Predigt zu Lukas 6,36-42 von Christian Stasch

Predigt zu Lukas 6,36-42 von Christian Stasch
6,36-42

Lukas 6, 36:  Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.  37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.  38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.

39 Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?  40 Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er voll ausgebildet ist, so ist er wie sein Meister.   41 Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr?   42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!

Liebe Gemeinde! Gebt. So wird euch gegeben.

„Ach Quatsch, das stimmt doch gar nicht“, denkt Rolf. „Ich hab nichts zu verschenken. Das ist alles sauer verdient. Mir sind schließlich nie gebratene Tauben in den Mund geflogen. Ne, ich hab wirklich nichts zu verschenken.“ Und das, obwohl er mit seinen 64 Jahren und ohne Frau inzwischen nur noch für sich selber sorgen muss.

Rolf erinnert sich an diesen Werbespot, den es jetzt nicht mehr gibt, aber der ihm haften geblieben ist: „Unterm Strich zähl ich“. Stimmt doch – denkt er sich. Kritische Ausdrücke dagegen wie „Ellenbogengesellschaft“, die kann er schon gar nicht mehr hören. Was soll´s: wenn andere ihre Ellenbogen benutzen, dann mach ich´s eben auch.

Gebt, so wird euch gegeben. Diese fünf Worte ziehen sich durch. Ach, wie soll das gehen. Wenn ich was weggebe, hab ich anschließend weniger. Ist doch ganz einfach. Die Punker in der Stadt stehen zehn Meter vor dem Bäckerstand und betteln die Passanten an. Wenn ich den Euro, mit der ich mir die Brezel kaufen will, dem Punker gebe, gibt´s für mich keine Brezel. Und was hätte ich davon? Ne, so blöd bin ich nicht.

Gebt, so wird euch gegeben. Rolf ist skeptisch. In Wahrheit zeigt sich doch: „Undank ist der Welt Lohn“ – ja, das hat er mehr als einmal erlebt. Die Schauspielerin Edda Seippel im Film als Mutter Kempowski spricht ihm aus der Seele mit ihrer Klage: „Da tut und macht man, bis einem das Blut unter den Fingern „hervorsprützt“ – und dann so was.“  

Euch wird gegeben? Na ja, wenn Rolf seinen Lottoschein ausfüllt, hofft er schon, dass er nicht nur den Schein und das Geld abgibt, sondern eines Tages auch mal ein richtiger Geldsegen zurückkommt. Aber das war bislang Fehlanzeige, und er weiß ja auch, dass das der Sinn des Lottospiels der ist, dass die Lottogesellschaft viel mehr einnimmt als sie an Gewinnen ausbezahlt.

Unvergessen ist ihm auch, wie er damals einen Teil seines kleinen Vermögens in Aktien investierte. Der Schauspieler, der von Liebling Kreuzberg… - ihm fällt gerade der Name nicht ein - der hatte so schön dafür geworben. Rolf hat´s probiert. So schnell wie der Aktienkurs fiel, konnte Rolf gar nicht gucken. Gebt, und ihr seid es los.

Wenn die Kinder und die Enkel zum Geburtstag kommen, ja, das ist ein anderes Klima, da ist er dann auch freigiebiger. Das Geld bleibt ja gewissermaßen in der Familie.

Und sie sollen ihm bloß nichts mehr schenken. Ich hab doch alles, sagt er. Diese Sache mit den Geschenken findet er sowieso lästig. Wenn er wo eingeladen war früher, hat er immer lange hin und her überlegt: Was schenke ich, nicht zu groß, das wirkt gönnerhaft, nicht zu klein, das wirkt knauserig, und was habe ich eigentlich das letzte Mal von Michael geschenkt bekommen? Daran könnte ich mich ungefähr orientieren.

Gebt, so wird euch gegeben. Diese fünf Worte ziehen sich hindurch. Ha! Wie peinlich war das, als er mal seinem Cousin ein Buch geschenkt hat, so einen Band mit Erzählungen (hatte er richtig schön ausgesucht), und der das auspackt und ihm ins Gesicht sagt: „Hm, sorry, aber den Autor mag ich ehrlich gesagt überhaupt nicht. Ist leider nichts für mich.“ So als wollte er ihm das Buch sofort zurückgeben. Na toll. Ja, gut, Schenken ist schon manchmal eine Art Tauschgeschäft, mit Schenken und Wieder-geschenkt-bekommen, aber doch nicht so!      

Gebt, so wird euch gegeben. Diese fünf Worte ziehen sich durch, durch den Gottesdienst, in dem die Konfirmanden etwas mit gestalten, und sein eigener Enkeljunge ist mit dabei. Nur seinem Enkel zuliebe ist er mal wieder hingegangen, zur Kirche. In dem Teil vor der Predigt haben die Konfirmanden noch einige weitere Jesusworte zum Thema Gabe und Geben zusammengestellt, und Rolf hört sich das an.

„Liebet eure Feinde. Tut Gutes, und leiht, ohne etwas zurück zu erhoffen, (Rolf muss dabei schlagartig an Griechenland denken)  leiht, ohne etwas zurück zu erhoffen, und euer Lohn wird groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein.“

Jetzt tritt eine Konfirmandin ans Mikro und liest dieses Jesuswort vor: „Wenn du ein Mittag- oder ein Abendessen machst, so lade nicht deine Freunde ein, noch deine Brüder, noch deine Verwandten, noch reiche Nachbarn, damit nicht etwa auch sie dich wieder einladen und dir Vergeltung  zuteilwerde. Sondern wenn du ein Mahl machst, so lade Arme, Krüppel, Lahme, Blinde ein! Und glückselig wirst du sein, weil sie nichts haben, um dir zu vergelten; denn es wird dir vergolten werden bei der Auferstehung der Gerechten.“

Nun ist, mit schlurfendem Gang und orangenen Turnschuhen, sein Enkelsohn an der Reihe. Mensch, ist der Junge groß geworden. „Achtet darauf, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht vor den Menschen tut, um ihnen ein Schauspiel zu bieten; wenn aber doch, habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater in den Himmeln. Wenn du nun Geld gibst, sollst du das nicht vor dir her posaunen lassen, sondern es soll  deine Linke nicht wissen, was deine Rechte tut; damit deine Gabe im Verborgenen sei, und Gott, der ins Verborgene sieht, wird dir vergelten.“

Rolf hat aufmerksam zugehört. Beim nachfolgenden Lied ist er mit seinen Gedanken dann noch bei diesen Textausschnitten. Und bei Jesus. Das war ihm vorher nie so klar. Ein Geben, ohne dass der Geber irgendwas davon hätte, wird nicht verlangt. Offensichtlich kritisiert Jesus überhaupt nicht, dass es für eine Gabe auch eine Gegengabe gibt. Und wenn der Beschenkte oder der Eingeladene zu arm ist, dann kommt die Gegengabe, die „Belohnung“, eben nicht von diesem Menschen, sondern später von Gott.   

Allerdings wird Rolf nun gleich wieder stutzig: Wie soll das gehen, dass ein Mensch sich „Lohn“ bei Gott erwirbt… - ist doch eine komische Vorstellung, oder? Und funktioniert das nur für Gläubige? Und woher weiß man, ob es diese himmlische Belohnung dann auch wirklich gibt?

„Unser Leben - ein Geben und Nehmen“, liest Rolf noch mal die Überschrift auf dem Gottesdienstblatt. Ja, gut, dagegen ist nichts zu sagen. Wenn Rolf so sein Leben betrachtet: Er hat sich da so einiges „genommen“, hat beherzt zugegriffen, vieles hart erarbeitet, und er weiß auch, dass er vieles wieder wird weggeben müssen, hat ja auch schon die große Wohnung aufgegeben und wohnt jetzt kleiner, und er weiß: dann ganz am Ende, wann auch immer das sein wird – er nennt es: „den Löffel abgeben“… Die Gedanken nehmen ihn mit.

Oh, stellt Rolf plötzlich fest. Von der Predigt weiß ich fast gar nichts mehr. Peinlich.

Jetzt wird bereits Abendmahl gefeiert. Die junge Pfarrerin singt mit ihrer glockenklaren Stimme die Worte Jesu: „Nehmet hin und esset, das ist mein Leib, der für euch gegeben wird.“ Nehmt hin und esst. Guten Appetit – muss Rolf denken, und ist mit seinen Gedanken kurz bei dem schönen Freitagabend, mit Ingrid beim Argentinier, ein wunderbar rosa Steak haben sie gegessen. Superlecker. Allerdings: Für dieses Lebensmittel hat ein Lebewesen sein Leben gelassen. Hm, Fleischkonsum, Leben auf Kosten anderer, Schuld, kein gutes Thema im Steakhaus, oder? Ingrid machte das anscheinend nichts aus – so als hätte sie für sich eine Antwort darauf. Sie war dann aber so taktvoll, das Gespräch bald woanders hin zu lenken.

„Kommt, alles ist bereit, sehet und schmecket, wie freundlich der Herr ist“, sagt die Pastorin. Gehe ich hin zum Abendmahl, oder nicht? Ach, ich glaub nicht. Von den Konfirmanden gehen auch nur ganz wenige nach vorn. Rolf bleibt sitzen. Um den Altar bildet sich ein Kreis von Abendmahlsgästen. Der Organist entlockt der Orgel zarte Töne, die Raum lassen für eigenes Anknüpfen. Gut, dass ich Ingrid kennen gelernt habe. Was, vier Wochen ist das erst her? Sie ist anders als ich, irgendwie so fröhlich und zuversichtlich, wie macht sie das nur?

Ihr Job wirft kaum mehr ab als Rolfs Rente. Das scheint für sie aber ohnehin nicht so wichtig zu sein. Sie hat so viele Kontakte, bekommt Besuch, macht was mit ihren Freundinnen, ist großzügig. Neulich im Eiscafé, als sie unbedingt zahlen wollte – dieses Trinkgeld! „Das ist viel zu viel, was hast du denn davon?“, schoss es Rolf durch den Sinn, nicht ohne dass er sich für den Gedanken auch schämte.

Ingrid lässt sich ohnehin nicht beirren. Jetzt hat sie der Stadt drei Bänke gestiftet, die stehen am Waldrand, auf ihrem Lieblingsspazierweg. So was fehlte da bislang. Ein Tischler hat die Bänke gebaut, eine Firma hat alles hintransportiert und ausgerichtet, aber gezahlt hat es Ingrid. Die Stadt hat an die Rückseiten der Lehnen Ingrids Namen anbringen lassen. Als kleines Dankeschön. Wenn Ingrid auf einer der Bänke sitzt, die ja nun allen gehören, strahlt sie.

In den Abendmahlskreis da vorn kommt Bewegung. Alle fassen einander an der Hand. Die Pastorin sagt irgendwas zu den Leuten in die Runde, zu leise, als dass Rolf es hören könnte.

Einmal haben Ingrid und er bislang eine Nacht miteinander verbracht, einander hingegeben. Schön war das, sehr schön.

Die Leute setzen sich wieder in die Reihen. Jetzt gibt es noch einen zweiten Kreis. Ach komm schon. Rolf geht hin. Er steht da, umgeben von Menschen, die er nicht kennt. Das Brot wird ohne Eile im Kreis herumgereicht. Nun wird es ihm gegeben. „Brot des Lebens – für dich.“ Rolf nimmt sich ein Stück. Und gibt den Brotkorb weiter. Amen.

Perikope
28.06.2015
6,36-42

Predigt zu Lukas 6,36-42 von Walter Meyer-Roscher

Predigt zu Lukas 6,36-42 von Walter Meyer-Roscher
6,36-42

Liebe Gemeinde,

„Seid unbequem, seid Sand und nicht Öl im Getriebe der Welt“, hat der Schriftsteller Günther Eich meine Generation am Beginn unseres Berufslebens aufgefordert.“ Denkt an das, was ihr für euch und für eure Gesellschaft erreichen wollt“, hat er gemahnt.

Wir haben es damals gehört. Wir haben uns beeindrucken, motivieren, herausfordern lassen. Wir sehen heute: Diese Herausforderung ist aktuell geblieben. Sie ist angesichts einer sich ausbreitenden Politikverdrossenheit gerade unter jungen Menschen vielleicht noch drängender geworden: „Seid unbequem, seid Sand und nicht Öl im Getriebe der Welt“.

Das ist zuerst ein Aufruf, Verantwortung zu übernehmen für die, mit denen wir zusammen leben wollen und zusammen leben müssen, für die Gemeinschaft, in der wir zu Hause sind, und für unsere Gesellschaft, in der alle menschenwürdig leben sollen.

Wer zu dieser Verantwortung bereit ist, muss auch bereit sein, unbequeme Kritik zu üben. Keine Gesellschaft kann auf ihre Kritiker verzichten. Ohne kritisches Mitdenken gibt es keine Veränderung, auch keine Warnung vor falschen Weichenstellungen für unsere Zukunft. Ohne kritisches Mithandeln werden wir letzten Endes zu einer sterilen Gemeinschaft der Angepassten, der müden, stumpfen Mitläufer. Dann unterwerfen wir uns einer Ordnung, die eine freie und von allen Normen und Werten befreite Wirtschaft, ein technischer Fortschritt ohne Ethik, eine Politik ohne Rückfragen nach den geistig-kulturellen Grundlagen unserer Gesellschaft uns vorgibt .Das darf nicht sein! Kritik, auch  unbequeme Kritik bleibt notwendig.

 Aber Kritik kann schnell in verletzende, zerstörende Verurteilung umschlagen. Da geht es plötzlich nicht mehr um das, was allen nützt und für das Gemeinwohl notwendig bleibt. Da werden gegenteilige Meinungen regelrecht verteufelt, andersdenkende Kritiker als gemeinschaftsschädigend abgestempelt, Menschen mit einer anderen religiösen Überzeugung ausgegrenzt – gnadenlos.

Ja, jeder von uns muss sich durchaus selbstkritisch fragen, wie oft auch er mit seiner Kritik richtet und zu einem gnadenlosen Richter wird, obwohl er nicht besser ist als die, die er verurteilt. Was ist das für ein Richter, der selbst auf Gnade angewiesen ist und doch keine Gnade mit anderen kennt?!

Jesus wendet sich an solche Richter: „Du siehst den Splitter im Auge deines Gegenübers. Alle Aufmerksamkeit richtest du darauf, und den Balken im eigenen Auge übersiehst du. Du willst einen Blinden führen, wie kannst du das, wenn du selbst blind bist? Du willst den Balken im eigenen Auge oder die eigene Blindheit nicht wahr haben. Aber das hält keiner durch, irgendwann kommt der Augenblick der Wahrheit.“

Da steht ein Mann eines Nachts in Paris auf einer Brücke, die über die Seine führt. Eben ist vor seinen Augen eine Frau in den Fluss gesprungen. Nun ist sie verschwunden. Und er? Er ist ihr nicht nachgesprungen. Er hat nicht versucht, sie zu retten. Nun ist er da, dieser Augenblick der Wahrheit.

Albert Camus, Literaturnobelpreisträger, hat ihn in seinem Roman „Der Fall“ beschrieben. Darin lässt er seine Hauptperson erkennen: Die eigentliche Antriebskraft in seinem Leben war immer die Sorge, Recht zu haben und Recht zu behalten, über die Unzulänglichkeiten anderer, ihre Fehler, ihr Versagen urteilen zu können, erhaben zu sein über alle anderen. Macht wollte er haben über sie, bewundert wollte er werden.

In dieser Nacht aber auf der Brücke über die Seine gibt es keine Bewunderer. Da gibt es nur die Erkenntnis eigener Unzulänglichkeit und eigenen Versagens. Das aber ist eine andere Wahrheit als die, in deren Besitz er sich wähnte, als er andere mit seiner Kritik beurteilte und so oft gnadenlos aburteilte.

Ja, auf die Wahrheit, die wir zu besitzen meinen, berufen wir uns so gern, und dabei wird unsere Gesellschaft zu einer Bühne, auf der sich die Rechthaber in Fragen von Politik und Wirtschaft, von Wissenschaft und Bildung, auch so viele Rechthaber im religiös-kulturellen Zusammenleben in Szene setzen. Wir sollten  im Blick behalten, dass es einen Augenblick der Wahrheit gibt, der – wie in Camus‘ Roman – den selbstgefälligen Schein zerreißt. Aber was dann?

Der Mann, der eben noch auf der Brücke über die Seine mit der fremden Frau auch das bisherige eigene Leben versinken sieht, glaubt bald darauf, einen genialen Ausweg gefunden zu haben. Er klagt sich selbst an, um dann aber alle anderen zu fragen: „Und Ihr, was würdet Ihr denn tun, wenn Ihr des Nachts auf eine Brücke kämet und vor Euren Augen eine Frau ins Wasser spränge? Ihr nachspringen? Der Fluss ist tief und das Wasser ist kalt. Was würdet Ihr tun?“

Wenn dann die Antwort ausbleibt, kann unser Mann doch aufatmen und denken:“ Ihr seid ja auch nicht besser. Wo ist dann meine Schuld? Muss ich mir überhaupt Vorwürfe machen?“ Würden wir nicht ähnlich reagieren?

Camus gebraucht ein eingängiges, fast zum Lachen reizendes Bild: Man sollte alle Leute unter die gleiche Dusche stellen, um das Recht zu haben, sich selbst ganz an den Rand zu manövrieren, etwas weiter weg von allen anderen. So kann man sich selbst schneller an der Sonne trocknen, während die anderen immer noch unter der Dusche stehen. Ein Geniestreich! Wirklich?

„Du Heuchler“, sagt Jesus. „Er ist ja noch da, der Balken in deinem eigenen Auge. Du kannst die Blindheit nicht leugnen, in der du selbst lebst. Das ist kein Ausweg, sich durch einen Trick darüber hinwegzutäuschen. Das macht die Sache nur noch schlimmer. Wer kann denn in einer Atmosphäre dauernder Selbstrechtfertigung und gegenseitigen Verurteilens noch mit anderen und für andere verantwortlich handeln? Richtet nicht, verurteilt nicht!  Erhebt euch nicht über die anderen. Ihr seid aufeinander angewiesen – nicht als Richter und nicht als Angeklagte, sondern als Menschen, die auch Gnade vor Recht ergehen lassen, die gnädig miteinander umgehen können.“

Vielleicht ist das ein Ausweg, wenn wir zuerst einmal in den Blick bekommen, wovon wir denn eigentlich leben und was unser Zusammenleben überhaupt erst  möglich macht. Ich denke jetzt an alltägliche Erfahrungen, die mancher in der Hetze des Alltags auch leicht wieder vergisst. Wir haben Menschen, die uns lieben und uns verstehen. Wir können mit guten Freunden umgehen. Wir erfahren oft Zuwendung und Fürsorge, wo wir sie gar nicht erwartet haben. Können wir überhaupt existieren, ohne dass andere uns mit solcher Zuwendung und Fürsorge begleiten, ohne dass sie bereit sind, auch einmal Gnade vor Recht ergehen zu lassen?

Wir leben von solchen Erfahrungen, und wir sollten sie mit offenen Augen wahrnehmen. Dann bleibt unser Blick nämlich nicht mehr an uns selbst hängen.  Dann geht er in eine andere Richtung und konzentriert sich auf das, was wir Gott sei Dank jeden Tag bekommen – trotz manchen Versagens und ohne jeden Rechtsanspruch: Freiraum, Lebensraum!

Dann kommt plötzlich Gott in den Blick, aber nicht als Richter, der Versagen und Schuld aufrechnet und ein gnadenloses Urteil spricht. Jesus redet ja anders von Gott. Er nennt ihn den Vater, der barmherzig ist und gnädig mit uns umgeht, auch wenn wir das nicht verdient haben. Ich erinnere an eine der großen Geschichten, die Jesus von diesem Vater erzählt hat: Er wartet auf seinen Sohn. Der ist vor Jahren auf und davon gegangen, mit allem Vermögen, das ihm zustand. Er hat es durchgebracht, ohne sich damit eine neue Existenz aufzubauen. Jetzt ist ihm nichts mehr geblieben – nur noch die Erinnerung an das Zuhause und an den Vater. Aber wie wird der reagieren, wenn der missratene, verlorene Sohn als mittelloser Versager zurückkommt? Er geht dem Sohn entgegen! Er hat ja auf ihn gewartet. Sein Versagen hält er ihm nicht vor. Seine Vergangenheit rechnet er nicht auf. Im Gegenteil! Er setzt ihn wieder in seine Rechte ein, ein gnädiger Vater.

Das hat Jesus sagen wollen: Gott legt uns nicht fest auf unser Versagen, unsere Versäumnisse, unser Unvermögen. Er verurteilt nicht:  Missraten, höchstens noch bedingt tauglich. Er stempelt uns nicht auf ewig als Versager ab. Er gibt uns vielmehr jeden Tag eine Chance des neuen Anfangs.

Jesus sagt: „Das ist viel, das ist ein überfließendes Maß. Davon lebst du. Du kannst es dir leisten, auf Selbstrechtfertigung und gegenseitiges Verurteilen zu verzichten. Du kannst es dir leisten, die  Zuwendung, die du selbst jeden Tag erfährst, weiter zu geben. Du kannst es dir leisten, gnädig mit denen umzugehen, die dir etwas schuldig geblieben sind. Du brauchst nicht mehr ängstlich auf dich oder dein Gegenüber zu starren. Der Blick auf einen weiten Horizont ist frei geworden.“

Da gehen zwei Menschen an einem Fluss entlang. Sie gehen in die gleiche Richtung. Sie haben das gleiche Ziel. Nur geht jeder auf einer anderen Seite. Wenn sie aufeinander starren, sehen sie nur den breiten Fluss, der sie trennt. Wenn sie aber zurück oder nach vorn auf den weiten Horizont blicken, wird der trennende Fluss zu einem schmalen Strich. Unter dem weiten Horizont laufen die Linien ineinander. Da stehen die Menschen beieinander.

„Seid doch barmherzig“, sagt Jesus, „wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist! Seht das Gemeinsame, unsere gemeinsame Abhängigkeit von der Barmherzigkeit Gottes. Da verlieren die Gegensätze ihre zerstörerische Schärfe. Da können sachliche Differenzen auch sachlich ausgetragen werden. Kritisiert und beurteilt! Es geht nicht anders. Aber werft euch nicht zu Richtern auf, die nur den Splitter im Auge ihres Gegenübers, aber nicht den Balken im eigenen Auge sehen, die sich als Blindenführer gebärden, obwohl sie selbst blind sind.  Verurteilt keinen Menschen. Seid doch barmherzig, denkt daran: ohne Barmherzigkeit ist jede Solidargemeinschaft existenzunfähig und wird nicht überleben. Darum lasst  Barmherzigkeit zu in eurem Zusammenleben. Barmherzigkeit ist ein guter Wegweiser in eine menschenwürdige Zukunft.

Amen

 

Perikope
28.06.2015
6,36-42

„Den anderen, findigen Gott - und die andern auch alle“ - Predigt zu Lukas 15,1-3.11-32 von Dörte Gebhard

„Den anderen, findigen Gott - und die andern auch alle“ - Predigt zu Lukas 15,1-3.11-32 von Dörte Gebhard
15,1-3.11-32

„Den anderen, findigen Gott - und die andern auch alle“

(Predigt im OpenAirGottesdienst in Bottenwil/Schweiz)

Liebe Gemeinde

Wie oft schon ist dieser Sohn vor unseren Ohren fortgegangen und heimgekehrt!
Wie oft schon haben wir die unglaubliche Geschichte aus dem Lukasevangelium gehört,
wie oft sagen wir immer noch, es sei das Gleichnis vom „verlorenen Sohn“.

Davon handelt die Passage im Lukasevangelium ganz höchstens am Rande. Hören Sie selbst, wie der berühmt-berüchtigte Sohn gerade nicht verloren geht:

1 Alle Zöllner und Sünder suchten seine Nähe, um ihm zuzuhören. 2 Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten: Der nimmt Sünder auf und isst mit ihnen. 3 Er aber erzählte ihnen das folgende Gleichnis:

11 Und er sprach: Ein Mann hatte zwei Söhne. 12 Und der jüngere von ihnen sagte zum Vater: Vater, gib mir den Teil des Vermögens, der mir zusteht. Da teilte er alles, was er hatte, unter ihnen. 13 Wenige Tage danach machte der jüngere Sohn alles zu Geld und zog in ein fernes Land. Dort lebte er in Saus und Braus und verschleuderte sein Vermögen. 14 Als er aber alles aufgebraucht hatte, kam eine schwere Hungersnot über jenes Land, und er geriet in Not. 15 Da ging er und hängte sich an einen der Bürger jenes Landes, der schickte ihn auf seine Felder, die Schweine zu hüten. 16 Und er wäre zufrieden gewesen, sich den Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Schweine frassen, doch niemand gab ihm davon. 17 Da ging er in sich und sagte: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Brot in Hülle und Fülle, ich aber komme hier vor Hunger um. 18 Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. 19 Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn zu heissen; stelle mich wie einen deiner Tagelöhner. 20 Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater.

Er war noch weit weg, da sah ihn sein Vater schon und fühlte Mitleid, und er eilte ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. 21 Der Sohn aber sagte zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn zu heissen. 22 Da sagte der Vater zu seinen Knechten: Schnell, bringt das beste Gewand und zieht es ihm an! Und gebt ihm einen Ring an die Hand und Schuhe für die Füsse. 23 Holt das Mastkalb, schlachtet es, und wir wollen essen und fröhlich sein! 24 Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an zu feiern. 25 Sein älterer Sohn aber war auf dem Feld. Und als er kam und sich dem Haus näherte, hörte er Musik und Tanz. 26 Und er rief einen von den Knechten herbei und erkundigte sich, was das sei. 27 Der sagte zu ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das Mastkalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiederbekommen hat. 28 Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Sein Vater aber kam heraus und redete ihm zu. 29 Er aber entgegnete seinem Vater: All die Jahre diene ich dir nun, und nie habe ich ein Gebot von dir übertreten. Doch mir hast du nie einen Ziegenbock gegeben, dass ich mit meinen Freunden hätte feiern können. 30 Aber nun, da dein Sohn heimgekommen ist, der da, der dein Vermögen mit Huren verprasst hat, hast du für ihn das Mastkalb geschlachtet. 31 Er aber sagte zu ihm: Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist dein. 32 Feiern muss man jetzt und sich freuen, denn dieser dein Bruder war tot und ist lebendig geworden, war verloren und ist gefunden worden.


Liebe Gemeinde

Wäre der Sohn letztlich und ganz und gar verloren gegangen, hätte Lukas diese Passage nicht in sein Evangelium aufnehmen müssen.
Er hätte es als bekannt voraussetzen können. Wir wissen, wie jemand in die grosse, weite Welt hinauszieht und dabei natürlich auch verloren gehen kann, wie jemand nur eine halbe Weltreise schafft, wie jemand abbricht, was er vorhatte, zerbricht an sich selbst ...
Wir kennen solche Söhne, die in die Welt hinausgezogen sind, von denen nie wieder jemand hörte, die für uns verloren gegangen sind.
Wir kennen sogar Väter, die im Alkohol verloren gehen, wenn das Leben daheim misslingt, auch ohne dass sie je gross losgezogen wären.
Wir kennen solche Mütter, die sich selbst verlieren in der Sorge um ihre Kinder, die das Mass des Sinnvollen verloren haben ...
Wir kennen solche Töchter, die ihr Leben verlieren, nur weil sie es verloren glaubten, die bei der Suche nach echtem Leben den echten Tod früher finden.
Wir kennen uns selbst – zur Genüge, wie wir uns verlieren können in Nichtigkeiten, wie schnell wir die Suche aufgeben, wenn etwas verloren gegangen ist, ...
Damals kannten alle Juden auch das Gebot der Thora, was mit so einem scheinbar verlorenen, widerspenstigen Sohn zu geschehen hat. Wer alles verloren hat, was er zum Leben nötig hat, sollte einst auch sein Leben verlieren. Es heisst in der Thora, im 5. Buch Mose:

Wenn jemand einen widerspenstigen und ungehorsamen Sohn hat, der der Stimme seines Vaters und seiner Mutter nicht gehorcht und auch, wenn sie ihn züchtigen, ihnen nicht gehorchen will, so sollen ihn Vater und Mutter ergreifen und zu den Ältesten der Stadt führen und zu dem Tor des Ortes und zu den Ältesten der Stadt sagen: Dieser unser Sohn ist widerspenstig und ungehorsam und gehorcht unserer Stimme nicht und ist ein Prasser und Trunkenbold. So sollen ihn steinigen alle Leute seiner Stadt, dass er sterbe, und du sollst so das Böse aus deiner Mitte wegtun, dass ganz Israel aufhorche und sich fürchte ...
(5. Mose 21,18-21)


Steinigen ist wieder alltäglich geworden auf unserer Welt, und nicht nur steinigen, so zeigen es  die Videos der Terroristen, die voller Stolz und unerträglicher Menschenverachtung im Namen Gottes auftreten und doch nur ihre eigene Gewalttätigkeit vergöttert haben.
Steinigen kann jeder, so lehren es die grausamen Bilder dieser Tage,
normale Menschen lassen sich radikalisieren und werden fähig, ihre eigenen Leute, ihre Nächsten umzubringen.

Gewaltexzesse sind der Menschheit zu keiner Zeit ‚abhanden’ gekommen, foltern und steinigen sind nicht nur vereinzelten Psychopathen möglich, sondern können sich offenbar immer wieder ausbreiten, wenn Menschen Gehirnwäschen unterzogen und ihr Aggressionspotential entdeckt und fürchterlich fruchtbar gemacht wird.

Steinigen ist nicht so weit entfernt, wie es der steinalte Bibeltext nahelegt.
Auch im 21. Jahrhundert gehen Menschen verloren, finden sich Menschen zum Steinigen bereit und leben in der Gewissheit, dass es mehr als gut und gerecht ist, was sie tun. Und beschämt müssen wir bekennen, dass auch in Europa die Hoffnungslosigkeit unter manchen Jugendlichen so gross ist, dass sie sich Lebenssinn und Anerkennung, sogar ein besseres Leben versprechen, wenn sie nach Syrien reisen und sich dem Islamischen Staat, dem IS, anschliessen.
Ob diese Söhne und Töchter verloren sind?
Die Passage im Lukasevangelium lässt anderes hoffen.

Liebe Gemeinde

Das alte Steinigungsgebot und die aktuellen Gewaltausbrüche setzt Lukas als bekannt voraus. Anderes, Neues muss er berichten, vor allem von einem anderen, findigen Vater.

Es ist ein Vater, wie ihn die Welt nicht alle Tage sieht, aber stets nötig hat.
Wir sollten einen solchen Vater kennen!
Das Gleichnis handelt vor allen Dingen von Gott, viel mehr noch als von einem losgezogenen und heimgekehrten Sohn.

Denn ein normaler, orientalischer Patriarch täte das Geschilderte alles nicht und schon gar nicht in dieser Reihenfolge!
Zuerst sieht er seinen Sohn schon von weitem, als hätte er Tag und Nacht nach ihm Ausschau gehalten.
Er war noch weit weg, da sah ihn sein Vater schon ...
Wer von uns hält denn dauerhaft Ausschau nach dem, was er für verloren, sogar für tot hält? Wer hält das aus? Wer hält das durch?
Manche Menschen vermögen es, aber sie werden selten berühmt und wir kennen ihre Namen nicht. Aber es gibt sie und es gibt:
Gott, den anderen, findigen Vater.

Er war noch weit weg, da sah ihn sein Vater schon und fühlte Mitleid.
Wer von uns kann auf weite Distanz Mitleid empfinden? Wen jammert ein Leid, das er nur im Fernsehen sieht? Eine Not, die er nur von Ferne sieht?
Und wer hat Mitleid, überhaupt, wenn es vollkommen selbstverschuldet abwärts ging?

Manche Menschen vermögen es, und brechen auf, um zu helfen in den Krisen- und Kriegsgebieten dieser Welt; solche, die es nicht nötig hätten, gehen zu den „Ärzten ohne Grenzen“, obwohl sie auch ein  vergleichsweise beschauliches Arbeitsleben in einem westeuropäischen Krankenhaus wählen könnten.
Wir kennen ihre Namen kaum, aber doch einen, der zu diesem besonderen Mitleid immer fähig ist:
Gott, den anderen, findigen Vater.

Er war noch weit weg, da sah ihn sein Vater schon und fühlte Mitleid, und er eilte ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.

Ein normaler, orientalischer Patriarch rennt grundsätzlich nicht, schon gar nicht so einem entgegen!

Wenn wir von jemandem Reue erwarten, mindestens eine Entschuldigung, dann lassen wir ihn zu uns kommen und hören das an, natürlich, wir sind anständig. Aber rennen wir raus und herzen und küssen einen, der noch mit keinem Ton um Vergebung gebeten hat? Von dem es beim besten Willen nichts Positives zu berichten gibt?
Manche Menschen haben ein so weites Herz und wohl dem, der auch nur einen von ihnen kennt, und:
Gott, den anderen, findigen Vater.

Es ist mehr als gut zu erkennen: Gottes ‚Findigkeit’ ist grösser als unsere menschlichen Möglichkeiten, ganz verloren zu gehen.

Das ist Grund zu einer Freude, mit der sich Menschen manchmal schwer tun.
Und sie fingen an zu feiern. 
Das wäre eigentlich ein geeigneter, letzter Satz!
Aber, leider, nur sie feierten, nicht: Alle feierten.
Wir kennen solche älteren Brüder, die sich nicht freuen können, solche, die immer alles richtig gemacht haben, jahrelang, solche, die nun auch auch einen solchen Vorrat an Rechtschaffenheit aufgehäuft haben, dass er für jahrelange Vorwürfe reicht: Ich habe immer gearbeitet, ich habe nie gefeiert ...
All die Jahre diene ich dir nun, und nie habe ich ein Gebot von dir übertreten. Doch mir hast du nie einen Ziegenbock gegeben, dass ich mit meinen Freunden hätte feiern können.

Echtes, hilfreiches Mitleid ist nicht alle Tage zu finden. Ehrliche Mitfreude aber ist noch seltener anzutreffen.
Mitleid, so schreibt Jürgen Moltmann[1], ist viel leichter zu haben als Mitfreude.
Mitfreude ist ein Wort, dass wir fast zuerst erfinden müssen, so ungewohnt kommt es uns über die Lippen.
Im Mitleid können wir uns hinabbeugen, kommen also von oben. Mitfreude aber bedarf des Aufblickens, der völligen Selbstlosigkeit für einen Moment. Jedes Nachrechnen, jeder Vergleich mit dem Eigenen verdirbt sofort alles. Wenn das Herz voller Neid ist, hat die Freude keinen Platz daneben. Echte Mitfreude braucht viel Raum, braucht Zeit.

Jürgen Moltmann, der grosse Theologe der Hoffnung, hat ein altersweitsichtiges Buch geschrieben. Rainer Haak fasst die Freude zusammen, wenn man das überhaupt kann:

„Freude ist der Sinn menschlichen Lebens. Für die Freude an Gott wurden Menschen geschaffen. Für die Freude am Leben wurden sie geboren. Damit werden die oft gestellten Lebensfragen: Wozu bin ich da? Bin ich noch brauchbar? Kann ich mich nützlich machen? aus den Angeln gehoben. Es gibt keine Zwecke und keinen Nutzen, für die menschliches Leben da sein muss. Es gibt keine ethischen Ziele oder idealen Zwecke, mit denen sich menschliches Leben rechtfertigen muss. Das Leben selbst ist gut. Dasein ist schön und Hiersein ist herrlich. Wir leben, um zu leben.
Die Arbeitswelt der modernen Industriegesellschaft erzieht schon Kinder in der Kita mit solchen bedrohlichen Existenzfragen, nach denen der Sinn des Lebens in Zwecken und Nutzen liegen soll. Wer aber den Sinn seines Lebens in Brauchbarkeiten und Nützlichkeiten findet, kommt unausweichlich in Lebenskrisen, wenn er krank, behindert oder alt wird. Der „Sinn“ des Lebens liegt nicht außerhalb des Lebens, sondern in ihm selbst. …“[2]

Die Religion, die Rückbindung Gott, sei daher, so Moltmann, an den Fest-punkten des Lebens entstanden. Rel-igion begann, wenn es etwas zu feiern gab, nicht an den Unglücksorten eines Volkes. Gott war bei unseren frühen Vorfahren nicht zuerst gefragt, wenn es not-wendig war, sondern wenn sein Dasein Grund zur Freude gab.
Im älteren Testament wird immer wieder betont, dass Gott nicht nur Freude macht, sondern sich selbst auch freut.
Der Prophet Zephania hat davon eine echte Ahnung und ist erfüllt von Mitfreude:

Fürchte dich nicht, Zion! Lass deine Hände nicht sinken! Denn der HERR, dein Gott, ist bei dir, ein starker Heiland. Er wird sich über dich freuen und dir freundlich sein, er wird dir vergeben in seiner Liebe und wird über dich mit Jauchzen fröhlich sein. (Zeph 3, 16f).

Gott hat Freude – beim Suchen und noch mehr beim Finden.
So kann man sich vorstellen, dass Gott auch Freude erhofft, spontan und erstaunt, später auch die Mitfreude. Das Gleichnis bei Lukas hört auf, ehe wir erfahren, ob der ältere Bruder noch feiern konnte.

Aber wir hoffen es! So kann der allerletzte Satz im Gleichnis über den anderen, findigen Vater und die andern alle doch für uns heissen: „Freude herrscht.“[3]

Die Betonung lag damals auf „Freude herrscht!“ – nun wäre zu sagen: „Freude herrscht!“
Für den einen ist das leicht, für den anderen und überhaupt: für die 99 Gerechten ein wenig schwieriger, aber es ist zu schaffen, dass „Freude herrscht!“

Und der Friede und die Freude Gottes, die höher sind als unsere Vernunft, die stärken und bewahren Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen

 

[1]  Vgl. zum ganzen Gedankengang über die Freude Jürgen Moltmann, Der lebendige Gott und die Fülle des Lebens. Auch ein Beitrag zur Atheismusdebatte unserer Zeit, Gütersloh 2014, S. 91-101.

[2]  Rainer Haak: Glaubenssplitter. Ein frischer Blick auf den „alten“ Glauben, unter www.glaubenssplitter.com, abgerufen am 17. 6. 2015 in seinen Gedanken zu Moltmanns Buch.

[3]  Adolf Ogi. Als der erste Schweizer Astronaut Claude Nicollier die Erde umkreiste, begrüsste ihn Adolf Ogi am 7. August 1992 mit seinem rasch zum Bonmot gewordenen «Freude herrscht».

 

 

Perikope
21.06.2015
15,1-3.11-32

Predigt zu Lukas 15,1-3.11b-32 von Andreas Schwarz

Predigt zu Lukas 15,1-3.11b-32 von Andreas Schwarz
15,1-3.11b-32

1 Es nahten sich ihm aber allerlei Zöllner und Sünder, um ihn zu hören.
2 Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.
3 Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach:
11 Ein Mensch hatte zwei Söhne.
12 Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und er teilte Hab und Gut unter sie.
13 Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen.
14 Als er nun all das Seine verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land und er fing an zu darben
15 und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten.
16 Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm.
17 Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger!
18 Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.
19 Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner!
20 Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn; er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn.
21 Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße.
22 Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße
23 und bringt das gemästete Kalb und schlachtet's; lasst uns essen und fröhlich sein!
24 Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein.
25 Aber der ältere Sohn war auf dem Feld. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen und Tanzen
26 und rief zu sich einen der Knechte und fragte, was das wäre.
27 Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiederhat.
28 Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn.
29 Er antwortete aber und sprach zu seinem Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre.
30 Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet.
31 Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein.
32 Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.

Eine Familiengeschichte, wie sie häufig vorkommt.
Ein junger Mensch verabschiedet sich aus dem warmen und sicheren Nest der Familie.
Weder rebellisch noch sündig.
Dem Ruf der Freiheit folgend.
Ich muss raus. Raus aus der Geborgenheit.
Ich will lernen, auf eigenen Füßen zu stehen.
Dafür verzichte ich darauf, dass zuhause für mich gesorgt wird – um alles.
Ich möchte mich ausprobieren, eigene Wege gehen,
ohne zu wissen, wohin mich das führt.
Und ob ich ankomme wo ich will oder ganz woanders hingeführt werde,
das Risiko gehe ich ein.
Ich möchte gehen, ohne jemandem sagen zu müssen wohin
oder wann ich nachhause komme.
Wenn ich nachts nachhause komme, möchte ich niemanden wecken und ich möchte auch nicht gefragt werden, wo ich war und warum ich erst jetzt komme.
Ich möchte nicht, dass jemand sich Sorgen macht.
Ich möchte nichts begründen und mich nicht rechtfertigen müssen.
Gerne will ich dafür auf Fürsorge und Sicherheit verzichten.
Ich spüre ganz tief in mir die Sehnsucht, Bindungen und Fesseln abzustreifen.
Ich will Freiheit erleben, wie ich sie mir wünsche.
Und wenn mich die harte Realität auf den Boden der Tatsachen des Lebens zurückholt, dann will ich auf meine Erfahrung nicht verzichtet haben.
Ich glaube, ich kann nie der werden, der ich bin,
wenn ich immer da bleibe, wo ich bin.
Ich lerne mich selbst auch erst kennen,
wenn ich nicht die klaren Regeln und Formen der Familie immer um sich habe.
Ich möchte selbst überlegen und entscheiden.
Ich bin bereit, auch selbst die Konsequenzen  meines Tuns zu tragen.

Wie will ich leben?
Wie übernehme ich Verantwortung für das, was ich tue?
Wie viel Schutz und Begleitung brauche ich?
Wie viel Risiko kann ich eingehen?
Kann ich damit umgehen, wenn es anders wird, als ich wollte?
Was mache ich, wenn Träume platzen und Hoffnungen scheitern?
Wie will ich leben?
Freue ich mich, wenn andere mir sagen, wie es geht
und ich entspreche den Erwartungen?
Brauche ich die Freiheit eigener Wege – ohne Netz und doppelten Boden?

Menschheitsfragen.
Keineswegs moderne Selbstverwirklichung.
Selbsterfahrung des Menschen zu allen Zeiten.
An keiner Stelle der Geschichte kritisiert der Vater das Verhalten des Sohnes.
Kein mahnendes Wort, dass er sich auszahlen lässt.
Es steht ihm zu.
Er ist der Jüngere. Den Hof des Vaters bekommt er später ohnehin nicht.
Er erhält, was ihm zusteht und verliert damit jeglichen Erbanspruch.
Mehrere Familien kann der Hof nicht ernähren.
Der Jüngere ist genötigt, sich anderswo den Lebensunterhalt zu verdienen.
Der Vater lässt seinen jüngeren Sohn gehen.
Ohne ein böses Wort.
Ohne ihm ein schlechtes Gewissen zu machen.
Ohne Ratschläge und Verhaltensmaßregeln.
Mit ganz viel Vertrauen und viel Hoffnung, sicher.

Und es ist gut, dass die Eltern nicht alles, wissen, was geschieht.
Wie der Sohn sein Leben führt und wie es ihm ergeht.
Dass er sein Erbteil verschleudert.
Dass eine Wirtschaftskrise ausbricht, Menschen Hunger leiden.
Dass er in der schweren Zeit nicht arbeiten und seinen Lebensunterhalt verdienen kann.
Dass es bergab mit ihm geht, in jeder Hinsicht.
Er verliert alles, was für ihn wichtig war, was sein Leben bestimmt hat:
sein Erbe hat er verschleudert, seine religiöse Grundlagen gehen vor die Hunde, oder besser: zu den Schweinen,
und für sein Leben gibt es keine Form der Sicherheit mehr.
Er ist am Ende.
Das ist eine entwürdigende Situation.
Selbst fühlst du dich keineswegs wohl dabei, du kannst dich selbst nicht mehr riechen, wenn du bei den Schweinen lebst. Du würdest Schweinefraß fressen, wenn du dürftest, aber nicht einmal das ist erlaubt. Tiefer geht es nicht mehr.
Und bevor du überhaupt mit jemandem redest, hörst du schon die Vorhaltungen.  „Siehst du, so geht das, wenn man meint, alles selber entscheiden zu müssen, wenn man meint, frei sein zu wollen. Jetzt hast du deine Freiheit. Ich hätte es dir ja gleich sagen können, aber du hast ja nicht auf mich gehört“. 
Ach, diese unglaublichen Besserwisser.
Die haben ja wahrscheinlich alle nur darauf gewartet, dass es so kommt.
Die wussten ja schon immer, dass man seine Sicherheiten nicht weggibt, dass man sein Erbe nicht verschleudert.
„Keine Verantwortung, diese jungen Leute, kein Gespür für das, was im Leben und seiner Zukunft wirklich wichtig ist. Bleibe im Lande und nähre dich redlich – das wusste schon die Weisheit Israels; und die Eltern wissen auch, wo es langgeht. Hör doch auf die Lebenserfahrung der Alten. Aber nein, alles besser wissen. Das hast du jetzt davon“.

Glaubt irgendjemand, der Junge hätte große Lust nachhause zu gehen?
Und sich das anzuhören?
Er weiß es doch.
Ja, ihr habt ja Recht. Es gibt nichts zu beschönigen, nichts zu entschuldigen.
Ich habe nichts mehr, ich stinke, niemand will mit mir zu tun haben.
Das trage ich nun.
Und auch die zahlreichen Sprüche, Belehrungen, Vorhaltungen, Besserwissereien. Da ich sowieso überall untendurch bin, vor allem bei mir selbst, kann ich auch zu meinem Vater gehen. Arbeiten kann ich und will ich ja auch, dann kann ich wenigstens leben und nicht vegetieren. Ich bin nicht mehr ganz unten, bei den Schweinen.
Vieles habe ich verloren, im Grunde genommen alles – mein Geld, meinen Erbanspruch, mein Recht Sohn zu sein, die Achtung vor Anderen und vor mir selbst, meine religiösen Grundsätze. Aber ich kann arbeiten und ich will leben. Ich werde zu meinem Vater gehen, zugeben, dass ich mich falsch verhalten habe, dass ich Fehler gemacht habe, dass ich keinen anderen Weg mehr weiß, als zu ihm zu gehen.
Das Szenario musste von Anfang an auf der Liste gestanden haben.
Aber wenn es dann kommt, dann ist es doch bitter.
Sein Traum von Freiheit ist geplatzt.
Seine Sehnsucht, die ihn nach draußen trieb, hat sich nicht erfüllt.
Jetzt sehnt er sich nach einfachen Dingen: Essen, trinken, ein Dach über dem Kopf. Die Ansprüche sind spürbar niedriger geworden.
Das macht er zuerst mit sich aus, in seinem Kopf, in seinem Herzen.
Kein leichter Weg, zu sehen: ich bin gescheitert.
Ein schweres Vorhaben, es auch anderen gegenüber einzugestehen.
Dem Vater, der Mutter, den Geschwistern.
Er hat keine Ahnung, was die denken.
Ob sie ihn vergessen haben?
Abgeschrieben?

Das Herz des Vaters ist voller Sehnsucht.
Was immer der Sohn an Gedanken seines Vaters gemutmaßt hat,
der Vater sehnt sich nach seinem Sohn.
Sowie er seinen Sohn von Weitem sieht,
läuft er auf ihn zu und nimmt ihn in die Arme.
Und wenn er noch so dreckig ist und stinkt, er drückt ihn an sein Herz.
Da nämlich gehört er ihn – und war er wohl auch immer – am Herz des Vaters.
Die Sehnsucht erfüllt sich.
Durch nichts konnte der Sohn die Liebe des Vaters zu seinem Sohn zerstören.
Das ist, was Eltern spüren und erleben.
Liebe zu ihren Kindern auch dann, wenn sie ganz anders denken und handeln, als sie es für richtig erachten.
Kinder, um die sie sich Sorgen machen, auch wenn sie längst erwachsen sind. Kinder, die immer willkommen sind.
Türen und Herzen und Arme stehen ihnen offen, wo immer sie waren, was immer sie erlebt haben.
Wo warst du?
Warum bist du weggegangen ist?
Wo ist dein Geld?
Was hast du angestellt hat?
Warum bist du so dreckig und stinkst so widerlich?
Nicht davon. Keine Frage. Kein Wort.
Der Vater nimmt seinen Sohn in die Arme: Du bist mein Sohn.
Du kannst in deinem Leben viel kaputt machen, du kannst so viel verspielen, du kannst deine Zukunft riskieren, deine Gesundheit, dein Ansehen, deine moralischen Prinzipien. Aber mein Sohn zu sein verlierst du nicht.
Du bist nicht deshalb wieder Sohn, weil du deine Fehler bekannt hast, weil du deine Reue ausgedrückt hast, weil du zugegeben hast, dass du versagt hast.
Du bist mein Sohn, weil ich dich liebe.
Ich freue mich, dass du wieder da bist.
Du hast deine Würde nicht verloren und sollst leben.

Wer spürt, dass er geliebt wird, der hat auch Mut, Fehler zuzugeben und um Verzeihung zu bitten.
Aber darauf antwortet der Vater gar nicht.
Er ordnet ein Freudenfest an.
Alle auf dem Hof sollen sich mitfreuen, dass der Sohn wieder da ist, als Teil der Familie. Wie vorher.
Jetzt gibt es tatsächlich eine neue Chance; es ist nicht alles vorbei.
Das Leben kann neu beginnen und es ist um mehrere Erfahrungen reicher.
Vor allem um die: ich wurde nicht abgeschrieben, ich wurde nicht aus dem Familienbuch gestrichen, ich musste mir das Zuhause sein nicht verdienen, erarbeiten. Mir wurde verziehen, bevor ich um Verzeihung bitten konnte.
Mit dieser Erfahrung lässt es sich jetzt tatsächlich neu anfangen und ganz anders leben. Die vorher wenig miteinander geredet hatten, die sagen und zeigen, wie es ihnen ums Herz ist und feiern miteinander. 
Und sie lebten glücklich und zufrieden miteinander ihr ganzes Leben.
Wäre es ein Märchen, könnte dieser Satz folgen.
Aber es ist kein Märchen, es ist das Leben.
Und das hat keinen Schluss. Es ist offen.
Jesus sieht die Menschen, wie sie leben und wie sie miteinander umgehen.
Er lässt sie Neues erleben. Er hat Menschen neue Chancen geschenkt.
Denen, die erleben, sie sind gescheitert. Er hat die Prostituierten, die Zöllner angenommen und ihnen eine neue Lebenschance gegeben.
Aber nicht jeder will sich mitfreuen.
Denn es ist nicht nur der Drang nach Freiheit, den wir spüren,
nicht nur die angenehme Erfahrung, unverdient angenommen zu werden.
Es ist auch der Ärger über Andere und die Hilflosigkeit, damit umzugehen.
Der ältere Sohn kann sich nicht mitfreuen, dass sein Bruder, den er im Gespräch ‚dein Sohn‘ nennt, wieder da ist und der Vater sich auch noch darüber freut!
Furchtbar mitzuerleben, dass Vater und Sohn scheinbar nie wirklich miteinander geredet haben. Der Sohn hat nie gesagt, was er möchte, worüber er sich freut. Er hat geschwiegen, hat treu und zuverlässig, aber offensichtlich ohne Freude seine Arbeit gemacht. Und jetzt kommt raus, wie unzufrieden er ist. Jahrelang hat er es mit sich herumgetragen – und jetzt ist die Heimkehr des kleinen Bruders der Anlass, es dem Vater vorzuwerfen.
Der Vater wirbt um seinen älteren Sohn, dass er sich mitfreut.
Er war doch frei, er war zuhause, er hatte jede Chance und jedes Recht zu sagen, was er möchte, zu tun, was er wollte und verantwortete. All die Jahre wäre es leicht gewesen, darüber zu reden. Jetzt ist es schwer. Jetzt geht es um eine innere Überwindung. Das Gefühl, falsch, schlecht, ungerecht behandelt worden zu sein, verhindert die Mitfreude. Aber der Vater hört nicht auf, genau darum zu bitten.
Die Geschichte löst den Konflikt nicht.
Es ist unsere Geschichte, es sind unsere ungelösten Konflikte. Mit Gott und untereinander. Sie stehen unter dem Werben des himmlischen Vaters.
Die Freude, zu Gott zu gehören ist wichtiger als alle bedrückende Erfahrung – ich werde nicht ernst genommen, nicht genug geachtet und wert geschätzt.
Der Vater liebt den einen wie den anderen.
Indem Jesus diese Geschichte erzählt, wirbt er um das Vertrauen in die Liebe des Vaters. Die Geschichte hat kein Ende – die Einladung zur Freude gilt uns.
Gemeinsames Feiern wäre der erste Schritt auf dem Weg zu einer gelingenden Kommunikation zwischen dem Vater und seinen beiden Söhnen. Amen.
 

Perikope
21.06.2015
15,1-3.11b-32

Eine Geschichte vom Loslassen - Predigt zu Lukas 15,11b-24 von Thomas Volk

Eine Geschichte vom Loslassen - Predigt zu Lukas 15,11b-24 von Thomas Volk
15,11b-24

Eine Geschichte vom Loslassen

Liebe Gemeinde!
Können Sie leicht „loslassen“?
Wir müssen das ja immer wieder im Leben, „loslassen“. Die Kinder, die aus dem Haus gehen. Menschen, die mit uns das Leben geteilt haben und mit einem Mal nicht mehr für uns da sind. So manchen Sport, weil es gesundheitlich nicht mehr geht oder einfach zu anstrengend geworden ist. Die vertraute Wohnung, in der man so gerne gelebt hat. Oder den großen Lebenstraum, den man nicht mehr erreicht.

Haben Sie schon einmal einen Hund beobachtet, wie er sich in ein Stock verbissen hat? Man kann noch so viel einreden und versuchen, den Stock herausziehen, aber es geht nicht. Uns kann es ganz ähnlich gehen. Auch wir können uns sozusagen in etwas verbeißen.
In einen Streit, der zwar vorbei ist, den wir immer wieder auftischen, weil wir so gekränkt worden sind.
In die feste Meinung, wir müssten den Garten jedes Jahr aufs Neue mit der gleichen Anstrengung bewirtschaften und dabei spüren wir genau, dass es von Jahr zu Jahr mühsamer wird.
Und manche halten an der Illusion fest, die Partnerin würde wieder zurückkommen und wissen eigentlich nur zu gut, dass diese Beziehung unwiderruflich zu Ende ist.

Dabei gehört das Loslassen zum Leben dazu. Jede und jeder von uns muss ganz unterschiedliches Loslassen: Menschen. Lebensformen. Auch Ansichten und Einstellungen.
Wir müssen sogar loslassen, ob wir wollen oder nicht. Oft werden wir nicht einmal gefragt. Unser Leben gleicht einem andauernden Umzug. Wir ziehen nicht nur von einem Ort zum nächsten, auch von einem Lebensabschnitt in den anderen und können nicht immer alles mitnehmen, was uns wichtig ist.
„Loslassen“ ist schwer. Ärzte und Psychologen können eine Menge davon erzählen, dass viele Krankheiten daher kommen, weil Menschen einfach nicht „loslassen“ können und alles krampfhafte Festhalten sich auf Organe und Muskeln übertragen kann.

Das Schriftwort für den heutigen Sonntag möchte ich Ihnen unter diesem Blickwinkel des Loslassens auslegen. Es handelt sich um das bekanntes Gleichnis vom „barmherzigen Vater“. Hören Sie aus dem 15. Kapitel des Lukasevangeliums.
Und er [Jesus] sprach: Ein Mensch hatte zwei Söhne.
Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und er teilte Hab und Gut unter sie.
Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen.
Als er nun all das Seine verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land und er fing an zu darben
und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten.
Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm.
Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger!
Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.
Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner!
Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn; er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn.
Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße.
Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße
und bringt das gemästete Kalb und schlachtet's; lasst uns essen und fröhlich sein!
Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein.


Eine Geschichte vom "Loslassen".
Als erstes muss der Vater loslassen. Seinen jüngeren Sohn. Er will unbedingt von zu Hause weg. Jeder von uns kann sich ausmalen, was es für den Vater bedeutet, wenn er "Hab und Gut" (V.12) unter den Söhnen aufteilen muss. Dabei hat sich der Vater das alles ganz anders ausgemalt. Jetzt muss er den Sohn ausbezahlen. Ob das Geld reicht? Auch nach einiger Zeit? Auf beiden Seiten?
Ganz zu schweigen davon, wie menschlich schwer es ist, wenn jemand aus der Familie einfach so geht. Von heute auf morgen. Ohne genauen Plan. Ohne konkretes Ziel. Einfach so ins Ungewisse hinein.
Kein Wunder, dass es dem Vater schwerfällt "loszulassen", weil so viele offene Fragen da sind und niemand sagen kann, wie es jetzt weitergeht.

Auch der Sohn, der geht, muss loslassen. Er kann scheinbar gerne loslassen. Er sammelt alles zusammen und geht in ein fernes Land, schreibt Lukas. Endlich, so denkt er vielleicht. Endlich habe ich mich losgesagt von dem, was mir zu eng geworden und was mir schon lange gegen den Strich gegangen ist. Loslassen ist gar nicht schwer, mag er sich denken. Einfach auf und davon. Was kostet die Welt?
Wir, die wir die ganze Geschichte kennen, können an dieser Stelle einhaken und zu Recht einwenden: Offensichtlich ist nicht nur das "Loslassens-Müssen" schwierig, sondern auch das vermeintliche leichte, “überstürzte Loslassen". Wie leicht kann man auch in ein tiefes Loch fallen, wenn man alles auf einmal aufgibt, was getragen und Sicherheit gegeben hat, Und wie schnell kann man in einer fremden und unüberschaubaren Welt stolpern, weil man sich einfach nicht zurechtfindet.
Woche für Woche schauen Millionen von Menschen Sendungen wie „Goodbye Deutschland! Die Auswanderer“ oder „Auf und Davon“, weil sie einerseits fasziniert sind, wie leicht andere Brücken abreißen können, andererseits aber - wenn die Schwierigkeiten im neuen Leben überhand nehmen - bestätigt werden: „Nein, so möchte ich nicht leben! Gut, dass ich nicht so leicht loslassen kann und will!“

Wie man „angemessen“ loslassen kann? Ohne dass es weh tut? Oder man selbst verkrampft?
Es gibt kein Patentrezept. Wie wir alle ganz unterschiedlich ist, so verschieden sind auch unsere Gewohnheiten, auf Abschiede, auf Trennungen oder auf Neustarts zu reagieren.
Ich habe aber für mich aus dieser Geschichte einen Anhaltspunkt gefunden, der mir - bei allem, was ich immer wieder loslassen muss - helfen kann, mit neuen Situationen und veränderten Vorzeichen immer wieder doch klar zu kommen.
Es ist der Blick auf jemanden, der in dieser Geschichte auch loslassen muss. Außer dem Vater und dem Sohn. Es ist Gott. Auch er muss loslassen. Uns Menschen.
Diese Geschichte zeigt mir, wie Gott es macht. Er lässt uns einfach gehen und machen. Und riskiert damit viel. Gott zwingt uns Menschen nicht - weder zum Glauben an ihn, noch zum Einhalten irgendwelcher Gebote oder Lebensformen.
Er wagt sogar viel, wenn er uns die Freiheit lässt. Denn wir könnten alles, was uns gelingt, auf unsere Fahnen schreiben und ihn für all das, was uns misslingt, verantwortlich machen. Und wir könnten alle Freiheiten, die wir haben, auch ausnutzen und alle guten Sachen für selbstverständlich halten.
Das ist das Wagnis Gottes, dass er sich so auf uns Menschen einlässt und uns zugleich uns loslässt, damit wir auch ganz anders leben können.

Aus der Art und Weise, wie Gott mit uns Menschen umgeht, entnehme ich: Zum Loslassen gehört immer auch das sich einlassen: Auf neue Lebenswege. Auf einen neuen Beruf. Auf eine neue Umgebung. Auf andere Menschen.
Auch wenn die spannende Auswanderergeschichte des „jüngeren Sohnes“ beinahe wirklich tragisch geendet hätte, macht dieses Gleichnis Mut, sich auf neue Lebensbedingungen oder Zustände einzulassen. Denn es spricht von Gott als einem „barmherzigen Vater“, der auch dann da ist, wenn es ganz anders gekommen ist, als man es sich je ausgemalt hat.

Der neue Wochenpsalm geht sogar noch einen Schritt weiter. Er spricht davon, dass Gott sich richtig freut, wenn Menschen sich gerade dann, wenn das Loslassen völlig außer Kontrolle geraten ist, noch an ihn erinnern und sich an ihn wenden.
„Lobe den Herrn, meine Seele,
und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“ (Psalm 103,2)
Vielleicht hat sich der Psalmbeter auch erinnert, dass Gott schon oft in den entscheidenden Momenten da gewesen ist:
Dass ich diese Sache angepackt und dann doch bewältigt habe, das habe ich nicht alleine geschafft.
Dass mir dieser Geistesblitz durch den Kopf geschossen ist und die rettende Idee da war konnte, das kam nicht aus mir heraus.
Und dass ich diese neue Situation durchgestanden habe, das habe ich nicht mit meinen Kräften alleine zu Stande gebracht.

Dass Gott bei allem freiwilligen oder unfreiwilligen Loslassen da ist und alle neuen Wege mitgeht, das ist die Verheißung dieses Gleichnisses, das uns Mut machen möchte, immer wieder loszulassen, weil sich nicht nur Leben immer wieder ändert, sondern wir auch mit ihm.
Wir können uns doch nicht aus Angst vor jeder Form von Veränderung verschreckt zurückziehen. Oder ständig darauf bedacht sein, nur keinen Fehler zu machen.
Gott selbst ist jedenfalls einen anderen Weg gegangen. Er hat mutig das Loslassen zugelassen. Er hat sich auch auf die Menschen eingelassen, die sich losgesagt haben, auch wenn dabei manche Wege, wie bei dem Sohn in der Geschichte, beinahe mit einer Katastrophe geendet hätte oder in der Entzugsanstalt oder in der Klinik.
Der Gott, der weiß, wie schwer alles Loslassen ist, macht uns Mut, sich immer wieder auf Neues einzulassen, auch wenn wir vielleicht manchen Weg noch nicht kennen oder noch nicht genau ausmachen können, was wir einmal in den Händen halten werden. Aber wir brechen nie alleine zu neuen Ufern auf, gehen nie nur aus eigener Kraft los. Gott lässt sich auf ein neues Kapitel unserer Lebensgeschichte ein und geht mit uns in alle neue Zeit.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
 

Perikope
21.06.2015
15,11b-24

Predigt zu Lukas 15,1-3.11b-32 von Johannes Block

Predigt zu Lukas 15,1-3.11b-32 von Johannes Block
15,1-3.11b-32

„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“, heißt es in Goethes Faust. Gegensätze und Ambivalenzen, liebe Freunde, machen gute Geschichten aus. Ohne zwei Seelen in seiner Brust wäre Goethes Faust vermutlich ein harmloser, ein angepasster Zeitgenosse und Charakter geworden. Interessante Figuren und gute Geschichten leben davon, dass zwei Seelen, zwei Wahrheiten, zwei Weltsichten miteinander streiten und ringen. Alles andere wäre einfach und simpel - ohne Drama, ohne Tragik, ohne Entwicklung.

Auch das Gleichnis vom verlorenen Sohn steht in der Gefahr, eine einfache und simple Geschichte zu werden. Die Gefahr besteht darin, dass man im Gleichnis vom verlorenen Sohn allein auf einen Sohn, auf den verlorenen Sohn, blickt. Doch das Gleichnis ist keine ein-fache, sondern eine zwei-fache Geschichte. Denn das Gleichnis erzählt von zwei Söhnen: vom verlorenen Sohn zum einen und vom heimgebliebenen Sohn zum anderen. „Zwei Söhne wohnen, ach! in unserem Gleichnis“.

Gottes Wort ist schärfer als ein zweischneidiges Schwert, heißt es in der Bibel (Hebräer 4,12). Gottes Wort wirkt nicht ein-fach, sondern zwei-fach: Es klagt an und es tröstet, es entlarvt und begnadigt, es richtet und erlöst. Martin Luther sagt, dass Gottes Wort auf zweifache Weise wirke: als Gesetz und als Evangelium. Das Wort Gottes als Gesetz deckt auf und klagt an: den Kleinglauben, die Selbstbezogenheit, die Lüge, die Herzlosigkeit. Das Wort Gottes als Evangelium tröstet und befreit: zum Gottvertrauen, zur Wahrheit, zur Barmherzigkeit, zur Gelassenheit.

Auch das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist ein zweischneidiges Schwert. Es ist keine simple Geschichte, weil wir sie zwei-fach verstehen sollen: als Geschichte vom verlorenen Sohn und vom heimgebliebenen Sohn, als Geschichte im Doppelschritt von Gesetz und Evangelium.

Blicken wir, liebe Freunde, in einem ersten Schritt auf die schöne, die populäre Seite im Gleichnis: Das ist die Geschichte des verlorenen Sohnes, in die das Evangelium eingwickelt ist!

I.

Jesus erzählt das Gleichnis vom verlorenen Sohn, um eine Gotteswahrheit zu veranschaulichen: Gott ist ein Liebhaber des Lebens; deshalb vergibt er allen, die reumütig erkennen, dass sie mit Worten und Taten Leben zerstören. Gott „nimmt die Sünder an“, heißt es in der Hinführung zum Gleichnis.

Man kann Leben zerstören durch Taten, indem man die Umwelt zerstört und Lebensräume asphaltiert, indem man tötet, Tiere schlachtet und Menschen abschlachtet. Und man kann Leben zerstören durch Worte, indem man lügt, Vertrauen zerstört, indem man Freundschaft mißbraucht und Beziehungen aufkündigt:

Der jüngere Sohn sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen.

Der Sohn kündigt die Beziehung auf, weil er den Vater als Mittel zum Zweck mißbraucht: als bloßen Erblasser. Das ererbte Geld wird mißbraucht, weil es ohne Verantwortung verprasst wird. „Eigentum verpflichtet“, heißt es deshalb im Grundgesetz. Aus dem einen verlorenen Sohn sind mittlerweile viele verlorene Söhne und Töchter geworden, die ihre Schätze und Reichtümer allein für sich selbst verbrauchen wollen. Das private Leben und das persönliche Wohlergehen sind für viele wichtiger als die Verantwortung für die öffentliche Sache – für die res publica. Vereine, Chöre, Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und andere haben bereits viele Söhne und Töchter verloren – und verlieren Jahr um Jahr weitere. Dem verlorenen Sohn ist die eigene Freiheit und Selbstverwirklichung wichtiger als ein Leben in Verantwortung und in Beziehung: zum Vater, zum älteren Bruder, zum Gesinde im Haus und zum Vieh auf dem Hof.

Gott vergibt dem Sünder, weil Gott ein Liebhaber des Lebens ist. Gott feiert ein Fest, weil ein Mensch wieder in’s Leben gefunden hat: in’s Vertrauen, in die Beziehung, in’s Miteinander. Wenn man im dämmernden Morgenlicht das Gesicht seines Mitmenschen erkennt, dann beginnt das Leben, sagt ein jüdisches Sprichwort. Der heimgekehrte, der in’s Leben zurückgekehrte Sohn ist dem Vater wichtiger als das verlorene Erbe und Geld. Gott zahlt einen hohen Preis. Er tauscht  das verlorene Geld gegen den verlorenen Sohn. Gott zahlt den Preis, weil er ein Liebhaber des Lebens ist.

Die Energie, die den verlorenen Sohn nach Hause führt, ist die Güte des Vaters, an die sich der Sohn in seiner Not erinnert:

Da ging der Sohn in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner!

Der Entschluss und Mut zur Rückkehr gründet in der Erinnerung an die himmlische Güte: Gott gewährt Leben, Gott erhält am Leben, Gott gibt Brot in Fülle. Das ist das schöne Evangelium im Gleichnis: Gott regiert, indem er gütig ist; Gott richtet, indem er vergibt; Gott ruft nach Hause, indem er seine Gaben austeilt und den Tisch deckt.

Manchmal schreibt sich das Evangelium Gottes in unserer Welt weiter. Üblicherweise gelten das Gesetz und die Strafe, die Macht und die Autorität, die Ordnung und die Disziplin. „Ohne Fleiß keinen Preis“ – das gilt erst recht in Sachsen-Anhalt, im Land der Frühaufsteher! Doch manchmal fällt ein himmlischer Schein des Evangeliums in unsere Welt. Das geschieht dann, wenn die Güte und Liebe es vermag, über Fehler und Schwächen hinwegzusehen, ein Auge zuzudrücken, das Leben wichtiger als das Geld und den Menschen wichtiger als dessen Schuld zu nehmen. Vor einiger Zeit habe ich von folgender Geschichte gehört, die ein weitgereisender Weltenbummler erzählte:

„Bei einer Zugfahrt saß ich neben einem jungen Mann, der sehr bedrückt wirkte. Nervös rutschte er auf seinem Sitz hin und her, und nach einiger Zeit platzte es aus ihmn heraus: Dass er ein entlassener Häftling sei und jetzt auf der Fahrt nach Hause. 
Seine Eltern waren damals bei seiner Verurteilung tief getroffen. Im Gefängnis hatten sie ihn nie besucht, nur manchmal einen Weihnachtsgruß geschickt. Trotzdem, trotz allem hoffte er nun, dass sie ihm verziehen hätten. Er hatte ihnen geschrieben und sie gebeten, sie mögen ihm ein Zeichen geben, an dem er, wenn der Zug an dem kleinen Bauerngehöft kurz vor der Stadt vorbeiführe, sofort erkennen könne, wie sie zu ihm stünden. Hätten sie ihm verziehen, so sollten sie in dem großen Apfelbaum an der Strecke sichtbar ein gelbes Band anbringen. Wenn sie ihn aber nicht sehen wollten, brauchten sie gar nichts zu tun. Dann werde er weiterfahren, weit weg.
Als der Zug sich seiner Heimatstadt näherte, hielt er es nicht mehr aus, brachte es nicht über sich, aus dem Fenster zu gucken. Ich tauschte den Platz mit ihm und versprach, auf den Apfelbaum zu achten. Und dann sah ich den Apfelbaum: Der ganze Baum – über und über mit lauter leuchtenden gelben Bändern behängt!
‚Da ist er!’, flüsterte ich, ‚alles in Ordnung!’ Er sah hinaus, Tränen standen ihm in den Augen. Mir war, als hätte ich ein Wunder miterlebt.“

Manchmal schreibt sich das Evangelium Gottes in unserer Welt wundersam weiter: wenn verlorene Söhne und Töchter wieder in’s gemeinsame Leben finden; wenn die Güte einen Menschen wichtiger nimmt als dessen Fehler. Dann kommt es zu Geschichten, in die das Evangelium eingwickelt ist!

Blicken wir, liebe Freunde, in einem zweiten Schritt auf die unschöne, die unpopuläre Seite im Gleichnis: Das ist die Geschichte des heimgebliebenen Sohnes, in die das Gesetz eingwickelt ist!

II.

Die unschöne, die unpopuläre Seite im Gleichnis wird häufig übersehen und gern verdrängt: Das ist die Eifersucht des heimgebliebenen Sohnes. In der Eifersucht des heimgebliebenen Sohnes entlarvt sich ein Wesenszug des ganzen Menschengeschlechtes: Gottes Gnade für andere macht eifersüchtig. Das ist eine tief eingefleischte, geradezu urtümliche Mitgift der Menschheit, von der die biblische Urgeschichte erzählt:

Es begab sich, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick.

Das ist die unschöne, die unpopuläre Seite im Gleichnis, die häufig übersehen und gern verdrängt wird: die Eifersucht auf den Erfolg des anderen. Der Andere hat den besseren Arbeitsort, das höhere Gehalt, das größere Auto, die bessere Idee, die erfolgreicheren Kinder, die glücklichere Partnerschaft, den höheren Stimmenanteil bei der Wahl, den größeren Einfluss. Gottes Gnade für andere macht eifersüchtig:

Der ältere Sohn war auf dem Feld. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen und Tanzen. Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen und sprach zu seinem Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre. Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet.

Alles hat seine zwei Seiten. Auch die Gnade Gottes kommt nicht einfach problemlos zur Welt. Sie löst Eifersucht aus. Sie hat Konsequenzen: Die Gnade Gottes beglückt die Verlorenen, die es eigentlich nicht verdient haben; und die Gnade Gottes empört die Daheimgebliebenen, die sich alles treu und redlich verdient und erarbeitet haben. Die Gnade Gottes provoziert, weil sie unverdient zuteilt, weil sie sich ökonomisch nicht rechnet, weil sie in keiner Bilanz auftaucht. Gottes Gnade unterläuft die üblichen Standards: Sie teilt sich aus wie ein Preis oder eine Ehrenwürde, die man aus Sicht der anderen nicht verdient hat. Gottes Gnade hat einen Beigeschmack für die Daheimgebliebenen, die Redlichen, die Etablierten. Es ist für viele eine Zumutung, wenn Asylanten und Flüchtlinge einfach nach Deutschland kommen – unverdientermaßen und ohne Verdienst. Es ist für manche eine Zumutung, wenn heute Menschen an die Tür der Kirchengemeinde klopfen, die früher zu den Verächtern und Bedrückern der Kirche zählten. Gottes Gnade kann eine Zumutung sein. Gottes Gnade für andere kann eifersüchtig machen. Die ist die unschöne, die unpopuläre Seite im Gleichnis, die häufig übersehen und gern verdrängt wird.

III.

„Zwei Söhne wohnen, ach! in unserem Gleichnis“. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist keine ein-fache, sondern eine zwei-fache Geschichte. Denn das Gleichnis erzählt von zwei Söhnen: vom verlorenen Sohn zum einen und vom heimgebliebenen Sohn zum anderen. Es ist eine zweischneidige Geschichte im Doppelschritt von Gesetz und Evangelium. Diese Geschichte ruft die Verlorenen nach Hause und entlarvt die Eifersucht der Daheimgebliebenen.

Doch das Ziel im Gleichnis, liebe Freunde, besteht nicht darin, Verlierer und Gewinner oder Erste und Letzte oder Verlorene und Daheimgebliebene gegeneinander zu stellen. Jesus erzählt das Gleichnis, um in das Leben zu führen, das aus der Gnade Gottes lebt. Gottes Gnade teilt sich gleichmäßig aus, so dass Letzte zu Ersten und Erste zu Letzten werden (Mt 20,16). Sie teilt zu, wovon alle leben. Sie schenkt sich aus, ohne anderen zu nehmen. Die Gnade Gottes nimmt niemandem etwas weg, sondern gibt den Verlorenen das, was die Daheimgebliebenen bereits besitzen:

Der Vater sprach zum älteren Sohn: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein.

Jesus erzählt im Gleichnis von einem Leben, das aus der Gnade Gottes fließt. Manchmal verlaufen die Wege in das Leben auf unterschiedlichen Strecken: Der eine merkt erst in der Fremde, was er zuhause an Güte verloren hat; und der andere merkt zuhause, dass er dort in der Güte noch gar nicht angekommen ist.

Am Ende im Gleichnis geht es um das Fest des Lebens – um ein Leben, das sich immer wieder neu aus der Güte und Vergebung speist. Gott ist ein Liebhaber des Lebens, der einen hohen Preis dafür zahlt, dass wir auf unterschiedlichen Wegen zum Fest des Lebens gelangen. Auf dem Fest des Lebens werden die Verlorenen willkommen geheißen und den Daheimgebliebenen fällt auf, was ihnen bereits alles gehört. Am Ende kommt es darauf an, nicht sich selbst, sondern Gott als den großzügigen Gastgeber des Lebens zu entdecken:

Der Vater sprach: Bringt das gemästete Kalb und schlachtet's; lasst uns essen und fröhlich sein!

 

Perikope
21.06.2015
15,1-3.11b-32

Predigt zu Lukas 5,1-11 von Joachim Hempel

Predigt zu Lukas 5,1-11 von Joachim Hempel
5,1-11

'Hast du das auch gut überlegt?' - meine Güte, denke ich heute, wie oft haben es Gutmeinende dir ins Gewissen eingesprochen: 'Hast du das auch gut überlegt? - denn nur nach reiflicher Überlegung lässt doch Unsereiner alles stehen und liegen und haut einfach ab; oder etwa nicht?

Die Geschichte von den übervollen Netzen, von Wunder und Erschrecken endet ja in erstaunlicher Weise mit einem Knüller: „Und sie brachten die Boote an Land und verließen alles und folgten ihm nach.“ - Nun gut, Jesus-Geschichten Gewohnte werden schnell sagen, bei ihm, dem Meister, dem Gottgesegneten ist nicht immer alles logisch und rational überlegt, gerade das mögen wir ja an ihm, dieses spontane, aus Gottes gutem, heil machenden Heiligen Geist entspringende Reden und Tun.

Aber ehrlich, Hand auf's Herz: ...verließen alles und folgten ihm nach – wie oft haben Sie und ich im Leben so entschieden, so gehandelt – auch gerade wir in Jesu Nachfolge uns 'Christen' Nennende?

Lukas verleiht der Geschichte einen mehrfach gebauten Spannungsbogen, der aus des Alltag Alltäglichkeit in die Begegnung mit Gottes Wirklichkeit reicht: Der Zulauf der Zuhörer ist so groß, der Andrang der Nachdrängenden ist so gewaltig, dass Jesus auf Abstand gehen muss, sonst könnte er im Gedränge Atemnot kriegen und sein Wort in der Bedrängnis unhörbar werden. Im Abstand Halten liegt die Kraft! - Dann: die Netze flickenden Fischer, die nach der Nacht-Arbeit erfolglos zurück müde am Ufer Notwendiges tun, rudern mit und für ihn nochmal auf den See. Was soll's, werden sie gedacht haben, und im abwinkenden Zweifel füllen sich die Netze mehr und mehr; nur mit vereinten Kräften können sie ihr Glück in Netzen fangen.

So würde die Geschichte vom Gutes tuenden Menschenfreund Jesus ja schon reichen. Aber Lukas setzt noch eins obendrauf, denn jetzt geht es um Furcht und Schrecken, um Gewissensnöte im Unfassbaren; und Jesus: „Fürchte dich nicht!“ Lukas nimmt auf, was er schon am Beginn seines Evangeliums von Jesus Christus in der Geburtsgeschichte in Bethlehems Stall aus himmlischen Höhen hatte quasi als Überschrift verkünden lassen: Fürchtet euch nicht, denn siehe ich verkündige euch große Freude... - Diese große Freude vom Heiland, der der Welt und den Menschen zugute vom Himmel gekommen ist und Fleisch angenommen hat – wie unser Credo das nennt, tut im Alltag der Menschen genau dies: er nimmt Angst und Furcht und wandelt sie in Freude und Hoffnung und macht dadurch Glauben stark.

Dieser Glaube ist bei Simon, Jakobus, Johannes und wohl Simons Bruder Andreas so groß, dass die sich nicht von vollen Netzen, gutem Gewinn und flottem Einkommen faszinieren lassen, sondern den Urheber des guten Lebens so vertrauensvoll ansehen, dass sie in seiner Nähe bleiben und mit ihm und den Menschen noch ganz andere Geschichten der Hoffnung, der Liebe, des Glaubens erleben wollen.

Habt ihr das auch gut überlegt? Werden manche der Umherstehenden, der Freunde, Fischerkollegen, der Familien gedacht oder auch laut gerufen haben, und die Antwort lautet: NEIN! Schlicht und einfach NEIN!

Das Wunder des Lebens geht nicht in der Fähigkeit des Denkens und rationalen logischen Tuns auf; das Leben ist höher und weiter, umfassender und wunderbarer, und es gibt Situationen im Leben, wo 'alles oder fast alles oder mindestens etwas stehen und liegen lassen' dem Leben seine Atemfreiheit zurück gibt, den Blick weitet, das Herz kräftig schlagen lässt: das ist das Reich des Vertrauens, des Zutrauens, der Liebe und Hoffnung. Jedenfalls wären die Fischer vom See nicht Jünger, Apostel, Evangelisten, Gottes Menschenfreunde geworden, wenn sie den Augenblick am Ufer nicht begriffen hätten.

Die Kirche dankt es ihnen bis heute, denn sie stehen bei uns in hohem Ansehen, wir freuen uns über solche Jesu Jünger. Und bei den bedenklichen Nachfolgegeschichten unserer Tage, wo junge Leute sich im Internet von schwarz vermummten Sturmgewehrträgern zum Kampf für einen Gottesstaat locken lassen, um dann in Syrien oder im Irak mal ebenso für einige Monate Menschen tot zu schießen, bei diesen und ähnlich teuflischen Geschichten sind uns Simon, Jakobus, Johannes und Andreas doch noch in ganz anderer Weise 'Väter des Glaubens': 'Fürchte dich nicht' steht gegen 'Furcht und Schrecken mit tödlicher Gewalt' - das dürfen wir nie aus den Augen verlieren: wir sind Gottes Heiligen Geistes Kinder und stehen in der Verantwortung vor ihm und vor uns anvertrauten Menschen!

Amen

Perikope
05.07.2015
5,1-11

Zieh deinen Weg - Predigt zu Lukas 15,1-3.11b-32 von Manfred Wussow

Zieh deinen Weg - Predigt zu Lukas 15,1-3.11b-32 von Manfred Wussow
15,1-3.11b-32

Zieh deinen Weg

Herbert Grönemeyer, Liedermacher,  hat einem seiner Lieder den Titel gegeben: „Zieh deinen Weg.“
Das hört sich dann so an:

Zieh deinen Weg
Folg deinen eigenen Regeln
Zieh deinen Weg
Keine Angst vor richtig und falsch
Wer die Wahrheit kennt
ist niemals überlegen
Vertritt deinen Punkt
aber zeug immer von Respekt


Das Lied erzählt von einer großen Freiheit – und von einer großen Sehnsucht: den eigenen Weg zu gehen, ohne Angst vor “richtig“ und „falsch“, aber auch ohne jede Überheblichkeit. Ganz schön brisant – und bescheiden: „Wer die Wahrheit kennt, ist niemals überlegen“.

Am Ende klingt das Lied aus – es klingt wie ein Resümee:

Lüge nicht
Geh dem Kummer nicht entgegen
Prüfe dich
ob du weißt, wovon du sprichst
Zweifel nicht
Jeder Berg lässt sich bewegen
Gib nie auf
Sei bereit fürs große Glück.


Nicht dem Kummer entgegenzugehen, wird als Wunsch und als Hoffnung formuliert. Für wen? Ist es eine Warnung, eine Ahnung, ein Wunsch? Wer sich auf den Weg macht, nur seinen eigenen Regeln folgt und ohne Angst vor „richtig“ und „falsch“ - könnte dem Kummer entgegengehen. Es gibt Menschen, die sagen im Brustton der Überzeugung: wird dem Kummer entgegengehen!

Im Lied heißt es: Lüge nicht – prüfe dich – zweifel nicht.  Eine dichte Folge von Empfehlungen. Ein Dreiklang. Und doch hat jedes Wort ein eigenes Gewicht. Ob es so reicht, passt? „ Jeder Berg lässt sich bewegen.“ Den Satz hat Grönemeyer dem Evangelium abgelauscht. Es ist ein Wort Jesu: Der Glaube versetzt Berge! Wagemut und Vertrauen liegen in diesem Wort – doch: was heißt hier Glaube? Das letzte Wort hat im Lied – das Glück. „Sei bereit fürs große Glück“! Gib nie auf! Nie!

Der Weg in die Fremde und nach Hause

Das Evangelium erzählt heute tatsächlich von einem jungen Menschen, der sich frohgemut, vielleicht sogar kühn, darauf einlässt, sein Glück zu suchen. Er macht es nicht bei Nacht und Nebel, wenn nicht schon mit dem Segen des Vaters, dann doch mit seinem Geld. Gut ausgestattet sehen wir ihn eine weite Reise antreten. Das Glück liegt in der Ferne – und doch nah genug. Und der junge Mann ist ihm auf der Spur. Als er dann wieder aufwacht – Entschuldigung, es ist bei ihm wohl lange dunkel gewesen -, findet er sich bei den Schweinen wieder. Die schönen Mädchen und die „guten“ Freunde – sie kennen ihn jetzt nicht mehr. Zu essen hat er auch nichts mehr. Bis auf das, was auch die Schweine bekommen. Ist das das große Glück?

Jedenfalls sehen wir den jungen Mann, heruntergekommen, abgerissen, seit Tagen nicht mehr gewaschen, den beschwerlichen Weg nach Hause antreten. Beschwerlich nicht nur, weil er aus der ersehnten Ferne kommt, beschwerlich auch, weil ein Verlierer heimkehrt. Von weitem zu sehen! Mit der bescheidenen Option, Tagelöhner bei seinem Vater zu werden. Ohne Erbansprüche – die sind weg. Und mit ihnen die Würde, Sohn zu sein.

Jesus erzählt die Geschichte, die wir unter dem volkstümlichen Namen „verlorener Sohn“ zu kennen glauben. Wir sehen den Vater – er muss wohl schon oft Ausschau gehalten haben – gegen alle Regeln, gegen allen Anstand mit fliegenden Fahnen und ausgebreiteten Armen auf das Häufchen Elend zulaufen, es an sich drücken und abküssen. Und dann muss alles ganz schnell gehen: Neues Gewand, edler Ring, beste Schuhe – und ein großes Fest. Sogar das Mastkalb, extra für einen besonderen Zweck vorgehalten, muss heute daran glauben.
Denn: „Mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wieder gefunden worden.“ -  Habt ihr etwa Vorhaltungen, Vorwürfe erwartet?

Und Lukas, der die Geschichte überliefert, farbenprächtig und überaus sinnlich, erzählt mitten in seinem Evangelium eine – Ostergeschichte. Die Geschichte von einem neuen Leben. Unverhofft, nicht erwartet. Sogar gegen alle Realität, gegen alle Vernunft.
Wenn uns etwas einleuchtet – bei klarem Verstand, dann das:
„Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt; ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein.“

Verlorener Sohn?

Ist der Typ, den es am Ende doch noch nach Hause verschlägt, ein verlorener Sohn?
Wir sind sehr im Bann dieses Gedankens. Schön moralisch eingepackt, mit Goldschleife „Erfahrung“ zusammengebunden, bedient der jüngere Sohn dann tatsächlich als „verlorener Sohn“  fromme und weniger fromme Erwartungen – und bestätigt alte Ängste.  Aber genau betrachtet: Er hat sich auf seinen Weg gemacht. Ohne „richtig“ und „falsch“.  Und der Vater hat ihn gehen lassen. Da schwingt auch kein falscher Unterton mit. Es deutet sich auch keine tragische Geschichte an. Der Vater hat schon am Anfang dieses Weges ein mütterliches Herz. Ohne moralischen Zeigefinger, ohne letzte Worte, ohne große Geste. Nicht einmal verhalten äußert sich die Sorge. Der Sohn darf gehen.

Und zurückkehren. Dabei  hätte er bei den Schweinen bleiben können. Stolz und unnahbar. Kein Hahn hätte nach ihm gekräht. Klug und clever hätte er – vielleicht – sogar einen Aufstieg hinbekommen. Wieder von unten und von vorne angefangen. Aus eigener Kraft. Jung und unbeugsam. Das Muster eines Stehauf-Männchens. Womöglich hoch angesehen. Und geachtet in fremder Erde beigesetzt. Aber:  als der Vater ihn in die Arme schließt, als Sohn, nicht als Tagelöhner, ist er gefunden. Er hat sich selbst auch gefunden. Und den Weg, der ihm das Glück schenkt, das er für sich suchte. Die Geschichte, die Jesus erzählt, ist eine Oster-Geschichte. Nur wer auferstanden ist, kann auf den Tod zurückschauen, kann ihn hinter sich lassen, ist ihm entronnen. Jetzt kann seine Geschichte erzählt werden.

In dieser Geschichte spielt es eine große Rolle, dass der jüngere Sohn das Wagnis eingeht, in der Fremde sein Glück zu suchen. Was er erlebt, erfährt und erleidet, formt nicht nur seine Biographie, sondern wird in dieser Geschichte aufbewahrt. Auch für andere! Und in ein neues Licht gerückt! Ich frage provokativ: Kann ein Mensch stolz sein, verlorener Sohn gewesen zu sein? In den Lebensläufen macht sich so etwas nicht gut … Wir haben unsere Träume gestriegelt, die Schubladen für Klischees fein lasiert, unsere Ängste in große Worte gepackt.

Offene Geschichte

Jetzt habe ich was gesagt! Der ältere Bruder, in der Hierarchie ganz oben, nicht einmal informiert, hört, als er von der Arbeit nach Hause kommt, müde, hungrig und dreckig, die Musik, das Lachen, die Freude. Die Auskunft, die er noch auf dem Feld bekommt, macht ihn wütend. Dass für „den“ – er hat keinen Namen mehr und heißt nur noch „dieser dein Sohn“ – ein Fest gefeiert wird, ist eine Frechheit. Jesus erzählt verhalten davon … uns soll der Mund nicht schäumen.

So sehen wir den Vater wieder hinausgehen. Wieder schwenkt der Lichtkegel auf ihn. Der Vater wendet sich – jetzt - dem älteren Sohn zu. Er, der gute, brave Sohn, ist – jetzt -  in der Gefahr, verloren zu gehen. Sich zu verlieren! Aber die beiden scheinen sich nicht zu verstehen. Ob er denn nicht wüsste, dass ihm alles gehören würde, fragt der Vater. Um ihn dann zur Mitfreude einzuladen. Komm, sagt er, dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden … wenn das kein Grund ist, ausgelassen zu feiern? Sich von Herzen zu freuen?

Aber der ältere Sohn …. Ja, was macht er? Kommt er, feiert er mit? Schließt er den jüngeren Bruder auch in seine Arme? Jesus lässt die Geschichte am Ende einfach offen. So, als ob er sie uns anvertraut. Wir müssen sie weiter erzählen. Wir!
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wie möchte ich denn die Geschichte weiter erzählen? Wie soll sie denn ausgehen? Welchen Schluss gebe ich ihr? Provokativ tritt ungeschminkt die Frage auf wie ein Star: Kann ein Mensch stolz sein, nicht verloren gegangen zu sein? Wie hört sich das an, wenn er – oder sie – es so sagt? Selbstgerecht? Überheblich? Vielleicht sogar - verbittert? Enttäuscht? Es ist längst nicht ausgemacht, was Glück ist – was Geschenk – was Verdienst. Es ist auch nicht ausgemacht, was im Erfolg Verlust, was im Ruhm Angst, was in der Größe Niedertracht ist. Es ist nicht ausgemacht …
Ich könnte mich um mein Leben reden … Worte verlieren, bevor ich sie gefunden habe… den Ausgang verpassen. Doch: wenn die Geschichte offen bleibt – bleibe ich dann auch offen? Wenn ich ihr kein Ende gebe – kann ich neu anfangen?

Wer stolz ist, nicht so sein wie „der“ oder „die“, bleibt mit sich allein - und kann sich auch nicht freuen, nicht einmal mitfreuen. Die gute Welt gerinnt zu einer kalten … Eine böse Ahnung beschleicht mich: was ist, wenn man draußen bleibt? Nicht mehr dazu gehört? Mit ganz viel Tugend, mit Erfolg, mit dem besten Ruf? Am Ende ist das klar: Das Fest wird – gefeiert! Gastgeber ist der Vater. Er lädt ein. Er lässt sich das Fest etwas kosten. Jetzt wird auch nicht mehr geredet – zumindest nicht vor der Türe! Ich spitze neugierig die Ohren – ob ich etwas von drinnen erhasche?

Das große Mahl

Jesus erzählt ein Gleichnis von dem ganz großen Glück. Das größte Glück in dieser Geschichte ist: ein Mensch, der tot war, ist wieder lebendig geworden – ein Mensch, der verloren war, ist wieder gefunden. Jetzt wird ein festliches Mahl angerichtet! Jetzt wird gefeiert!

Was fällt Jesus ein, uns so durcheinander zu bringen?  Die Dinge auf den Kopf zu stellen? Tatsächlich: der ungewohnte, überraschende Blick räumt uns die Möglichkeit ein, uns in dieser Geschichte wieder zu finden und gleichzeitig hinter die Kulissen zu schauen, die wir meisterhaft auf unseren Bühnen errichtet haben. Feiere ich mit? Wer bin ich auf diesem Fest? Wie kommentiere ich das Ungewohnte, das Unerwartete? Kein Mensch geht allein verloren, kein Mensch wird allein gefunden.

Das Evangelium lässt Menschen feiern, ausgelassen und fröhlich sein.
Ich kenne viele Menschen, die Angst davor haben, ihr Leben zu verändern, denen der Mut fehlt, sich „aufzumachen“, die keine Barmherzigkeit erwarten können – und ich kenne viele Menschen, die verliebt in ihre kleine Welt keinen Traum mehr haben – und sich und anderen keinen zugestehen. Sie schlachten das Schwein für ihre – Tugend.
Die Geschichte vom verlorenen Sohn schenkt uns Worte, darüber zu reden – und barmherzig zu werden.

Übrigens: das Wort „Barmherzigkeit“ meint, hebräisch, den Mutterschoß. Wenn von Gott gesagt wird, er sei barmherzig – wird er als Mutter vorgestellt.
Ein tolles Bild für den – Vater. Am Anfang steht die Geborgenheit. In ihr wächst das Glück. Wie das Leben.

Noch einmal Grönemeyers Lied. Seine letzten Worte:
„Gib nie auf
Sei bereit fürs große Glück“
enden heute an einer langen Tafel.

Ich muss mir jetzt mein Plätzchen am Tisch suchen. Ich habe Hunger.

Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.

 

Perikope
21.06.2015
15,1-3.11b-32

KONFI-IMPULS zu Lukas 15,1-7(8-10) von Cornelius Kuttler

KONFI-IMPULS zu Lukas 15,1-7(8-10) von Cornelius Kuttler
15,1-10

Der Bibeltext und die Konfis – Perspektiven für die Predigt

Wo erleben Konfirmandinnen und Konfirmanden, dass sich jemand über sie freut? Immerhin liegt der Fluchtpunkt der Gleichnisse vom verlorenen Schaf und verlorenen Groschen in der Freude. In emotionalen Bildern leuchtet auf, wie sehr sich Gott darüber freut, wenn verlorene Menschen gefunden werden.

Es sind m. E. drei Themen, die im vorliegenden Predigttext Lebensrelevanz für Konfis aufweisen können: 1) Wer freut sich über mich 2) Für wen bin ich so wichtig, dass er sich auf die Suche nach mir machen würde 3) Was ist eigentlich ein Sünder?

1)      Konfis erleben wohl eher selten, dass sich Menschen über sie freuen. Kleine Kinder tragen den Nimbus mit sich: „Ist der/die süß“, jüngere Geschwister werden gelobt für Erfolge im Kindergarten oder der Grundschule. Ich frage mich, ob Konfis dies noch erfahren: Dass Menschen sich über sie freuen – einfach deshalb, weil es sie gibt, ohne Erfolge in der Schule oder im Sportverein aufweisen zu müssen?

Jesus erzählt dem gegenüber davon, dass Gott sich über Menschen freut. Einfach deshalb, weil sie (wieder) in seiner Nähe sind. Meiner Erfahrung nach leben Jugendliche im Konfi-Alter im Spagat zwischen der Angst vor einer allzu großen Fokussierung auf ihre Person – es wird als peinlich empfunden, im Mittelpunkt zu stehen – und der tiefen Sehnsucht nach Aufmerksamkeit.

Die Gleichnisse von Jesus könnten diese Sehnsucht nach wohltuender Aufmerksamkeit ansprechen und mit dem Themenkreis der Freude Gottes über einen Menschen in Berührung bringen: Gott freut sich darüber, uns in seiner Nähe zu haben, weil sein Herz für uns schlägt.

2)      Die Gleichnisse von Jesus sprechen Menschen eine unverlierbare Würde zu: Gott macht sich auf die Suche nach jedem Menschen, um ihn in die enge Lebensgemeinschaft mit ihm zurückzuholen. Die Frage: „Für wen bin ich wichtig?“, erlebe ich bei Konfirmandinnen und Konfirmanden als sehr präsent. Da mögen es vielleicht Anzahl und Inhalt der WhatsApp-Nachrichten sein, die über die Bedeutung des eigenen Lebens für andere Auskunft geben. Der Botschaft vom liebenden und suchenden Gott eignet eine (nicht nur für Konfis) befreiende und ermutigende Lebensrelevanz.

3)      Die Frage nach Sünde und Umkehr besitzt für Jugendliche im Konfi-Alter konkret-operationalen Charakter: Sünde ist das, was verboten und was auch objektiv als Verbrechen einzustufen ist: Höchst spannend ist für mich, wie Konfirmandinnen und Konfirmanden meiner Gruppen den biblischen Begriff des „Sünders“ in einem Konfi-Film darstellten: als Mädchen, das ein Handy klaut. Dass Sünde in biblischer Terminologie eine weit umfassendere Tiefendimension menschlicher Existenz zukommt, ist für Konfis m.E. nicht im Blick. Herausfordernd ist es darum, in der Predigt zu fokussieren, was Sünde meint.

Idee für den Gottesdienst:

Die Konfis könnten die Gleichnisse entweder in einem Film umsetzen oder – wenn dies technisch zu aufwändig ist – in einer Fotostory, die von Konfis im Gottesdienst kommentiert wird. Mein Vorschlag ist, dass die Jugendlichen die Gleichnisse nicht nur reproduzieren, sondern in eigene Lebenssituationen übertragen. Evtl. würde sich der Vorstellungsgottesdienst der Konfis als Rahmen anbieten, z. B. zum Thema „Was bin ich wert?“   

 

Perikope
21.06.2015
15,1-10

Sind wir nicht angemessene Ersatzgäste? - Predigt zu Lukas 14,15-24 von Katharina Wiefel-Jenner

Sind wir nicht angemessene Ersatzgäste? - Predigt zu Lukas 14,15-24 von Katharina Wiefel-Jenner
14,15-24

Sind wir nicht angemessene Ersatzgäste?

Einer, der mit zu Tisch saß, sprach zu Jesus: Selig ist, der das Brot isst im Reich Gottes! Er aber sprach zu ihm: Es war ein Mensch, der machte ein großes Abendmahl und lud viele dazu ein. Und er sandte seinen Knecht aus zur Stunde des Abendmahls, den Geladenen zu sagen: Kommt, denn es ist alles bereit! Und sie fingen an alle nacheinander, sich zu entschuldigen. Der erste sprach zu ihm: Ich habe einen Acker gekauft und muss hinausgehen und ihn besehen; ich bitte dich, entschuldige mich. Und der zweite sprach: Ich habe fünf Gespanne Ochsen gekauft und ich gehe jetzt hin, sie zu besehen; ich bitte dich, entschuldige mich. Und der dritte sprach: Ich habe eine Frau genommen; darum kann ich nicht kommen.

Und der Knecht kam zurück und sagte das seinem Herrn. Da wurde der Hausherr zornig und sprach zu seinem Knecht: Geh schnell hinaus auf die Straßen und Gassen der Stadt und führe die Armen, Verkrüppelten, Blinden und Lahmen herein. Und der Knecht sprach: Herr, es ist geschehen, was du befohlen hast; es ist aber noch Raum da. Und der Herr sprach zu dem Knecht: Geh hinaus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie hereinzukommen, dass mein Haus voll werde. Denn ich sage euch, dass keiner der Männer, die eingeladen waren, mein Abendmahl schmecken wird.

Hat das Mahl schon begonnen? Der Bote sagt, dass alles bereit sei. Der Tisch ist festlich gedeckt. Blumen, Kerzen, gestärkte Servietten, funkelnde Gläser, glänzendes Silber. In der Küche dampft es über den Töpfen, die Platten sind angerichtet, die Schüsseln vorbereitet. Die Gläser für den Aperitif warten auf Tabletts. Der Bote sagt, dass wir kommen sollen. „Kommt, denn es ist alles bereit!“ Wir sind eingeladen. Uns hat der Bote gesagt, dass wir kommen sollen – uns! Wir? Bisher war von uns noch nie die Rede. Aber wir sind offensichtlich gemeint.

Die uns weniger freundlich gesonnenen Kommentatoren sagen uns, dass wir nur Ersatzgäste sind. Sie erzählen uns, dass eigentlich andere kommen sollten, aber abgesagt haben. Von dem einen heißt es, dass er wegen eines größeren Vertragsabschlusses nicht kommen konnte. Irgendeine Immobiliengeschichte. Saß vielleicht noch im Flieger. Solche Leute werden ja ohnehin dauernd eingeladen. Darum würde so einer wahrscheinlich das köstliche Mahl gar nicht schätzen. Wenn sich solche Leute an einen festlich gedeckten Tisch setzen, dann haben sie immer noch ihre Geschäfte im Sinn – von Familienfeiern vielleicht abgesehen. Es heißt, er habe sich immerhin entschuldigen lassen. Gute Manieren haben sie in der Geschäftswelt – das muss man ihnen zugestehen. Doch das Fest geht bis Mitternacht, er hätte doch alle Zeit der Welt gehabt, um noch nachzukommen und mitzufeiern. Wahrscheinlich wollte er von vornherein nicht kommen. Er verachtet den Gastgeber. Auf so einen Gast kann man also verzichten und stattdessen uns einladen.

Hat das Mahl schon begonnen? Der Bote sagt, dass alles bereit sei.

Es heißt, dass noch ein anderer aus der Geschäftswelt eingeladen war und auch nicht gekommen ist. Dem Vernehmen nach war der aus der Logistikbranche und hatte noch mit der Anschaffung seiner neuen Wagenflotte zu tun. Der war vom gleichen Schlag wie der mit den Immobilien. Schade, dass das Geschäftsleben so abfärbt. Man muss echt aufpassen, dass man nicht auch so wird. Hat das Mahl schon begonnen? Der Bote sagt, dass alles bereit sei. Ein Dritter war noch eingeladen. Der hat sich nicht einmal entschuldigt. War beim Anwalt, um den Ehevertrag mit seiner künftigen Frau zu unterschreiben. Die Anwälte empfehlen das heute ja auch wieder. Hat man Vermögen, schließt man so für den Fall aller Fälle jeden Streit aus. Liebe ist gut, aber besser ist es doch, man sichert sich ab. Wer nur Verträge im Kopf hat, denkt natürlich nicht daran, sich zu entschuldigen. 

Hat das Mahl schon begonnen? Der Bote sagt, dass alles bereit sei.

Warum in aller Welt hat der Gastgeber nur diese vermögenden Geschäftsmenschen eingeladen? Hat er nicht gewusst, dass sie arrogant bis in die Haarspitzen sind? Hat er nicht geahnt, dass sie ihn höflich lächelnd abblitzen lassen? Oder hat er ihnen eine Chance gegeben, obwohl sie so sind, wie sie sind? Hat er gehofft, dass sie hinter der arroganten Fassade herzliche und interessierte Menschen sind. Er hat wohl hinter ihrem fleißigen und glatten Auftreten eine große Sehnsucht gespürt. Hat er gesehen, wie verletzlich auch die Herzen von harten Hunden sind. Unser Gastgeber muss so hoffnungsvoll gewesen sein, so unerschütterlich vertrauensvoll.

Aber es war kein Versehen von den dreien. Sie sind mit voller  Absicht weggeblieben. Sie wollten unseren Gastgeber kränken.

Hat das Mahl schon begonnen? Der Bote sagt, dass alles bereit sei.

Ob sie damit gerechnet haben? Sie haben unseren Herrn gekränkt und provoziert. Ob sie dachten, dass der sich dann eben allein hinsetzt, weint und seinen Wein alleine trinkt? Oder dachten sie, er würde es einfach so hinnehmen. Was kann man tun, wenn die Gäste einen versetzen? Sie haben ihn gekränkt und er ist zornig – mit vollem Recht.

Hat das Mahl schon begonnen? Der Bote sagt, dass alles bereit sei.

Nein, das Mahl hat noch nicht begonnen und unser Herr trinkt seinen Wein auch nicht allein. Er zeigt lieber, wie göttlicher Zorn aussieht. Auf die Schnelle werden die eingeladen, die noch nie von Meißner Porzellan gegessen haben, die nicht wissen, was Messerbänkchen sind, die noch echten Hunger kennen und deren Geschmack nicht zwischen den erlesenen Weinen unterscheiden kann. So etwas passiert, wenn man den Herrn des Lebens kränken will. Das Kostbarste der Erde wird denen aufgetischt, denen bisher das Glück des Lebens vorenthalten wurde. Der Zorn richtet sich nicht gegen die, die ihn verdient hätten. Der Zorn verwandelt sich in Reichtum für die Armen, in Liebe für die Übersehenen, in Tapferkeit für die Ängstlichen, in Erfolg für die Verlorenen, in Hoffnung für die Trostlosen, in Tanzen für die Trauernden, in Glück, einfach nur Glück. Der Festsaal wird beben vom Jubel. Er wird von Lebensenergie bersten. Mit seinem Zorn schafft der verachtete Gastgeber pure Freude bei denen, die bisher kaum Freude kannten.

Hat das Mahl schon begonnen? Der Bote sagt, dass alles bereit sei. Wir wollen da auch hin, wo der göttliche Zorn eine Welle puren Glücks auslöst. Wir wollen da auch hin, wo wir trotz Erdenschwere in den Himmel tanzen, wo sich die Lebenslust nicht schämen muss, wo wir nicht mehr sein müssen als wir sind, wo es egal ist, wo wir herkommen, welche Sprache wir sprechen, wer wir sind. Wir wollen da auch hin und wir bringen auch unsere Vorfreude mit. Wir bringen unsere Hoffnung mit, unserem Herrn endlich alle Fragen stellen zu können, die uns bisher gequält haben. Wir bringen unsere Wehmut über die verlorene Zeit mit. Wir bringen unsere Schuld mit. Wir bringen unsere Sehnsucht nach Frieden mit. Sind wir nicht angemessene Ersatzgäste? Passen wir nicht gut zu denen, die bisher nur Hunger kannten? Wir kommen. Sag Bescheid, Bote, sag Bescheid, wir kommen so schnell es geht.

Hat das Mahl schon begonnen? Nein, es hat noch nicht begonnen. Der Bote ist noch unterwegs. Auf den Straßen, in Zügen, auf Plätzen, in Foren und Netzwerken, an den Raststätten, Flughäfen, Lagern, auf den Schiffen übers Mittelmeer, im Jobcenter, unter den Brücken. Der Bote muss noch weiter.

Bevor die Sonne untergeht wird unser Herr das Mahl nicht beginnen lassen. Solange können wir mit dem Boten zusammen unterwegs sein. Zwischendurch müssen wir uns noch stärken. Brot und Wein haben wir dabei. Wenn die Sonne untergeht, werden wir rechtzeitig an Ort und Stelle sein. Sicherheitshalber achten wir auf den Boten und hören, auf ihn. Wenn er dann sagt: Kommt, es ist alles bereit, dann werden wir mit ihm bei seinem und unserem Herrn ankommen und essen, trinken, tanzen, jubeln.

Amen.

 

Perikope
14.06.2015
14,15-24