
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„Purpur-Lydia“ – Predigt zu Apostelgeschichte 16,9-15 von Rainer Claus
Purpur
Sie schließt die Augen und greift in den Stoff. Seidenstoff. Wallend weich und purpurfarben. Die Seide knistert, knirscht, ein Geräusch, wie erste Schritte am Morgen durch unberührten Schnee. Sie öffnet die Augen. Purpur hat die Seide durchdrungen. Ihr prüfender Blick sieht die Feinheiten, Purpur ist nicht gleich Purpur. Lydia, die Purpurhändlerin kennt die Uneinigkeit dieser Farbe zwischen blauem Rot und rotem Blau. Gerade diese Farbreize am Rande des Sichtbaren faszinieren Lydia. Es ist ihre Seelenfarbe. Lydia, die Suchende am Rande des Sichtbaren. Eine Gottesfürchtige, so wird sie genannt. Sie weiß, welche Götter in ihrer Stadt verehrt werden. In Philippi sind viele Religionen zu Hause. Noch steht sie am Rande. Sie hat den einen Gott im Blick, den die Juden verehren. Einen Gott der Freiheit, der die Sklaven durch die Fluten geführt hat. Vielleicht ist es das, was sie anrührt. Sie war einmal selbst Sklavin, verkauft auf einem Markt, verschleppt fern der Heimat, im Dienst eines Purpurhändlers. Sie ist die Frau aus Lydien. Lydia benannt nach einer Landschaft in Kleinasien, denn Sklaven tragen keinen eigenen Namen. Die Frau ohne Namen und mit einer verlorenen Heimat.
Lydia nimmt den Seidenschal und legt ihn über das weiße Kleid. Alle sollen es sehen. Lydia, die Purpurhändlerin wird getauft. Der Schal liegt wie eine Stola über ihrem Kleid. Lydia ist längst keine Sklavin mehr. Jetzt handelt sie selbst mit Purpur. Ein Luxusgut. Es ist die Farbe der Mächtigen. Sie wird gewonnen aus Purpurschnecken. Die Farbe ist so kostbar wie Gold. Die Senatoren tragen diese Farbe, Könige und später Kardinäle. Lydia ist Händlerin, Hausherrin und wird schon bald die erste Christin in Philippi. und somit erste Christin in Europa. Paulus hat sie getauft. Und das kam so:
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Lesung Predigttext Lektor
In der Nacht hatte Paulus eine Erscheinung. Ein Mann aus Mazedonien stand vor ihm und bat: »Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!« Gleich nachdem Paulus die Erscheinung gehabt hatte, suchten wir nach einer Möglichkeit, um nach Mazedonien zu gelangen. Denn wir waren sicher: Gott hatte uns dazu berufen, den Menschen dort die Gute Nachricht zu verkünden. Von Troas aus setzten wir auf dem kürzesten Weg nach Samothrake über. Einen Tag später erreichten wir Neapolis. Von dort gingen wir nach Philippi. Das ist eine bedeutende Stadt in diesem Bezirk Mazedoniens und römische Kolonie. In dieser Stadt blieben wir einige Zeit.
Am Sabbat gingen wir durch das Stadttor hinaus an den Fluss. Wir nahmen an, dass dort eine jüdische Gebetsstätte war. Wir setzten uns und sprachen zu den Frauen, die an diesem Ort zusammengekommen waren. Unter den Zuhörerinnen war auch eine Frau namens Lydia. Sie handelte mit Purpurstoffen und kam aus der Stadt Thyatira. Lydia glaubte an den Gott Israels. Der Herr öffnete ihr das Herz, sodass sie die Worte des Paulus gerne aufnahm. Sie ließ sich taufen zusammen mit allen, die in ihrem Haus lebten. Danach bat sie: »Wenn ihr überzeugt seid, dass ich wirklich an den Herrn glaube, dann kommt in mein Haus. Ihr könnt bei mir wohnen!« Und sie drängte uns förmlich dazu.
Paulus und Lydia
Paulus hatte geträumt. Ein Hilferuf: „Komm herüber“. Europa war bisher nicht im Blick von Paulus gewesen. Er nahm diesen Wegweiser in seiner Seele ernst, bestieg ein Schiff und kam schließlich nach Philippi. Und hier kommt Lydia in die Geschichte. Hier wird es ihre Geschichte. Paulus und sein Begleiter wohnten einige Zeit in der Stadt. Eine Stadt voller Götter und Versprechen. Eine römische Kolonie. Die etablierten Religionen hatten Häuser und Statuen aus Marmor. Paulus aber ging vor die Stadt, an die Grenze. Dort am Fluss trafen sich Frauen zum Gebet. Ohne festes Haus, das Fließen im Ohr. Ein Fluss als Treffpunkt, der sich ständig verändert vor ihren Augen. Du kannst nie zweimal in denselben Fluss steigen. Ein guter Ort für die suchenden Frauen. Ein guter Ort, für die mit offenen Herzen. Die Worte des Paulus trafen auf fruchtbaren Boden, bei Lydia. In ihrem Herzen wächst der Glaube. Es fügt sich etwas zusammen, Fäden verknüpfen sich. Sie wird Christin und will sich taufen lassen.
Taufe
Lydia ist bereit für die Taufe. Sie ist zu Paulus in den Fluss gestiegen. Das Wasser im Fluss umfließt ihren Körper, die Enden des purpurnen Seidenschals wimmen auf der Wasseroberfläche. Lydia, die ehemalige Sklavin. Lydia, die Purpurhändlerin Lydia, die Suchende, Gottesfürchtige Egal, was sie war und woher sie kommt. Hier beginnt etwas Neues, dass schon längst begonnen hat. In Christus ist weder Heide noch Jude, Sklave noch Freie. Lydia wird getauft.
Spurensuche
Was ist aus ihr geworden? Sie und ihr Haus werden eine große Rolle gespielt haben in Philippi. Ihr Haus, das meint die Menschen, mit denen sie gelebt hat und die sich auch haben taufen lassen. Eine erste Hausgemeinde entsteht. Haus meint aber auch ganz konkret ein Gebäude, ein Dach über den Kopf für Paulus und alle die noch kommen werden. Lydia öffnet nicht nur ihr Herz, sondern auch ihr Haus für den neuen Glauben. Lydia könnte die Gemeinde mitgeleitet haben oder war vielleicht so eine Art erste Bischöfin. Ihre Geschichte bleibt so uneindeutig wie Purpur und ihre Spur verliert sich. Aber gerade das, macht sie für mich so spannend.
Lydia ist ein Bild für Menschen, die nach Gott fragen. Ein Bild für Gemeinden, die sich fragen, wie geht es mit uns weiter. Ein Bild für die Kirche, die sich gerade so verändert. Das Christentum in Europa ist wieder bei Lydia angekommen: suchend und tastend. Lydias Anleitung für Suchende Ich stelle mir vor, Lydia hätte eine Anleitung geschrieben für Fragende. Für alle, die die ersten Schritte durch frischen Schnee lieben. Für alle, die es mögen, wenn es knistert, wenn fein und zart etwas passiert, wie beim Griff in Seide.
(von zwei Lektorinnen gelesen:)
Lydias Anleitung für alle Suchenden:
Verlass die Stadt. Geh an den Fluss. Dorthin, wo etwas in Bewegung ist, wo du es fließen hörst. Lass deine Statuen auf ihrem Sockel stehen. Sie tun dir nichts und können nichts für dich tun. Triff dich am Fluss mit anderen. Redet miteinander, hört zu, schweigt und betet. Meinetwegen auch die ganze Nacht, solange bis die Wolken wieder lila sind. Öffne dein Herz. Richte es aus. Sei achtsam für die behutsamen Wegweiser Gottes am Tag und in der Nacht. Wenn es nicht mehr weiter geht, kann es sein, dass sich etwas Neues anbahnt.
Stell dich in den Regen. Schließ die Augen und stell dir vor: es wäre Purpur.
Wenn du die Augen schließt, klingt der Purpur-Regen wie Applaus. Für Dich Du geliebtes Kind Gottes.
Sei geduldig mit dir und deinem Glauben. Es braucht 12000 Schnecken für 1,5 Gramm Purpur. Alles braucht seine Zeit. Glaube ist kein Kraftakt. Öffne dein Lebens-Haus für den Glauben. Trink mit Gott morgens einen Kaffee und frage ihn, was er sich bei diesem neuen Tag gedacht hat. Verabrede dich am Mittag mit Christus, indem du einfach dein Gesicht in die Sonne hältst. Ein Moment genügt. Mach am Nachmittag die Fenster auf und lass den Heiligen Geist durch dein Haus wehen. Kann sein, dass einige Quittungen und deine offenen Rechnungen durcheinander geweht werden. Macht nichts. Sieh hin! Sieh in dich hinein. Purpur ist nicht eindeutig. Du trägst mehr Farb-Nuancen in Dir als du denkst. Trage heute mal innerlich einen Streifen Purpur. Zeichen der Kraft, kannst du sie spüren? Sage dir: ich vermag alles durch den, der mir die Kraft dazu gibt, Christus.
Amen
Anmerkung: Zur narrativen Idee mit dem Seidenschal hat mich ein Roman inspiriert: Josef Spiegel: Lydia. Die Purpurhändlerin in Philippi
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Sailing – Predigt zu Apostelgeschichte 16,6-10 von Frank-Nico Jaeger
Ich stehe hinter dem großen Steuerrad und gebe mein Bestes, um das Schiff auf Kurs zu halten. Neben mir steht Michael, mein Pfarrer, und ich versuche möglichst locker rüberzukommen, aber innerlich bin ich total angespannt. Ich will alles richtig machen, das Schiff auf Kurs halten. Ich bin 15 Jahre alt und ich bin Kapitän. Ich könnte platzen vor Stolz. Michael ist der Jugendpfarrer in der Gemeinde. Er fährt mit uns auf Freizeiten und gestaltet in der Gemeinde die Jugendarbeit. Mit ihm kann man reden, er hat immer ein offenes Ohr. Bei ihm hat man das Gefühl, angenommen zu sein. Er ist endlich ein Erwachsener, der sich wirklich gerne mit uns beschäftigt. Dabei will er eigentlich gar nicht hier sein. Er hatte sich woanders hin beworben. Auf keinen Fall in die münsterländische Provinz, zu diesen Leuten, die fast alle Platt sprechen und auch sonst eher eigen sind. Das Ruhrgebiet wäre es gewesen. So viele Möglichkeiten. Aber jetzt ist er hier, steht neben mir und hat sich damit abgefunden. Er raucht eine Zigarette und traut mir ernsthaft zu, das Schiff in den Hafen zu steuern. Eigentlich traut er es jedem auf dem Schiff zu, jeder darf mal ans Steuerrad, wenn sie oder er es möchte.
Warum Michael hier ist und nicht in seinem geliebten Ruhrgebiet kann ich nicht sagen, aber ich bin dankbar dafür dass er da ist. Mit ihm erlebe ich unglaublich schöne Freizeiten. Ich erinnere mich an Segeltouren, zwei Wochen auf einem Plattbodenschiff im Ijsselmeer. 12 Kinder und ein Pfarrer. Ohne viel Gepäck, auf dem Schiff ist kein Platz und abends kochen wir zusammen in der viel zu kleinen Schiffsküche. Danach gehen wir hoch an Deck und schauen zu, wie die Sonne im Meer versinkt.
Wir singen jeden Abend „I am sailing“ und es ist überhaupt nicht peinlich. Der Pfarrer spielt auf der Gitarre und wenn die Sterne über uns aufgegangen sind, gehen wir zurück ins Schiff, legen uns in die Kojen und schlafen mit einem unglaublichen Gefühl der Geborgenheit ein. Später knüpfen wir aus Schiffstau Armbänder. Wir sind keine Gruppe, wir sind eine Einheit.
Teenager, die ein Schiff segeln. Wir helfen uns aus mit Sonnencreme LSF 50, wir haben auch kein Problem damit, die Tische zu decken und für die anderen das Klo zu putzen. Es funktioniert einfach. Als wir wieder zurückkommen sind wir andere als vorher. Die Zeit auf dem Schiff hat uns verändert: Unsere Haare sind heller, die Sommersprossen sind mehr geworden und wir alle sind glücklicher, selbstbewusster und stärker.
Und auch nach dieser seligen Zeit, nach der Segelfreizeit auf der ich beinahe minütlich das Gefühl hatte, eine Gotteserfahrung nach der anderen zu machen bleibt mein Kopf in den Wolken. Noch lange zehre ich von der Erinnerung an Sonnenuntergänge und denke an Küsse auf Deck unter einem unbeschreiblichen Sternenhimmel.
Nicht auszudenken, das wir all das beinahe nicht erlebt hätten. Wäre Michael an uns vorbeigelotst worden, wäre er in sein bevorzugtes Ruhrgebiet gekommen, hätten wir alle was verpasst. Denn er hat uns damals etwas nahe gebracht, von dem wir gar nicht wussten, dass wir es brauchten. Gott.
Schicksal? Fügung? Zufall? Warum nicht einfach Gottes Führung! So wie in der Geschichte um Paulus und seine Missionsversuche.
[Apg 16,6-10, Basisbibel]
Dann zogen Paulus und Timotheus weiter durch Phrygien und das Gebiet von Galatien. Denn der Heilige Geist hinderte sie daran, die Botschaft in der Provinz Asien zu verkünden. Als sie schon fast in Mysien waren, wollten sie nach Bithynien weiterreisen. Doch der Geist, durch den Jesus sie führte, ließ das nicht zu. Also zogen sie durch Mysien und stiegen zum Meer hinab nach Troas. In der Nacht hatte Paulus eine Erscheinung. Ein Mann aus Mazedonien stand vor ihm und bat: »Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!« Gleich nachdem Paulus die Erscheinung gehabt hatte, suchten wir nach einer Möglichkeit, um nach Mazedonien zu gelangen. Denn wir waren sicher: Gott hatte uns dazu berufen, den Menschen dort die Gute Nachricht zu verkünden.
Paulus und Timotheus wollen gar nicht nach Mazedonien. Sie haben ganz andere Pläne. Aber die Routenänderung ist kein Zufall. Es ist Gottes Geist, der sich einmischt und die beiden führt, wohin sie gar nicht wollen. Es ist Gottes Geist, der die beiden daran hindert, ihrem eigenen Weg zu folgen. Es ist die Mischung aus „menschlichem Plan und göttlichem Durchkreuzen“, aus dem „Geführt-Werden, wohin wir nicht wollen“ und „wohin zu kommen wir uns niemals geträumt hätten.“ Das macht diese Stelle so besonders. Auch weil alles so beiläufig, so undramatisch geschieht, dass es fast untergeht: Das Mitlaufen Gottes. (C. Stäblein, GPM I/1, Göttingen 2018, S. 137).
Ich habe meiner Kirche nie den Rücken gekehrt, auch weil ich durch diesen einen Pfarrer das Gefühl bekommen habe, dass ich dazugehöre und der Glaube ein schützendes Schiff ist auf dem großen weiten Meer meines Lebens. Ich war und bin Willkommen hier. Das war eine mächtige Zusage und ist immer noch ein großartiges Gefühl.
Aber das ist wohl die Ausnahme. Viele der anderen Mitfahrer von damals sind nicht mehr an Bord. Haben das Schiff längst verlassen. Sie konnten in der Kirche und im Glauben nicht andocken. Als wir vor drei Jahren silberne Konfirmation gefeiert haben, waren wir nur noch acht von insgesamt über 50. Die Kirche hat nicht mehr zu den Anderen gepasst. Gehört nicht mehr zu ihrem Leben. Vielleicht war kein Raum für sie da oder niemand hat nach ihnen gefragt.
Als Paulus und Timotheus Gottes wenig raffiniert vorgebrachtem Vorschlag folgen und doch nach Mazedonien ziehen, fragen sie sich zuerst, wo sich die Menschen treffen und gehen dann dorthin, wo die Menschen sind. Und dort reden sie mit ihnen - nicht über sie. Nebenbei beginnt so, mit einem Gespräch auf Augenhöhe, die Christianisierung Europas. Ganz beiläufig an einem Fluss.
Das Leben hält sich nicht an Planungen, das wusste schon Bertolt Brecht: „Ja, mach nur einen Plan! Sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch’nen zweiten Plan. Gehn‘ tun sie beide nicht.“ (B. Brecht, Ballade von der Unzulänglichkeit menschlichen Planens, Dreigroschenoper1928). Das Leben hält sich nicht an Pläne. Nicht an die von Paulus und Timotheus und auch nicht an Michaels. Und ich bin dankbar dafür, denn sonst hätte ich diesen Pfarrer wohl nie kennenlernen dürfen. Ich bin dankbar für alle Erfahrungen, für die gemeinsame Zeit. Für die Leichtigkeit mit der er uns zugetraut hat, dass wir ein Schiff steuern können. Und ich bin dankbar für das Bild von Kirche, dass er uns angeboten hat.
Wenn ich mir heute eine Kirche wünschen dürfte, dann wäre sie so wie eine Sommerfreizeit auf einem Plattbodenschiff mitten im Ijsselmeer: Jeden zweiten Tag gibt’s Nudeln und abends an Deck singen wir mit Gitarrenbegleitung voller Inbrunst „Laudato si“ und etwas später etwas stiller „Sailing“. Und dazwischen erzählen wir einander von unseren Hoffnungen, von unseren Träumen, von unseren Plänen. Und erst recht von unseren Ängsten und Sorgen. Morgens kocht Michael dann Kaffee und weckt uns mit der Schiffsglocke. Wenn das Wetter gut ist, springen wir von der Reling ins Wasser und wenn es regnet, spielen wir Karten oder segeln weiter. Wir sind zusammen unterwegs und freuen uns auf neue Bekanntschaften, wenn wir abends in einen Hafen einlaufen. Wir teilen unser Leben und heilige Momente. Wir machen eine Gotteserfahrung nach der anderen. Unsere Köpfe in den Wolken. Und wir singen. Immer wieder „I am sailing“ und vertrauen darauf, dass es Gott ist, der hinter uns steht und das Ruder mit-führt.
So ist das, wenn Gott sich einmischt. Dann können Pläne scheitern. Das kann auch manchmal wehtun. „Aber das Leben geht weiter und manchmal sehr viel besser, als alle Planungen das zu hoffen wagten.“ (M. Josuttis, Wirklichkeiten der Kirche, Gütersloh 2003, S. 97-100).
AMEN.
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Mission ist Hinhören und Hingehen – Predigt zu Apostelgeschichte 16,9-15 von Christoph Hildebrandt-Ayasse
Die Apostelgeschichte des Lukas 16, 5-15
Der Ruf nach Makedonien
Und Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht: Ein Mann aus Makedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Makedonien und hilf uns! Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, da suchten wir sogleich nach Makedonien zu reisen, gewiss, dass uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen. Da fuhren wir von Troas ab und kamen geradewegs nach Samothrake, am nächsten Tag nach Neapolis und von da nach Philippi, das ist eine Stadt des ersten Bezirks von Makedonien, eine römische Kolonie. Wir blieben aber einige Tage in dieser Stadt. Am Sabbattag gingen wir hinaus vor das Stadttor an den Fluss, wo wir dachten, dass man zu beten pflegte, und wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die dort zusammenkamen. Und eine Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, eine Gottesfürchtige, hörte zu; der tat der Herr das Herz auf, sodass sie darauf achthatte, was von Paulus geredet wurde. Als sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns.
Liebe Gemeinde,
Gott selber sucht sich den Weg in unser Herz. Das nennt man Mission. Das ist die Mission Gottes.
Aber: wenn es um „Mission“ geht, dann kann man sich ja herrlich streiten.
Für die einen ist die christliche Mission den Kolonialmächten hinterher marschiert und hat mit der Bibel in der erhobenen Hand die zum christlichen Glauben gezwungen, die vorher mit den Waffen der Kolonialisten in die Knie gezwungen worden waren.
Für andere ist Mission wahre Nächstenliebe, die Unterdrückte vor Ungerechtigkeit bewahrt, sich für ihre Rechte gegenüber den Machthabern einsetzt, Armut bekämpft und hilft, Bildung und medizinische Versorgung zu entwickeln.
Für beides finden sich reichlich Beispiele in der Missionsgeschichte. Mancher möchte das Wort Mission schon gar nicht mehr in den Mund nehmen, weil er nur Missverständnisse oder Widerstände befürchtet; eine andere, weil sie Mission nur negativ besetzen können.
Aber reden wir heute einfach einmal über Mission; und zwar so, wie es unser Bibelabschnitt hier in der Apostelgeschichte tut.
Und da musste ich erst einmal einen liebgewonnenen Gedanken beiseiteschieben, der mir gleich zu dem Abschnitt aus Apostelgeschichte 16 in den Kopf kam: hier, bei dem Bericht von der Bekehrung der Lydia in der Stadt Philippi, geht es um den Übergang des Christentums von Asien nach Europa. Das hatte ich irgendwann einmal so gelernt oder gehört und behalten: der Apostel Paulus bringt hier das Christentum von Asien nach Europa. Apostelgeschichte 16 beschreibe den Beginn des christlichen Abendlandes. Hier werde Europa zum ersten Mal „der Stempel des christlichen Abendlandes aufgedrückt“, das las ich dann kürzlich auch noch irgendwo bei der Vorbereitung der Predigt.
Aber das ist eigentlich eine recht seltsame Vorstellung. Gott schickt den Paulus doch nicht nach Europa, damit er dann auf seiner Weltkarte die europäischen Länder als christlich missioniert anmalen kann. Solche Weltkarten, solche Missionsatlanten gaben die Missionsgesellschaften um das Jahr 1900 herum heraus. (Ich habe eine kleine Sammlung davon.) Auf so einem Missionsatlas konnte man wie auf der strategischen Karte eines Feldherrn sehen, wie sich das Christentum siegreich auf allen Kontinenten und in allen Ländern ausbreitete. Und heißt es denn nicht im Missionsbefehl: Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker? (Mt. 28,19)
Gott aber denkt nicht geografisch, sondern menschlich. Ihm geht es nicht um die Völker, sondern um die einzelnen Menschen, denen er sich zuwenden will, ganz persönlich; denen er nahe sein will alle Tage bis an der Welt Ende. (Mt. 28, 20)
Zudem: für den Apostel Paulus war seine Bootsfahrt von Troas nach Neapolis und die kurze Weiterreise von dort nach Philippi, wo er dann die Lydia traf, ja kein Übergang von dem asiatischen Kontinent auf den europäischen, keine Reise von Asien nach Europa. Für Paulus als Staatsbürger des römischen Weltreiches war dies lediglich eine Schiffsreise von der römischen Provinz Mysien in die römische Provinz Mazedonien. Er dachte sich nicht: Oiweiwoi, jetzt hat mich Gott sogar nach Europa geschickt!
Nein Paulus wusste nur: Gott hat mich in diese andere Provinz, hierher in die Stadt Philippi geschickt. In den Versen vor unserem Predigttext erfahren wir, dass er vorher in dem Gebiet Asias, durch das er gereist war (das ist in etwa da, wo heute die westliche Türkei liegt) so gar nichts hatte bewirken können. Da wo er zu missionieren versucht hatte, war ihm kein Erfolg vergönnt. Ja, er merkte: Gott will nicht, dass ich hier bin. Mir ist es hier verwehrt, in seinem Geist zu wirken.
Gott selber sucht sich den Weg in unser Herz. Das nennt man Mission. Das ist die Mission Gottes.
Es fällt auf, wie wenig unser Missionar Paulus hier selber ausrichten kann. Wie wenig er dem Bild entspricht, das viele Menschen von einem Missionar im Kopf haben.
Was tut Paulus denn schon: er schläft und er redet, unterhält sich. Er hat keine besonderen Pläne und Strategien. Er ist offen für das, was Gott ihm vor die Füße legt. Er hält in Philippi keine ausführliche Missionspredigt von einer Kanzel herab oder an einem öffentlichen Platz. Er vertraut, dass Gott ihm seinen Weg zeigen wird; und er spricht zu anderen und mit anderen über Gott. Er hört die Bitte des Menschen aus Makedonien im Traum. Bitte, komm, und hilf uns. Und er leistet dieser Bitte Folge.
Mission, so kann man sagen, hört auf das, was andere sagen. Sie geht nicht einfach los, weil man missionieren will. Um Gottes Willen hört sie, worum andere bitten, was andere brauchen. Und Mission nimmt den anderen wirklich als anderen wahr. Paulus erkennt im Traum, dass er von einem Menschen aus Makedonien angesprochen wird. Woran Paulus das erkennt, wird nicht gesagt. War es die Kleidung oder die Sprache, ein besonderer Dialekt? Paulus hat auf seinen Reisen durch das römische Weltreich sehr viele unterschiedliche Provinzen mit ihren je eigenen Kulturen und Sprachen kennen gelernt.
Mission achtet andere Sprachen und Kulturen. Ihre Aufgabe ist es nicht, die eigene Kultur zu exportieren und anderen überzustülpen. Ihre Aufgabe ist, zuzuhören auf das, was andere sagen, bitten, raten und loszugehen im Namen Gottes; nicht im eigenen Namen.
In Philippi trifft Paulus auf Lydia. Er setzt sich zu ihr und den anderen Frauen. Er begegnet ihnen auf Augenhöhe. Am Fluss vor der Stadt Philippi treffen sich am Sabbat die Frauen zum jüdischen Gebet. Unter diesen jüdischen Frauen ist auch Lydia. Sie ist eine Gottesfürchtige, und das heißt, sie ist keine geborene Jüdin, aber sie möchte zur jüdischen Gemeinde dazu gehören. Sie kennt die jüdische Bibel, unser Altes Testament, und sie vertraut dem Gott, den sie aus der Bibel und den jüdischen Gebeten kennt.
Mit ihr spricht Paulus über Jesus Christus, den Messias, der aus dem Volk Israel herkommt und allen Menschen nahe sein will. Der hilft, der zu Recht bringt, der heilt an Leib und Seele, der vergibt und der den Tod überwand.
Und ganz unspektakulär wird dann berichtet, dass Gott der Purpurhändlerin Lydia das Herz auftut, dass sie glaubt und dass sie sich taufen lässt. Nicht nur sie lässt sich taufen; nein, sie ist wirkich überzeugt von ihrem Entschluss sich auf den Namen Jesu Christi taufen zu lassen. Und sie sagt das ihrer ganzen Familie und allen, die zu ihrem Haushalt gehören: es ist auch gut für euch; es tut euch gut, wenn ihr euch taufen lasst. Und aus diesem Anfang mit Lydia wird eine Gemeinde in Philippi entstehen.
Gott selber sucht sich den Weg in unser Herz. Das nennt man Mission. Das ist die Mission Gottes.
Und wenn man bedenkt, dass diese Lydia eine reiche Purpurhändlerin war und wenn man sich zugleich daran erinnert, dass Jesus einmal sagte, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als eine Reiche in das Reich Gottes, dann wird das hier noch zusätzlich eine ganz besondere Missionsgeschichte. Diese Lydia war keine arme, an den Rand gedrängte oder unterdrückte Frau. Sie war Asiatin, denn sie stammte aus Tyatira, der Gegend, in der Paulus zuvor nichts hatte bewirken können. Sie war reich, erfolgreich und aus Asien. Und Gott tat ihr das Herz auf.
Was ist Mission? Mission ist hinhören und hingehen. Auf Augenhöhe. Und offen für jede Begegnung.
Gott selber sucht sich den Weg in unser Herz. Das nennt man Mission. Das ist die Mission Gottes.
Amen