Erinnern und Leben - Predigt über Lk 6, 27-38 von Prof. Dr. Roland Rosenstock
I. Erinnern
Wussten Sie, dass es in unserer Stadt einst einen jüdischen Friedhof gab?
Jahrelang bin ich auf der Landstraße stadtauswärts vorbeigefahren – an dem Ort, wo jüdische Familien ihre Toten bestatteten. Bis 1938 war hier – inmitten von Kornfeldern gelegen – eine Mauer aus Backsteinen zu sehen und ein Tor mit zwei Flügeln.
1866 wurde dieser Friedhof angelegt, damit die Verstorbenen in Frieden ruhen und auf die Auferstehung warten konnten. Die jüdische Gemeinde zählte damals rund 120 Mitglieder.
Im Mai habe ich zum ersten Mal mit Schülern das „Haus der Ewigkeit“ besucht – so wird ein Friedhof im Judentum genannt. Das Gelände ist heute nur schwer zu finden, es liegt versteckt in einem Industriegebiet.
Wie ein Mahnmal steht dort das Gerippe einer alten Werbetafel. Vom Radweg aus erkennt man nur noch einen maroden Zaun und zwischen Büschen, Bäumen und Gräsern die verfallene Baracke einer ehemaligen Sanitärfirma. Wir betreten das Gelände über den Parkplatz eines Baustoffhandels. Ein „Lost Place“, überwuchert von Wildwuchs und Müll.
Die Jugendlichen konnten zunächst kaum glauben, dass hier einmal eine Begräbnisstätte war. Sie waren betroffen von dem Abfall, den Bürger unserer Stadt hier entsorgten. Nichts erinnerte mehr daran, dass dieser Ort einst ein Zentrum jüdischen Lebens war.
Gemeinsam betrachteten wir alte Sterbeanzeigen, die Ulrich Möbius vom Arbeitskreis „Kirche und Judentum“ für uns recherchiert hat. Die jungen Leute sind sehr aufmerksam und still. Sie hören Worte aus dem Talmud: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“
Mit Straßenkreide zeichneten sie die Umrisse von Grabsteinen und schreiben Namen darauf. Jeder und jede gestaltet einen Stein der Erinnerung. Ein wenig stolz zeigen sie uns ihre sorgfältig gezeichneten Grabsteine und lesen dazu kurze vorbereitete Lebensbeschreibungen vor.
Wir konnten diesen vergessenen Ort nun mit Namen verbinden: Jehuda Brandwein, Theodor und Sophie Cohn, Else und Israel Gimpel, Michael und Mina Heimann ... .
Ich war berührt von ihrem Engagement. Einen Moment lang gaben sie dem zerstörten jüdischen Friedhof ein Stück Würde zurück. Zwar hat der Regen der folgenden Tage die Kreidebilder fortgespült, aber die kleinen Steine liegen noch immer dort – für jene, die sie suchen.
Beim Abschied stellten die Jugendlichen eine Frage, die mich nicht loslässt:
Wie kann es sein, dass niemand ein Interesse daran zeigt, diesen Ort zu bewahren? Was bleibt von Geschichten, wenn sie niemand mehr erzählt?
II. Leben
Noch mehr berührt hat mich die Geschichte, die ich später hörte: Im August des letzten Jahres kehrte die Urenkelin von Jehuda Brandwein nach Greifswald zurück, um am Grab ihres Urgroßvaters ein Gebet für die Toten Ihrer Familie zu sprechen. Was hat sie wohl gefühlt, als sie dieses verlassene Areal sah?
Ich lese in den Quellen: Die jüdische Gemeinde wurde 1939 aufgelöst, der Friedhof zwangsweise verkauft. Und 1940 wurden die letzten deutschen Juden aus Greifswald in das besetzte Polen deportiert, das Gelände mit Kasernen für die Luftwaffe überbaut.
Auf alten Luftbildern von 1953 sieht man noch drei Grabsteine – Reste dessen, was übrig blieb. Und mit den Grabsteinen verschwanden auch die Erinnerungen an Familien, die hier ihre letzte Ruhe fanden.
Heute erinnern nur die „Stolpersteine“ des Kölner Künstlers Gunter Demnig in der Innenstadt an die Vertriebenen und Ermordeten: Ein eingravierter Name, Geburts- und Todesdatum, ein kleines Denkmal. In der Brüggstraße 12 finden sich vier Steine mit dem Namen Futter. Auf dem einem steht kein Todesdatum sowie auf dem Stolperstein für seinen Bruder:
Hier wohnte
Hans Futter
Jg. 1923
Kindertransport 1939
England
Überlebt
[Die Stimme des verstorbenen Hans Futter spricht:]
Mein Name ist Hans Werner Futter, geboren 1923 in Greifswald, Brüggstraße. Meine Eltern, Julius und Thea, führten ein Geschäft, wir waren eine ganz normale Familie. Mein Bruder Gert, meine Eltern, unser Leben in dieser Stadt.
Doch dann kam der 1. April 1933. Ich war zehn Jahre alt. Die NSDAP verteilte Handzettel: „Kauft nicht in jüdischen Warenhäusern!“ – auf einmal wurde Hass gesät und die deutsche Volksgemeinschaft beschworen. Doch bis der Hass sich ausbreitete, war unser Leben in Greifswald gut, Mitschüler und Lehrer der Knabenmittelschule standen zu uns.
Mit dem neuen Rektor 1937 wurde Rassentrennung und Antisemitismus zum Programm. Wir wurden beleidigt, gedemütigt und geschlagen. Meine Eltern trafen eine schwere Entscheidung: Gert mit 16 und ich mit 14 sollten nach Berlin, dort wo nicht alle unsere Gesichter kannten, an die jüdische Lehrlingsschule. Für kurze Zeit waren wir sicher vor den Demütigungen und Schikanen, denen wir in Greifswald ausgesetzt waren.
1939 wurden wir per Kindertransport evakuiert. Zwei Tage vor Kriegsbeginn erreichten wir England. Wir Söhne schafften es, aber meine Eltern blieben zurück, kamen in ein Konzentrationslager und wurden in Auschwitz ermordet. Das Leben ging weiter – aber wir bewahrten die letzten Fotos unserer Eltern auf. Ihre ernsten Gesichter, ihre Blicke – ich weiß nicht genau, wann die Bilder entstanden.
III. Zuhören
2006 kehrte ich nach Greifswald zurück. Ich wollte die Orte meiner Kindheit wiedersehen, traf alte Freunde, sah unser Wohnhaus und den Betsaal.
Und ich trug mich ins Goldene Buch der Stadt ein – ohne Bitterkeit, ohne Hass. Das ist wichtig, dass Sie das verstehen: Ohne Hass, ohne Rache.
Denn das, was meiner Familie widerfuhr, das hätte Grund genug zum Hass geben können. Aber ich habe nicht darauf bestanden, den Besitz meiner Eltern zurückzufordern. Das habe ich nie gewollt.
Doch jetzt, in dieser Zeit, in der Antisemitismus und verletzende Worte aus rechtsextremer oder antiisraelischer Motivation wieder erwachsen – im Internet, am Arbeitsplatz, im öffentlichen Raum, in Busse und Bahnen und wieder in den Schulen und sogar an unserer Universität, möchte ich heute etwas sagen:
Ich höre neue Parolen. Andere Worte, derselbe Hass. Es ist leicht, Feindschaft zu erzeugen: Man braucht nur einen Namen, eine Herkunft, einen Glauben, um zu sagen: „Das ist nicht wie wir.“ Ich kenne diese Logik – ich weiß, wohin sie führt.
Darum frage ich: Was bedeutet es heute, Menschen zu lieben, die von anderen zu Feinden erklärt wurden? Mit Mut, mit Vernunft, gegen jedes Vorurteil. Ich habe leidvoll gelernt: Hass ist kein Ausweg. Hass zerstört, Hass tötet. Das habe ich gesehen und am eigenen Körper erlebt. Der Weg der Liebe – auch der schwierigen, auch der schmerzhaften – ist der Weg in die Zukunft. Er heilt.
Wer denkt: „Ich kann das nicht, das ist zu schwer, jemanden zu lieben, der anders ist und mir Angst macht“, dem sage ich: Das verstehe ich. Es ist schwer. Es verlangt alles von uns. Aber: Es ist möglich und bewahrt uns vor der größten Katastrophe unserer Wertschätzung von uns selbst: Das wir uns nicht mehr wiedererkennen, dass wir eingestehen müssen: Der Hass hat von uns Besitz ergriffen und uns selbst zerstört.
Als ich nach Greifswald kam, war Vergebung wichtig für mich. Versöhnung ist möglich. Man darf aus Trauer keinen Hass machen. Die Stolpersteine in der Brüggstraße erinnern an meine Familie. Sie zeigen ein Leben, das ausgelöscht wurde. Aber sie sind auch Erinnerung daran, dass Menschlichkeit bewahrt werden kann – gerade, wenn alles verroht, wie in diesen gottlosen Zeiten. Es ist möglich, sich zu erinnern – ohne Rache. Die Wahrheit sagen – ohne selbst Richter zu werden. Das ist das, was ich Ihnen in dieser Kirche zurufen möchte: Menschen zu lieben, die von rassistischen Parteien oder Machthabern zu Feinden erklärt werden. Das ist nicht naiv. Das ist, nach der Tora und nach Jesu Gebot, weise. Es ist weise, weil es Leben ermöglicht und für Familien Zukunft erschafft, anstatt sie durch Gewalt auszulöschen.
IV. Barmherzigen
Lieber Herr Futter, ich danke Ihnen für ihre barmherzigen Worte. Sie dürfen gewiss sein: Wir, die heute hier versammelt sind, werden das Andenken Ihrer Familie in Würde bewahren. Niemand von uns wünscht sich, was Ihnen und Ihren Eltern widerfahren ist.
Ich höre Ihnen zu und lerne von Ihnen: „Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen – so tut ihnen auch.“ Das ist keine Sentimentalität, sondern das höchste Gebot – für Jesus, den Juden, für die lukanische Gemeinde und für uns. Die Goldene Regel ist das Wertvollste, was wir weitergeben können: Würde, Achtung, Liebe. Das ist die Botschaft der Überlebenden der Shoah – und sie wird heute noch dringlicher gebraucht als früher, da fast alle der Überlebenden der Shoah verstorben sind.
Alle Grabsteine, die von unserem jüdischen Friedhof zerstört oder weggeräumt wurden trugen in der ersten Zeile die gleichen hebräischen Buchstaben:
„Hier ist begraben“. Auf Hebräisch: פהנטמן (Po nitman) oder פה נטמה (Po nitma).
Und in der letzten Zeile: תהי נפשוצרורה בצרור החיים (Tehi nafsho zrura b’tsror ha-chajjim) – „Möge seine Seele eingebunden sein in das Bündel des Lebens“ (nach 1. Samuel 25,29).
Das ist mein Wunsch für Sie, Hans Futter, und für uns alle.
Was wir erinnern, ist nicht Vergangenheit allein – es ist eine dringende Frage an uns allen, wie wir in Zukunft leben wollen.
Das Wort des Juden Jesu von der Liebe zu Menschen, die von anderen zu Feinden erklärt werden, verbindet sich mit den Geboten Leben zu achten und Frieden zu suchen.
Feindesliebe ist keine Sentimentalität. Sie bedeutet, dem Hass keinen Raum zu geben. Sie erinnert uns an die Würde eines jeden Menschen – auch dessen, der als Fremder und Feind in unserer Stadt diskreditiert wurde und wird. Vielleicht können Orte wie unser jüdischer Friedhof uns lehren: Vor Gott gibt es keine vergessenen Namen. Jeder Mensch, ob bekannt oder namenlos, bleibt eingebunden in das Reich Gottes, von dem Jesus spricht. Alle Seelen sind geborgen „im Bündel des Lebens“. Das ist der Weg, den die Feindesliebe weist.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Der Gottesdienst ist Auftakt der Ökumenischen Friedensdekade. Die Gemeinde kommt zusammen, um an die Novemberpogrome von 1938 zu erinnern.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das Jugendprojekt der Greifswalder Altstadtgemeinden „Erinnern und Leben“ zum jüdischen Friedhof in Greifswald.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das Hören auf die Stimmen der jüdischen Familien, die einmal in Greifswald gelebt haben.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Coach hat sich sehr wertschätzend verhalten. Das hat die Predigtarbeit besonders unterstützt. Er war fördernd und fordernd. Ich würde gern wieder mit ihm zusammenarbeiten.
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(12) Schwellen-Momente - Predigt über Lk 4, 16-30 von Stephanie Hecke
Die Schwelle ins Elternhaus gleicht einem magischen Ort. Egal wie alt wir sind – sie weckt Erinnerungen an vergangene Zeiten: An die Melodie von „Der Mond ist aufgegangen“, den Duft von frischgebackenem Apfelkuchen. Oder auch an Tränen und die Stille des Abends.
Es macht etwas mit uns, zurückzukehren. Die Schwelle zu übertreten, hinein in Räume und Gerüche, die längst vergessene Gefühle in uns wachrufen. Die Schwelle führt uns dorthin, wo wir herkommen. Sie bleibt – auch wenn wir erwachsen werden.
Aber eines verändert sich: Wir können unser Verhältnis zu diesen Räumen und Menschen, zu diesen Erinnerungen reflektieren. Vielleicht können wir sogar – durch neue Perspektiven, die das Leben uns geschenkt hat – eine neue Haltung einnehmen.
Der Evangelist Lukas erzählt uns auch von solch einer Schwelle. Jesus kehrt zurück in seine Heimatstadt, nachdem er zuvor im Land umhergezogen war, Menschen heilte, Gemeinschaft schenkte, durch seine Worte und Taten Gottes Liebe erfahrbar machte. Aus diesem Erzählabschnitt stammt das geflügelte Wort „Der Prophet gilt nichts im eigenen Land“.
Der Weg zurück nach Nazareth ist für Jesus eine Schwellensituation. Eine, die ihn definiert und festlegt, die ihm sagt, wer er sein darf und wer nicht.
16 Und er kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf, um zu lesen.
17 Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht:
18 »Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit
19 und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.«
20 Und als er das Buch zutat, gab er’s dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn.
21 Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.
22 Und sie gaben alle Zeugnis von ihm und wunderten sich über die Worte der Gnade, die aus seinem Munde kamen, und sprachen: Ist das nicht Josefs Sohn?
23 Und er sprach zu ihnen: Ihr werdet mir freilich dies Sprichwort sagen: Arzt, hilf dir selber! Denn wie große Dinge haben wir gehört, die in Kapernaum geschehen sind! Tu so auch hier in deiner Vaterstadt!
24 Er sprach aber: Wahrlich, ich sage euch: Kein Prophet ist willkommen in seinem Vaterland.
25 Aber wahrhaftig, ich sage euch: Es waren viele Witwen in Israel zur Zeit des Elia, als der Himmel verschlossen war drei Jahre und sechs Monate und eine große Hungersnot herrschte im ganzen Lande,
26 und zu keiner von ihnen wurde Elia gesandt als allein nach Sarepta im Gebiet von Sidon zu einer Witwe.
27 Und viele Aussätzige waren in Israel zur Zeit des Propheten Elisa, und keiner von ihnen wurde rein als allein Naaman, der Syrer.
28 Und alle, die in der Synagoge waren, wurden von Zorn erfüllt, als sie das hörten.
29 Und sie standen auf und stießen ihn zur Stadt hinaus und führten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt gebaut war, um ihn hinabzustürzen.
30 Aber er ging mitten durch sie hinweg.
(Lukas 4,16-30)
Die Konfrontation mit dem Anspruch auf Wahrheit polarisiert. Sie fordert heraus, sie führt zum Streit – und sie endet im Versuch, Jesus zu töten. Für die Menschen in der Synagoge müssen seine Worte wie eine bodenlose Anmaßung, mehr noch, ja wie eine Gotteslästerung geklungen haben.
Größer als Elia und Elisa? Größere Wunder als die ehrwürdigen Propheten? Zorn braust auf, die gespannte Stille verwandelt sich in Lärm: Raus mit ihm aus unserer Mitte!
Da ist sie also wieder, die Schwelle. Jesus hat nicht nur die Schwelle zu seiner Heimat übertreten, sondern auch die Schwelle der Erwartungen, der religiösen Tradition. In den Augen und Ohren der Zuhörenden geht er über die Schwelle des Sagbaren hinaus. Was für eine Provokation! Hat er keinen Respekt vor den Propheten? Wie kann er sich nur über sie stellen?
Wenn ich heute einen Blick in die Tageszeitung werfe, in den sozialen Medien scrolle oder Gespräche in der Bahn mitverfolge, stoße ich auch dort auf Schwellen – ausgesprochene, umkämpfte, subtile Schwellen. An vielen Orten unserer Gesellschaft verlaufen heute solche Schwellen: an politischen Grenzen, in Familien, zwischen Generationen oder religiösen Weltanschauungen.
Ein Beispiel dafür ist das Thema Migration und die Debatten, die wir als Gesellschaft darüber führen: über Geflüchtete verschiedener Kategorien, über „berechtigte“ Kriegsflüchtlinge und vermeintlich „unberechtigte“ Wirtschaftsflüchtlinge. Über Aufnahmekapazitäten, über die Unterscheidung zwischen „wir“ und „die“, über Verteilungskämpfe.
Und ich denke: Auch hier hat das Bild der Schwelle eine große Bedeutung. Eine Schwelle markiert zwei Seiten – so, wie es auch in unserer Gesellschaft unterschiedliche Haltungen gibt.
Da sind die, die sagen: Wir schaffen das! Wir wollen und brauchen Migration. Das Problem ist nicht, dass Menschen zu uns kommen, sondern dass wir zu wenig Integration ermöglichen. Und da sind die, die sagen: Wir haben uns überfordert. Jetzt muss Stopp sein. Beide Perspektiven driften zunehmend auseinander. Verständigung, das gemeinsame Suchen nach einem guten Weg, wird schwieriger.
Wie finden wir daraus einen Ausweg? Gerade dann, wenn wir uns schon lange für eine Seite engagieren – für Rettungsschiffe im Mittelmeer spenden, Geflüchteten Deutschunterricht geben, Türen und Herzen in der Nachbarschaft öffnen?
Vielleicht kann das Bild der Schwelle ein Kompass sein, um neue Wege zueinander zu finden. Was mir daran gefällt: Die Schwelle existiert nur, weil es zwei Seiten gibt. Es gibt nicht die eine richtige Seite. Beide Seiten eröffnen eigene Sichtweisen. Je nachdem, wo wir auf der Schwelle stehen, eröffnen sich unterschiedliche Perspektiven – die geprägt sind von Lebenserfahrungen und Lebensgeschichte. Im Bild gesprochen: Unterschiedliche Lebensgeschichten, Erfahrungen und Gefühle prägen, wie wir an Schwellen-Themen herangehen.
Gehen wir noch einmal zurück zu Jesus in der Synagoge. Er steht an der Schwelle seiner Herkunft. Und er steht an der Schwelle seiner Identität. Er offenbart, wer er ist: Der Gesalbte, der Erwartete, der Heilsbringer. Damit überschreitet er die Grenzen des Gewohnten und er mutet den Menschen um ihn herum viel zu. Er wusste wohl, dass seine Botschaft nicht überall auf offene Ohren stoßen wird. Er verwirft die Tradition nicht, aber er erweitert sie, erfüllt sie – so, wie Christinnen und Christen später bekennen werden, dass in ihm Gottes Verheißung vollendet ist: Er offenbart sich als der, der Leben schenkt. Der Licht ins Dunkel bringt, Freude den Betrübten, Gemeinschaft den Ausgeschlossenen, Heilung den Kranken, Brot den Hungrigen, neue Perspektiven den Blinden. Er offenbart sich als der, der alles neu macht.
In Jesu Vorbild wünsche ich mir heute Menschen, die Schwellen überqueren – in der Kirche, unter uns Christinnen und Christen, in der Gesellschaft.
Ich wünsche mir, dass wir die Schwellen in unserer Zeit achtsam wahrnehmen, ohne vor ihnen zurückzuschrecken. Dass wir Respekt vor der jeweils anderen Seite haben – weil dort Menschen stehen, mit Herz, Seele und einer Lebensgeschichte wie du und ich. Diese andere Meinung und Haltung müssen wir nicht teilen, auch nicht für gut heißen. Aber die unbedingte Achtung vor dem Menschen selbst ist der einzige Weg, damit Schwellen nicht zu Mauern werden.
Ich wünsche mir in diesen Tagen Menschen, die Schwellen überqueren. Menschen, die mit Worten und Haltung neugierig und offen sind und bleiben, die andere Perspektive zu hören und zu sehen – ohne die eigene Haltung und die eigenen Werte aufzugeben, sondern gerade durch diese Begegnung mit anderen an ihnen festzuhalten.
Ermutigt von der Erzählung Jesu halte ich daran fest:
Es gibt einen,
der Zorn in Fürsorge verwandelt,
Hass in Liebe,
Streit in Versöhnung;
einen,
der die Armen speist,
die Kranken heilt,
die Trauernden tröstet;
einen,
bei dem es keinen Aufnahmestopp gibt.
Wie Jesus damals mitten durch die aufgebrachte Menge hindurchging, so geht er auch heute mit uns auf dem Weg hin zu Verständigung und Versöhnung.
Mit dieser Haltung will ich den Schwellen meines Lebens und unserer Gesellschaft begegnen. Segen für deine Schwellen-Momente! Amen.
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In mir spiegelt sich Gott - Predigt zu Lk 6,36-42 von Barbara Bockentin
Unterschiedliche Voraussetzungen
Das erste Mal allein: zum Bäcker gehen. Mit dem Fahrrad in die Schule fahren. Mit dem Zug verreisen. Welch ein Zutrauen, welch ein Vertrauen ist darin spürbar. Jedes Mal ist sie innerlich ein Stückchen größer geworden.
Du weißt, was du zu tun hast… Wie konntest du das vergessen… Das geht noch besser… Nur einige Erinnerungen daran, dass er nicht perfekt ist. Dabei weiß er nicht einmal genau, was denn das Ziel sein soll. So ist Scheitern vorprogrammiert. Kopf einziehen, unsichtbar werden, das ist irgendwann sein Ziel geworden.
Missverständnisse aus dem Weg räumen
In uns / in mir spiegelt sich Gott. In die Vorstellung, die sich hinter diesem Satz verbirgt, bin ich verliebt. Plötzlich ist der Satz dagewesen. Als ob sich ein Vorhang geöffnet hat. Welche wunderbare Entdeckung. Gott tut etwas, wieder und wieder. Ich muss mich nicht selbst betrachten und in mir entdecken, was Gottes Vorstellung von mir ist. Er sieht etwas in mir, dass ich nicht einmal von mir ahne. Darin kann ich mich einkuscheln. Warm und geborgen fühlt sich das an.
Dagegen stehen Aufforderungen, die mich begleiten: barmherzig sein, nicht verurteilen, nicht richten, Manchmal kommt es mir vor, als ob sie wie eine Mauer vor mir stehen. Unüberwindbar. Unverrückbar. Einzig zum Scheitern und Schrammen-holen geeignet.
Viel zu oft wurden die Worte von Jesus dazu benutzt, um Menschen klein zu halten. Um mit dem Finger schmerzhaft in zugefügten Wunden zu bohren. Um deutlich zu machen, wer es eh nicht schaffen würde. Wer versagt, nicht genügt.
Gerade deshalb: In mir spiegelt sich Gott. Dieses Bild macht mich wach. Es setzt Energie in mir frei. Ich ahne, dass Gottes Handeln an mir der Maßstab dafür ist, wie ich mich anderen gegenüber verhalte. Mich für etwas Besseres halten – das ist nicht drin. Aufrechnen auf den Cent, auf die Minute genau – das verbietet sich von selbst. Großzügig sein. Mit dem, was ich mitbekommen habe. An Geld. An Mitgefühl. An Liebe. An Hilfsbereitschaft. Und das alles nicht, weil ich ein „Danke“ erwarte, oder weil ich mir etwas beweisen will. Das alles, weil Gott mir so begegnet ist.
Wenn ich Jesu Worte so lese, dann merke ich, dass sie zu einer lebensfreundlichen Gemeinschaft beitragen. Niemand wird übersehen. Meine Aufmerksamkeit gilt allen. Vor allem denen, die am Rand unserer Gesellschaft leben.
Dabei erinnert Jesus mich daran, wie schnell es gehen kann, überheblich zu werden. Weil ich den richtigen Weg weiß. Weil ich weiß, was zu tun ist. Weil ich helfe. Mit dieser Haltung mache ich mein Gegenüber klein, damit ich groß bin.
Lebensräume gewinnen an Weite.
In mir spiegelt sich Gott. Deshalb gehen Gottes Menschen gehen einseitig in Vorleistung. Sind freigiebig und großzügig. Dann wird es passieren: Verschlossene öffnen sich. Raum für neues Leben tut sich auf. Wir stiften Frieden. Versöhnung wird möglich, wo andere hetzen.
Darauf zielen Jesu Worte: auf unser Zusammenleben. Kein fernes Idealbild. Sondern so, wie Gott es sieht.
Sie geht weiter, erlebt viele erste Male. Erfährt, wie weh Scheitern tun kann. Die Erinnerung an sich selbst als kleines Mädchen. An das Zutrauen, das ihre Eltern, das andere in sie gehabt haben, trägt sie ihr Leben lang. So sehr, dass sie es weitergeben kann. An die eigenen Kinder. An Menschen, die ihr nah sind. An die, denen sie nur flüchtig begegnet.
Er kämpft sich weiter durch sein Leben. Ihm fällt es schwer, sich selbst als wertvoll zu erkennen. Manchmal ertappt er sich dabei, dass er immer kleinkrämerischer wird. Und schämt sich dafür. Er wartet darauf, dass er daran glauben kann, was er gelesen hat: In mir spiegelt sich Gott. Das ist seine Hoffnung.
Aufgabe: Jeden Tag ein Stück innerlich größer werden. Mich daran erinnern, dass Gott sich in mir spiegelt.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Der Text wird vielen geläufig sein. Gerade für den 2. Teil trifft das zu. Eventuell rechnen sie dann mit Erwartbarem: einen Anforderungskatalog. Da möchte ich sie auf eine andere Fährte locken.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das geflügelte Wort „Wenn du auf jemanden mit dem Finger zeigst, zeigen drei Finger auf dich.“ Ist vielen geläufig. Moralische Forderungen stehen schnell im Raum, damit Verurteilungen und Häme. Sich auf eine andere Sichtweise einlassen: Dass Gott, das Bessere in uns aus uns herausliebt, hat mich herausgefordert.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
In mir spiegelt sich Gott. Das klingt für mich ganz anders, als dass ich Spiegelbild Gottes bin. Das muss ich erst herausfinden. Das andere ist schon da, Gegenwart
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Leider gab es diesmal keinen Coach/keine Coachin. So habe ich die Predigt einer Kollegin vorgelegt und mir Feedback eingeholt. Das hilft vor allem, um die Gedankengänge auf ihre Schlüssigkeit zu überprüfen.
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13.07.2025 - 4. Sonntag nach Trinitatis
Maria und Martha - zwischen Hören und Handeln - Predigt zu Luk 10,38-42 von Elisabeth Tobaben
Liebe Gemeinde!
Maria und Martha. Zwei Frauen. Zwei Schwestern die man sich, nach allem, was wir aus der Erzählung des Lukas erfahren, verschiedener kaum vorstellen könnte.
Die eine zupackend, praktisch, fleißig, mit beiden Beinen fest auf dem Boden,
die andere eher meditativ veranlagt, nachdenklich und interessiert am Gesetz und den Propheten. Vielleicht wirkt sie auf ihre Schwester sogar ein klein bisschen weltfremd und abgehoben?
Nun ist Verschiedenheit an sich eigentlich nichts Schlimmes, jedenfalls solange man nicht eins gegen das andere ausspielt.
Genau das ist aber immer wieder versucht worden, indem man die Geschichte von Maria und Martha heranzog, um die Frage zu klären: Was ist wichtiger, Diakonie oder Gottesdienst? Meditation oder Aktion? Weltverbesserung oder Mission?
Eine merkwürdige Alternative, die ich immer schon schwierig gefunden habe!
Und bei Martha und Maria?
Ich merke: Ich mag die Martha, sie ist mir, wenn ich es recht bedenke, sogar recht sympathisch! Sie packt zu, sieht offenbar schnell was nötig ist, und sie kümmert sich. Sie nimmt das Gebot der orientalischen Gastfreundschaft sehr ernst.
Es hört sich ganz so an, als könnte man sich so richtig wohlfühlen in ihrem Haus.
Alles sauber und ordentlich, die Gäste sind bestens versorgt, das Essen schmeckt, die Atmosphäre stimmt, es würde sich bestimmt gut machen in unserem Juister Insel-Ferienkatalog.
Und trotzdem kommt Martha nicht besonders gut weg in der Auslegungsgeschichte des Textes. Auch in so manchem Gespräch über die Geschichte habe ich erlebt, dass Martha eher kritisch beäugt wurde.
„Martha, Martha“ spricht Jesus sie an. Klingt diese Wiederholung ihres Namens nicht tatsächlich nach erhobenem Zeigefinger? Nach Kopfschütteln und Ablehnung?
Ganz schnell hören viele merkwürdigerweise sofort einen Vorwurf aus Jesu Worten heraus. So als würde er sagen: „Martha, du machst aber auch wirklich alles falsch! So geht das nicht, hör endlich auf rumzuwirbeln und setz dich doch endlich auch einmal ruhig hin und hör mir zu!“
Aber genau das sagt er gerade nicht, sondern: „Du hast viel Sorge und Mühe“. Ich finde, da schwingt auch ganz viel Anerkennung mit, so etwas wie:
„Ich sehe wohl, dass du dir für uns so viel Arbeit machst, Martha! Schön, dass du für uns kochst, wir freuen uns schon auf das Essen.“
Dass Gäste viel Arbeit machen und mitunter auch einige Probleme verursachen, dazu könnten die Insulaner mit Sicherheit viel erzählen: Gerade wenn man mit Gästen sogar seinen Lebensunterhalt verdient!
Über die Arbeit an sich beklagt Martha sich gar nicht, sie ärgert sich bloß darüber, dass ihre Schwester nicht mit anfasst. Sie findet es nicht in Ordnung, dass sie alles allein am Hals hat! Die könnte auch mal was tun, statt einfach nur dem Rabbi zu Füßen zu sitzen und zuzuhören.
Außerdem habe ich den Eindruck, dass sie sich Sorgen macht um Maria.
Denn natürlich weiß sie, was das für ein Skandal ist, dass ihre Schwester bei einem Lehrer sitzt, bei den Männern! Als Frau! Das gehört sich doch einfach nicht!
Sie wird noch dazu die Familie in Verruf bringen!
Allerdings steht Martha ihrer Schwester, was den Skandal angeht, im Grunde in nichts nach. Martha ist in der Geschichte immerhin die, die Jesus eingeladen hat in ihr Haus, und wahrscheinlich auch seine Jünger. Auch das gehörte sich nicht für eine Frau in dieser Zeit! Aus einer anderen Geschichte wissen wir, dass die beiden einen Bruder haben, Lazarus. Aber er tritt hier nicht in Erscheinung; Wenn er der Einladende gewesen wäre, hätte Lukas das mit Sicherheit erwähnt.
Beide Frauen überschreiten also die Grenzen ihrer Zeit, ihres Kulturkreises.
Und Jesus? Jesus lässt sich darauf ein, er kommt ins Haus, er lässt sogar Maria zuhören und jagt sie nicht weg. Auch das ist eine Grenzüberschreitung!
Jesus versucht, und das ist ein entscheidender Punkt in der Geschichte, in Martha Verständnis zu erwecken für das, was Maria tut: „Lass sie nur, das ist schon o.k. so, sie darf mir zuhören. Ich traue euch zu, dass ihr verstehen könnt, was ich erzähle.“
Von Maria heißt es: Sie hat das gute Teil erwählt, das eine, was notwendig ist zum Leben!
Aber klingt das nun nicht doch ein bisschen nach Vorbild? Nach Kritik am fleißigen Herumwirtschaften?
Andererseits braucht doch auch jede Familie, jeder Verein und jede Kirchengemeinde diese „Marthas“. Leute, die anpacken, Tee machen, Kaffee kochen, Kuchen backen, Tische decken, damit ein Fest stattfinden kann, oder damit der Betrieb läuft. Das sind eben auch bis heute vor allem Frauen;
die auch hinterher wieder Abwaschen und Aufräumen, damit andere sich hinsetzen können, reden und diskutieren und Beschlüsse fassen. Zum Glück bietet sich in Vorstands- und Synodensitzungen heute ein sehr viel bunteres Bild! Frauen an Rednerpulten sind inzwischen doch selbstverständlich geworden. Und ich freue mich immer, wenn z.B. beim Seniorennachmittag Männer Tee und Kuchen verteilen.
Sicher, Martha „schmeißt den Haushalt“ allein. Vermutlich ist das keine neue Rolle für sie. Das kennt sie schon von sich, vermutlich geht sie oft bis an ihre Grenzen – oder drüber hinaus – und hält das vielleicht sogar für ihre Pflicht!
Aber jetzt hat sie endgültig die Nase voll. Ich denke, sie merkt auch: Ich kann einfach nicht mehr! Und ich habe auch keine Lust mehr! So kann es nicht weitergehen.
Und nun platzt ihr der Kragen. Vielleicht kennen Sie dieses Martha-Gefühl? Sie fühlen sie sich im Stich gelassen und vor allem nicht wirklich gesehen mit dem, was Sie leisten. Da kann das Gefühl aufkommen: Alles muss ich immer alleine machen. Nie ein bisschen Unterstützung!
Martha meint nun auch noch zu hören: Was machst du dir auch so viel Arbeit! Du bist ja selbst schuld, wenn du meinst, dass du den ganzen Tag in der Küche stehen musst. Was kümmerst du dich auch dauernd um anderer Leute Sachen, lass die das doch selbst machen.
Oder: es muss ja auch nicht immer ein Fünfgangmenue sein, der Pizzaservice tut’s doch vielleicht auch mal!
Und wieder: Selber schuld!
Und Martha? Martha klärt das Problem nicht direkt, sie geht nicht zu ihrer Schwester Maria und sagt: „Weißt du, du könntest jetzt aber wirklich mal eben mit anfassen! Ich schaffe es nicht allein, übernimm doch bitte den Tomatensalat, und Hummus mit Falafeln brauchen wir auch noch“. Nein, sie geht zu Jesus, und will ihn dazu bringen, dass er Maria Bescheid stößt!
Das kommt mir auch sehr bekannt vor, in vielen Paar-, Familien- oder Teamberatungen läuft das ganz ähnlich: „Sagen Sie doch mal meiner Frau/ meinem Mann, meinem Kollegen, dass das so nicht geht...!“ Ich fühle mich als Beraterin instrumentalisiert, man erwartet von mir, dass ich ein Problem löse, was die Ratsuchenden selbst miteinander nicht hinkriegen.
Es könnte sein, dass auch Maria und Martha schon länger miteinander im Clinch liegen. Nun ist die Gelegenheit günstig. Jesus ist da, und er soll sagen wie die Aufgaben zu verteilen sind.
Und die Frage schiebt sich nun doch wieder dazwischen: Was ist denn nun wichtiger, Hören oder Handeln?
Glaube oder Werke? Meditieren oder helfen? Beten oder Sozialarbeit?
Trotzdem, wenn man es so zuspitzt, merkt man vielleicht, wie komisch es klingt, dieses Entweder-Oder.
Der Evangelist Lukas erzählt die Geschichte übrigens an einer interessanten Stelle in seinem Büchlein: Zuerst lesen wir (im 10. Kapitel), dass ein Schriftgelehrter zu Jesus kommt und ihn fragt: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu haben?“ Und Jesus fragt zurück: „Was liest du denn? Was steht im Gesetz?“ Das weiß der Schriftgelehrte gut, er hat es lange studiert und kann es auswendig aufsagen, das Doppelgebot der Liebe: „Du sollst Gott deinen Herrn lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinem Gemüt – und deinen Nächsten wie dich selbst.“
Und als Beispiel erzählt Jesus die Geschichte vom Barmherzigen Samariter!
Der hatte das verstanden: als er den halbtoten Mann an der Straße liegen sieht, kommt’s drauf an, zuzupacken und zu helfen, und nicht vorbeizugehen wie die andern vor ihm. Anschließend erzählt Lukas die Geschichte von Martha und Maria! Und nun kann man verstehen: Lukas will sagen: Beides ist wichtig! Beides hat seine Zeit!
Beten und Handeln lässt sich gerade nicht gegeneinander ausspielen!
Das wird mir besonders deutlich, wenn ich an die Krisengebiete unserer Erde denke, an hungernde, in Kriegen traumatisierte Kinder, die ganz sicher unsere praktische Hilfe brauchen. Aber eben auch unsere Gebete und unser Nachdenken und Stellung nehmen zu Fragen des Friedens und der Gerechtigkeit.
Schade, dass Lukas die Geschichte nicht noch weitererzählt!
So wissen wir nicht, ob Martha anschließend vielleicht auch bei Maria und den Männern stehen geblieben ist – noch in der Schürze, den Kochlöffel noch in der Hand...
Ich stelle mir die Szene vor. Hoffentlich hat sie, die immer gewöhnt war für andere zu sorgen, gelernt, einmal einen anderen für sich sorgen zu lassen. Dann können die Worte Jesu, seine Geschichten sie berühren und ihre Seele aufleben lassen!
Und dann später, als sie hungrig wurden, könnten sie alle zusammen in die Küche gegangen sein, um das Abendmahl vorzubereiten! Sie hatten verstanden: Nicht nur das Zupacken zählt, aber auch nicht nur das Zuhören. Und jede hat ein Recht, gesehen und ernst genommen zu werden in dem, was ihr jetzt gerade wichtiger ist.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe die Inselkirchengemeinde auf Juist in ihrer Mischung von Einheimischen und Gästen vor Augen. Erfahrungsgemäß werden an diesem Wochenende viele so genannte „Karnevalsflüchtlinge“ auf der Insel sein.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Es war anregend, über die jeweiligen Rollen der beiden Schwestern nachzudenken.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Mich wird die Frage weiter beschäftigen, inwieweit heutige Auslegungen in Gefahr stehen, Fragen an einen Text zu stellen, die dieser vielleicht gar nicht beantworten kann.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Etliche sprachliche Veränderungen sind erfolgt. Der Hinweis meines Coaches auf eine negative Formulierung hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich zu Negationen neige, und habe versucht, mehrere solcher Formulierungen zu verändern.
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27.01.2025 - Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus
Gottes Liebe sucht sich machtvoll ihren Weg zu den Menschen - Predigt zu Lk 1,26-55 von Matthias Riemenschneider
Liebe Gemeinde,
Begegnung auf Augenhöhe
zwei Frauen, die ein Kind erwarten, begegnen einander. Ihre Freude ist groß. Die Energie, die in ihnen steckt, ist ansteckend und springt bis in unsere Zeit hinüber.
Mit Andacht und Liebe haben die Maler aller Zeiten diese Begegnung dargestellt und das Besondere dieses Treffens festgehalten. Wer mit offenen Augen durch alte Kirchen oder Klöster geht, die Fresken und Kirchenfenster betrachtet, der wird häufig auch ein Bild von Maria und Elisabeth entdecken. Man kann dann sehen, wie sie sich gegenseitig stärken, wie sie bereit sind, das, was auf sie zukommt, gemeinsam zu tragen. Auf vielen dieser Bilder tragen Maria und Elisabeth einen Heiligenschein. Die beiden Kreise vereinigen sich auf vielen Bildern zu einem einzigen, großen Schutzschild, das sich um ihre Köpfe legt. Der Heiligenschein um einen Menschen ist ein Teil des Gotteslichtes. Von diesen Menschen geht in besonderer Weise ein Stück Himmel, ein Stück auch von Gottes Wesen aus. Gott scheint durch sie durch und sie strahlen etwas von ihm aus.
Maria und Elisabeth haben wohl am wenigsten damit gerechnet, dass ihre Begegnung einmal die Fantasie so vieler Künstler inspirieren würde. Zwei einfache Frauen begegnen sich, zwei Frauenschicksale. Ein Schicksal, das in ähnlicher Weise viele andere vor und nach ihnen auch erlebt haben: Sie sind unerwartet schwanger geworden. Elisabeth ist im vorgerückten Alter und hatte die Hoffnung auf ein eigenes Kind schon aufgegeben. Maria ihrerseits wurde durch die Schwangerschaft völlig überwältigt und wusste nicht, wie ihr geschah. Obwohl sie so unterschiedlich sind – ihre ungewöhnliche Schwangerschaft haben sie gemeinsam. Und so umarmen sie sich und stehen einander bei – gegen das Gerede der Leute, für die die eine zu alt für ein Kind ist und die andere noch zu jung. Von all dem um sie herum sind sie in ihrer Begegnung befreit. Mit ihnen geschieht etwas, das größer ist, als sie selbst es fassen können.
Begegnung verändert
Der Christbaum ist schon geschmückt. Die Proben für das Krippenspiel in der Christvesper sind abgeschlossen. Übermorgen ist Heilig Abend. Haben wir da noch die Muße, uns diesen beiden Frauen zuzuwenden? Und überhaupt: Die Weihnachtsgeschichte erzählt doch davon, wie im Stall von Bethlehem ein Kind geboren wird. Ein Kind, das als Heiland der Welt den Lauf der Weltgeschichte verändern soll.
Es ist keine Frage, die Geburt Jesu im Stall von Bethlehem ist ein weltstürzendes Ereignis. Der Evangelist Lukas ist der Meinung, dass wir dieses Ereignis nur recht verstehen können, wenn wir auch die Vorgeschichte kennen. Und deshalb erzählt er diese Vorgeschichte. Eigentlich müsste man sagen, er erzählt zwei Vorgeschichten: die Geburtsgeschichte von Johannes dem Täufer und die Geburtsgeschichte von Jesus von Nazareth. Elisabeth und Maria verbinden diese beiden Geschichten miteinander. Die beiden Frau erkennen, dass ihre Schwangerschaften nicht nur ihr eigenes Schicksal berühren. So wie sich Gott ihnen zuwendet, so gilt seine Aufmerksamkeit allen Niedrigen, allen am Rande und wenig Angesehenen und allen Notleidenden. Daraus schöpfen sie ihre Kraft und Hoffnung.
Hinzu kommt ihre Freude, die sie so deutlich ausstrahlen. Schon der Engel Gabriel setzt sie als Grundton. „Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir!“ (V.28) Im griechischen Urtext steht dafür ein Wort, dass wir auch mit „Freue dich“ übersetzen können.
Auch wenn Maria am Anfang der Begegnung erschrocken ist, so reagiert sie doch erstaunlich gelassen. Der himmlische Bote kündigt ihr schließlich eine baldige Schwangerschaft an, die nach menschlichem Ermessen völlig unmöglich ist. Sie stellt lediglich eine Nachfrage: „Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Manne weiß?“ (V.34) So als ob sie überprüfen möchte, ob das wirklich stimmt, was Gabriel ihr sagt.
Der Engel steht ihr Rede und Antwort: „Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten“. Das Ganze ist so geheimnisvoll, dass auch der Engel dies nur in einer poetischen Sprache ausdrücken kann. Und damit kein Missverständnis entsteht, fügt er noch hinzu: „Darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden.“ (V.35) Maria stellt keine weiteren Fragen mehr. Sie vertraut Gott. Sie ist bereit, Gottes Plänen für ihr Leben zu folgen.
Marias Lobgesang
So unvermittelt wie er gekommen ist, verschwindet der Engel auch wieder. Und Maria bricht auf, um ihre Cousine Elisabeth zu besuchen. In ihrer Begegnung spüren beide Frauen, dass sich etwas in ihrem Leben verändert. Gott verändert ihr Leben so sehr, dass sie ohne Scheu jubeln und singen können. Elisabeth preist die Schwangerschaft Marias mit lauten Freudenrufen und nennt sie selig. Selig, weil sie ganz und gar auf Gott vertrauen kann, weil sie spürt, dass Gott es gut mit ihr meint. Dieser Lobpreis Elisabeths bewirkt bei Maria wiederum, dass die Worte des Engels in ihr zum Klingen kommen. Sie beginnt zu singen:
[Die Wiederholung des Manificat ggf. in einer modernen Übersetzung lesen, hier GNB]
„46Maria aber sprach:
Mein Herz preist den Herrn,
47alles in mir jubelt vor Freude
über Gott, meinen Retter!
48Ich bin nur seine geringste Dienerin,
und doch hat er sich mir zugewandt.
Jetzt werden die Menschen mich glücklich preisen
in allen kommenden Generationen;
49denn Gott hat Großes an mir getan,
er, der mächtig und heilig ist.
50Sein Erbarmen hört niemals auf;
er schenkt es allen, die ihn ehren,
von einer Generation zur andern.
51Jetzt hebt er seinen gewaltigen Arm
und fegt die Stolzen weg samt ihren Plänen.
52Jetzt stürzt er die Mächtigen vom Thron
und richtet die Unterdrückten auf.
53Den Hungernden gibt er reichlich zu essen
und schickt die Reichen mit leeren Händen fort.
54Er hat an seinen Diener Israel gedacht
und sich über sein Volk erbarmt.
55Wie er es unsern Vorfahren versprochen hatte,
Abraham und seinen Nachkommen
für alle Zeiten.“
Mit ihrer ganzen Kraft singt Maria. Sie ist begeistert. Und sie kann sich nun vollständig öffnen für die Worte Gottes, die ihr der Engel überbracht hat. Deshalb singt sie so leidenschaftlich. Sie spürt die neue Kraft Gottes in sich. Dafür kann sie Gott nur loben.
Eine Frau ist es, die so in das Lob Gottes einstimmt – eine Frau in einer patriarchalen Gesellschaft, die sonst eher am Rande steht.
Immer sind es in der Bibel Frauen, die solche Lieder singen. Lieder, die vom Heil schon erzählen, wenn andere es noch gar nicht richtig bemerkt haben. Die nicht nur das eigene Glück besingen, sondern die Rettung für viele. Als die Israeliten aus Ägypten ausziehen, ist es Mirjam, die auf die Pauke schlägt und das Lied der Befreiung anstimmt (Ex 15,20). Später ist es Hanna, die Mutter Samuels, die ausruft: „Der Bogen der Starken ist zerbrochen, und die Schwachen sind umgürtet mit Stärke.“ (1.Sam 2,4)
Im Mund Marias werden die Töne dieser Frauen wieder lebendig. Töne, die Gott in seiner ganzen Größe und Herrlichkeit erkennen lassen: nicht auf einem fernen Thron, sondern als die Macht, die mitten in den Niederungen des Lebens befreit und stärkt. So sehr ist Maria von dieser Macht erfüllt, dass ihre Freude alles durchdringt, auch das, was zum Weinen und Klagen ist. Und davon gibt es genug, in ihrem eigenen Leben wie um sie herum: Elend, äußere und innere Not, Missachtung und Demütigung.
Bis heute hat sich daran leider wenig verändert. Vor wenigen Wochen (November 2024) hat das Bundeskriminalamt eine Untersuchung veröffentlicht, die für das Jahr 2023 eine deutliche Zunahme von häuslicher Gewalt feststellt. Die Zahl der gemeldeten Straftaten hat gegenüber dem Vorjahr um 6,5% zugenommen. Die Mehrheit der Opfer von häuslicher Gewalt sind Frauen und Mädchen. Zu den Formen der häuslichen Gewalt zählen neben Schlägen, sexueller Nötigung und Vergewaltigung auch die Tötung von Frauen. 360 Frauen und Mädchen wurden Opfer eines sogenannten Femizides. Also praktisch an jedem Tag im vergangenen Jahr wurde ein Menschenleben ausgelöscht, nur weil es weiblichen Geschlechts war. Diese Fälle haben im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. Hass und Gewalt gegen Frauen, so stellt es das Bundeskriminalamt fest, sind Ausdruck zunehmender gesellschaftlicher Spannungen und auch wirtschaftlicher Probleme. [Quelle: https://www.bka.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/Kurzmeldungen/241119_BLBStraftatengegenFrauen2023.html]
Wenn in einem Land die liberalen Werte unter Druck geraten, das Selbstbestimmungsrecht eines Einzelnen und die persönlichen Freiheitsrechte eingeschränkt werden, dann sind Frauen immer die ersten, die dies zu spüren bekommen. In Afghanistan, wo Mädchen nicht einmal mehr zur Schule gehen dürfen und Frauen von jeder gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen sind, kann man das auf besonders perfide Weise beobachten. Und im Iran haben die Mullahs vor nichts eine größere Angst als davor, dass Frauen ihre Stimme erheben und ihre elementaren Menschenrechte einfordern.
Ein Lied der Befreiung
Die Frauen in unseren Tagen, die an den Rand gedrängt, gedemütigt, unterdrückt oder gar ermordet werden, diese Frauen sind die Schwestern und Cousinen Marias. Gerade für sie stimmt Maria ihr Lied der Befreiung an. Wir sind eingeladen, dieses Lied nicht nur zu hören, sondern mitzusingen. Laut mitzusingen, dass sich endlich etwas ändert für die Frauen im Iran, in Afghanistan oder sonst wo in der Welt, wo die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Dieses Adventslied, das davon erzählt, wie Gott in diese Welt kommt. Es ist das älteste Adventslied, das wir haben. Und dabei hört es sich so anders an als viele der Lieder, die wir in diesen Tagen singen! Nicht sanft, nicht wehmütig, und schon gar nicht lieblich. Nein, kraftvoll, leidenschaftlich, mitreißend – so klingt das Lied zu Ehren Gottes.
Ein Stück nicht für Flöten und Schalmeien, sondern für Pauken und Trompeten, ein Lied mit harten Tönen und starken Worten. Anstatt Harmonie und Idylle zu beschwören, beschreibt es den Umsturz. Throne stürzen und Machthaber verlieren ihre Gewalt. In den Palästen bleiben die Tische leer und in den Hütten werden Hungernde satt gemacht. Herrscher müssen herunter von ihren Podesten und die Arroganz der Mächtigen hat ein Ende.
Maria singt leidenschaftlich von Gott. Von Gottes Macht: wie Gott Mächtige entmachtet und Ohnmächtige aufrichtet, wie er Mühselige und Beladene stärkt und Niedergedrückte wieder aufrecht gehen lässt. Von dem Gott, der groß macht, was in den Augen der Menschen klein und niedrig ist.
Es ist kein harmloses Lied, das Maria anstimmt. Es verschweigt nicht die Gewalt und die Ungerechtigkeit, nicht die Not in der Welt. Gerade deshalb fordert es zum Mitsingen auf. So laut, dass es die bedrückten und erniedrigten Frauen hören können. Weil dieses Lied von einem hellen Grundton bestimmt ist: dem Grundton der Freude! Der Freude über die neue Gerechtigkeit.
Innigste Freude bringt Maria zum Singen. Eine Freude, die durch nichts aufzuhalten, zu trüben oder zu dämpfen ist. So eine überwältigende Freude lässt Maria jubeln und ausrufen: „Gott ist groß.“ Am eigenen Leib hat sie erfahren, wie es ist, wenn Gott am Werk ist. Dass da nicht Macht, nicht Reichtum, nicht äußere Vorzüge zählen. Sondern allein die Liebe. Ich bin sicher, dass auch Elisabeth in dieses Loblied miteinstimmt. Das Lied, das Gottes Liebe besingt, die sich machtvoll ihren Weg zu den Menschen sucht.
Amen
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Jeden Montag findet in der Landesgeschäftsstelle der Diakonie Württemberg eine Hausandacht statt, an der regelmäßig rund 50 Mitarbeitende teilnehmen: eine lebendige, kritische und sozial engagierte Gemeinschaft, die aktuelle Fragestellungen im Licht biblischer Texte durchdenkt und diskutiert. Ebenso ist eine Gemeinde im Blick, die den kritischen Impuls der biblischen Botschaft als Ergänzung zur eigenen Gemeindearbeit versteht.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das Proprium des Sonntags betont die Freude. Den Grund dieser Freude benennen und die Chuzpe beschreiben, sie trotz bedrückender Erfahrungen der Gegenwart auszudrücken, das möchte ich in der Predigt beschreiben.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Angesichts der vielen bedrückenden Nachrichten (Krieg in der Ukraine, Klimawandel, Trump ante portas, Erstarken rechtspopulistischer Parteien) fiel es mit selber schwer, mich auf den hellen Grundton der Hoffnung und Freude einzulassen. Die Kraft der beiden Frauen wirkt ansteckend – und beeinflusste die Vorbereitung und Ausarbeitung der Predigt. Von dieser Kraft möchte ich mich öfter anstecken lassen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Maria und Elisabeth sind zwei Frauen, die letztlich in einer prekären Situation leben. Das Schicksal von Frauen, die am Rande stehen, unterdrückt werden oder Opfer von Gewalt sind, muss angesichts der weihnachtlichen Feststimmung herausgestellt werden. Diesen Gedanken auszuarbeiten, entgegen der weihnachtlichen Erwartung einer heilen Welt, dafür erhielt ich von verschiedenen Seiten Zuspruch.
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Es liegt an uns - Predigt zu Lk 13,10-17 von Barbara Bockentin
Immer am Sabbat lehrte Jesus in einer der Synagogen. Und sieh doch: da war eine Frau. Seit achtzehn Jahren wurde sie von einem Geist geplagt, der sie krank machte. Sie war verkrümmt und konnte sich nicht mehr aufrichten. Als Jesus sie sah, rief er sie zu sich. Er sagte zu ihr: „Frau, du bist von deiner Krankheit befreit!“ Und er legte ihr die Hände auf. Sofort richtete sie sich auf und lobte Gott.
Aber der Leiter der Synagoge ärgerte sich darüber, dass Jesu die Frau an einem Sabbat geheilt hatte. Deshalb sagte er zu der Volksmenge: „Es gibt sechs Tage, die zum Arbeiten da sind. Also kommt an einem dieser Tage, um euch heilen zu lassen – und nicht am Sabbat!“ Doch der Herr sagte zu ihm: „Ihr Scheinheiligen! Jeder von euch bindet am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Futterkrippe los und führt ihn zur Tränke. Aber diese Frau hier, die doch eine Tochter Abrahams ist, hielt der Satan gefesselt – sieh doch: achtzehn Jahre lang! Und sie darf am Sabbat nicht von dieser Fessel befreit werden?“ Als Jesus das sagte, schämten sich alle seine Gegner. Und die ganze Volksmenge freute sich über die wunderbaren Taten, die Jesus vollbrachte.
Es liegt an uns
I. Unsichtbar sichtbar – die Geschichte einer Namenlosen
Sie steht am Rand. Fast unsichtbar. Die Blicke der anderen gehen über sie hinweg. Trifft sie doch mal einer, versucht sie sich instinktiv noch kleiner zu machen. Über die Jahre ist es für sie eine Gewohnheit geworden. Eine, die sie sich nicht ausgesucht hat. Eine, die andere ihr zugeschrieben haben.
Das, was sie erlebt hat, haftet wie ein Makel an ihr. Sie kann es nicht abschütteln. Zu fest sitzt es. Unfrei fühlt sie sich.
Anfangs – wie lange ist das her? – da hat sie versucht, sich Gehör zu verschaffen. Doch niemand hat sie hören wollen. Dass ihr jemand Glauben schenkt, darauf hofft sie schon gar nicht mehr. Statt Zuspruch Widerspruch. Ihr Empfinden, ihre Erinnerungen, ihr Leid – all das zählt nichts.
Was sie sich erhofft: Gesehen und gehört werden. Gerechtigkeit.
Weshalb sie die Gemeinschaft nicht von sich aus verlässt? Die anderen sollen nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Als ob nichts passiert sei. Als ob es sie nicht gäbe. Sie will weiter Stachel im Fleisch bei ihnen sein. Auch wenn es anstrengend ist. Viel Kraft kostet. So wie jetzt gerade: Sich am liebsten unsichtbar machen.
II. Gesehen – gerufen – Jesus greift ein
Einer sieht sie doch. Ruft sie in die Mitte. Sie muss sich einen Ruck geben. Es ist nicht so einfach. Sie geht in dem Vertrauen, ja mit welchem eigentlich? Sie hat gelernt, nichts zu erwarten. Er sieht sie und ruft sie zu sich. Sieht mehr, tiefer. Augen, die wie erloschen sind. Einen Mund, der verstummt ist. Er sieht sie. Voller Wärme und Zuneigung. Das erreicht sie. Als er sie berührt, kann sie zunächst ein Unbehagen nicht leugnen. Schließlich hat sie um nichts gebeten. Selbst ihn nicht. Natürlich hat sie von ihm gehört. Von seiner Macht zu heilen. Aus tiefstem Herzen wünscht sie das auch für sich. Trotzdem bleibt das Unbehagen.
Als ob sie etwas zurückhält. Als ob sie sich fürchtet. Vor dem, was sich ändern wird.
Gemeinsam mit seinen Worten verändert sie sich durch die Geste. Sie richtet sich auf. Zu voller Größe. Das erste Mal seit vielen Jahren. Wirbel für Wirbel. Langsam. Überrascht. Nicht nur ihr Körper, auch ihr Herz wird frei.
Sie macht einen Schritt. Dann noch einen. Geht voran. In der Hoffnung, nicht allein zu bleiben. Sie macht sich selbst Mut. Jetzt muss sich doch etwas ändern. Kann sie jetzt sagen, was geschehen ist? Was sie zu der gemacht hat, die sie heute ist? Wie sie das Verhalten der anderen empfunden hat?
III. Hinsehen und handeln – so fängt Veränderung an
Jesus fragt nicht. Er handelt. Zunächst. Damit stellt er sich an ihre Seite. Wehrt Angriffe ab. Lässt nicht gelten, was gesagt wird. Rückt zurecht. Macht unmissverständlich klar, dass alles getan werden muss, was dem Leben dient. Erinnert daran. Macht damit möglich, dass die anderen das auch sehen. Dem zustimmen können. Veränderung ist angesagt. Veränderung, die der Menschenliebe Gottes Rechnung trägt. Nichts anderes muss folgen.
Ja, sie wird stärker. Und wir? Trauen wir uns. Trauen uns hinzusehen. Ergreifen Partei, wo immer es nötig ist. Erinnern auch dann, wenn es unbequem wird. Vergessen die nicht, die gern im Dunkel gelassen werden. Trauen wir uns zu handeln. Ziehen wir Konsequenzen, wann immer sie nötig sind. Belassen wir es nicht nur bei Worten.
Jesus hat es getan. So fängt es an und zieht Kreise, Gott sieht sie, sieht mich, sieht uns an. Sein Blick verändert.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Sommerferien liegen hinter uns. Der Alltag ist wieder eingekehrt. im Gottesdienst mischen sich die, die aus dem Urlaub zurückgekehrt sind, und die, die daheim geblieben sind. Die Gottesdienstbesucher*innen gehören zu verschiedenen Altersgruppen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Immer wieder beschäftige ich mich zurzeit mit den Ergebnissen der Forumstudie. Vor allem das Thema des „Dunkelfeldes“ lässt mich nicht los. Der Predigttext stellte schon beim ersten Lesen eine Brücke zu diesem Thema her. Betroffene zu sehen – zu ahnen, dass vielleicht Betroffene in der Gottesdienstgemeinde sitzen – hat mich herausgefordert.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich bin erschrocken, als mir aufgefallen ist, dass Jesus in dieser Geschichte übergriffig geworden ist. Einerseits. Andererseits: Ohne sein Eingreifen wäre die Frau nicht sichtbar geworden. Jesus handelt, weil er unter die Oberfläche sieht. Wahrnehmen, was da ist. Verborgen, im Dunkeln. Sich nicht täuschen lassen von dem, was sichtbar ist.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Meine Predigtcoach hat mich ermutigt, genauer zu werden. Deshalb konnte ich das Unbehagen der Frau besser beschreiben. Die Zielrichtung der Predigt auf uns, die wir lesen und hören, ist exakter formuliert.