Anfänge sind prägend - Predigt zu Apostelgeschichte 16,9-15 von Titus Reinmuth

Anfänge sind prägend - Predigt zu Apostelgeschichte 16,9-15 von Titus Reinmuth
16,9-15

Anfänge sind prägend.

Liebe Gemeinde,

(1) Wie hat das eigentlich angefangen? War „aller Anfang schwer“ – oder wohnte schon dem Anfang „ein Zauber inne“? Oft sind die ersten Erfahrungen entscheidend. Paare können zurückblicken: Wie hat es angefangen mit uns? Da ist etwas, das wir heute noch spüren. Oder hin und wieder entdecken. Vieles wird sich im Lauf der Jahre geändert haben, manches ist längst verschüttet, anderes ist hinzugekommen – aber es gibt Zeiten, da spürt ein Paar die Kraft des Anfangs.

Auch andere Anfänge können prägend sein. Eine Kirchengemeinde feiert das 20jährige Jubiläum ihres diakonischen Projekts, den Aufbau eines Heilpädagogischen Zentrums in Pskow, Russland. Wer war am Anfang dabei? Was waren die ersten Ideen, die bis heute tragen? Damals kamen zur richtigen Zeit die richtigen Leute zusammen. In dieser Arbeit mit behinderten Kindern und Jugendlichen gelang es auch, das Evangelium ins Gespräch zu bringen, ein Bild vom Menschen, das von der Liebe Gottes geprägt ist – einer Liebe, die nicht danach fragt, ob einer gesund ist oder krank, reich oder arm, voll leistungsfähig oder in irgendeiner Hinsicht behindert. Anfänge sind prägend. In anderen Gemeinden ist es die Tafel oder der Hospizdienst oder der Projektchor. Menschen kommen zusammen und fangen an.

Der Predigttext für den heutigen Sonntag  ist auch eine Anfangsgeschichte. Sie erzählt davon, wie es in Europa mit unserer Kirche angefangen hat. Diese Anfangserzählung hat Lukas aufgeschrieben, sie steht in der Apostelgeschichte, im Kap. 16, Verse 9-15. Da heißt es:

9 Und Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht: ein Mann aus Mazedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns! 10 Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, da suchten wir sogleich nach Mazedonien zu reisen, gewiss, dass uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen. 11 Da fuhren wir von Troas ab und kamen geradewegs nach Samothrake, am nächsten Tag nach Neapolis 12 und von da nach Philippi, das ist eine Stadt des ersten Bezirks von Mazedonien, eine römische Kolonie. Wir blieben aber einige Tage in dieser Stadt. 13 Am Sabbattag gingen wir hinaus vor die Stadt an den Fluss, wo wir dachten, dass man zu beten pflegte, und wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die dort zusammenkamen. 14 Und eine gottesfürchtige Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu; der tat der Herr das Herz auf, so dass sie darauf achthatte, was von Paulus geredet wurde. 15 Als sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns.

(2) Ein historischer Moment. Paulus und seine Mitarbeiter gehen von Kleinasien nach Europa. Davor ist berichtet, wie Paulus mit seinen Leuten in einigen Orten Kleinasiens abgewiesen wurde. Die Menschen dort wollten vom Evangelium nichts hören. In mehreren Orten ging das so, die Lage war einigermaßen aussichtslos. Paulus und seine Mitarbeiter schlugen jetzt eine neue Richtung ein: von Kleinasien nach Europa. Aber nicht, weil sie in der letzten Zeit in der Region keinen rechten Erfolg hatten mit ihrer Sache, sondern weil sie sich irgendwie von Gott zu diesem Schritt beauftragt wussten. Paulus hatte einen Traum, so wird es erzählt. Im Traum erscheint ihm ein Mann aus Mazedonien und der bittet ihn: Komm herüber und hilf uns!

Paulus spürt, dass Gott ihn beruft, nach Europa zu gehen. Er landet in der Provinzhauptstadt Philippi, einer römischen Kolonie. Eine lebendige Stadt mit viel Kultur, in der auch das wirtschaftliche Leben blüht. Die Männer um Paulus bleiben einige Tage dort, heißt es.

Und dann ist erzählt, wie in Philippi eine erste Gemeinde entsteht. Merkwürdig unspektakulär und leise geht das vor sich. Es beginnt am Ufer eines Flusses mit einer Gruppe von Frauen. Da im Freien, wo die kleine jüdische Gemeinde ihre Gebetsstätte hat. Keine starken Führungspersönlichkeiten treten hier auf, sondern ein etwas angeschlagener, weil zuletzt nicht sonderlich erfolgreicher Paulus hat sich auf den Weg gemacht. Keine kämpferische Großveranstaltung auf dem Marktplatz wird hier organisiert, sondern gleichsam am Wegesrand ergibt sich ein ruhiges Gespräch mit einer Handvoll Frauen. Es ist Sabbat und die Frauen sind runter zum Fluss gegangen, um dort zu beten. Paulus und die seinen kommen hinzu und kommen mit den Frauen ins Gespräch. Wahrscheinlich über Gott und die Welt. Über Jesus Christus und den Sinn des Lebens. Das Evangelium kommt ins Gespräch.  Irgendwie fängt es an zu wirken bei den Frauen unten am Fluss. Sie haben sich Zeit genommen, die Arbeit ruhen lassen, Abstand gefunden vom Trubel dieser quirligen Stadt.

Die Frauen hören zu, und eine von ihnen, Lydia, achtet besonders auf das, wovon Paulus redet. Gott hat ihr das Herz geöffnet, heißt es. So fängt das an. Kaum zu glauben, aber das Gespräch am Fluss mündet in eine Taufe. Sie zeigt Lydia und allen anderen, die sich taufen lassen: Ich gehöre dazu. Gott sieht mich neu an. Bei allem, was mich umtreibt: die Sorge um mein Haus, um Handel und Geschäfte; die Sorge um die Menschen, für die ich verantwortlich bin; die Sorge um das, was ich leisten kann und was nicht; bei allem, was mich umtreibt: Gott sieht mich an. Ich gehöre dazu. So fing das an - damals in Philippi.

Ein prägender Anfang. Sanft und unauffällig breitet sich das Evangelium aus. Allein der Schluss der Erzählung verblüfft. Lydia, die Frau, Muss Paulus und die anderen Männer bedrängen, in ihr Haus zu kommen und zu bleiben. Sie nötigt Paulus und seine Mitarbeiter, zu bleiben, heißt es. Was soll das bedeuten? Wir können nur noch ahnen, was dahinter stand. Es ging wahrscheinlich darum, ob das Haus einer Frau die Basis einer christlichen Gemeinde sein kann. Also die Anlaufstation für die Wanderprediger auf ihren Missionsreisen und die Mitte der christlichen Gemeinde am Ort. Unsere Geschichte erzählt: Nachdem Lydia getauft ist, lädt sie Paulus und die anderen in ihr Haus ein. Der Text spricht von ihrem Haus. Das heißt: ein erwachsener freier Mann, der sonst der Hausherr wäre,  gehört offenbar nicht zu diesem Haushalt. Lydia ist selbständig. Sie geht als Purpurhändlerin ihrer eigenen Arbeit nach und steht ihrem eigenen Haus vor. Wenn sie Paulus nötigt, dazubleiben, geht es offenbar nicht nur um eine vorübergehende Gastfreundschaft. Es geht um mehr. Es geht um die Ansiedlung der ersten christlichen Gemeinde in Philippi. Die christlichen Männer weigern sich zunächst, dem Haus der Lydia die entsprechende Anerkennung zuteil werden zu lassen. Sie haben sie gerade noch getauft, aber die Rechte, die sich aus der Taufe ergeben, wollen sie Lydia nicht zuerkennen. Gut möglich, dass Lydia mit einem alten Taufbekenntnis argumentiert hat, das wir aus dem Galaterbrief kennen. Oft wurde es bei Taufen gesprochen. Es lautet:

Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt eins in Christus Jesus.

Wer also aufgenommen ist in die Gemeinschaft mit Gott, der darf erleben: Ich bin ein Kind Gottes, wie alle anderen auch. Jetzt zählt nicht mehr, woher ich komme: Ob ich Jude oder Grieche bin. Es spielt auch keine Rolle, wo ich in dieser Gesellschaft stehe: Ob ich Sklave bin oder frei. Und es zählt auch nicht mehr, ob ich Mann bin oder Frau. Das Evangelium hat Folgen für das Leben.

So entwickelt sich eine zunächst unauffällige Begegnung am Rande der Stadt zu einer kleinen Revolution – eine etwas andere Gemeinschaft entsteht. Lydias Glaube war zwar etwas sehr Persönliches, eine Sache des Herzens, aber dieser Glaube blieb überhaupt nichts Privates, sondern er hatte Folgen für eine ganze Gemeinschaft. Und davon musste Lydia den Paulus und die seinen wohl erst überzeugen. Die Gemeinde wird zu einer Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern, das heißt von Nahen und Fremden, von Armen und Reichen, von Männern und Frauen. Dafür hat am Anfang Lydia gesorgt, als sie den Männern um Paulus sagte: Wenn ihr anerkennt, dass ich glaube, so kommt in mein Haus und bleibt.

(3) So hat es damals angefangen. Was ist prägend an diesem Anfang? Was sind die Wurzeln einer christlichen Gemeinde?

Es ist zum einen die persönliche Begegnung zwischen Menschen. Da ist Paulus. Paulus stellt sich nicht auf den Marktplatz, sondern geht zu einer Gruppe von Frauen am Rande der Stadt. Denen erzählt er vom Glauben. Das Evangelium kommt ins Gespräch. Und da ist Lydia. Lydia kann zuhören. Durch all ihr Geschäftsleben hindurch, durch all ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen hindurch kann sie hören. Die Worte des Paulus werden ihr wichtig: Sie öffnen, setzen etwas in Bewegung, sorgen für eine Veränderung. Lydia und ihr Haus lassen sich taufen. Sie werden zur Keimzelle einer christlichen Gemeinde.

Und an dieser Gemeinde ist ein zweites abzulesen, das von Anfang an prägend war. Sie wird zu einer Insel inmitten dieser geschäftigen Stadt, sie ist ein offenes Haus, in dem es geschwisterlich zugeht, inmitten einer Gesellschaft, in der ganz andere Spielregeln herrschen. Eine gastfreundliche Gemeinde mit offenen Türen und Menschen, denen man abspürt: Denen ist das Herz aufgegangen. Und weil das so ist, gehen sie etwas anders miteinander um. Da zählt nicht, was einer war oder ist oder hat oder kann, sondern da heißt es: Du gehörst auch dazu.

Die Kraft des Anfangs: Wo sind heute die Orte, an denen das Evangelium ins Gespräch kommt, nicht nur im Gottesdienst, sondern irgendwo am Rand, in persönlichen Gesprächen? Und woran kann man heute sehen, wie dieses Evangelium Menschen verändert, so dass nicht mehr zählt, ob einer arm ist oder reich, einheimisch oder fremd, Mann oder Frau, gesund oder krank, voll leistungsfähig oder behindert? Beides gehört zusammen: das Wort Gottes und die Gemeinschaft, zu der es anstiftet. Amen.

Perikope

Komm herüber und hilf uns! - Predigt zu Apostelgeschichte 16,9-15 von Michael Nitzke

Komm herüber und hilf uns! - Predigt zu Apostelgeschichte 16,9-15 von Michael Nitzke
16,9-15

9 Und Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht: Ein Mann aus Mazedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns! 10 Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, da suchten wir sogleich nach Mazedonien zu reisen, gewiss, dass uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen.

11 Da fuhren wir von Troas ab und kamen geradewegs nach Samothrake, am nächsten Tag nach Neapolis 12 und von da nach Philippi, das ist eine Stadt des ersten Bezirks von Mazedonien, eine römische Kolonie. Wir blieben aber einige Tage in dieser Stadt. 13 Am Sabbattag gingen wir hinaus vor die Stadt an den Fluss, wo wir dachten, dass man zu beten pflegte, und wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die dort zusammenkamen.

14 Und eine gottesfürchtige Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu; der tat der Herr d.as Herz auf, sodass sie darauf Acht hatte, was von Paulus geredet wurde. 15 Als. sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns.

 

Liebe Gemeinde,

Und Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht. Das steht da so einfach in der Apostelgeschichte. Diese Geschichte, ist der zweite Buch was ein Autor geschrieben hat, den wir Lukas nennen. Das erste Buch, dass er geschrieben hat, ist uns gut bekannt. Es erzählt die Weihnachtsgeschichte und all das was Jesus getan hat, bis zur Himmelfahrt. In der Apostelgeschichte, erzählt Lukas, wie es weitergegangen ist. Was haben, die Jünger Jesus aus ihren Erlebnissen gemacht, wie haben sie die Lehre Jesu umgesetzt?

Lukas wagt das, was kein anderer Evangelist gewagt hat, und was selbst heute nicht immer funktioniert. Er lässt seinem Erfolgswerk einen zweiten Teil folgen.

Jesus, die Hauptrolle, erscheint in diesem Werk zwar nicht mehr als Person, aber er ist unsichtbar, unterschwellig immer mit dabei, denn um ihn und um seine Mission geht es hier. Und unsichtbar greift er auch in das Geschehen ein. Kurz vor dem Abschnitt, den ich verlesen habe, steht, dass der Geist Jesu den Paulus und seine Leute daran hinderte, durch die Landschaft Bithynien zu reisen. Das war noch mal ein Versuch in Asien das Wort Gottes zu predigen. Aber daran hatte sie schon der Heilige Geist gehindert. Was man damals Asien nannte, ist nicht etwa heutige der Ferne Osten. An China oder Japan, hätte man damals noch nicht einmal im Traum gedacht, gemeint war Klein-Asien das Gebiet, wo heute die Zentraltürkei ist. Die geballte Kraft Gottes stellte sich also einer Mission in Anatolien entgegen, so zog man nach Troas, da wo mal das Trojanische Pferd von sich reden machte. Das liegt Richtung Westen am Meer, mit Blick auf die Ägäischen Inseln.

Und wieder kommt eine übernatürliche Macht, dies mal nicht der Heilige Geist oder der Geist Jesu, diesmal erscheint ein Mann in der Nacht. Und er steht da und bittet höflich aber deutlich: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!

Jetzt werden, die biblischen Landschaftsbezeichnungen für uns schon etwas bekannter. Mazedonien oder Makedonien, kennen wir aus den Nachrichten, und als "Frühere Jugoslawische Republik" aus diversen Sportveranstaltungen. So weit ist Paulus aber nicht gekommen. "Sein" Mazedonien ist das Gebiet zwischen der heutigen Türkischen Grenze zu Griechenland und der Stadt Thessaloniki, genauer gesagt West-Thrakien. Umstritten waren diese Gebiete zu allen Zeiten, und die Herrschafts- und Besiedlungsverhältnisse, waren immer schwer zu entwirren, und ziemlich durcheinander. Vielleicht nennen deshalb die Italiener ihren Obstsalat "macedonia": ein Tutti Frutti der Völker also, das fing schon mit Alexander dem Großen an, der aus diesem Landstrich kam. Gut dreihundert Jahre vor Christi Geburt rechnete zu seinem Makedonien, allerhand Völker, die er so unterwegs eroberte.

Nun denken manche, das ist keine Predigt, sondern eine Geographiestunde. Ja, verzeihen Sie, aber heute ist das vielleicht mal nötig. Denn dieser Abschnitt, der Bibel wird oft, mit einer geographischen Bezeichnung überschrieben.

So überschriebt nämlich die Gute-Nachricht-Bibel diesen Abschnitt mit den Worten: "Der Ruf nach Europa". Und die gute Purpurhändlerin Lydia, die hier genannt wird, ist dann die erste Christin in Europa.

In heutigen Zeiten fühlen wir uns ja sofort zu Hause, wenn von Europa die Rede ist. Mit der Bekehrung der Lydia, klopft also das Christentum an unsere Haustür. Lydia wird dann zur Mutter aller Christen im Abendland. Neugegründete Gemeinden werden gerne nach ihr genannt, und damit wird Lydia auch zu einem Symbol für eine moderne Kirche, die heute in der Mehrheit vielfach von Frauen getragen wird.

Lydia, die erste Christin in Europa! Allerdings wird das Wort Europa in der ganzen Bibel gar nicht erwähnt, obwohl der Begriff in der Zeit schon bekannt war. Damals war jedoch das Römische Reich die maßgebende Einheit, und die umfasste das ganze Mittelmeer, das "Mare nostrum", unser Meer. So ist es für Paulus auch viel erwähnenswerter, dass die Stadt Philippi, wo er Lydia traf, eine römische Kolonie war. Ihm kam es nicht darauf an, den christlichen Glauben vom Morgenland ins Abendland zu bringen, oder von Vorderasien nach Europa, allenfalls legte er Wert darauf, das Römische Reich, als dessen Bürger er sich auch verstand, mit dem Glauben an Jesus Christus vertraut zu machen. Darauf musste die Kirche aber noch dreihundert Jahre warten, und Paulus hat darüber sein Leben in Rom verloren.

Lassen wir es an dieser Stelle genug sein mit der historischen Einordnung. Versuchen wir lieber etwas für uns heute aus dem Text zu erkennen, als in historischen Erinnerungen der Christianisierung Europas zu schwelgen, die heute ja immer mehr im schwinden ist.

Eins doch noch, und vielleicht ist das ja auch schon der Übergang. Haben sie genau zugehört, wie ich Lydia genannt habe? "Lydia, die erste Christin in Europa." Nicht etwa, die erste europäische Christin. Lydia stammt aus Lydien, aus der Stadt Thyatira, die man aus der Offenbarung des Johannes vielleicht kennt. Heute findet man diese Ausgrabungen etwa 90 Kilometer nordöstlich von Izmir. Damals mitten in der Provinz Asien, also da, wo Paulus auf dieser Reise nicht den Leuten den Glauben nicht nahe bringen konnte.

Wir lernen dadurch zweierlei. Erstens: So wirklich europäisch war unsere Lydia also gar nicht. Die erste Christin in Europa war eine Migrantin. In ihrer Heimat, die berühmt für Textilien und Purpur war, hat sie gelernt ihren Lebensunterhalt mit den Gütern der Region zu verdienen. Zweitens lernen wir noch was, und damit verlassen wir jetzt wirklich den geographischen Teil: Wenn die eine Möglich, den Glauben zu verbreiten, nicht klappt, dann schenkt Gott uns eine andere Möglichkeit. In Asien konnte Paulus nicht landen, in Europa traf er aber auf die Menschen, die er zuvor nicht erreichen konnte.

9 Und Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht: Ein Mann aus Mazedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!

Manchmal sollten wir auch in der Nacht die Augen und Ohren offen halten. Oder auch anders gesagt, in manchen Träumen, wird uns auch eine Realität vor das innere Auge gehalten, die wir so noch nicht wahrgenommen haben. Kürzen wir die geographischen Angeben weg, dann hört Paulus die Stimme: Komm herüber und hilf uns!

Und genau das, möchten wir auch heute in unserer Kirche ausrufen. Komm herüber und hilf uns!

Diesen Satz könnten wir ausrufen, mit lauter Stimme. Da stehen wir nun in unserem wohlhabenden Europa, uns geht's in großen Teilen gut. Und wenn wir uns mit denen vergleichen, die an den Grenzen an unsere Türen klopfen, dann geht es uns prächtig. Aber als Kirche, scheint es, dass wir langsam mit dem Rücken zur Wand stehen. Die fetten Jahre sind vorbei. Dieser Satz mag für die wirtschaftliche Situation weniger richtig sein, als für die geistliche. Noch fließen unsere Einnahmen. Aber die Zeiten, in denen man sie uns bedenkenlos anvertraut hat sind vorbei. Bedrückender, ist aber vor allem, dass die Zeiten im Schwinden sind, in denen man uns zugetraut hat, dass wir etwas für die Seelen und die Herzen tun können.

Da geht es uns scheinbar wie Paulus, der mit seinen Leuten durch die Provinzen zog, und merkte, dass er hier und da nicht landen konnte, mit dem was er an geistigem Rüstzeug mit hatte.

Aber was er hatte war Vertrauen. Er gab nicht auf. Er hatte das Ziel, den Glauben, den er hatte mit den Menschen, die er als seine Geschwister bezeichnete, zu teilen. Und er empfand schienbare Niederlagen, als göttliche Fügung und geistliche Führung. Er hörte die Bitte um Hilfe, der Erscheinung in der Nacht. Er sagte, nicht: "Das ist doch sicher auch wieder nichts, das geht doch sowie so wieder schief, genau wie in Asien!" Nein, er machte sich auf zu neuen Ufern. Und als er dort ankam, dachte er nicht: Jetzt muss sich doch der Himmel auftun, und mir die Lösung vor Augen halten. nein er ging ganz planmäßig vor. Er dachte: 'Wenn hier bei den Römern in Philippi überhaupt irgendwelche Menschen sind, die sich auf den Glauben an Gott ansprechen lassen, dann muss ich zum Fluss gehen, dort wo sich fromme Juden waschen, bevor sie am Sabbat beten.' Dort wo sich Menschen treffen, die ihren Glauben bewahrt hatten. Und er traf dort auf Frauen, die ihm zu hörten, er ging auf sie zu und redete mit Ihnen. Und er sprach so über seinen Glauben, dass ihnen das Herz aufging.

Und seine bekannt gewordene Zuhörerin Lydia, war wirklich begeistert, und wurde vom Geist Gottes erfüllt, durch das was Paulus redete. Sie wird als gottesfürchtig bezeichnet, das heißt, sie war auf der Suche nach Gott, hat sich der jüdischen Gemeinschaft angeschlossen, weil sie hier am ehesten, etwas für ihre Seele fand, aber sie gehörte wohl nicht vollständig zu ihnen, so dass ihr die Entscheidung leichter fiel, sich dem neuen Glauben anzuschließen. Sie ließ sich taufen. Der Rituelle Waschung der Taufe war ihr nicht so fremd, weil sie das ja bei den jüdischen Menschen am Fluss auch erlebte. Was ihr vielleicht aufgefallen ist, ist dass nun diese eine Waschung der Taufe ausreicht, um wirklich rein vor Gott zustehen. Sie lud alle dazu ein, die zu ihr gehörten sich auch taufen zu lassen, und dann wollte sie auch gastfreundlich sein, zu den Menschen, die ihre Seele bereichert haben.

Was können wir von Lydia lernen, für unserer Situation heute. - Es gibt weiterhin Menschen, die nach Gott suchen, die ansprechbar sind, und Futter für ihre Seele suchen. Und wir werden sie finden, wenn wir an die Orte gehen, an denen sie suchen. Das mögen für uns heute ganz andere Orte sein. Wie viele Leute sagen uns: "Beten kann ich auch im Wald, dafür muss ich nicht in die Kirche!" Welche Möglichkeiten sehen wir, an solchen Orten wie einem Wald, unseren Glauben zu leben, und dazu einzuladen. Ja, das kann der Freiluftgottesdienst sein. Es gibt Gelegenheiten, wo wir das tun, und manche Menschen, lassen sich dann auch spontan einladen, mitzufeiern.

Wichtig ist nur, dass wir uns über die nicht ärgern, die kopfschüttelnd oder leise spöttelnd vorbei gehen. Vielleicht habe ich für die andere Möglichkeiten, die sich ergeben. Wichtig ist nur, dass ich nicht aufgebe. Und vielleicht höre ich eine innere Stimme, die mich bittet: Komm herüber und hilf uns!

Als Paulus diesen Ruf gehört hat, ist er mit seinen Leuten einen neuen Weg gegangen. Auch wir müssen neue Weg einschlagen, um für Menschen ansprechbar zu sein für den Glauben. Menschen, müssen die Möglichkeit haben, uns zu entdecken, damit ihnen auch das Herz aufgehen kann, so wie bei Lydia am Fluss. Dazu sind auch Begegnungen nötig, die so nicht unbedingt geplant waren.

Ich habe bei unserem Amt für missionarische Dienste (www.amd-westfalen.de) einmal geschaut, was es für Möglichkeiten geben könnte, einer ungeplanten Begegnung etwas nachzuhelfen, wie Paulus es am Fluss auch getan hat.

Ein zufällige Begegnung am Wegesrand, vielleicht sogar am Fluss, ist heute mehr denn je möglich. Viele Menschen, sind in der Freizeit und im Urlaub gerne mit dem Fahrrad unterwegs. Die klassischen Radweg führen an Donau Mosel oder der Weser entlang. Aber auch Kirchen abseits der großen Radautobahnen können zu Radwegekirchen werden. Radfahrer, wollen nicht nur Kilometer abspulen, sondern auch etwas fürs Auge und für die Seele. Kirchen sind dabei beliebte Anlaufpunkte. Auch eine Kirche in der kein Gottesdienst ist, lädt zur Besinnung ein. Vielleicht gibt es auch die Möglichkeiten zu bestimmten Zeiten spirituelle Angebote zu machen, und zusätzlich zum geistigen Auftanken auch noch etwas für das leibliche Wohl zu bieten. So kann Kirche auch wieder ein Pilgerort werden, der nicht nur für Radfahrer interessant ist, sondern außerhalb der Gottesdienste ein Ort ist, an dem das Herz aufgeht.

Kirche kann auch sich anders zeigen als man gewöhnlich von ihr erwartet. Wir haben ja bei der Nacht der offenen Kirchen gute Erfahrungen gemacht (www.kirchen-nacht.de). Wir laden ein zu Musik und Kultur, und auch wenn es manchmal "nur" unterhaltend ist, dann schafft solche Unterhaltung, doch Menschen den Zugang zur Kirche, die ihn sonst nicht gefunden hätten.

Wie finde ich nun die Möglichkeit, dem aufgegangenen Herz, eine Heimat zu geben. Lydia hat damals den Weg spontan zur Taufe gefunden, und danach hat sie die Prediger in ihr Haus eingeladen. Vielleicht ging es heute eher umgekehrt. Nachdem Interesse für die Inhalte der Kirche geweckt wurde, muss ein Angebot, da sein, diese zu vertiefen. Wir können einladen zu Glaubenskursen. Das Wort mag manchen zunächst abschrecken. Aber viele Menschen besuchen "freiwillig" Sprachkurse oder nehmen an Bildungsangebote teil, die sie weiter bringen. Warum nicht auch im Glauben weiter wachsen. So ein Kurs muss nicht nach Schule aussehen. Wir haben ja da mit unserem "Schnupperkurs" Glauben gute Erfahrungen gemacht. Eine Einladung in die Gemeinde, bei der ich mich wie zu Hause fühle, unter Menschen bin, denen ich vertrauen kann, und wo ich darauf Acht haben kann, was da vom Glauben gesagt wird. Auch in Hauskreisen kann so ein Glaube vertieft werden, da ist uns die Einladung der Lydia in ihr Haus ein gutes Vorbild. (www.amd-westfalen.de)

Komm herüber und hilf uns! Viele Hilfen werden angeboten von Leuten, die sich Gedanken machen, wie Kirche ihre Inhalte wieder zum Menschen bringen kann. Wir müssen uns nur bewusst sein, dass wir Hilfe brauchen, bevor wir sie geben können. Und solche Hilfe kommt nicht nur vorn kirchlichen Werken, sondern oft auch vom Heiligen Geist selbst, indem er uns manche Wege verwehrt und dafür andere Wege öffnet. Komm herüber und hilf uns! So sprach der Mann aus Mazedonien in der nächtlichen Erscheinung. Wir müssen versuchen, unsere Ohren und Herzen für solche Stimmen zu öffnen. Denn einfach so, werden wir den verlorenen Boden nicht mehr gut machen und weiter mit dem Rücken zur Wand stehen. Hören wir auch, was Gott uns im Wochenspruch sagt: Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht. (Hebr 3,15)                                   Amen.

 

 

Perikope

Predigt zu Apostelgeschichte 16,9-15 von Wolfgang v. Wartenberg

Predigt zu Apostelgeschichte 16,9-15 von Wolfgang v. Wartenberg
16,9-15

Der Apostel Paulus gehörte zu den ersten, die in frühchristlicher Zeit im Bereich der heutigen Türkei die christliche Botschaft weitergaben. Als er in Troas weilte, gar nicht weit weg von dem Ort, an dem Heinrich Schliemann das alte Troja entdeckte, sah er eine Erscheinung bei Nacht. Dies wird in der Apostelgeschichte erzählt.

9 Und Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht: Ein Mann aus Mazedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns! 10 Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, da suchten wir sogleich nach Mazedonien zu reisen, gewiss, dass uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen.
11 Da fuhren wir von Troas ab und kamen geradewegs nach Samothrake, am nächsten Tag nach Neapolis 12 und von da nach Philippi, das ist eine Stadt des ersten Bezirks von Mazedonien, eine römische Kolonie. Wir blieben aber einige Tage in dieser Stadt. 13 Am Sabbattag gingen wir hinaus vor die Stadt an den Fluss, wo wir dachten, dass man zu beten pflegte, und wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die dort zusammenkamen.
14 Und eine gottesfürchtige Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu; der tat der Herr das Herz auf, sodass sie darauf Acht hatte, was von Paulus geredet wurde. 15 Als sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns.


Liebe Gemeinde,
was ist geschehen? Wie und warum hat Lydia zu ihrem Glauben finden können?  Lukas, der diese Begegnung in der Apostelgeschichte festgehalten hat, schweigt. Er analysiert nicht. Der Bericht des Lukas ist kurz und bündig. Da wird keine lange Geschichte erzählt, sondern nur das Ergebnis – wir haben es gehört:
Die gottesfürchtige Lydia ließ sich taufen und ihr ganzes Haus dazu.
 
Dabei war diese Taufe ein bemerkenswertes, ein historisches Ereignis. Die Purpurhändlerin Lydia war die erste Frau, ja, darüber hinaus, der erste Mensch überhaupt auf dem europäischen Festland, der sich zu Jesus Christus bekannte. Das Haus der Lydia wurde zur Geburtsstätte der christlichen Gemeinde in Europa.
 
Lydia wird „gottesfürchtig“ genannt. Das Wort hatte damals eine besondere Bedeutung: Sie war keine geborene Jüdin, aber sie hatte sich der jüdischen Gemeinde in Philippi angeschlossen. Damit wird sie als eine Frau beschrieben, die für religiöse Fragen offen und am jüdischen Glauben interessiert war. Sie war, so dürfen wir annehmen, auf der Suche nach dem, was wirklichen Halt versprach.
 
„Der Lydia tat der Herr das Herz auf, sodass sie darauf Acht hatte, was von Paulus geredet wurde.“ Vielleicht tut Gott auch unsere Herzen auf, sodass wir Acht haben auf das, was uns wirklichen Halt geben kann.

Liebe Gemeinde, was gibt uns Halt - inneren, seelischen Halt?  Die Antwort: Halt gibt uns die gute Botschaft Jesu, dass Gott uns liebt. Davon hat Jesus noch und noch mit vielen Worte und durch sein Leben erzählt. Jesus öffnete unsere Augen für seine Vision eines guten Lebens, ein wahres, gerechtes, menschliches Leben voller Güte und Barmherzigkeit. Er warb dafür, in Gott nicht den Richter und den allmächtigen Herrscher zu sehen, sondern den himmlischen Vater, der die Armen liebt, den Gefangenen Freiheit schenken, den Blinden das Licht geben und die Misshandelten erlösen will. Und er erzählte davon, dass Gott uns Gnade und Liebe erweisen will.
 
Liebe Gemeinde, vor diesem Hintergrund hat es sein Recht, von einer Liebesgeschichte zu reden, wenn wir von Gott und Mensch reden. Ich nehme diese Geschichte zum Anlass, von einer anderen Liebesgeschichte zu erzählen, und erläutere am Schluss der Geschichte, warum ich sie erzähle.
Eine ältere Frau, schon lange verheiratet, erzählte mir einmal, wie sie ihren Mann kennen gelernt hatte. Sie war noch Schülerin, und sie ging in die Schule, die seiner Schule benachbart war. Irgendwann hat ihr Mann, damals noch ein Schüler, ein Auge auf sie geworfen. Er brachte ihr täglich vor dem Unterricht oder in der großen Pause einen Apfel mit aus dem häuslichen Garten. Das war damals noch etwas Besonderes! Sie nahm den Apfel nach anfänglichem Widerstreben. Der Schüler entsprach so gar nicht ihren Vorstellungen. Sie stammte schließlich aus gutbürgerlichen Verhältnissen und er kam vom Land und war etwas altbacken gekleidet.
Aber, wie die Dinge sich so entwickeln: Mit der Zeit konnte sie sich seinem Einfluss nicht entziehen. Irgendwann überzeugte er sie, sie kamen sich näher, schließlich haben sie geheiratet. Und vier Kindern das Leben geschenkt.
Nicht wahr, liebe Gemeinde, eine schöne Liebesgeschichte! Vermutlich könnten einige von Ihnen eine ebenso schöne Geschichte erzählen.

Liebe Gemeinde, es geht mir in der Geschichte um Folgendes: Bei Lydia genügte, wenn wir dem Bericht des Lukas folgen, ein Tag, um sich dem christlichen Glauben zu öffnen. Viele Menschen aber brauchen eine längere Zeit, manchmal ein Leben lang, um in den christlichen Glauben hineinzufinden. Es entwickelt sich dann wie bei jenem Liebespaar: Langsam von Tag zu Tag bildet sich ein immer stärker werdendes Interesse, eine wachsende Zuneigung und schließlich ein tief gehendes Zutrauen zu Gott.

Liebe Gemeinde, unsere je eigene Liebesgeschichte mit Gott - gibt es die? Vermutlich hat sie ja schon längst begonnen in unserem Leben. Vielleicht steht sie noch aus – oder wir haben noch nicht genug Acht gehabt auf die Zeichen, die auf eine solche Liebesgeschichte hindeuten.

Ich denke, es sind ganz elementare Erlebnisse, die unsere Gewissheit stärken können, dass Gott auf uns achtet, zu uns Ja sagt und uns mit Liebe begleitet:
Gute, positive, von Liebe und Respekt bestimmte Erlebnisse mit der Mutter, dem Vater, den Geschwistern stützen uns weit über unsere Kindheit hinaus.
Bei manchen ist es die Erinnerung an die guten Erlebnisse in einer Jugendgruppe, bei anderen das Mitsingen in einem Kirchenchor, bei wieder anderen der Besuch einer eindrucksvollen Kirche oder die Erinnerung an einen bewegenden Gottesdienst, die etwas davon in uns aufleuchten lassen, wie gut es Gott mit uns meint.
Wenn wir es genau nehmen: Jedes Stück Brot, jeder Schluck Wasser und an jedem Abend das Dach über unserem Kopf erinnern uns dankbar daran, wie wenig selbstverständlich es ist, dass wir leben und behütet sind.
Liebe Gemeinde, diese guten, wunderbaren Erlebnisse können die Gewissheit stärken, dass Gott uns trägt und wir ihm wichtig sind.

Aber wir können die Augen und die Ohren nicht davor verschließen, dass sich uns die Güte Gottes nicht immer so eindeutig erschließt. Mancher erfasst den gütigen Gott erst nach langen Kämpfen. Manchem bleibt sie wohl auch ein Leben lang verschlossen. 

Ich denke an einen Patienten, den ich im Krankenhaus besuchen durfte. Er hatte einen schweren Verkehrsunfall überlebt. Er erzählte mir, wie es zu dem Unfall kam: Er war im Gottesdienst gewesen und mit seinem Auto auf dem Weg nach Hause. Da sah er ein anderes Auto mit Motorschaden am Straßenrand stehen. Als ein bewusst lebender Christ hielt er an, um seine Hilfe anzubieten. Er stellte sich zwischen beide Autos, um in den Motorraum des liegengebliebenen Autos zu blicken. In diesem Moment fuhr ein anderes Auto ungebremst auf die beiden Autos auf. Der Mann flog durch die Luft. Er war am Kopf und am ganzen Körper schwer verletzt. Zwei Wochen schwebte er zwischen Leben und Tod. Seitdem war einige Zeit vergangen. Er hatte mehrere Operationen hinter sich und noch mehrere vor sich.
Gegen Ende des Krankenbesuches verabschiedete ich mich mit dem Segenswunsch „Behüt` Sie Gott.“ Als ich behutsam hinzufüge, ich würde verstehen, wenn er nach diesem Schicksal an der  guten Führung Gottes zweifle, rief er aus: „Ganz im Gegenteil. Mir ist heute unerklärlich, wie ich habe überleben können. Gott will mir zeigen, dass ich noch viel mehr als bisher auf ihn vertrauen kann.“
Liebe Gemeinde, ich habe viel gelernt von diesem Patienten. Zum Beispiel dieses, dass wir auch im Unglück vertrauensvoll an Gott festhalten können.

Ich möchte noch einen Schritt weiter gehen. Zu den guten Gottes Gaben in diesem Leben gehört auch das Wissen, dass wir nicht allein sind.
Gott hat uns nicht nur dieses unser Leben geschenkt, sondern auch die Menschen neben uns, die Kinder, die Geschwister, die Eltern, die Großeltern, die Freunde, die Menschen in der Gemeinde, in der Stadt und in der weltweiten Ökumene.
Wie können wir Gott dankbar sein für diese Menschen, mit denen wir leben! Diese Menschen sind es doch, denen wir verbunden sind, die unser Herz füllen, die in unseren Gedanken ständig gegenwärtig sind, mit denen wir weinen und lachen, mit denen wir bangen und hoffen, für die wir uns verantwortlich wissen. Liebe Gemeinde, diese Menschen tragen zu unserem Glück bei, ohne sie wären wir vermutlich einsam und unglücklich. Wir leben miteinander und füreinander. Wir brauchen uns gegenseitig für unseren inneren Seelenhaushalt. So schenken wir uns die Gewissheit, dass wir erwünscht und willkommen sind, dass wir gebraucht werden.

Das scheint alles so selbstverständlich zu sein. Aber es ist nicht selbstverständlich, zumal dann nicht, wenn es uns Mühe bereitet, für andere da zu sein.
Ich denke an die Mutter, die mir von ihrem behinderten Kind erzählte. Wie anstrengend die Zeit war, als sie und ihr Mann für das Kind gesorgt haben. Und trotzdem, so erzählte sie, sei diese Zeit im Rückblick die wertvollste Zeit ihres bisherigen Lebens gewesen.
Ich denke an den Mann, der seine kranke Frau pflegte. Er sei in dieser Zeit kaum zur Ruhe gekommen und dennoch, so sagte er, sei er von Herzen dankbar dafür, dass ihm das möglich war.
Ich denke an die alte Frau, die mir einmal klagte: „Ich kann für meine Kinder gar nichts mehr tun. Ich komme ja nicht mal aus dem Haus. Aber“, fügte sie dann zögernd hinzu, „ich kann noch für sie beten.“ Liebe Gemeinde, auch auf diese Art und Weise können wir füreinander da sein.
Ich denke an die vielen anderen, die Mädchen und Jungen, an die Frauen und Männer, die sich täglich auf den Weg machen zur Schule, zu den Kaufhäusern, zu den Büros, obschon sie es dort nicht leicht haben. Solch eine regelmäßige Arbeit, die Disziplin, die in  jeder Arbeitsstelle erwartet wird, der Leistungsdruck, die körperlichen und geistigen Mühen, manches Mal sogar große Gefahren sind sehr, sehr anstrengend. Wir kennen das doch alle. Dazu kommen möglicherweise noch schwelende Konflikte. Sie zehren an den Kräften. Sie können auf die Dauer krank machen.

Warum tun wir das? Natürlich: Weil wir Geld verdienen, für unseren Unterhalt sorgen müssen, weil wir uns verpflichtet fühlen, für unsere Angehörigen da zu sein. Gewiss, liebe Gemeinde, das alles auch. Aber in vielen Fällen habe ich den Eindruck, schwingt noch ein anderes Gefühl mit, ein Gefühl der Verantwortung, ja, sogar noch mehr: auch ein Gefühl der Liebe – nicht zu den Mühen ihrer Tätigkeit, sondern zu den Menschen, für die wir da sein können oder einmal da sein werden. Diese Liebe, liebe Gemeinde, ist sie nicht auch von Gott und ein Zeichen dafür, dass er uns nicht allein lässt?

Auf die Frage, warum wir das, was so viel Mühe bereitet, tun, würden viele der Zeitgenossen mit der Gegenfrage antworten: „Wer soll das denn sonst tun, wenn nicht ich, der ich die Großmutter, der Vater, die Mutter, der Sohn oder die Tochter bin? Oder auch: Wer denn sonst, der ich doch für diesen Beruf ausgebildet bin, mich auskenne und den Menschen wirklich helfen kann?“

An dieser Stelle möchte ich die vielen Menschen würdigen, die sich ehrenamtlich für andere engagieren. Derer gibt es inzwischen so viele, dass ich sie gar nicht aufzählen kann.
Ich denke, es ist nicht übertrieben zu sagen: Viele finden in diesen Aufgaben, in diesem Für- andere- da- sein ihr Glück. Sie erfassen instinktiv, dass ihr Leben dadurch einen tiefen Sinn erfährt.
Liebe Gemeinde, diese Fähigkeit, füreinander da zu sein, ist von Gott.

Die Liebesgeschichte von Gott und Mensch, die vermutlich Lydia dazu bewegt hat, sich taufen zu lassen, setzt sich fort in unserem Leben und hält an darüberhinaus.
Wir dürfen uns geborgen wissen in allen Zeiten.
Amen
 

Perikope

Predigt zu Apostelgeschichte 16,9-15 von Elisabeth Tobaben

Predigt zu Apostelgeschichte 16,9-15 von Elisabeth Tobaben
16,9-15

9. In der Nacht hatte Paulus eine Erscheinung. Ein Mann aus Mazedonien stand vor ihm und bat: „Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!“
10. Gleich nachdem Paulus die Erscheinung gehabt hatte, suchten wir nach einer Möglichkeit, nach Mazedonien zu gelangen. Denn wir waren sicher: Gott hatte uns dazu berufen, den Menschen dort die Gute Nachricht zu verkündigen.
11. Von Troas aus setzten wir auf dem kürzesten Weg nach Samothrake über. Einen Tag später erreichten wir Neapolis.
12. Von dort gingen wir nach Philippi. Das ist eine bedeutende Stadt in diesem Bezirk Mazedoniens und römische Kolonie. In dieser Stadt blieben wir einige Zeit.
13. Am Schabbat gingen wir durch das Stadttor hinaus an den Fluss. Wir nahemn an, dass dort eine jüdische Gebetsstätte sei.
Wir setzten uns und sprachen zu den Frauen, die an diesem Ort zusammengekommen waren.
14. Unter den Zuhörerinnen war auch eine Frau namens Lydia. Sie handelte mit Purpurstoffen und kam aus der Stadt Thyatira.
Lydia glaubte an den Gott Israels. Der Herr öffnete ihr das Herz, sodass sie die Worte des Paulus gerne aufnahm.
15. Sie ließ sich taufen zusammen mit allen, die in ihrem Hause lebten. Danach bat sie: „Wenn ihr überzeugt seid, dass ich wirklich an den Herrn glaube, dann kommt in mein Haus. Ihr könnt bei mir wohnen!“ Und sie drängte uns förmlich dazu. (Basis-Bibel)

Liebe Gemeinde!

Das hört sich an wie ein Reisebericht, was wir da gerade gehört haben.
Ich habe den Eindruck, ein Atlas wäre ganz praktisch gewesen heute, um besser zu verstehen, in welche Gegend uns denn diese Erzählung aus der Apostelgeschichte entführt!
Vielleicht ist es Ihnen beim Zuhören aber auch so ähnlich ergangen wie mir, und Sie haben über all die geographischen Angaben erstmal mehr oder weniger weggehört.
Das ist das ja oft so, wenn irgendwo so viele Namen von Städten oder Landschaften vorkommen, gerade wenn sie einem eher fremd sind: sie rauschen an einem vorbei.
Wenn plötzlich etwas Vertrautes  dazwischen auftaucht, ist das was anderes, und man sagt vielleicht: „Oh ja, das kenn ich, da war ich auch schon mal!“
Und mit einemmal hat man ein Bild vor Augen;  man weiß, wie es da aussieht und kann sich viel besser vorstellen, was erzählt wird.
Erstmal ein Reisebericht also.
Die Geschichte ist aber zugleich auch eine Bekehrungsgeschichte.
Die Geschichte von Lydia, der Purpurhändlerin, die mit ihrem ganzen Haus, mit ihrer Familie, ihren Mitarbeiterinnen und Angestellten getauft wird und sich zu Christus bekennt, wie jemand anfängt zu glauben:
Verbunden mit der Frage: Wie kommt es denn eigentlich dazu?
Und hier - bei Lydia- gibt es eine ganz klare und eindeutige Antwort:
Der Herr öffnete ihr das Herz, dass sie aufmerksam den Worten des Paulus lauschte.“  (V.14)
Gott selbst ist in Aktion, von ihm kommt der entscheidende Anstoß, sowohl bei Lydia - als auch bei Paulus!
Denn auch Paulus hat seinen Weg ja keineswegs von vornherein klar und eindeutig erkannt!
Er ist auf der Suche und probiert herauszufinden, wo er als nächstes das Evangelium verkünden soll.
Der entscheidende Punkt auf den es ankommt, im Reisebericht wie in der Bekehrungsgeschichte ist: Gott greift ein, er lenkt die Wege von Paulus und seinem Missionstrupp und er öffnet Lydia das Herz.
Und bei uns?
Oder anders gefragt: Was können wir denn aus dieser Geschichte gewinnen für unseren Glauben und unsere Gemeinde?
Dazu zunächst noch einmal zum Reisebericht zurück: ich denke, der Verfasser hat mit Bedacht so viele Einzelheiten zur Reiseroute zusammengetragen.
Wie gesagt: es sind ungeheuer viele Namen von Landschaften und Städten, die Paulus und seine Mitarbeiter durchstreifen, vor unserer Geschichte wird schon davon berichtet:
Aus der Provinz Asien geht es über Phrygien nach Galatien, d.h. sie laufen also einmal längs  durch die heutige Türkei.
Dann den weiten Weg zurück und  vorbei an Mysien nach Bythinien;
Sie wollen gehen nach Nordosten, um dort ihre Arbeit fortzusetzen und fragen sich, ob sie dort Erfolg haben mit dem Evangelium.
Aber überall fühlen sie sich an der Verkündigung gehindert,
„...der Geist Jesu erlaubte es ihnen nicht...“, heißt es in V. 7.
Und so ziehen sie schließlich immer an der Küste entlang bis hinunter nach Troas.
Und da stehen sie und sind ratlos sind und wissen nicht, wie es weitergehen soll!
Denn nun liegt vor ihnen nur noch das offene Meer, und auf die Idee, dass sie ja auch in ein Schiff steigen könnten und hinüberfahren nach Griechenland, dieser Gedanke liegt ihnen offenbar so fern, dass sie darauf überhaupt gar nicht kommen!
Da drüben ist Europa, ein anderer Kontinent.
Da ist nicht mehr ihre Welt.
Nicht, dass es dorthin keine Kontakte gegeben hätte!
Im Gegenteil, es wird eifrig Handel getrieben zwischen den asiatischen und den europäischen Städten am Mittelmeer.
Und auch Lydia, die Purpurhändlerin, stammte - wie wir hören-  ursprünglich aus Asien, aus Thyatira und sie lebt und arbeitet jetzt in Philippi, in Griechenland, in Europa.

Paulus  braucht eine göttliche Weisung zum Sprung übers Meer!
Eine Erleuchtung! Er hat eine nächtliche Vision, einen Traum.
Und im Traum erscheint ihm ein Mazedonier, der ihn bittet: „Komm herüber und hilf uns!“
Damit ist die Sache klar, sofort   brechen sie auf, anscheinen noch mitten in der Nacht, völlig sicher, dass Gott sie dazu berufen hat.
Alles ist wieder offen.
Die Grenzen, die eben noch so dicht waren, spielen offenbar keine Rolle mehr.
Grenzen.
Jetzt im Februar ist bei uns auf der Insel auch immer die Zeit der Jahresplanungen.
Und dazu solch ein Predigt-Text, das ist schon spannend!
Auch wir haben in unserer Gemeinde längst Gottesdienste und Veranstaltungen in einen großen Übersichtskalender eingetragen und geguckt:  Was steht schon fest, z.B. wann kommt welcher Kurpastor/in, Freizeithelferin, wie passt alles zusammen, wann feiern wir das 50-jährige Jubiläum unserer Inselkirche?  Was fehlt vielleicht noch.
Und passiert es denn schon manchmal, dass der Satz fällt: „Nee, um die Zeit? das geht gar nicht, da kommt sowieso keiner!“
Es könnte ja sein, dass wir auch viel zu sehr auf Grenzen starren, von denen wir denken, dass sie da wären, wo wir sie sehen.
Haben wir damit womöglich gar nicht im Blick, dass Gott vielleicht etwas ganz anderes bewirken will bei uns?
Es kann ja sein, dass es auch bei uns irgendwo Menschen gibt, die wir gar nicht anzusprechen wagen, weil wir denken: Das hat ja sowieso keinen Zweck?
Übrigens: was ist, wenn z.B. die  plötzlich die Norderneyer  oder Borkumer im Traum erschienen und zu uns sagen: „Kommt herüber und helft uns?“
Und ich habe mich auch nochmal kritisch gefragt, wie  das denn  mit den Zahlen ist.
Wenn eine Veranstaltung kein Massenauflauf zu werden verspricht, halten wir uns ja gern sehr bedeckt.
„Das lohnt sich doch gar nicht“, sagt sich dann leicht mal.
„Lohnte“ sich denn Paulus‘ Einsatz in Philippi?
Immerhin ist das Ergebnis doch eigentlich relativ kümmerlich, wenn man‘s nüchtern betrachtet!
Ein einziges Haus, eine Familie, eine Betriebsbelegschaft wird getauft.
Eine Riesenmenge dürfte das nicht gerade gewesen sein, und ob sie eigentlich alle wirkliche selbst angefangen hatten zu glauben, darüber erfahren wir gar nichts.
Nur von Lydia selbst wird die Bekehrung berichtet.
Und sie zieht alle andern nach sich, gründet eine Hausgemeinde und sorgt für die Taufe aller.
Eine Frau also, die mehr wissen will, eine einzige, die fragt, zuhört, der Gott das Herz auftut.
Und das ist ausgerechnet auch noch eine Ausländerin!
Das Spannende ist: sie kommt genau aus der  Gegend, in der auch  Paulus und seine Leute gerade waren, und wo sie so erfolglos waren mit seiner Predigt, nicht verkündigen durften!
Es kann ja sein, dass Lydia auch erst in der Fremde ihr religiöse Interesse entdeckt hat.
Als „Gottesfürchtige“   beschreibt die Apostelgeschichte sie.
Das ist ein feststehender Begriff für Leute aus dem engsten Umkreis der jüdischen Gemeinde, keine Voll-mitglieder sozusagen, aber sehr interessiert und gebildet.
Oft Leute, die sich darauf vorbereiteten, der Gemeinde richtig beizutreten.
Und so trifft Paulus‘ Predigt eigentlich schon auf offene Türen bei ihr.
Das gibt es ja oft, dass Menschen fern von zu Hause viel offener sind für die Frage nach dem Glauben!
Dazu muss man nun  nicht gleich im Ausland leben und arbeiten, vielleicht merken Sie es auch an sich selbst, wenn Sie z.B. im Urlaub oder sind oder in den Ferien - wenn Sie da in eine fremde Kirche kommen, braucht es manchmal nur einen kleinen Anstoß - ein Bild, Musik, ein Wort oder einfach der Eindruck des Raumes - und Ihnen geht das Herz auf...

So passen sie denn gut zusammen, der Reisebericht und die Bekehrungsgeschichte!
Das Ermutigende an beiden Geschichten ist, finde ich, dass sie hier ja nicht zu Ende sind.
Mit Lydia fängt es erst an, dass das Evangelium sich in Europa ausbreitet.
Das offene Herz - es führt für Lydia dazu, dass sie auch ihr Haus öffnet!
Die kleine Hausgemeinschaft in Philippi wird so etwas wie eine Keimzelle des neuen Glaubens.
Ich glaube, dass es auch heute in unserer Kirche nicht in erster Linie um ausgeklügelte Sparmaßnahmen und auch nicht ausgefeilte Missionsstrategien mit irgendwelchen Leuchtfeuern gehen sollte.
Sondern was wir brauchen, das sind vielmehr einzelne Menschen –so wie Lydia-, denen das Herz aufgegangen ist, die mit beiden Beinen im Leben stehen und da von ihrem Glauben erzählen, von dem, was sie trägt und hält.
Lydia zwingt Paulus und seine Leute förmlich dazu, ihre Gäste zu sein.
„Wenn ihr kommt,“ sagt sie, „dann erkennt ihr damit an, dass ich jetzt richtig dazugehöre, dass ich fest an den Herrn glaube!“
Manchmal, denke ich, brauchen wir Menschen das, dass uns ein anderer sagt: ich sehe deinen Glauben, ich erkenne ihn an - gerade in Momenten des Zweifels, oder der Unsicherheit ganz am Anfang; wenn man sich selbst (noch) gar nicht so sicher ist, ob denn der eigene Glaube wirklich (schon) so tragfähig  ist, wie man selber möchte oder sich erträumt.
Deswegen feiern wir mit unseren Konfirmanden einen festlichen Gottesdienst zum Abschluss des Unterrichtes.
Die Geschichte von Lydia und Paulus kann uns Mut machen, unterwegs zu bleiben:
innerlich, und manchmal vielleicht auch buchstäblich:
- offen dafür, unsere inneren Weisungen und Traum-Bilder zu verstehen und
- und im Vertrauen darauf, dass wir herausfinden werden,  wohin Gottes Geist uns lenkt. Amen.
 

Perikope

Predigt zu Apostelgeschichte 10,21-36 von Søren Schwesig

Predigt zu Apostelgeschichte 10,21-36 von Søren Schwesig
10,21-36

Liebe Gemeinde,

wenn immer in der Weltpolitik etwas geschieht, was für das Leben der Menschen entscheidende und weitreichende Konsequenzen hat, dann bemühen Politiker gern den Satz: „Wir erleben einen historischen Augenblick.“ Meist haben diese sogenannten historischen Augenblicke zu tun mit einem Regierungswechsel, dem Fall von Mauern oder der Beseitigung anderer, trennender Schranken.

Versuchen sie sich einmal zu erinnern an einen solchen historischen Augenblick. Viele werden an die Novembernacht 1989 denken, als zum ersten Mal nach Jahrzehnten der Trennung Deutsche aus Ost und West auf der Berliner Mauer ein Freudenfest feierten. Diese Nacht mit all den nachfolgenden revolutionären Veränderungen war sicher ein Augenblick, das das Prädikat `historisch´ wirklich verdient hat.

Historisch in seinen Folgen war sicherlich auch die Terroranschläge des 11. September 2001. Die Welt ist – so kann man das wohl sagen – tatsächlich eine andere geworden seit diesen Ereignissen.

Unser heutiger Predigttext lässt uns ebenfalls an einer historischen Stunde teilnehmen. Es geht um eine historische Begegnung, auch wenn diese Begegnung äußerlich ohne jede Dramatik verlief. Unser Predigttext lässt uns Zeuge einer Begegnung werden, der wir im Grunde die Existenz unserer Kirche zu verdanken haben. Denn in dieser Begegnung wurde eine Grenze überwunden zwischen Menschen, die bisher als Fremde und als Ungläubige galten. Aber der Reihe nach.

Wir hören von einem Cornelius, seines Zeichens römischer Offizier in Cäserea. Cornelius gilt als "gerecht und gottesfürchtig". Einer, der sich ernsthaft für religiöse Fragen interessiert. Einer, der auf der Suche ist nach Gott. Als Anhänger des Judentums Cornelius sympathisiert Cornelius mit dem jüdischen Glauben. Aber er zieht nicht die Konsequenz, zum Judentum überzutreten und sich beschneiden zu lassen. Damit gilt er strengen Juden als unrein.

Cornelius empfängt in seiner Heimatstadt eine Engelsvision. Ein Engel befiehlt ihm, aus der Stadt Joppe einen Mann namens Simon mit dem Beinamen Petrus holen zu lassen. Dieser habe ihm Wichtiges zu sagen. Gott habe seine, des Cornelius, gottesfürchtige Haltung gegenüber den Juden und ihrem Glauben gnädig angesehen.

Zur selben Zeit hat Petrus, der in Joppe ist, ebenfalls eine Vision. Er sieht ein riesiges Bündel aus dem Himmel herniedersinken, in dem alles Getier, das auf Erden existiert, ihm zur Nahrung angeboten wird, Reines und Unreines durcheinander. Petrus als ein frommer Jude, der sich an die Speisevorschriften der Bibel hält, lehnt das dreimalige Angebot dreimal ab: Er habe noch nie Unreines gegessen und wolle es auch diesmal nicht tun. Die Vision schwindet und lässt ihn ratlos zurück.

Und nun der Predigttext. Worte aus dem 10 Kp der Apostelgeschichte:

[21] Da stieg Petrus hinab zu den Männern und sprach: Siehe, ich bin's, den ihr sucht; warum seid ihr hier? [22] Sie aber sprachen: Der Hauptmann Kornelius, ein frommer und gottesfürchtiger Mann mit gutem Ruf bei dem ganzen Volk der Juden, hat Befehl empfangen von einem heiligen Engel, dass er dich sollte holen lassen in sein Haus und hören, was du zu sagen hast. [23] Da rief er sie herein und beherbergte sie. Am nächsten Tag machte er sich auf und zog mit ihnen, und einige Brüder aus Joppe gingen mit ihm. [24] Und am folgenden Tag kam er nach Cäsarea. Kornelius aber wartete auf sie und hatte seine Verwandten und nächsten Freunde zusammengerufen. [25] Und als Petrus hereinkam, ging ihm Kornelius entgegen und fiel ihm zu Füßen und betete ihn an. [26] Petrus aber richtete ihn auf und sprach: Steh auf, ich bin auch nur ein Mensch. [27] Und während er mit ihm redete, ging er hinein und fand viele, die zusammengekommen waren. [28] Und er sprach zu ihnen: Ihr wisst, dass es einem jüdischen Mann nicht erlaubt ist, mit einem Fremden umzugehen oder zu ihm zu kommen; aber Gott hat mir gezeigt, dass ich keinen Menschen meiden oder unrein nennen soll. [29] Darum habe ich mich nicht geweigert zu kommen, als ich geholt wurde. So frage ich euch nun, warum ihr mich habt holen lassen. [30] Kornelius sprach: Vor vier Tagen um diese Zeit betete ich um die neunte Stunde in meinem Hause. Und siehe, da stand ein Mann vor mir in einem leuchtenden Gewand [31] und sprach: Kornelius, dein Gebet ist erhört und deiner Almosen ist gedacht worden vor Gott. [32] So sende nun nach Joppe und lass herrufen Simon mit dem Beinamen Petrus, der zu Gast ist im Hause des Gerbers Simon am Meer. [33] Da sandte ich sofort zu dir; und du hast recht getan, dass du gekommen bist. Nun sind wir alle hier vor Gott zugegen, um alles zu hören, was dir vom Herrn befohlen ist. [34] Petrus aber tat seinen Mund auf und sprach: Nun erfahre ich in Wahrheit, dass Gott die Person nicht ansieht; [35] sondern in jedem Volk, wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm.

Wir haben es gehört: Als Petrus noch über die Bedeutung seiner Vision grübelt, wird ihm die Einladung des Cornelius überbracht. Petrus folgt ihr, obwohl er doch als Jude heidnische Häuser keinesfalls betreten darf. Als er zu Cornelius kommt, wird ihm der Sinn seiner Vision klar: Gott selbst hat diese Begegnung mit Cornelius inszeniert, damit der heidnische Römer in die Gemeinde aufgenommen werde. Petrus beginnt seine Verkündigung des Evangeliums im Haus des Cornelius mit dem Schlüsselsatz der ganzen Geschichte: "Nun erfahre ich in Wahrheit, daß Gott nicht danach fragt, welchem Volk ein Mensch angehört; sondern wer Gott fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm."

Im weiteren Verlauf seiner Predigt fällt der Heilige Geist auf alle Hörer, die Heiden eingeschlossen, und Petrus läßt sie taufen.

Die Bedeutung, ja Dramatik dieser Begegnung ist nicht ohne weiteres nachvollziehbar, wenn man nicht um die damaligen Barrieren zwischen Juden und Heiden weiß. Fromme Juden mieden Heiden. Sie sahen in ihnen Unreine; Menschen, die man zu meiden hatte, wollte man sich nicht verunreinigen. Die ersten Christen waren ja nichts anderes als fromme Juden, die sich von ihren Glaubensgenossen nur darin unterschieden, dass sie in Jesus den verheißenen Messias erkannten. Natürlich galt auch für sie die Devise galt: Mit Heiden wollen wir nichts zu tun haben!

Gott hat durch die Vision mit den reinen und unreinen Tieren sowie durch die Begegnung mit Cornelius gezeigt, wie er über diese Grenzen zwischen Menschen denkt: Für das Evangelium, für die Botschaft der Bibel, für den christlichen Glauben gibt es keine Reinen und Unreinen. Allen gilt die Botschaft Jesu. In Jesu Nachfolge kann es keine Grenzen zwischen Menschen geben.

Petrus hat verstanden, dass die biblische Botschaft nicht in Grenzen eingesperrt werden darf, sondern dass sie allen Menschen offensteht. Und nun kann aus der bisher jüdischen Sekte der Christen eine christliche Kirche entstehen, eine Gemeinschaft, die allen offensteht, egal welcher Herkunft, Hautfarbe oder Volkszugehörigkeit. Die biblische Botschaft hat ihren ersten großen Befreiungsprozess durchlebt.

Der Glaube der Christen hat im Laufe seiner Geschichte immer wieder Grenzen erkennen und sprengen müssen, in denen er sich zu verfangen drohte. Denn immer wieder haben Menschen die biblische Botschaft mit Grenzen umgeben.

Ich denke daran, wie Martin Luther versuchte, eine Kirche zu reformieren, in der nicht mehr die biblische Botschaft maßgebliche Richtschnur des Handelns und Glaubens war, sondern wo getan wurde, was eine irregeleitete Kurie vorgab. Das Evangelium sprengte in der Reformation damals die Grenze, die Menschen ihm gezogen hatten - aber zu welchem Preis! Zum Preis der Kirchenspaltung. Heute leben wir in konfessioneller Zerrissenheit. Lassen wir uns nicht davon täuschen, dass der Ton zwischen Protestanten und Katholiken inzwischen geschwisterlicherer geworden ist. Lassen wir uns nicht davon einlullen, dass wir mit unseren katholischen Geschwistern dieses Haus teilen, dass wir gemeinsam ökumenische Kreise anbieten. Alles schön und gut. Aber es wäre erschütternd, würden wir uns mit diesem Zustand zufrieden geben.

Denn zwischen unseren beiden Kirchen gibt es Grenzen, gewichtige Grenzen, die Menschen voneinander trennen. Ich denke an das Abendmahl. Daran, dass uns Evangelischen noch immer die volle Abendmahlsgemeinschaft verweigert wird. Ich bin zutiefst überzeugt davon, dass Gott nicht will, dass Christen andere Christen vom Abendmahl ausschließen. In der Frage des Abendmahles stelle ich mit Bitterkeit und Trauer fest, dass bis heute Gottes Einladung an Petrus zu einem Mahl ohne alle Grenzen nicht Einzug gehalten hat in das Abendmahlsverständnis unserer Schwesterkirche.

In der Geschichte der Christenheit ist das Evangelium immer wieder dadurch in Grenzen eingesperrt worden, dass Menschen ausgegrenzt wurden, sei es wegen ihrem Geschlecht, ihrer Herkunft oder ihrer Religion. Ja, das Evangelium wurde sogar von solchen in Grenzen gesperrt, die ihm eigentlich dienen wollten. Paulus irrte, als er den Frauen in der Gemeinde den Mund verbieten wollte. Luther irrte, als er glaubte vom Evangelium her begründen zu können, dass aufständische Bauern, Juden und Andersgläubige verfolgt werden dürften. Die Bekennende Kirche irrte, als sie sich im Dritten Reich - bis auf wenige Ausnahmen - stärker für ihre eigene Freiheit einsetzte, als ihre Stimme zu erheben für Juden, Homosexuelle, Sinti und Roma und Kommunisten.

Immer dann wurde der christliche Glaube in Grenzen eingesperrt, wenn Menschen ausgegrenzt wurden. Und das Evangelium befreite sich immer dann aus dieser Gefangenschaft, wenn Grenzen zu Menschen geöffnet wurden, wenn man sich klar machte, die Gemeinschaft der Glaubenden steht allen offen - unterschiedslos, weil Gott keine Unterschiede macht.

Ich glaube, dass diese Begegnung von Petrus und Cornelius uns, die wir mit Ernst Christen sein wollen, reichlich Anlass gibt, darüber nachzudenken, wo wir uns durch Vorurteile von anderen abgrenzen. Wo wir uns hinter Grenzen zurückziehen, um diejenigen zu meiden, die wir als störend empfinden, als lästig, als unsympathisch. Über solche Abgrenzungen sollten wir Rechenschaft ablegen. Aber nicht nur das - wir sollten auch versuchen, diese Abgrenzungen zu überwinden. Weil Gott ohne Vorbehalt Menschen in seine Liebe einschließt. Eröffnet das nicht neue Perspektiven für unser Tun?

Amen.

Perikope

Rein und unrein - Predigt zu Apostelgeschichte 10,1-2.(15b).21-35 von Thomas Bautz

Rein und unrein - Predigt zu Apostelgeschichte 10,1-2.(15b).21-35 von Thomas Bautz
10,21-35

Rein und unrein 

Liebe Gemeinde!

„In Cäsarea aber lebte ein Mann namens Kornelius, ein Hauptmann bei der sog. Italischen Kohorte; er war fromm und gottesfürchtig mit seinem ganzen Hause, tat dem (jüdischen) Volke viel Gutes durch seine Mildtätigkeit und betete (flehte) ohne Unterlass zu Gott.“

Ein römischer Hauptmann: „fromm“ und gottesfürchtig. Was aber meint „fromm“? Die lateinische Übersetzung (Vulgata) schreibt „religiosus“, hier wohl synonym mit „pius“. Diese und andere Begriffe aus der römischen Religion und Kultur bedeuten meist etwas anderes, als dies in modernen Sprachen der Fall ist.

Als exemplarisch für „pietas“ gilt der sagenhafte Stammvater Aeneas, der bei seiner Flucht aus dem brennenden Troja die Statuetten der Hausgötter und den Vater auf dem Rücken trägt und den Sohn an der Hand führt; mit ihm verbindet sich das Wort „pius“ seit Vergils Aeneis. „Frommsein“ (pius) ist bei den Römern also weniger eine Eigenschaft, sondern eher eine Grundhaltung und eine Verpflichtung zum Handeln.

Pietas deckt ein korrektes Verhältnis zu Eltern, Freunden und Mitbürgern ab, wie auch eine angemessene Haltung gegenüber den Göttern. Pietas dient als eine Form von Verteilungsgerechtigkeit, d.h. der Gerechtigkeit von Verteilungsregeln und ihren Ergebnissen; entsprechend gibt es eine Ergebnisgerechtigkeit als ein Gerechtigkeitskonzept, das solche Zustände einer Gesellschaft als gerecht definiert, in denen allen Mitgliedern der Gesellschaft der Nutzen aus der Gesellschaft („Ergebnis“) in grundsätzlich gleichem Maße zukommt.

Pietas ist Gerechtigkeit im Hinblick auf die Götter (Cicero: Über die Natur der Götter, 1.116). Dabei geht es um eine gegenseitige (reziproke) soziale Tugend, denn die Götter haben auch ihre Pflichten zu erfüllen. Pius, „Frommsein“ bedeutet also, im engeren wie auch im weiteren Umfeld der Gesellschaft - im Hinblick auf die Götter - nach Gerechtigkeit trachten.

Ich weiß nicht, inwieweit der griechisch schreibende Verfasser der „Taten der Apostel“ (Acta, Praxeis), Lukas, Religion, Kultur und Sprachgebrauch der Römer vor Augen hat. Als Arzt ist er jedenfalls gebildet genug, um diese Grundkenntnisse bei ihm voraussetzen zu dürfen.

Vom Hauptmann Kornelius erzählt Lukas, dass er in jeder Hinsicht ein frommes, gerechtes Leben führt: gesellschaftlich und religiös integer (aufrichtig, pflichtbewusst, rechtschaffen). Ich frage mich: Was fehlt diesem Menschen noch? Gibt es einen verborgenen Mangel oder gar einen Makel, der ihn vielleicht als einen unehrenhaften Mann oder gar als zwielichtige Gestalt und als Scharlatan entlarvt?

Nichts dergleichen wird von Lukas erwähnt; im Gegenteil: Kornelius ist gottesfürchtig, spendet freigiebig dem Volk Almosen und ist auch ein Mann des Gebets. Regelmäßig betet er, fleht zu „Gott“; wir wissen nicht, worum er bittet. Doch in Gestalt einer Vision wird ihm die Gewissheit zuteil, dass „Gott“ seine Gebete erhört hat; wiederum erfahren wir nicht, worin diese Erhörung besteht. Während ich noch darüber nachdenke, wie der Römer Kornelius (ein „Heide“) gebetet haben mag, lese ich eine Art Meditation über das Gebet von Yuval Lapide: „Das Herz der Kabbala“ (Sohn des leider verstorbenen Pinchas Lapide):

„Es ist aber nicht etwa so, als werde nur des Gerechten (auch des „Heiden“; Th.B.) Gebet von Gott empfangen und als sei nur dieses lieblich in seinen Augen.
 
Kein Beten ist gnadenstärker und dringt in geraderem Fluge durch alle Himmelswelten als das Beten des Einfältigen, der nichts zu sagen und nur das ungebrochene Müssen seines Herzens Gott darzubringen weiß.
 
Gott nimmt es an wie ein König das Singen der Nachtigall in der Nacht seines Gartens, das ihm süßer klingt als die Huldigung der Fürsten im Thronsaal.
 
Gott, der in die verborgenen Tiefen des Beters hinabsieht, begehrt die Einfalt und Unvoreingenommenheit des Ungeschulten und Unkundigen, weil dieser ein hohes Maß an Hingabe und anspruchsloser Echtheit, Schlichtheit und Wahrhaftigkeit demonstriert.
 
Die chassidische Legende weiß nicht genug der Beispiele für die Gunst, die dem Ungebildeten (auch dem „Heiden“; Th.B.) leuchtet, und für die Macht seines Dienstes.“

Später wird Kornelius nochmals als gerecht und gottesfürchtig vorgestellt: „ein gerechter und Gott fürchtender Mann, mit gutem Zeugnis von der ganzen Volksgemeinschaft der Juden …“. Wenn Lukas diese ehrenhafte Position vor der jüdischen Gesellschaft einfügt, führt er uns schon an die in seiner Erzählung dargestellte Problematik heran, nämlich was es einerseits damals bedeutet, wenn Juden Umgang mit „Heiden“, mit Unreinen haben, und wie absurd sich das Ganze von einer höheren Warte aus darstellt.

Nun führt Lukas Petrus als zweite Hauptperson in seine Erzählung ein. Als Jude, der Christus (Messias) als Erfüllung jüdischer Verheißungen verkündet, hält Petrus an den Speise- und Reinheitsgeboten der Tora fest. Doch in einem Traum erhält er Gottes Auftrag zur Tischgemeinschaft mit Kornelius, dem „gottesfürchtigen“ Römer.

Viele Ausleger behaupten, mit Petrus begönne die urchristliche „Heidenmission“. Sie löst zunächst Konflikte mit anderen Judenchristen aus, die von Nichtjuden das Einhalten jüdischer Gebote verlangen. Petrus verteidigt die Nichtjuden und seine Tischgemeinschaft mit ihnen damit, dass auch sie den Heiligen Geist empfangen haben. Dies müssen seine Jerusalemer Kritiker dann anerkennen.

Um die bereist erwähnte Absurdität und Unmöglichkeit vor Augen zu führen, Menschen wie Kornelius auf der einen Seite als gerecht und gottesfürchtig wertzuschätzen, auf der anderen aber Menschen wie ihn auf Grund ihrer Herkunft als „Heiden“ und Unreine auszugrenzen, wird Petrus im Traum unreines Getier gezeigt, begleitet von der Aufforderung, dieses zu schlachten und zu essen - für Petrus ein wahrer Alptraum. Doch er hört eine Stimme:

„Was Gott für rein erklärt hat, heiße du nicht gemein!“ Petrus kann sich später darauf berufen:

„Ihr wisst, wie streng es einem Juden verboten ist, Kontakt mit jemand zu haben, der zu einem anderen Volke gehört, oder gar bei ihm einzukehren. Gott hat mir aber gezeigt, keinen Menschen gemein oder unrein zu nennen.“ Seine nächste große Rede beginnt er mit dem Bekenntnis, dass er eine wichtige Lektion gelernt hat:

„Wahrhaftig, jetzt begreife ich, dass Gott keine Unterschiede macht! Er liebt alle Menschen, ganz gleich, zu welchem Volk sie gehören, wenn sie ihn nur ernst nehmen (fürchten) und tun, was vor ihm recht ist.“

Mag Petrus nach der Einschätzung des Lukas zumindest kurzfristig diese tolerante Einstellung gepflegt haben, bei Paulus lässt sich beobachten, dass er sprachlich „Heiden“ im Gegensatz zu Juden voneinander abgrenzt. Alttestamentlich bezeichnet das hebräische Äquivalent (gojim) zunächst „Völker“, „Nationen“ im neutralen Sinne. Nach dem babylonischen Exil verschiebt sich aber die Bedeutung zunehmend zu einem religiösen Verständnis; fortan versteht man aus der Sicht Israels darunter „heidnische Völker“, „die Jahwe nicht dienen, ohne die Tora leben und einen frevelhaften Lebenswandel führen“ (Ulrich Heckel).

„Schließlich fühlte man sich als das erwählte und von Jahwe geliebte Volk weit erhaben über die gojim und sah auf sie herab; es sind die Ungläubigen, die ‚Heiden‘.“ (U. Heckel)

Hinwendung („Bekehrung“) zum Judentum und zum Christentum ist zwangsläufig verbunden mit Lossagung oder Abkehr von „heidnischen“ Göttern („Götzen“), Kulten und Ritualen. Für die polytheistische römische Religion ist die Aufspaltung in „christlich“ und „heidnisch“ zum einen dennoch tragbar, zum anderen führt sie durch das separatistische Verhalten der Christen zu Irritation und Missbilligung.

Vereinfacht gesagt, kommt es im 4. Jh. durch Kaiser Konstantin d. Gr. geschicktes Taktieren zu einer Vermischung römischer („heidnischer“) religiöser Elemente und christlicher Inhalte. So dienen Konstantin die Verehrung des Sonnengottes (Helios, Sol invictus und Apollon) und der etablierte Herrscherkult zu einer Parallelisierung mit der Verehrung des unbesiegten und triumphierenden Christus.

Zunächst gibt es Christen, die an römischen, „heidnischen“ Kulthandlungen teilhaben, aber die radikale Religionspolitik Kaiser Theodosius d. Gr. verfolgt im Unterschied zu Konstantin (I.) die Zerstörung paganer („heidnischer“) Heiligtümer und Kultgegenstände. Christen wird deren Verehrung strikt untersagt. Mit der Zementierung des Christentums als Staatsreligion wächst die Intoleranz gegenüber  „Heiden“ als Andersdenkenden und Andersglaubenden.

Ich fürchte, bei dieser m.E. arroganten, ignoranten Haltung ist es (mal stärker, mal schwächer) über fünfzehnhundert Jahre hinweg bis heute geblieben. Staatsbürger, die nicht getauft, nicht konfirmiert und nicht kirchlich getraut sind, werden bis ins 20. Jh. hinein noch als Menschen zweiter Klasse, eben als „Heiden“ behandelt. Freilich bekennt sich manch ein Zeitgenosse, nicht nur ein Bürger aus den neuen Bundesländern, selbstironisch zum „Heidentum“.

Wer innerhalb der Kirchengemeinschaft sein eigenes Kind nicht taufen lässt, wird heute noch beargwöhnt. Wer in einer Kirchengemeinde seine Meinung sagt zu Gottesdienstformen, Bekenntnissätzen und Glaubensformeln, wird mit Befremden angeschaut und meist gemieden. Der „reine“ Glaube steht fest und wird kollektiv bekannt. Für individuelle oder gar kritische Anschauungen ist selten Platz.

Die Zugehörigkeit zu einer Kirche (römisch-katholisch, evangelisch, freikirchlich) wird in ihrer Bedeutung m.E. immer noch überhöht, metaphysisch übersteigert. Wenn katholische Eltern z.B. fürchten (müssen), ihr Säugling käme nicht „in den Himmel“, wenn er nicht getauft ist, walten hier dogmatische Irrlehre und magischer Aberglaube, aber auf keinen Fall die nüchterne, frohgemute Gelassenheit eines Rabbi von Nazareth:

„Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn ihnen ist (gehört) das Reich Gottes.“ - „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, habt ihr keinen Anteil am Reich Gottes.“

Das Königreich Gottes, das Reich der Himmel, ist (Gott sei Dank) nicht identisch mit einer der großen Kirchen, auch nicht mit allen zusammen (Alfred Loisy), auch wenn im Mittelalter das Papsttum solche Wahnvorstellungen aus Machtbesessenheit vertreten hat.

Wer in der Nachfolge Jesu steht, betet mit jedem Vaterunser: „Dein Reich komme …“; in der Kirche geschieht das sehr oft, vielleicht sogar zu häufig, weil es bei allzu viel Wiederholung an Wert verlieren könnte. Wir sollen aber auch für das Kommen des Himmelreichs arbeiten; es hört sich für mich in der Bergpredigt wie eine Lebensregel an (Mt 6,33):

„Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, dann wird euch all das andere obendrein gegeben werden.“

Bergpredigt (bei Mt) und Feldpredigt (bei Lk) des Nazareners und die vielen Gleichnisse Jesu beinhalten viel Lebenspraktisches und Erbauliches, und es wundert mich, dass sie in Kirchen heutzutage eine vergleichsweise geringe Rolle spielen. Das betrifft das Thema Reich Gottes insbesondere, obwohl dies beim Rabbi aus Nazareth zentral ist.

Könnte es nicht sein, dass sich dieser gottesfürchtige römische Hauptmann Kornelius, von dem Lukas erzählt, im Rahmen seiner Religion an der Gerechtigkeit orientiert hat, die auch im Judentum von entscheidendem Gewicht ist, die Jesus verkündet hat, und die das Christentum versucht zu verwirklichen?

Für das Königreich Gottes arbeiten, bedeutet auch, Menschen nicht mehr nach äußeren Kriterien, sondern nach inneren Werten zu beurteilen; das Anderssein, das Fremdsein nicht mehr als bedrohlich einzuordnen; das für mich Unverständliche nicht gleich mit Bausch und Bogen abzulehnen. Gesprächs- und Konfliktbereitschaft sind eine unverzichtbare Basis für echte, lebendige, gelebte, ungeheuchelte Gemeinschaft und größtmögliche Offenheit.

Gemeinsamkeit, vieles gemeinsam haben, gemeinsam feiern, singen, lesen, beten usw. - das ist sicher alles wunderbar, aber es könnte rein äußerlich bleiben, wenn die Grundlagen für die Gemeinschaft nicht geschaffen oder geweckt werden.

Für mich spielt auch eine große Rolle, ob eine Gemeinschaft oder besser jeder Einzelne davon wirkliches, ehrliches Interesse an einem Fremden hat, um ihm mit zweckfreiem Interesse zu begegnen. Ist mir an diesem Menschen um seiner selbst willen gelegen; bin ich für ihn so offen, dass ich ihn kennenlernen kann? Wird es zu einem echten Austausch auf Augenhöhe kommen? Bin ich bereit, etwas von ihm zu lernen oder meinen Horizont zu erweitern?

Oder möchte ich in erster Linie für die Institution Kirche werben, und alles andere ist letztlich Beiwerk, Nebensache oder gar Geplänkel? Ist dieser fremde, durchaus interessierte Mensch für mich (in bewusster Wahrnehmung oder zumindest unbewusst) ein „Heide“?!

Ich wünsche mir und allen christlichen, kirchlichen Mitarbeitern, dass die Erzählung vom Hauptmann Kornelius uns die gleiche Lektion erteilt, wie sie dem Petrus zuteil geworden ist, nämlich die Aufhebung der Unterscheidung von „reinen“ und „unreinen“ Menschen.

Ohne dass ich das näher kommentieren könnte, muss ich wiederum unwillkürlich an einen weiteren Spitzensatz aus der Bergpredigt (Mt 5,45 - im Kontext des Gebots der Feindesliebe:)  denken: „… damit ihr euch als Kinder eures himmlischen Vaters erweist. Denn er läßt seine Sonne über Böse und Gute aufgehen und läßt regnen auf Gerechte und Ungerechte.“

Im Aramäischen und Hebräischen (Jesus sprach kein Griechisch) sind solche Gegensatzpaare sprachlich sehr beliebt; so heißt es z.B. (von „Gott“): „Jakob hat er geliebt, Esau gehasst.“ Was etwa bedeutet: Den einen hat er bevorzugt, den anderen hinten anstehen lassen; Gründe zeigt der Zusammenhang. Oder (Bergpredigt) die Rede vom „guten Baum“, der gute Früchte, und vom „faulen Baum“, der faule Früchte hervorbringt; die Polarität ist natürlich nicht deckungsgleich auf Menschen anwendbar: „Niemand ist gut, außer Gott allein!“

Ergo: Kein Mensch ist weder gut noch böse, weder gerecht noch ungerecht; Menschen sind entweder mal das eine oder das andere, mal überwiegend gut oder böse, mal überwiegend gerecht oder ungerecht. In jedem Fall sollte sich jeder bemühen.

Zum Thema „unrein“ zitiere ich zum Schluss nochmals den Nazarener (Mt 15,11.17-20):

„Begreift ihr nicht, daß alles, was in den Mund hineingeht, in den Leib (Magen) gelangt und auf dem natürlichen Wege wieder ausgeschieden wird? Was dagegen aus dem Munde kommt, geht aus dem Herzen hervor, und das ist es, was den Menschen verunreinigt. Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken: Mordtaten, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, Verleumdungen und Lästerungen. Das sind die Dinge, die den Menschen verunreinigen; dagegen das Essen mit ungewaschenen Händen macht den Menschen nicht unrein.“

Amen.

Literatur

Rudolf Pesch: EKK V/1. Die Apostelgeschichte (Apg 1-12) (1986), 326-342.

Wilfried Paschen: Rein und Unrein. Untersuchung zur biblischen Wortgeschichte (1970).

Ulrich Heckel: Das Bild der Heiden und die Identität der Christen bei Paulus, in: Die Heiden. Juden, Christen und das Problem des Fremden, hg.v. Reinhard Feldmeier/ U. Heckel. Einl. v. Martin Hengel (1994), 269-296.

Christine Mühlenkamp: „Nicht wie die Heiden“. Studien zur Grenze zwischen christlicher Gemeinde und paganer Gesellschaft in vorkonstantinischer Zeit (2008).

John Scheid: An Introduction to Roman Religion (1998, 2003): (I) Questions of Methodology (2) Definitions, concepts, difficulties (18-29): 22ff, 26ff.

Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu (Purity and Danger, 1966; 1985, 1988). 

Perikope

Predigt zu Apostelgeschichte 10, 21- 35 von Michael Rambow

Predigt zu Apostelgeschichte 10, 21- 35 von Michael Rambow
10,21-35

Liebe Gemeinde!

Diese Begegnung zwischen dem römischen Besatzungsoffizier Kornelius und Petrus in Cäsarea hat eine eigentümliche Vorgeschichte. Alles beginnt so:
Bei Kornelius erscheint eines Nachmittags ein Engel mit der Botschaft, er solle Petrus zu sich nach Hause holen lassen, der sich gerade in Joppe aufhält.
Und Petrus sieht um die Mittagszeit wie auf einem Tischtuch allerlei Tiere und eine Stimme trägt ihm auf davon zu essen.

Bei solchen Bildern sagt sich mancher vielleicht: Na, da hat wohl der Mittagsschlaf dem einen und zu großer Hunger dem anderen ganz schön was vorgegaukelt.
Aber nach dieser seltsamen Vorgeschichte treffen die Kornelius und Petrus tatsächlich im Haus des Offiziers zusammen und Petrus erzählt dort, was Gott durch Jesus Christus getan hat.
Komisch ist das. Kann man so etwas glauben? fragt sofort die Skepsis des 21. Jahrhunderts.

Und genau das will Lukas mit dieser Erzählung in der Apostelgeschichte erreichen: Gibt es für Gottes Heil und Macht in der Welt eigentlich eine Grenze? Nein, antwortet er mit dieser Erzählung. Gott erreicht vielmehr  jeden Menschen auf wundersame Weise über alle Grenzen von Beruf, gesellschaftlicher Stellung oder Religion hinweg. Das lässt sich allein mit menschlichen Regeln nicht erklären.

Die Apostelgeschichte illustriert als Missionsbuch, welche enorme grenzenlose Wirkung das Heil hat, das Gott mit dem Kind in der Krippe Weihnachten in die Welt leuchten ließ.  In ganz normalen Menschen begegnet Gott mit seiner befreienden wunderbaren Botschaft des Heils.
Das sollen die Christen wissen und stets beherzigen.

Die Geschichte des Christentums ist von Anfang an eine Missionsgeschichte. Geleitet von dem Ruf und Auftrag Gottes die frohe Botschaft überallhin zu tragen überschritten Frauen und Männer die Grenzen von Religion, Nationalität, Beruf und Geographie.
Als Missionarinnen und Missionare verkünden sie fremden Menschen das Heil durch Jesus Christus.
Sie gaben fremden Völkern mitunter ihre Schriftsprache und damit häufig erst ein Stück volle Identität. Ich kenne selbst einen Missionar, der in dieser Weise in Äthiopien bei einem indigenen Volk gearbeitet hat. Mit christlicher Mission untrennbar verbunden ist oft die Bildung von Jungen und Mädchen einhergegangen und damit ein wichtiges Stück Selbstfindung sowie persönliche und berufliche Entwicklung. Christliche Mission sorgte für  Gesundheitsentwicklung und -vorsorge in fremden Völkern.
Christliche Missionare kamen nicht selten mit den staatlichen Eroberern. Leider geschah die Ausbreitung und Vermittlung des christlichen Glaubens oft mit Feuer und Schwert. An die Taufe wurden Vergünstigungen geknüpft. Fremde Kulturen wurden zerstört oder unterdrückt. Ein bitteres Kapitel der christlichen Missionsgeschichte ist das.

Aber es gibt auch die berühmte Geschichte des Dominikanerpaters Las Casas, der im Mittelalter bereits gegen die brutale Unterdrückung der Eroberer protestierte und dafür eintrat, die Rechte der Indios zu wahren. Wie er taten es laut oder leise viele.  Und nicht wenige bezahlten ihren Dienst, den sie im Namen Gottes den Fremden schuldig zu sein glaubten mit ihrem Leben oder dem Verzicht auf ihre eigene Entwicklung. Das ist die andere Seite.

Heute ist Mission wegen der unleugbaren Missbräuche in der Vergangenheit leider oft ein Unwort geworden. Wird da nicht ein Stück urchristliche Identität preisgegeben?
Es geht heute nicht mehr zuerst darum, auszuziehen und Fremden von Jesus Christus zu erzählen. Haben wir uns daran gewöhnt, dass das mit der Religion sich auf niedrigem Niveau einpendeln wird? In Deutschland scheint ein gewisser Gewöhnungseffekt eingetreten zu sein, dass christlicher Glaube und Glaubensbindungen zurückgehen und heute eben aufgrund der Mitgliederzahlen z.B. die eine oder andere Kirche entwidmet und verkauft werden muss. Es wäre doch gar nicht falsch, daran zu erinnern, dass der christliche Glaube mehr als soziales Engagement und Gutsein ist. Nicht selten betonen christliche Einrichtungen, dass ihr Engagement nicht auf Mission zielt. Es wäre doch nicht übertrieben, wenn die christlichen Kirchen ab und zu drauf hinweisen würden, dass Jesus Christus, nach dem sie sich nennen, gesagt hat „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“. Es könnte doch auch mal appelliert werden,  die viele freie Zeit an Wochenenden oder zu großen Festen für Gottesdienstbesuche zu nutzen. Zu oft und zu schnell wird nach dem Zeitgeist gesehen, populistischer Aktivismus angestrengt und geredet, was opportun scheint und womit eben ein bestimmtes Image erstellt oder erhalten wird, in dem man sich selbst gern sieht.

Die Korneliusgeschichte wagt einen anderen Blick. Die Begegnung von Kornelius und Petrus macht den Weg frei zu einem neuen Lebens- und Dienstverständnis. Mission ist Befreiung in die Weite der Zuwendung Gottes.  Hier steht etwas von dem jede menschliche Existenz tragenden Grund:  den Erlöser und den Vater aller Menschen und menschlichen Erwartungen zu erkennen.

Hätte Lukas für wert gehalten, dieser missionarischen Begegnung fast ein ganzes Kapitel in seinem theologischen Werk einzuräumen, wenn das nicht der Kern christlichen Handelns wäre? Christsein muss fragen, was unter bestimmten Bedingungen nötig ist. Wer Gott fürchtet und das Rechte tut lebt gerecht. Mehr braucht es nicht, sagt Petrus dem Kornelius.

Die Geschichte hebt die grenzenlose Bedeutung des Weihnachten in die Welt gekommenen Lichtes hervor. Sie preist den Menschen, der ergriffen von diesem Schein, sich selbst und die Welt in einem neuen Licht sehen lernt und daraufhin dem Leben und Gott eine Chance in der Welt öffnet.

Im Grunde ist die Begegnung dieser beiden Männer Petrus und Kornelius eine anstößige Zumutung. Das Heil liegt außerhalb unserer Grenzen und Vorstellungen. Diese Grenzüberschreitung haben Petrus und nach ihm christliche Missionarinnen und Missionare immer wieder auf sich genommen und gewagt, in einer fremden Umgebung, fremden Menschen gegenüber und um den Preis missverstanden oder abgewiesen zu werden die Botschaft Gottes zu sagen. Petrus verlässt die ihm erlaubten Wege. Im Umgang mit Ungläubigen verletzt er damals wichtige Grundregeln allgemeiner Glaubensüberzeugung und Moral. In der Ausbreitung des Glaubens gibt es diesen Anstoß immer wieder, die Grenzen der Moral, der Norm, der guten Sitten zu überschreiten.

Einmal wurde ich gefragt, warum ich die gottesdienstlichen Abkündigungen stets mit dem Spruch schloss: „Der Herr segne seine Gemeinde und alle Mitglieder nach dem Reichtum seiner Gnade“. Er drückt aus, wozu wir alle eingeladen sind: Mit-Glieder zu sein am Leib Christi in dieser Welt unabhängig von gesellschaftlicher Stellung, politischer Überzeugung, beruflichem Auftrag, nationaler Herkunft. Davon sollte berichtet werden. Die Botschaft öffnet Ohren und Herz und Augen für Gottes Licht unter den Völkern. Wir entdecken Menschen, die durch Jesus Christus zu Mit-Gliedern berufen sind.

Perikope

Über den eigenen Schatten springen - Predigt zu Apostelgeschichte 10, 21-35 von Claudia Krüger

Über den eigenen Schatten springen - Predigt zu Apostelgeschichte 10, 21-35 von Claudia Krüger
10,21-35

Über den eigenen Schatten springen

Liebe Gemeinde,

ist es Ihnen schon jemals gelungen, über Ihren eigenen Schatten zu springen?

Im wörtlich sportlichen Sinne wird uns das wohl schwerlich gelingen, selbst wenn wir noch so kühne Verrenkungen machen und womöglich einen Sturz riskieren.

Im übertragenen Sinne könnte es uns aber durchaus einmal gelingen – oder ist es uns womöglich schon einmal gelungen?!

Es lohnt sich, darüber nachzudenken.

Was aber bedeutet es, über den eigenen Schatten zu springen?  Es bedeutet,  sich einen kräftigen Ruck zu geben, ungewöhnlich und einmal ganz anders zu handeln, als es sonst unserer Überzeugung, unserer Gewohnheit oder unserem Charakter entspricht. Ja, das kann auch heißen: für eine richtige Sache sogar einmal einen eigenen strengen Grundsatz zu ignorieren. Dazu gehört Mut, denn man betritt einen bisher unbekannten unsicheren Weg – wie eine schwankende Brücke. Man kann jedoch auf diesem Weg  überraschend zu neuen schönen Ufern gelangen. Und es können sich dabei freundliche befreiende Horizonte auftun, die unser Bewusstsein erweitern. Genau das geschieht in unserem heutigen Predigttext:

Die Hauptpersonen sind zwei ganz unterschiedliche Männer:

Da ist einerseits Petrus, der uns bekannte Jünger, der mit Jesu eng verbunden und mit ihm unterwegs war,  und der auch nach dessen Tod und Auferstehung die Botschaft Jesu verkündigt.

Da ist auf der anderen Seite ein Hauptmann der römischen Besatzungsmacht, ein Heide, der sich zwar sehr für den jüdischen Glauben und die Gottesdienste interessiert, der betet und sogar Almosen gibt,  der aber doch ein Fremder ist und bleibt und keinesfalls richtig dazu gehört.

Und stellen wir uns einmal vor, welcher Mensch uns in unserer näheren oder weiteren Umgebung so absolut fremd wäre, dass wir mit ihm oder ihr nicht an einem Tisch sitzen wollten, dann rückt uns die damalige Situation in der Apostelgeschichte erstaunlich nahe.

Für den Juden Petrus ist es jedenfalls undenkbar, mit dem Heiden Kornelius Kontakt zu haben, denn Heiden galten als unrein, und es war nach jüdischem Gesetz sogar verboten, Umgang miteinander zu haben.

Und wer könnte oder wollte da nun über seinen eigenen Schatten springen – bis hinüber zu einem so ganz anderen fremden Menschen?!

Wo solch ein unüberwindbarer tiefer Graben die Menschen voneinander trennt, da muss Gott selbst eingreifen. Und so schickt er einen Engel zu Kornelius um ihm zu sagen, er solle Petrus zu sich einladen. Wenn aber ein Engel kommt, dann folgt man natürlich dessen Anweisungen. Und so schickt Kornelius sofort zwei Vertraute zu Petrus.

Aber auch Petrus muss zuerst von einer göttlichen Eingebung bewegt werden: Während er oben auf seinem Hausdach, dem Himmel nahe, sein Gebet spricht, bekommt er eine seltsame Vision: der Himmel tut sich auf, und es kommt ein

großes leinenes Tuch vom Himmel, an vier Zipfeln wird es niedergelassen. Darin befinden sich vielerlei kriechende krabbelnde Tiere und Vögel. Eine himmlische Stimme fordert Petrus nun auf, diese Tiere zu schlachten und zu essen. Petrus aber widerspricht vehement und angeekelt, hat er doch noch nie etwas Verbotenes Unreines gegessen. Die Stimme aber weist ihn zurecht: „Was Gott rein gemacht hat, das nenne du nicht verboten!“  Dreimal muss der Engel kommen. Und wir erinnern uns: dreimal hat er, der doch zuverlässig wie ein Fels sein sollte, seinen Herrn verraten. Dreimal musste er wieder einen neuen Auftrag bekommen: „Weide meine Schafe!“ Petrus ist ratlos, was dies nun wieder für ihn bedeuten soll. Es folgt eine weitere himmlische Anweisung,  er solle die drei Männer begleiten, die ihn jetzt gleich besuchen werden, denn Gott selbst habe sie geschickt. Und dann heißt es in unserem Predigttext:

Da stieg Petrus hinab zu den Männern und sprach: siehe, ich bin´s, den ihr sucht, warum seid ihr hier? Sie aber sprachen: Der Hauptmann Kornelius, ein frommer und gottesfürchtiger Mann mit gutem Ruf bei dem ganzen Volk der Juden, hat Befehl empfangen von einem heiligen Engel, dass er dich sollte holen lassen in sein Haus und hören, was du zu sagen hast. Da rief er sie herein und beherbergte sie.

Drei wildfremde Männer zu beherbergen, das ist zwar im Judentum durchaus Sitte und göttliches Gebot, aber hier auch ein erster Schritt, um dem himmlischen Auftrag Folge zu leisten und dabei über den eigenen Schatten zu springen.

Am nächsten Tag machte er sich auf und zog mit ihnen, und einige Brüder aus Joppe gingen mit ihm.

Petrus nimmt den Weg zu dem Fremden auf sich, ohne auf den Gedanken zu kommen, diesen stattdessen zu sich her zu bestellen. So weiß er sich ganz im Auftrag Gottes unterwegs und zögert nicht, sich auf einen Grenzen überschreitenden Weg zu machen. Ob wir das so ohne weiteres tun würden?

Und am folgenden Tag kam er nach Cäsarea. Kornelius aber wartete auf sie und hatte seine Verwandten und nächsten Freunde zusammengerufen.

Und als Petrus hereinkam, ging ihm Kornelius entgegen und fiel ihm zu Füßen und betete ihn an. Petrus aber richtete ihn auf und sprach: Steh auf, ich bin auch nur ein Mensch.

Welch´ ein befreiender Satz! Keiner muss sich vor dem anderen beugen. Keiner ist geringer als der Andere. Der Einheimische will auf Augenhöhe mit dem Fremden sein. Ein provozierender Gedanke, mitten hinein gesprochen in unsere Klassengesellschaft, wo manche gesellschaftliche Schicht mit der anderen schon fast keine Berührungspunkte mehr hat. Hier aber stehen sich zwei Menschen auf Augenhöhe gegenüber. Und wer sich auf Augenhöhe begegnet, der sieht mehr, sieht tiefer, sieht im Gegenüber den Menschen, das geliebte Geschöpf Gottes. Und allein mit einem solchen Blick beginnt schon ohne Worte eine bewegende Kommunikation. Denn mit einem Blick in die Augen eines Menschen, ist der Fremde mit einem Mal nicht mehr befremdend oder gar bedrohlich, sondern da erkennt man womöglich einen Menschen mit Gefühlen, mit Ängsten, mit Hoffnungen, mit Sorgen und auch mit Humor, mit Heimweh und einer Familie, die er liebt. Mit einem Glauben, der ihm kostbar ist. Und mit einem Mal entdecke ich  im Gegenüber einen Menschen, der mich unglaublich bereichern kann, dem ich zuhören kann, den ich verstehen kann, der meinen Horizont erweitert und sich auch für mich und mein Leben interessiert, und mit dem ich mich über unsere Verschiedenheit und über die Vielfalt der Geschöpfe Gottes von Herzen freuen kann!

Und während Petrus mit Kornelius redete, ging er hinein und fand viele, die zusammengekommen waren. Und er sprach zu ihnen: ihr wisst, dass es einem jüdischen Mann nicht erlaubt ist, mit einem Fremden umzugehen oder zu ihm zu kommen; aber Gott hat mir gezeigt, dass ich keinen Menschen meiden oder unrein nennen soll. Darum habe ich mich nicht geweigert zu kommen, als ich geholt wurde.

Keinen Menschen meiden oder ihn unrein nennen – das ist eine Lektion Gottes, die selbstverständlich sein sollte, die wir aber alle immer wieder von neuem zu lernen haben. Wir würden es freilich nie zugeben, dass wir manchen Menschen aus dem Weg gehen und nichts mit ihnen zu tun haben wollen. Weil sie uns im besten Falle einfach gleichgültig sind, oder weil sie uns nicht ebenbürtig oder zu fremd scheinen in ihrem Verhalten, ihren Neigungen, ihrem Glauben, ihrem Aussehen. Dass Gott hier den Petrus sogar veranlasst, ein ganz altes Verbot zu überspringen, das ist in der Tat bemerkenswert! Und wohl dem, der noch ein offenes Ohr hat für Gottes Weisung und für die Fingerzeige seiner Boten. Wohl dem, der noch Freude hat, auch an den unkonventionellen Wegen Gottes!

So frage ich euch nun, warum ihr mich habt holen lassen.

Kornelius sprach: Vor vier Tagen um diese Zeit betete ich um die neunte Stunde in meinem Hause. Und sieh, da stand ein Mann vor mir in einem leuchtenden Gewand und sprach: Kornelius, dein Gebet ist erhört und deiner Almosen ist gedacht worden vor Gott. So sende nun nach Joppe und lass herrufen Simon mit dem Beinamen Petrus, der zu Gast ist im Hause des Gerbers Simon am Meer. Da sandte ich sofort zu dir, und du hast recht getan, dass du gekommen bist. Nun sind wir alle hier vor Gott zugegen, um alles zu hören, was dir vom Herrn befohlen ist.

Gott erhört also auch Gebete Fremder, wenn sie von Herzen kommen. Er nimmt auch den wahr, der anders ist. Er sieht tief ins Herz und erkennt, wie ernst es einem betenden suchenden Menschen ist.

Petrus aber tat seinen Mund auf und sprach: Nun erfahre ich in Wahrheit, dass Gott die Person nicht ansieht, sondern in jedem Volk, wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm.

Auf diese Erkenntnis läuft alles hinaus! Gott sieht die Person nicht an. Er fragt nicht, woher einer kommt, welche Geschichte oder Heimat eine hat, ob er arm oder reich, fromm oder zweifelnd ist. Was hier beginnt mit der Überwindung der Grenzen zwischen Judenchristen und Heidenchristen, ist der Weg des Evangeliums, der frohen Botschaft von der Grenzen überwindenden Liebe Christi, die allem Volk widerfahren wird. Der Apostel Paulus drückt es mit anderen Worten aus: „Ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus. …Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau, denn ihr seid allesamt eins in Christus Jesu. Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Kinder und nach der Verheißung Erben.“ 

 

Anschließend erzählt Petrus allen Versammelten von Jesu Taufe durch den Heiligen Geist, von seinen Heilungen, Begegnungen und Taten, und schließlich von Jesu Tod und seiner Auferstehung. Zuletzt gibt er den Auftrag zum Verkündigen weiter. Und dann müssen wiederum manche ganz kräftig über ihren eigenen Schatten springen, denn am Ende der Ausführungen geschieht noch einmal Unvorstellbares:

Der Heilige Geist wird gleichermaßen über Judenchristen wie über Heidenchristen ausgegossen. Die Judenchristen sind darüber entsetzt, aber Petrus erkennt und spricht: Kann auch jemand denen das Wasser zur Taufe verwehren, die den Heiligen Geist empfangen haben ebenso wie wir? Und er befahl, sie zu taufen in dem Namen Jesu Christi.

Ja, woher wollen wir es denn so genau wissen, über wen der Geist Gottes ausgegossen ist! Wer wirklich zu den Kindern Gottes gehört und von ihm gebraucht wird, um seine Liebe in diese Welt zu tragen und die Menschen zu einem friedvollen Zusammenleben zu bringen, an dem Gott seine wahre Freude hat?! Sind nicht alle Gottes Geschöpfe, von ihm geschaffen, gewollt und unendlich geliebt?

Die Hiesigen und die „Reigschmeckten“, die Früh- und die Spätaussiedler, die Gastarbeiter und die vielen, die wir so dringend als Fachkräfte und Mitmenschen in unserem Land brauchen. Unsere Urgroßväter und Urgroßmütter, die einst ausgewandert sind, um dem Hunger zu entfliehen und über dem Teich Glück und Wohlstand zu finden. Die Kinder der ehemaligen Gastarbeiter, die inzwischen nicht nur Klassensprecher in unseren Schulklassen werden, sondern selbstverständlich auch Ministerinnen und Minister! Die Menschen, die eine bittere Fluchtgeschichte hinter sich haben, die sie bis heute prägt und mitunter auch traumatisch einholt. Und ebenso die Menschen, deren Hoffnungen mit ihren Familienangehörigen in überfüllten Booten ertrunken sind. Die Asylsuchenden vor unseren Kommunen, denen eine Riesenwelle aus Angst, Misstrauen und Überforderung entgegen schlägt. Wer weiß, was Gott uns Christenmenschen zu sagen hätte, wenn er erneut einen Engel zu uns senden würde? Vielleicht eben doch, dass auch wir über unsere Schatten springen sollen, weil sein lebendiger Geist unsere engen Denkmuster durchwehen und den Horizont unseres Geistes und unserer Herzen weit machen will? Wer weiß?! Gott hat seine ganz eigene Weise, um unsere Welt göttlicher und dadurch menschlicher zu machen und sie mit seiner grenzenlosen Liebe zu füllen! Schotten wir uns also nicht ängstlich ab, und verbarrikadieren wir nicht unseren Verstand mit Vorurteilen. Sondern öffnen wir weit unsere Herzen und Sinne dem lebendigen Geist, denn wer weiß, was für Gott noch alles möglich ist, wenn wir Menschen seinen Engeln nicht das Wort verbieten?! 

Hanns Dieter Hüsch hat in seinem „Segen für Versöhnung“ gesagt:

„Im übrigen meine ich, dass Gott uns alle schützen möge auf unserem langen Weg zur Versöhnung mit allen Menschen und mit allen Völkern….

Er möge von seiner Heiterkeit ein Quentchen in uns hineinpflanzen, auf dass sie bei uns wachse, blühe und gedeihe, und wir unseren Alltag leichter bestehen. ... und dass er uns fähig mache, weiterhin zu glauben an seine Welt, die nicht von unserer Welt ist…Er möge … uns beflügeln, Freiheit und Phantasie zu nutzen, um Feinde in Freunde zu verwandeln. Er lösche langsam in uns jedes Vorurteil, langsam, denn wir stecken bis über beide Ohren voll davon. Er schenke uns von seiner Vielfalt ein Stückchen Großmut und führe uns nicht in Haarspaltereien, Gedankenenge und Geistesnot.

Er erhalte uns unseren Eigensinn, …und gebe uns … die Kraft, am Ende aufzustehen für einen neuen Anfang. …

Darum bitten wir ihn um seinen Trost, um seine Hilfe, um seinen Verstand und um seine Gnade…, dass alle sich mit allen versöhnen. Dass der Hass die Welt verlasse und die Liebe in allen Menschen wohne, um uns von Gottes Zukunft zu erzählen. Amen.“

(Hanns Dieter Hüsch, in: „Das Schwere leicht gesagt“, S. 146f)

Perikope

Grenzen überschreiten - Predigt zu Apostelgeschichte 10,21-35 von Christoph Dinkel

Grenzen überschreiten - Predigt zu Apostelgeschichte 10,21-35 von Christoph Dinkel
10,21-35

Grenzen überschreiten

Im heutigen Predigttext begegnen sich zwei Männer aus völlig verschiedenen Lebenszusammenhängen. Ihr Weg führt sie auf wundersame Weise zusammen. Was ihnen widerfährt, ändert nicht nur ihr Leben, es ändert nicht nur ihren Glauben, es ändert die Weltgeschichte. Wir werden Zeuge der Entstehung des Christentums als einer globalen Religion.

Der eine Mann ist Petrus. Er ist uns bekannt als Fischer vom See Genezareth und Jünger Jesu. Petrus ist einer der zwölf Apostel, der mit Jesus durch Galiläa zieht. Ihn verbindet ein besonderes Vertrauensverhältnis mit Jesus, auch bei dessen gewaltsamen Ende ist er dabei. Petrus ist einer der ersten Zeugen der Auferstehung, er gilt als Säule der nachösterlichen Gemeinschaft, die sich zum Christentum hin entwickelt. Selbst der Apostel Paulus stimmt sich bei seiner Mission gezielt mit Petrus ab, denn Petrus’ Urteil hat entscheidendes Gewicht.

Der andere Mann heißt Kornelius. Er ist römischer Zenturio und mit seiner Hundertschaft in Caesarea stationiert. Caesarea liegt am Mittelmeer, zeitweilig hatte die Stadt bis zu 120.000 Einwohner. Sie war zur Zeit unserer Geschichte Residenzstadt des römischen Prokurators. Einer dieser Prokuratoren war Pontius Pilatus. Sein Name ist dort durch eine Inschrift belegt.
(Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Caesarea_Maritima)

Kornelius, so wird berichtet, hatte Kontakt zur jüdischen Gemeinde in Caesarea. Er zählt zu den sogenannten Gottesfürchtigen. Sie sind Sympathisanten der jüdischen Religion, weil sie vom Alter, vom hohen Ethos und vom Monotheismus des Judentums beeindruckt waren. Von diesen Sympathisanten gab es in der Antike eine ganze Menge. Den vollständigen Übertritt zum Judentum scheuten sie, teils wegen ihrer gesellschaftlichen Stellung, teils wegen der für Männer obligatorischen Beschneidung, teils weil ihnen die 613 jüdischen Gebotsregeln denn doch zu detailliert waren. Aber auch ohne vollständigen Übertritt verehrten sie den Gott, den auch die Juden verehrten, als den einen Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat. Sie hielten sich an die Zehn Gebote und gaben Almosen an bedürftige Menschen.

Ein solcher Sympathisant ist der Hauptmann Kornelius. Eines Tages hat Kornelius am Nachmittag eine Erscheinung. Ein Engel betritt sein Zimmer. Der spricht ihn mit Namen an und erklärt ihm, dass Gott seine Gebete gehört hat. Kornelius erschrickt zunächst, wie das bei Begegnungen mit Engeln die Regel ist. Doch der Engel beschwichtigt ihn. Er fordert Kornelius auf, Leute in die Stadt Joppe zu schicken. Dort sei ein Mann namens Simon Petrus, den solle er zu sich holen lassen. Kornelius mag über die wundersame Anweisung verdutzt gewesen sein, aber er folgt dem Vorschlag und schickt drei Männer zu Petrus.

Szenenwechsel. Wir sind mit Petrus zusammen in der Stadt Joppe. Die Gesandtschaft von Kornelius ist noch vor den Toren der Stadt, da steigt Petrus in der Mittagszeit aufs Dach des Hauses um sein Mittagsgebet zu verrichten. Nach dem Gebet will er essen, doch dazu kommt es erst einmal nicht, denn Petrus hat eine Vision. Er sieht den Himmel offen und vom Himmel herab kommt etwas wie ein großes Tischtuch. Es sinkt vor ihm auf den Boden. Auf dem Tischtuch wimmelt es von Tieren und jetzt muss Petrus sich vorkommen wie die Kandidaten im Dschungelcamp: Sämtliche Tiere auf dem Tuch gehören in die Kategorie: Bäh, pfui, eklig und verboten. Nach den Regeln der jüdischen Religion sind sie unrein, ungenießbar und von Gott nicht für den menschlichen Verzehr zugelassen: Vögel wie zum Beispiel Hühner, kriechende Tiere wie zum Beispiel Echsen, vierfüßige Tiere wie zum Beispiel Schweine. Von Kindheit an, hatte Petrus gelernt, sich vor solchen Tieren fernzuhalten und sie zu verabscheuen, so wie wir uns davor scheuen Kakerlaken, Spinnen oder Quallen zu essen.

Keine schöne Vision für Petrus: Er ist hungrig und vor ihm liegt ein Tuch mit lauter Tieren, die bäh, pfui, eklig und verboten sind. Aber es kommt noch schlimmer: Vom Himmel erklingt die göttliche Stimme und fordert Petrus auf: „Steh auf, Petrus, schlachte und iss!“ – Petrus schüttelt es und er kontert: „O nein, Herr; denn ich habe noch nie etwas Verbotenes und Unreines gegessen.“ Doch die göttliche Stimme ist unerbittlich: „Was Gott rein gemacht hat, das nenne du nicht verboten.“ Petrus schüttelt es weiterhin, auf keinen Fall will er der Anweisung Folge leisten. Doch die göttliche Stimme ist hartnäckig. Sie wiederholt die Anweisung noch zweimal. Es gibt kein Vertun. Was Gott rein gemacht hat, das nenne du nicht verboten. Damit endet die Vision und das Tuch entschwindet wieder in den Himmel. Petrus bleibt verwirrt zurück und rätselt, was die Vision nun genau bedeuten soll.

In dem Moment steht die Gesandtschaft von Kornelius vor der Türe und fragt, ob Simon Petrus hier zu Gast sei. Petrus ist immer noch verwirrt und weiß nicht, was er tun soll. Da hilft der Heilige Geist nach und erklärt Petrus, dass er die Gesandtschaft geschickt habe und Petrus den Besuch gefälligst empfangen solle. Und hier setzt unser Predigttext ein. Ich lese Apostelgeschichte 10,21-35:

Da stieg Petrus hinab zu den Männern und sprach: Siehe, ich bin's, den ihr sucht; warum seid ihr hier? Sie aber sprachen: Der Hauptmann Kornelius, ein frommer und gottesfürchtiger Mann mit gutem Ruf bei dem ganzen Volk der Juden, hat Befehl empfangen von einem heiligen Engel, dass er dich sollte holen lassen in sein Haus und hören, was du zu sagen hast. Da rief er sie herein und beherbergte sie. Am nächsten Tag machte er sich auf und zog mit ihnen, und einige Brüder aus Joppe gingen mit ihm. Und am folgenden Tag kam er nach Cäsarea. Kornelius aber wartete auf sie und hatte seine Verwandten und nächsten Freunde zusammengerufen. Und als Petrus hereinkam, ging ihm Kornelius entgegen und fiel ihm zu Füßen und betete ihn an. Petrus aber richtete ihn auf und sprach: Steh auf, ich bin auch nur ein Mensch. Und während er mit ihm redete, ging er hinein und fand viele, die zusammengekommen waren. Und er sprach zu ihnen: Ihr wisst, dass es einem jüdischen Mann nicht erlaubt ist, mit einem Fremden umzugehen oder zu ihm zu kommen; aber Gott hat mir gezeigt, dass ich keinen Menschen meiden oder unrein nennen soll. Darum habe ich mich nicht geweigert zu kommen, als ich geholt wurde. So frage ich euch nun, warum ihr mich habt holen lassen.
Kornelius sprach: Vor vier Tagen um diese Zeit betete ich um die neunte Stunde in meinem Hause. Und siehe, da stand ein Mann vor mir in einem leuchtenden Gewand und sprach: Kornelius, dein Gebet ist erhört und deiner Almosen ist gedacht worden vor Gott. So sende nun nach Joppe und lass herrufen Simon mit dem Beinamen Petrus, der zu Gast ist im Hause des Gerbers Simon am Meer. Da sandte ich sofort zu dir; und du hast recht getan, dass du gekommen bist. Nun sind wir alle hier vor Gott zugegen, um alles zu hören, was dir vom Herrn befohlen ist. Petrus aber tat seinen Mund auf und sprach: Nun erfahre ich in Wahrheit, dass Gott die Person nicht ansieht; sondern in jedem Volk, wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm.

Liebe Gemeinde!
Grenzen zu überschreiten ist keine einfache Sache. Manche Grenzen sind mit Zäunen und Mauern befestigt. Da liegt es auf der Hand, dass sie nicht leicht zu passieren sind. Aber es gibt Grenzen, die nur in den Köpfen existieren, und die doch so undurchlässig sind wie Grenzen aus Beton und Stahl. Eine solch massive, nur in den Köpfen existierende Grenze, hat die nachösterliche Jesusbewegung überschritten, als sie sich für Menschen öffnete, die bis dahin Heiden waren. Unsere Geschichte von Petrus und Kornelius dokumentiert diesen schwierigen Prozess der Grenzüberwindung. Wie schwierig und wie bedeutsam er ist, wird an mehreren Punkten sichtbar: 1. ist die Kornelius-Erzählung die längste Einzelerzählung in der ganzen Apostelgeschichte ist, 2. ist sie eine zentrale Schaltstelle im ganzen Buch, 3. wird auf die Erzählung beim Apostelkonzil, der ersten großen Kirchenversammlung, von der fünf Kapitel später berichtet wird, Bezug genommen und 4. weist die Erzählung eine extreme Dichte verschiedenartiger göttlicher Erscheinungen auf: Der Engel bei Kornelius, die Vision des Petrus mit den Tieren im Tuch, die göttliche Stimme vom Himmel, die Petrus dreimal zum Essen auffordert, der Heilige Geist, der Petrus zu den Gesandten des Kornelius schickt – alles, was die Bibel an göttlicher Autorität zu bieten hat, wird aufgeboten, damit am Ende der Grenzübertritt tatsächlich gelingt.

Grenzen überwinden ist keine einfache Sache. Gerade Grenzen der Tradition und des Herkommens sind besonders hart. Über Weihnachten habe ich die Goethe-Biografie von Rüdiger Safranski gelesen. Mancher hier wird das gewusst haben, mir war aber nicht so klar, dass Geheimrat Goethe seine Geliebte Christiane Vulpius lange Jahre deshalb nicht geheiratet hat, weil es die Regeln der ständischen Gesellschaft verboten haben. Obwohl Goethe mit Christiane Vulpius fünf Kinder hatte, von denen allerdings vier früh starben, obwohl Goethe Vulpius herzlich liebte und dies in zahlreichen Gedichten dokumentierte, war die Ablehnung des Hofes gegenüber der Heirat mit einer Bürgerlichen lange Jahre so unüberwindlich, dass Goethe den Schritt zur Heirat nicht wagte. Geändert hat sich das erst, als Weimar im Jahr 1806 von französischen Truppen besetzt wurde. Als Goethe von marodierenden Soldaten bedroht wird, tritt Christiane Vulpius beherzt dazwischen und rettet Goethe das Leben. Fünf Tage später heiratet Goethe sie und ignoriert die von Menschen gemachten Grenzen. Da waren die beiden schon 18 Jahre ein Paar gewesen. Um die gesellschaftliche Ächtung seiner Frau zu überwinden, bittet er die vermögende Witwe Johanna Schopenhauer, Christiane zum Tee einzuladen. Das hat dann allmählich geholfen, damit Christiane als Frau Geheimrätin akzeptiert wurde.
(Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Christiane_Vulpius)

Grenzen überwinden ist keine einfache Sache. Wir erleben das derzeit bei der Frage nach der Akzeptanz von Homosexualität. Die Landesregierung von Baden-Württemberg will bei der Überarbeitung der Bildungspläne die Akzeptanz homosexueller Menschen stärker als bisher in den Blick nehmen. Gegen dieses Vorhaben gibt es in Teilen der Bevölkerung massive Widerstände, die sich in einer öffentlichen Petition kundtun. Im Gegenzug wiederum gibt es eine Petition gegen diese Petition, die die Position der Landesregierung unterstützt. Die Kirchen in Baden-Württemberg haben sich vor zwei Wochen in einer gemeinsamen Erklärung ebenfalls zum Thema geäußert, nur leider taten sie das nicht besonders geschickt, so dass der Eindruck entstand, die Kirchen hegten Sympathien für die Petition gegen die Akzeptanz homosexueller Menschen. In der Öffentlichkeit hat das zu heftigen Reaktionen geführt. Spiegel-Online titelte: „Kirchen lehnen sexuelle Vielfalt im Unterricht ab“. (http://www.spiegel.de/schulspiegel/homosexualitaet-im-unterricht-debatte-weitet-sich-aus-a-942877.html)
Zeit online schrieb: „Die Kirchen in Baden-Württemberg stellen sich an die Seite der Gegner von mehr Aufklärung über Homosexualität im Unterricht.“ (http://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2014-01/baden-wuerttemberg-schulen-homosexualitaet-streit-kirchen)
Es kam zu wütenden Protesten und Kirchenaustritten von enttäuschten Kirchenmitgliedern. Die ersten Versuche die Sache klarzustellen vergrößerten dann das Desaster noch weiter. Erst spätere Pressemeldungen machten deutlich, dass die Kritik der Kirchen am Bildungsplanentwurf sich eher um pädagogische Fragen drehte und nicht das Ziel der Akzeptanz homosexueller Menschen in Frage stellen wollte. Landesbischof July sagte es in einem Interview so: „Es wurde der Eindruck erweckt, als sei die Kirche gegen Toleranz und für Ausgrenzung homosexueller Menschen. Das ist blanker Unsinn! Die staatliche Bildungsplanung hat dort die Kirchen an ihrer Seite, wo es um Toleranz auf dem Schulhof, Initiativen gegen Ausgrenzung und Abwehr von Vorurteilen geht.“
(http://www.elk-wue.de/arbeitsfelder/kirche-und-menschen/menschen-im-interview/frank-otfried-july/)

Grenzen überwinden ist keine einfache Sache. Der Streit um die Frage der Akzeptanz von Homosexualität macht das deutlich. Auch hier gibt es eine betonharte, unüberwindliche Grenze in vielen Köpfen. Machen wir uns klar, wo wir herkommen: Unter den Nationalsozialisten wurden homosexuelle Männer verfolgt, sie wurden mit einem rosa Dreieck gekennzeichnet, analog zum Judenstern, und ins KZ gesteckt. Viele wurden ermordet.
(Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Kennzeichnung_der_Häftlinge_in_den_Konzentrationslagern)
Bis 1969 war Homosexualität in Deutschland strafbar. Erst mit dem Outing einiger wichtiger Politiker und Künstler in den letzten zehn Jahren hat sich die gesellschaftliche Akzeptanz Homosexueller deutlich verbessert. Vor zwei Wochen hat sich dann mit Thomas Hitzlsperger endlich der erste Fußballprofi geoutet. Aber noch immer liegt die Selbstmordrate bei homosexuellen Jugendlichen viermal so hoch wie bei heterosexuellen Jugendlichen. (http://www.freitag.de/autoren/cyterion/suizidversuch-bei-jedem-fuenften-schwulen)
Nach einer Studie der Universität Zürich aus dem Jahr 2013 hat jeder fünfte Schwule schon einen Suizidversuch hinter sich.
(http://g-blick.de/Homosexualitaet-3/Suizidversuch_bei_jedem_fuenften_Schwulen/)
„33 % derjenigen Schwulen, die sich mit Suizidgedanken plagen, tätigen tatsächlich den Versuch, sich umzubringen. Bei Heterosexuellen sind es lediglich 3%.“ (ebd.)
Die hohe Suizidneigung homosexueller Menschen wird mehrere Gründe haben, aber ein entscheidender Grund ist die weiterhin erlebte Diskriminierung, bei jugendlichen Homosexuellen speziell die Diskriminierung auf dem Schulhof. Eine der gängigsten ablehnenden Bemerkungen auf dem Schulhof lautet: Das ist schwul. Die Sprecher denken sich dabei nicht viel, weil es gängige Jugendsprache ist. Auch in der Musik von Jugendlichen, speziell im Rap, ist die Verachtung von Homosexualität allgegenwärtig. Für die sogenannten „Normalen“ ist diese Verachtung ohne Belang, aber für jene, die homosexuell empfinden, ist diese Verachtung demütigend. Die Wirkungen sind fatal. Sie können tödlich sein und deshalb ist die Landesregierung auf dem richtigen Weg, wenn sie für mehr Akzeptanz von homosexuellen Menschen gerade in der Schule sorgen will, wie immer das dann im Einzelnen im Bildungsplan untergebracht wird.

Grenzen überwinden ist keine einfache Sache. Auch mir ist es nicht an der Wiege gesungen worden, dass Homosexualität eine normale Neigung vieler Menschen ist. Lange Zeit wusste ich gar nicht, was Homosexualität ist und worum es da überhaupt geht. Erst als ich 21 Jahre alt war, begegnete ich bewusst jemandem, der als Homosexueller galt. Das war für mich zunächst etwas Kurioses. In den 90er Jahre lernte ich dann zum ersten Mal jemanden näher kennen, der mit seiner sexuellen Orientierung massive Diskriminierungen erlebt hatte und zwar in kirchlichen Kreisen. Der Mann war psychisch ein Wrack, berufsunfähig und Dauerpatient in der Psychiatrie. Wohlmeinende fromme Kreise, die Homosexualität für Sünde halten, haben ihn zu diesem Wrack gemacht.

Ein anderer Fall. In meiner Jugend hatte ich einen Klavierlehrer, den ich sehr schätzte. Besonders begabt war ich nicht beim Klavierspielen, aber über Musik habe ich viel von ihm gelernt. Später habe ich mitbekommen, dass es ihm psychisch nicht gut geht. Noch viel später habe ich dann erfahren, dass er schwul ist und dabei wurde mir auch gesagt, dass das ja eine schlimme Sache sei und wie arm die Mutter jenes Klavierlehrers dran sei, dass sie so einen Sohn hat und so etwas mitmachen muss. So in etwa war der Ton, in dem mir davon berichtet wurde. Später hat sich mein ehemaliger Klavierlehrer dann umgebracht. Ob in diesem einzelnen Fall wirklich die erlebte Diskriminierung als Homosexueller Ursache für den Selbstmord war, lässt sich aus der Ferne nicht sagen. Aber den Verdacht werde ich nicht los, zu genau habe ich noch den Ton im Ohr wie über seine Homosexualität geredet wurde.

Grenzen überwinden ist keine einfache Sache. Die Grenze, die es aktuell in unserer Gesellschaft niederzureißen gilt, ist die fortdauernde Diskriminierung homosexuell oder sexuell anders empfindender Menschen in unserer Gesellschaft. Homosexuelle Neigungen sind Teil der Schöpfung, sie sind keine Sünde. Auch gelebte Homosexualität ist keine Sünde. Das gilt es zu lernen, gerade auch für die Christenheit und vor dem Hintergrund unserer zum Teil homophoben Vergangenheit. Immerhin: viel ist in den letzten zehn Jahren in unserem Land und in unserer Kirche geschehen, aber von einem Ende der Diskriminierung sind wir noch weit entfernt. Der Schulhof, der Profifußball und konservative Kreise der Kirche sind noch wichtige Rückzugsgebiete der alten, tödlichen Schwulen- und Lesbenfeindlichkeit. Aber auch hier werden die Mauern fallen. Daran arbeiten wir. Denn auch bei der Frage der sexuellen Identität gilt, was die göttliche Stimme in der Vision zu Petrus sagt: „Was Gott rein gemacht hat, das nenne du nicht verboten.“ – Amen.

Perikope

Predigt zu Apostelgeschichte 10,21-35 von Christiane Borchers

Predigt zu Apostelgeschichte 10,21-35 von Christiane Borchers
10,21-35

Liebe Gemeinde!

Haben Sie das schon einmal erlebt, dass Sie Ihre festen Überzeugungen hinter sich lassen und sich Ihren neuen Einsichten stellen mussten? Haben Sie das schon einmal erlebt, dass Sie aufgrund des­sen einen völlig neuen Weg beschritten und dass sich Ihre Einstellungen radikal geändert haben?

Petrus hat das erlebt. Er ist zu Gast bei einem Gerber namens Simon in der Stadt Joppe. Zu der fest­gesetzten Zeit am Mittag möchte er sein Gebet halten und steigt dazu auf das flache Dach seines Gastgebers. Ein Flachdach hat fast jedes Haus im alten und heutigen Orient. Das ist die übliche praktische Bauweise. Ein flaches Dach ist zu vielerlei Zwecken geeignet und ist eben auch ein guter Ort für ein Gebet. Als Petrus hungrig wird, möchte er etwas essen. Plötzlich gerät er in Verzückung, er erlebt eine Vision. Der Himmel tut sich auf und etwas wie ein großes leinenes Tuch mit vier Zip­feln wird heruntergelassen. Darin sind Tiere der Erde und des Himmels. Eine Stimme, die Petrus als Gottes Stimme deutet, spricht: „Schlachte und iss!“ Petrus, von Hause aus ein Jude, durch die Beru­fung am See ein Jünger Jesu geworden, vertraut mit den jüdischen Speisegeboten, traut seinen Oh­ren nicht. Er soll die heiligen jüdischen Speisegebote missachten und unreines Fleisch essen? Er wehrt sich und beteuert, dass er noch nie etwas Verbotenes getan und Unreines gegessen habe. Die Stimme spricht abermals zu ihm: „Was Gott rein gemacht hat, das nenne du nicht verboten (Apg 10,15).“

Petrus kommt wieder zu sich, das Tuch und die Verzückung entschwinden. Noch benommen und ratlos von dem Gesehenen und Gehörten, fragen zur gleichen Zeit Soldaten nach, ob es im Hause des Simon einen gewissen Petrus gebe, der hier zu Gast sein solle. Sie haben den Auftrag, ihn nach Cäsarea zu ihrem Hauptmann Kornelius zu bringen. Soldaten fragen nach Petrus, das könnte ihm Angst einjagen. Wenn Soldaten in der damaligen Zeit nach einem Menschen fragen, bedeutet das oft nichts Gutes. Wollen sie ihn verhaften, werfen sie ihm etwas vor, bedrohen sie ihn gar mit dem Tode? Alles ist möglich. Petrus braucht keine Angst zu haben, sie wird ihm von einem himmlischen Stimme genommen: „Geh mit ihnen, zweifle nicht, denn ich habe sie gesandt (Apg 10,20).“

Petrus darf aufatmen. Gott führt ihn. Er nimmt einige Brüder aus der judenchristlichen Gemeinde in Joppe mit, so reist er nicht allein mit den Soldaten. Gleichzeitig kann Petrus auf Zeugen verweisen, falls er welche braucht. Er wird sie benötigen; von den eigenen Leuten wird er für sein späteres Ver­halten von einigen frommen judenchristlichen Gläubigen in Jerusalem zur Verantwortung gezogen. Die Reisegruppe macht sich auf den Weg, erreicht die Hafen- und Garnisonsstadt Cäsarea am Mit­telmeer, betritt das Haus des römischen Hauptmanns Kornelius. Dieser ist kein Jude, gehört aus jü­discher Sicht zu den Heiden, aber weil er ein gottesfürchtiger Mann ist, der betet und den Armen Almosen gibt, hat er beim jüdischen Volk einen guten Ruf.

Der Hauptmann hält schon Ausschau nach der Reisegruppe. Er kann es kaum erwarten, den Apostel zu treffen. Es ist für ihn ein wichtiges Ereignis, Petrus persönlich zu begegnen. Kornelius hat sich vorbereitet, möchte, dass seine Freunde und Verwandten mit dabei sind, wenn Petrus zu ihnen spricht. Auch er hat während des Gebets eine Vision gehabt. Ein Engel in leuchtendem Gewand ist ihm erschienen und hat ihm gesagt, dass er seine Männer nach Joppe schicken soll, damit sie einen Mann im Hause des Gerbers Simon aufsuchen und ihn nach Cäsarea führen sollen. Der Mann habe eine Botschaft für ihn. Kornelius hat der Vision getraut, hat nach Petrus schicken lassen. Wissbegie­rig möchte er hören, was Petrus zu sagen hat. Als dieser  sein Haus betritt, fällt der Hauptmann ehr­fürchtig vor dem Apostel auf die Knie und betet ihn an. Der Kniefall ist eine ehrfürchtige Geste, die einem Höhergestellten, vor allem einer Gottheit geschuldet war. Es wird berichtet, dass Philippus von Mazedonien sich jeden Morgen zurufen ließ: „Philippus, du bist ein Mensch!" Kornelius hatte von Petrus in einer Vision durch einen Engel erfahren. Er will in Petrus Gott ehren. Petrus aber möchte das nicht, er ist ein Mensch und kein Gott. „Steh auf", spricht er zu dem Hauptmann, „ich bin auch nur ein Mensch.“

Kornelius hat Petrus in sein Haus geholt, und der ist gekommen, obwohl er als Judenchrist gehalten ist, die jüdischen Reinheits- und Speisegebote zu beachten. In den frühen christlichen Versammlun­gen hielten sich die Gläubigen selbstverständlich an die jüdischen Gebote. Es hat gedauert, bis das Christentum sich zu einer eigenständigen Religion mit eigenen Regeln entwickelte. Die ersten Christinnen und Christen verstanden sich als eine Gruppe innerhalb des Judentums. Für Petrus ist es eine überwältigende Erfahrung, als er durch die Vision erkennt, dass er die jüdischen Gebote nicht mehr einzuhalten braucht. Das soll nicht heißen, dass sie überholt und nutzlos sind, sondern Petrus soll durch das strenge Einhalten der Reinheits- und Speisegebote nicht behindert werden, das Evan­gelium zu verkünden.

Zunächst kann er offenbar mit der Vision nichts anfangen. Erst als er mit Kornelius spricht und dessen Haus betritt, wird ihm plötzlich die Bedeutung der Vision klar, die er auf dem Dach des Gerbers Simon in Joppe gehabt hat. „Gott hat mir gezeigt, dass ich keinen Menschen meiden oder unrein nennen soll.“ Für ihn ist das ein bedeutender Schritt. Wir können das kaum nachvollziehen, was dieser Traditionsbruch für Petrus bedeutet hat. Er soll das Haus eines römischen Hauptmanns, also eines Heiden betreten und das Evangelium verkünden. Das bedeutet automatisch, dass er mit ihm essen und trinken wird. Der Gastgeber wird es sich nicht nehmen lassen, ihn zu bewirten. Jeder Jude kommt dabei in Bedrängnis, allein das Betreten des Hauses eines aus jüdischer Sicht Unreinen ist ein Problem. Petrus betritt dieses Haus im Widerspruch zu allem, was  ihm bisher sehr am Herzen lag und er verinnerlicht hat. Wenn er den Fuß über die Schwelle setzt,  überschreitet er eine Grenze und begibt sich auf verbotenes Terrain. Dass wir als Christinnen und Christen in eine vergleichbare Situation geraten könnten, erscheint mir unvorstellbar.

Petrus hat der Vision vertraut und ist bereit, den Soldaten zu folgen. Das Betreten eines heidnischen Hauses birgt riskante Gefahren in sich. Trotzdem geht Petrus los. Vor sich selber wird er möglicher­weise sein Handeln noch vertreten können, aber vor der Gemeindeleitung in Jerusalem kann das zu Problemen führen. Er wird sich rechtfertigen müssen. Tatsächlich wird er, als er nach Jerusalem zu­rückkehrt, von den Leitenden in der Gemeinde deswegen angeklagt werden. Mit seinem grenz-über­schreitenden Schritt in das Haus des Kornelius macht er sich Feinde. Die stärksten Kritiker kommen aus den eigenen Reihen. Die ganze Tradition steht gegen ihn. Und trotzdem betritt Petrus das Haus.

Was dann geschieht, ist schnell erzählt. Petrus verkündet Kornelius und allen, die vom Hauptmann zusammengerufen worden sind, die Botschaft von Jesus Christus. Die Versammlung hat gottes­dienstlichen Charakter. „Nun sind wir alle hier vor Gott zugegen … .“  Vor Gott haben sie sich ver­sammelt, um das Evangelium zu hören. Unser Predigttext gipfelt in der Erkenntnis des Petrus: „Nun erfahre ich in Wahrheit, dass Gott die Person nicht ansieht, sondern in jedem Volk, wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm.“ 

Mit dieser Geschichte wird die Heidenmission begründet. Einem Apostel ist es erlaubt, die jüdi­schen Traditionen zu vernachlässigen, um den Heiden, die einen völlig anderen Hintergrund haben, das Evangelium zu verkünden. Nicht die Volkszugehörigkeit zum auserwählten Volk Israel und das Einhalten der Reinheits- und Speisevorschriften sind entscheidend, sondern jedes Volk ist Gott recht, das Gerechtigkeit übt. Die Gelegenheit zur Mission ist von einem Heiden selbst bereitet. Der Glaube verlässt die Grenzen eines Volkes und geht in die Welt. Die alte Verheißung bricht sich Bahn. Der Bund, den Gott mit Abraham und seinen Nachkommen geschlossen hat, weitet sich auf andere Völker aus. Hatte Jesus sich noch meistens an seine jüdischen Landsleute gewandt, so er­reicht die Botschaft jetzt die Heidenwelt. 

Die Evangelien überliefern bereits einzelne Erzählungen, in denen Jesus mit Menschen außerhalb des Judentums in Berührung kommt. Da ist die syro-phönizische Frau, die um Heilung für ihre kranke Tochter bittet und Jesus überzeugt, dass er nicht nur zu dem Haus Israel gesandt ist, wie er selbst glaubt, sondern auch zu den Menschen über Israels Grenzen hinaus. Da ist die Begegnung mit der Samariterin am Brunnen, die Jesus als Christus bezeugt. Ferner macht Jesus den Knecht eines römischen Hauptmanns gesund. Diese Menschen wissen um die Erwählung Israels, obwohl sie nicht jüdischen Glaubens sind. Die  syro-phönizische Frau weiß, dass Israel - im Bild gesprochen - das Brot zusteht und ihr nur die Krumen. Aber das reicht aus: Ihre Tochter wird gesund. Der Hauptmann, dessen Knecht von Jesus geheilt wird, liebt das jüdische Volk und baut ihm eine Synagoge (Lk 7,5). Kornelius, der römische Hauptmann in unserm Predigttext, genießt beim jüdischen Volk einen guten Ruf und gibt Almosen. Diese Menschen sind dem auserwählten Volk zugeneigt. Die Botschaft von Jesus Christus weitet sich über die Grenzen Israels aus; Petrus wagt den grenzüberschreitenden Schritt; der Hauptmann Kornelius in Cäsarea ist der erste, der sie außerhalb Israels annimmt.

Petrus ist überwältigt von der Vision, die dazu führt, dass er einen Teil seiner bisherigen religiösen Vorstellungen, die ihm lebenswichtig waren, hinter sich lässt. Auf religiöser Ebene kann ich mir et­was Vergleichbares für uns Christinnen und Christen nicht vorstellen. Aber auf anderer existentieller Ebene kann es geschehen, dass besondere Ereignisse mein Leben völlig aus der Bahn werfen und in eine neue Richtung lenken. 

Es gibt Momente, da müssen wir unsere Vorstellungen, die so etwas wie ein Treppengeländer für uns waren, an dem wir uns festhalten konnten, aufgeben. Sie taugen nicht mehr als Lebenskonzept. Das bringt zunächst Verunsicherung mit sich, auch Enttäuschung, kann aber letztlich in die Freiheit führen. Neue Möglichkeiten tun sich auf, Erstarrungen lösen sich auf, aus Stillstand entsteht Bewegung. Worauf wir bis vor kurzem noch nicht zu hoffen gewagt haben, wird wahr. Andere Menschen treten in unser Leben, verändern uns, bereichern, bringen weiter. Es gibt Dinge, die sind zunächst befremdlich, sie sind unbekannt und flößen uns Angst ein.

Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass es gut war, dass wir den Schritt gewagt haben. Natürlich gibt es auch das andere, dass sich herausstellte, dass dieser Schritt, den wir gewagt haben, sich nicht als hilfreich für uns erwies. Es tauchten Probleme auf, die nicht in die Freiheit führten, sondern in neue Abhängigkeiten. Wenn wir uns neu auf dem Weg machen, bleibt immer ein Risiko. Petrus nimmt das Risiko auf sich, überwindet Grenzen und trägt reichen Lohn davon. Er kann das Evangelium verkünden, Menschen lassen sich taufen. Kornelius hört, was ein Fremder ihm zu sagen hat, vertraut ihm, lässt sich auf ihn und seine Botschaft ein. Beider Mut und Vertrauen sind nicht enttäuscht worden. Ihr Leben hat sich verändert. Kornelius ist Christ geworden, Petrus missioniert fortan bei den Heiden.

Haben Sie das schon einmal erlebt, dass sich Ihre Einstellungen radikal verändert haben und dass das Konsequenzen für ihr Leben hatte? Was ist nötig, damit dieser Weg gelingt? Vertrauen in Gott und seine Botschaft. Er findet einen Weg und zeigt uns die Quelle zum Leben.   

Perikope