Predigt zu Lukas 9,57-62 von Eugen Manser
Liebe Gemeinde,
bei diesen Jesusworten kann einem Angst und Bange werden! Wir leben und fühlen ganz anders, als Jesus es hier verlangt:
Wir leben in festen Häusern und wissen die Gemütlichkeit unserer vier wände zu schätzen. Wir erhalten die Kirchen und versuchen so dem Glauben ein Obdach zu geben.
Er dagegen warnt den Nachfolgewilligen, der mit ihm leben will: "Gib acht! Mein Geschick teilen, das heißt auch, Heimatlosigkeit auf sich nehmen."
Wir haben Freunde und Verwandte. Sie sind ein Teil unseres Lebens. Mit ihnen teilen wir unser Leben und so gehören sie auch zu uns selbst.
ER sagt zu denen, die mit ihm gehen wollen: "Wer Rücksicht nimmt auf seine verwandtschaftlichen Bindungen, der wird nie frei für Gott." Und schließlich das harte Wort: "Lass die Toten ihre Toten begraben - du aber gehe hin und verkündige das Reich Gottes!"
Manche sagen. Dieser schroffe Ernst der Nachfolge, von dem Jesus hier spricht, gelte gar nicht für alle Christen. Jesus meine hier nur die besonders Berufenen, die sich so wie er heimatlos und bindungslos auf den Weg machen: Mönche etwa und Nonnen oder solche Einzelgestalten wie Franziskus oder Mutter Teresa.
Für uns andere gelten eher solche Jesusworte wie: "Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken."
Es ist wahr, schon in der ältesten Christengemeinde hat es zwei verschiedene Gruppen von Jesusanhängern gegeben: Da gab es ein paar wenige Wanderprediger, die wirklich ohne Beutel und Tasche durchs Land zogen, nie länger als drei Tage irgendwo zu Gast blieben, allein von der Güte Gottes lebten und von seinem kommenden Reich predigten. Dann gab es aber auch die anderen, die diese Verkünder aufgenommen und bewirtet haben. Auch Jesus selbst ist ja bei solchen zu Gast gewesen, die Haus, Hof und Familie hatten - und auch behielten. Auch der radikalste Prophet muss einmal essen - sollte er die verdammen, die ihm etwas geben, weil sie nicht wie er aufgebrochen sind, sondern Familie und Haus behalten haben?
Ob das immer so geblieben ist - bis heute? Dass es unter den Christen ein paar wenige gibt, die alle Bindungen um des Reiches Gottes willen abgebrochen haben - die NACHFOLGER. Und dann die anderen, die meisten, die die Nachfolger bewundern und verehren, die sie auch unterstützen aber in ihren Bindungen bleiben - die SYMPATHISANTEN.?
Schnell sage ich mir dann im Blick auf meine Umstände: also ich bin ein Sympathisant. Auf mich treffen diese harten Worte Jesu nicht zu. Die gelten den Nachfolgern.
Diese Teilung der Christen in diese zwei Gruppen ist in unserem Bewußtsein tief verwurzelt. Wir haben uns daran gewöhnt, zu unterscheiden zwischen solchen, die eben irgendwie besonders berufen sind, die die Sache Gottes also zu ihrem Beruf gemacht haben, und den anderen - den meisten - die das alles wohlwollend unterstützen, aber nicht aus ihren Bindungen an Haus, Familie und Besitz aufbrechen.
Ich denke, mit dieser Zweiteilung machen wir es uns zu einfach. Denn jeder Mensch, der einmal in seinem Leben Jesus begegnet ist, steht vor einer eigenen Entscheidung. Und wenn wir uns allzu schnell zu den nicht besonders Berufenen zählen, gehen wir der Anrede Jesu aus dem Weg - sind wir eigentlich Ignoranten, solche, die absichtlich nicht so dicht in seine Nähe kommen wollen.
Ich möchte mir deshalb ein Herz fassen, und mit Ihnen die drei kurzen, schwerwiegenden Wortwechsel, die Jesus mit drei verschiedenen Menschen hat, betrachten; es sind drei unterschiedliche Personen, und jede steht allein vor Jesus. Alle drei Gespräche gehen offen aus. Der Leser oder Hörer ist gefragt: "Und du?"
Der erste sagt:
"Ich will dir folgen, wo du hingehst!"
Ein Begeisterter, ein Fan würden wir sagen. Er war gewiss ein junger Mann. Fasziniert von diesem Jesus, der frei ist von allen Bindungen (und vielleicht auch von allen Verpflichtungen!), der um sich diesen Geruch von Weite und Freiheit verbreitet... Spontan gibt dieser Begeisterte eine Blanko- Bereitschaftserklärung ab: "Ich komme mit, wo du auch hingehst!"
Aber merkwürdig: Jesus scheint sich gar nicht über diese Begeisterung zu freuen. Er ist eher skeptisch. Er weist den Begeisterten darauf hin, welchen Preis die Freiheit hat: "Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester. Der Menschensohn aber hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen könnte." Willst du wirklich mein Geschick teilen? Wer bei Gott seine Heimat sucht, dem wird die ganze Welt zur Heimat; aber ein festes Zuhause, ein Nest, hat er dann nicht mehr. Freiheit wird immer mit Verzicht erkauft. Es geht hier um das Loslassenkönnen der vielen bunten Dinge, die das Leben so angenehm - aber eben unfrei machen. "Die Arme der schönen Konsuma wirst du schon verlassen müssen, wenn du die herrliche Freiheit der Kinder Gottes erleben willst."
Dies sagt Jesus dem Begeisterten. Es kann sein, dass er es auch mir sagt, weil für mich hier der Punkt ist, an dem mein Leben stehengeblieben ist, wo ich schon seit Jahren auf der Stelle trete.
Nun redet Jesus einen anderen an: "Folge du mir nach!"
Der Angeredete hat etwas Schwerwiegendes einzuwenden: "Erlaube mir, daß ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe."
Darauf das harte Wort: "Lass die Toten ihre Toten begraben - du aber gehe hin und verkünde das Reich Gottes!"
Dazu muss man wissen: Im Orient wurden und werden die Toten noch
am Todestag begraben wegen der Hitze. Es ist unwahrscheinlich,
dass dieser Sohn am Sterbetag seines Vaters ein Stück mit Jesus geht.
Man muss deshalb annehmen, dass der Vater noch lebt.
Dann klingt das Jesuswort anders: Der junge Mann scheut die Ablösung von seinen Eltern und findet so nie seinen eigenen Lebensweg. Wie oft schieben wir die Rücksicht auf andere vor?
So wie jene Frau, die mir sagte: "Ich käme gern zum Gottesdienst. Aber mein Mann - er ist krank - er hadert mit Gott, er lässt mich nicht weg. Wenn er einmal nicht mehr ist, komme ich." Der Mann starb kurz darauf. Die Frau kam nicht.
Wie oft schieben wir Menschen, mit denen wir zusammenleben vor, die uns angeblich daran hindern das zu tun, was wir als unsere Bestimmung erkannt haben?
Es kann sein, dass Jesus mir sagt: Lass deine Klage über Menschen, die dich angeblich daran hindern zu tun, was du als deinen Weg erkannt hast!
Dann bittet ein Dritter: "Ich will dir nachfolgen, aber erlaube mir zuvor, dass ich einen Abschied mache mit denen, die in meinem Hause wohnen."
Wenn wir in unserem Leben einen neuen Weg einschlagen, dann bleibt Abschiednehmen niemandem erspart. Jeder kennt den Trennungsschmerz. Aber man kann so und so Abschied nehmen: -mit dem Blick auf das Neue, das vor einem liegt - oder mit einem Blick zurück, der uns hindert, das Neue zu sehen.
Jesus sagt: "Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht tauglich für das Reich Gottes."
Es kann sein, dass Jesus das auch mir sagt: Wenn du dich nicht von deiner Vergangenheit losreißen kannst, wirst du die Zukunft nicht meistern.
Liebe Gemeinde, dieser Text ist wohl doch nicht nur für ein paar Besondere unter den Christen gemeint. Es gibt so viele Nachfolgegeschichten, wie es Menschen gibt, die Jesus begegnet sind.
Entscheidend ist auch nicht, ob wir zu den Radikalen gehören oder zu den Gemäßigten, entscheidend ist, ob wir uns bewegen lassen.
Man spürt es einem Menschen sehr wohl ab, ob er nur von sich selbst bewegt ist, oder ob er bewegt ist vom Zug in das Reich Gottes. Menschen, die sich von Jesus bewegen lassen, erkennt man daran, dass sie lebendiger sind als andere - wie schwingende Saiten auf einem Instrument, die andere Saiten anregen zum Mitschwingen.
Dass wir dahin kommen, wünsche ich uns - denn dann haben wir Jesus gehört und sind auf dem Weg in das Leben.
Amen.
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Ich will dir folgen - Predigt zu Lukas 9,57-62 von Michael Nitzke
Ich will dir folgen
57 Und als sie auf dem Wege waren, sprach einer zu ihm: Ich will dir folgen, wohin du gehst. 58 Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.
59 Und er sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. 60 Aber Jesus sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!
61 Und ein andrer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Haus sind. 62 Jesus aber sprach zu ihm: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.
Liebe Gemeinde,
manchmal nehmen wir den Mund zu voll, dafür sind wir aber oft um eine Ausrede nicht verlegen. Alltägliche Situationen. Auf der einen Seite, höre ich mich sagen: "Ich bin bereit, mich voll und ganz in die Sache reinzuhängen!" und auf der anderen Seite spreche ich viel zu schnell, die Worte: "Im Moment ist es gerade schlecht, aber ein anderes Mal,... jeder Zeit gerne!"
Wie so oft hat sich scheinbar seit den Zeiten der Bibel nicht viel geändert. Und gerade deshalb hat es einen Wert, einmal genau zu fragen, was damals dahinter stand.
Es sind drei kleine Dialoge, wir dürfen da drei Menschen lauschen, und gewinnen einen Einblick nicht nur in diese drei Seelen, sondern erfahren auch etwas über uns selbst.
Die Nachricht hat sich herumgesprochen, da zieht jemand von Dorf zu Dorf, und rüttelt die Menschen auf. Er bringt eine heilsame Unruhe, in das gewohnte Leben der Menschen. Sein Wort hat Kraft, es kann etwas verändern, wer möchte da nicht bei sein. Und auf einmal steht er da, in diesem Dorf, wo sonst nichts passiert. Er ist einfach da, mit seinen Leuten, die im auf Schritt und Tritt folgen. Wie schön wäre es, einfach mit ihnen zu gehen, dabei zu sein, wenn etwas Großes passiert.
Solche Gedanken, mögen dem Mann durch den Kopf gegangen sein, als der allen Mut zusammen nimmt, und zu Jesus sagt: Ich will dir folgen, wohin du gehst. Und wahrscheinlich hat er auch erwartet, dass er mit offenen Armen aufgenommen wird. Jede neue Bewegung ist doch dankbar für Unterstützer. Und wenn sich etwas Großes ereignet, dann werden alle Hände gebraucht.
Und dann die Reaktion des großen Mannes, dem er nacheifern wollte: »Die Füchse haben ihren Bau und die Vögel ihr Nest; aber der Menschensohn hat keinen Platz, wo er sich hinlegen und ausruhen kann.« (GNB). Man mag sich vorstellen, was in dem Mann vorgegangen ist, als er die Antwort hört. Ein Leben ohne Dach über dem Kopf, kann ich das? Angewiesen sein auf Leute, die mir gnädigerweise einen Platz zum Schlafen geben. Heimatlos, ohne einen Ort, wo ich sicher bin, wo ich auch einfach mal für mich sein kann um abzuschalten? Er hätte es ahnen können. Aber damit hat er nicht gerechnet. Hat er den Mund zu voll genommen? Kann er nicht halten, was er sich vorgenommen hat? Wir wissen es nicht. Vielleicht ist er ja sogar einer von den zweiundsiebzig Jüngern geworden, die Jesus nach diesen Begegnungen ausgeschickt hat, um seine gute Nachricht weiterzutragen. Aber zunächst hat er mit seinem vollmundigen Auftreten, seine eigenen Grenzen erfahren.
Da hört er die Worte die Jesus spricht: Folge mir nach! Aber dieser Ruf gilt nicht ihm, sondern einem anderen. Der wird eingeladen zum großen Abenteuer und nicht erst mit großer Geste abgewiesen. Hat der ein Glück, der arme Kerl hat seinen Vater verloren. Er will ihn vorher ordentlich unter die Erde bringen. Das gebieten nicht nur Sitte und Anstand. Das ist auch ein Ausdruck der Liebe zum Vater, der ihm alles gegeben hat. Und nicht zuletzt ist es auch eine Pflicht, die das religiöse Gesetz auferlegt. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit! Wie kann Jesus so einfach darüber hinweggehen? Nimmt er den armen Kerl nicht ernst? Er will doch mit, er wehrt sich doch gar nicht. Und dann hört er so etwas: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!
Was ist das für ein Reich, das Jesus verkündet, wenn nicht einmal die einfachsten Selbstverständlichkeiten von ihm respektiert werden?
Schon springt ein anderer in die Bresche und drängt sich Jesus geradezu auf. Er spricht fast ohne Punkt und Komma, vielleicht glaubt er dadurch, eine Antwort, wie sie die anderen erhalten haben, zu vermeiden. Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Haus sind.
Das ist doch wohl nicht zu viel verlangt, denkt er vielleicht. Das geht doch schnell. So viel Zeit muss doch sein. Dass gebietet doch schon allein die Höflichkeit. Jesus spricht zu ihm in Bildern, wie man es von ihm kennt: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.
Nicht geschickt für das Reich Gottes! Ich bin sogar sehr geschickt. Ich bin so geschickt, ich kann Dinge, die mancher nicht für möglich hält. Und ich weiß, was sich gehört. Hat denn nicht Mose verkündigt, dass ich meinen Vater und meine Mutter ehren solle? Was gilt den nun im Reich Gottes?
Drei Menschen, von denen damals erzählt wird. Drei Lebensbilder entstehen vor unserem inneren Auge, in die auch unsere Gedanken einfließen. Was verbindet diese drei Menschen? Wir wissen nicht, wie sie sich entschieden haben. Und vielleicht wird das auch deshalb nicht in der Bibel erzählt, damit wir uns in unserem Urteil nicht von ihrer Entscheidung beeinflussen lassen, wenn wir nachdenken, wie wir uns verhalten würden.
Sind wir bereit, für den Glauben an Jesus Christus alles aufzugeben? Da ist das Dach über dem Kopf nur ein Symbol für viele andere Dinge, auf die wir verzichten müssten, und die uns doch so viel Sicherheit geben. Bei Jesus gibt es keine Besitzstandswahrung. Nichts, was irdisch ist, hat bei ihm Bestand. Kann ich alles zurücklassen, was mir einmal wichtig war? Andererseits, wenn ich nicht mal bereit bin, zur Not unter freiem Himmel zu schlafen, wie kann Jesus dann wissen, ob ich bereit bin, seinem Wort zu folgen. Und das hieß doch: Tut Buße, kehrt um, ändert eure Sinne und glaubt an das Evangelium! (nach Mk 1,14).
Bin ich wirklich bereit, mich zu ändern? Oder suche ich nur ein Abenteuer, etwas Abwechslung. Ein bisschen in eine andere Kultur hinein schnuppern. Oder wie man so sagt: "Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!"
Aber wenn ich wirklich bereit bin, in seinem Sinne zu leben, warum soll ich dann meine Familie vor den Kopf stoßen? Warum nicht dem Vater die letzte Ehre erweisen, oder der Mutter Lebewohl sagen?
Natürlich weiß auch Jesus, was sich gehört. Auch er nimmt Abschied von seiner Mutter, als er am Kreuz den Tod schon am eigenen Leid spürte. Er ordnet auch ihre Verhältnisse, und vertraut sie einem Jünger an, dem er vertraut, der sie versorgen und nicht zuletzt seelisch begleiten soll: Siehe, das ist dein Sohn! - Siehe, das ist deine Mutter! (Joh 19,26f)
Aber Jesus testet die Bereitschaft dieser Menschen, im Ernstfall alles stehen zu lassen. Und dazu kommt, dass er genau weiß, dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Und wenn er sagt: "Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!", dann kann ich das auch noch anders verstehen: Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? (Lk 24,5) Das waren die Worte der Engel am leeren Grab, als Jesus schon auferstanden war. Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Bezeugt euren trauernden Familienmitgliedern, dass der Tod ein Schritt zum neuen Leben ist. Du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes! Verkündige, dass die frohe Botschaft des Menschensohnes eine Botschaft des Lebens ist. Lasst euch nicht von der Trauer lähmen, so dass ihr selbst wie tot erscheint. Lasst Euch durch Gottes Wort neues Leben schenken, dann werdet ihr auch Eure Toten nicht begraben wie die Toten, sondern ihr werdet sie voller Vertrauen in Gottes Obhut wissen. Ihr werdet wieder Mut zu neuem Leben finden. Zu einem Leben, wie es sich Jesus Christus für euch wünscht. Offen für das, was Gott euch gibt. Offen für die Wege, die er euch eröffnet. Offen für die Liebe, die er euch schenkt.
Diese kleine Episode hat in der Lutherbibel die Überschrift: "Vom Ernst der Nachfolge!"
In unserer Spaßgesellschaft sind wir es kaum noch gewohnt, von Ernst zu reden. Wenig wird überhaupt in unserer Zeit noch ernst genommen. Für viele ist das eine Möglichkeit, die ernsten Dinge zu verdrängen, um überhaupt noch Spaß am Leben zu haben. Aber wenn die Lebensfreude so verblasst ist, dann ist auch schon ernsthaft etwas schief gelaufen. Es gilt, sich dem Leben zu öffnen, und nicht davor wegzulaufen. Wer Jesus nur nachfolgen will, um vor etwas anderem zu fliehen, der ist auf dem falschen Weg.
Die Nachfolge Jesus Christi ist weder der Notausgang vor den ernsten Dingen des Lebens, noch ein Abenteuer nur so zum Spaß! Nachfolge Jesus bedeutet für mich heute, einen Lebensweg zu gehen, auf dem Jesus ohne Bedenken mitgehen könnte. Dieser Weg muss nicht durchgehend traurig sein, aber der Ernst des Lebens kommt schneller als man denkt!
Einen solchen Weg ist Dietrich Bonhoeffer gegangen. Als Sohn aus gutem Hause ist er behütet aufgewachsen und die Welt stand ihm offen. Als Christ sah er, welch schlimmen Weg sein Vaterland nahm.
Nach der Machtergreifung 1933 konnte jedes freie Wort das Leben kosten. Bonhoeffer unterrichte wenige Jahre später noch angehende Pfarrer und stand damit schon in der Illegalität. Eine seiner wesentlichen Vorlesungen hatte den Titel "Nachfolge". Darin kommt auch unsere Geschichte vor. Bonhoeffer erklärt den jungen Theologen, was dieser Ruf Jesu in die Nachfolge bedeutet: "Wen er rief, dem war damit gesagt, dass für ihn nur noch eine einzige Möglichkeit des Glaubens an Jesus besteht, nämlich die, dass er alles verlässt und mit dem menschgewordenen Sohn Gottes geht.
Mit dem ersten Schritt ist der Nachfolgende in die Situation gestellt, glauben zu können. Folgt er nicht, bleibt er zurück, so lernt er nicht glauben."1
Bonhoeffer sollte noch die Wahrheit seiner eigenen Worte besonders erfahren. Er kämpfte für den Glauben. Als dann aber seine mögliche Einberufung zum Militär bevorstand, kam es ihm recht, dass Freunde ihn nach Amerika einluden, dort an einem angesehenen Seminar in New York zu unterrichten. Er nahm die Einladung an und fuhr ins sichere Amerika. Doch dort war er hin und hergerissen, welchen Weg er gehen sollte. Nach langem Nachdenken, ging er den Broadway hinab und betrat in einer Seitenstraße eine Kirche. Dort hörte er einen Prediger, der davon sprach, dass der Mensch Christus ähnlich werden solle, und dass er untadelig sein solle, wie Christus selbst.2 Der tiefe Glaube, der aus diesen Worten sprach hat ihn bewegt. Wenige Tage später, kehrte er zurück nach Deutschland.
Nun spürte er, was er selbst seinen Studenten sagte. Die Nachfolge-Vorlesung hatte als Buch inzwischen viele Menschen in der Kirche bewegt. Bonhoeffer schrieb darin, wie wertvoll das ist, was Christus uns gibt. Die Gnade, die er schenkt, ist keine billige Gnade. Er schreibt: "Billige Gnade ist Predigt der Vergebung ohne Buße, [...] ist Abendmahl ohne Bekenntnis der Sünden, [...]. Billige Gnade ist Gnade ohne Nachfolge, Gnade ohne Kreuz, Gnade ohne den lebendigen, menschgewordenen Jesus Christus. [...] Teuer ist die Gnade vor allem darum, weil sie Gott teuer gewesen ist, weil sie Gott das Leben seines Sohnes gekostet hat [...], und weil uns nicht billig sein kann, was Gott teuer ist." 3
Bonhoeffer wusste, dass es etwas kostet, dem Weg Jesu zu folgen. Für ihn kostete es schließlich das Leben. Aber uns allen hat er damit gezeigt, was es heißt, ein aufrechter Mensch zu sein.
Nachfolge Jesu Christi heißt nicht genaue Nachahmung seines Weges. Auch der Weg Bonhoeffers kann nicht der Weg jedes Christen sein. Wir müssen alle unser Kreuz auf uns nehmen. (Lk 9,23) Aber auch wirklich unser Kreuz, nicht sein Kreuz oder das eines derer, die ihm gefolgt sind. Wir müssen erkennen, was von uns ganz persönlich gefordert ist, wie wir die besonderen Aufgaben lösen, die uns individuell gestellt sind, und was wir in dieser Situation dazu beitragen können, in der Welt das Licht Jesus Christi zum Leuchten zu bringen.
Und Jesus hilft uns bei diesem Weg. Er hilft uns mit seinen eigenen Worten, die uns doch oft so fremd erschienen. 62 Jesus aber sprach zu ihm: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.
So ein antiker Pflug ist heute vielen fremd. Aber beim Pflügen kommt es darauf an, eine gerade Linie zu ziehen, um den Platz auf dem Feld auszunutzen, damit viel Getreide darauf wachsen kann. Bei dieser Arbeit kann man sich nicht umdrehen, dann wird unweigerlich die Furche krumm und schief. Genauso wenig hilft es nicht, nur in die Ferne zu schauen. Beim Flügen, muss ich nur den kleinen Bereich vor meinen Füßen im Blick haben, dann wird sich eine gezogene Linie harmonisch an die andere anfügen.
Im übertragenen Sinne heißt das für mich: Wenn ich dem Weg Jesu folge, darf ich nicht zurückschauen, ich darf mich nicht an die Vergangenheit klammern und ihr nachtrauern. Ich darf aber auch nicht das erblicken wollen, was ich noch gar nicht sehen kann. Ich darf nicht zu weit nach vorn schauen, das heißt, ich brauche keine Angst vor der Zukunft zu haben. Wenn ich nur vor meine Füße schaue, dann kann ich Schritt für Schritt meinen Weg gehen. Und dann darf ich sicher sein, dass Jesus mich begleitet, wenn ich seinem Weg folge. So werde ich auch die Aufgaben, die am Wegesrand auf mich warten erkennen und mit seiner Hilfe bewältigen. Amen.
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Anmerkungen:
1 Dietrich Bonhoeffer Auswahl, Hg. von Christian Gremmels und Wolfgang Huber, Bd. 3. Gütersloh 2006. IV. Nachfolge, S. 125.
2 Eric Metaxas, Bonhoeffer, Holzgerlingen 2011, S. 412f.
3 Nachfolge, S. 111.
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Predigt zu Lukas 9,57-62 von Elisabet Mester
Liebe Gemeinde,
es ist schon über fünfzig Jahre her, da landete ein eher unscheinbares fünfzehnjähriges Mädchen aus England einen Super-Hit in den Charts. Sie hieß Peggy March und trat auf mit dem romantischen Liebeslied „I will follow him“. „Ich werde ihm folgen“, so sang sie über ihren Geliebten, „egal, wohin er geht. Immer werde ich bei ihm sein, nichts kann mich von ihm trennen – er ist mein Schicksal. Seit er mein Herz berührt hat, weiß ich, dass kein Ozean zu tief ist, um mich von ihm zu trennen, und kein Berg zu hoch. Nichts kann mich von seiner Liebe entfernen. Ich liebe ihn“.
„I will follow him“ - wer diesen Hit damals verpasst hat, fand aber ganz bestimmt später noch die Gelegenheit, ihn kennenzulernen: In dem Film „Sister Act“. Da begegnet uns eine Sängerin, die sich verstecken muss, weil man ihr nach dem Leben trachtet. Der Polizeileutnant, der ihr Leben retten will, gibt sie als Schwester Mary Clarence aus und bringt sie in einem Kloster unter. Und so erleben wir Whoopy Goldberg – sie spielt die Sängerin mit viel Talent und Freude – wie sie sich – mehr oder weniger vorbildhaft - als Nonne bewährt. Sie wird von der Mutter Oberin dazu genötigt, in dem Chor der kleinen Ordensgemeinschaft mitzusingen. Dieser Chor, das kann man ehrlich sagen – sticht hauptsächlich dadurch hervor, dass er überhaupt nicht singen kann. Sister Mary Clarence bringt dieses Vokalensemble allerdings bald so weit, dass es Großartiges leistet und es dementsprechend auch zu großer Bekanntheit bringt. Im Mittelpunkt des Films steht ein Konzert mit dem Lied „I will follow him“ - diesmal aber ist es eine Liebeserklärung an Jesus Christus. Atemberaubend schön gesungen, mitreißend vorgetragen und richtig ins Herz gehend wird der Song der Nonnen in „Sister Act“ so gegeben, dass er wirklich missionarisch wirkt. Wer den Chor der Ordensschwestern hört und sieht, bekommt unwillkürlich Lust, selbst auch so eine Liebeserklärung abzugeben – an Jesus, und ihm zu sagen: Dir will ich nachfolgen. Nichts soll mich noch von dir trennen.
Natürlich pflügt Sister Mary Clarence alias Woopy Goldberg das ziemlich konservativ und altbacken daherkommende, eingefahrene Ordensleben in der Kommunität auch gründlich um, und das ist die zweite Freude, die man empfindet, wenn man den Film sieht: Wie da verkrustete Strukturen aufgebrochen werden, damit etwas Neues entstehen kann. Wer das wahrnimmt, bekommt selber unwillkürlich jede Menge Lust auf Neues.
Umpflügen: Den Boden urbar machen. Die Scholle umbrechen und für eine gute Saat vorbereiten – das ist ein starkes Bild. Der Pflug ist ein Symbol für Leben, und das zu Recht. Tatsächlich kann die Menschheitsgeschichte uns lehren, dass Pflüge auf die Dauer gesehen wesentlich mehr auszurichten vermögen als Waffen.
Unsere Vorfahren, die das Land hier unter den Pflug genommen hatten und es bestellten, fürchteten sich vor den Überfällen nicht sesshafter Völker, die immer wieder in großen Reiterhorden vordrangen und in kurzer Zeit große Gebiete eroberten. Die Hunnen, die Magyaren, die Mongolen – sie errichteten in blitzartiger Geschwindigkeit große Herrschaftsgebiete – Reiche, die auch bald wieder untergingen. Denn wer das Land auf die Dauer besitzen wollte, musste es eben doch bestellen und bewahren, und das taten nur die Bauersleute. Die Familien, die auf ihrem Land lebten und dort die Äcker beackerten – sie blieben auf ihrer Scholle und bewiesen damit: Der Pflug ist stärker als das Schwert.
Das Römische Imperium – das bisher langlebigste aller Weltreiche – es war ursprünglich ein Land von freien Bauern. Sie gewannen ganz Italien, indem sie Landwirtschaft betrieben: den Boden umpflügten und bestellten. Diese freien Bauern waren auch bereit, ihr Land zu verteidigen und zu den Waffen zu greifen, wenn es sein musste. War der Krieg vorüber, kehrten sie auf ihre angestammte Scholle zurück. Als den römischen Bauern schließlich ihre Freiheit genommen und die Kriege dann mit Söldnerheeren geführt wurden, ging das Reich der Römer bald darauf unter. Das Land aber war und blieb bei denen, die es urbar machten, indem sie es bebauten und bewahrten.
(Bild: s http://www.gral.de/aktuell/pflug_ade im Abschnitt "Pfluglose Landwirtschaft?")
Ich habe Ihnen ein kleines Bild mitgebracht, auf dem Sie zwei Möglichkeiten sehen, den Boden für die Aussaat vorzubereiten: Die Bäuerin links arbeitet – so war es vorher üblich gewesen - mit einem Grabstock, die rechts von ihr – ganz fortschrittlich – schon mit dem Pflug. Das erste dieser neuen Geräte war so etwas wie eine Hacke, die man hinter sich herzog, um damit eine Furche zu ziehen. Zur Zeit der Römer wurden die Pflüge schon von einem Gespann Ochsen übers Feld gezogen. Die Bäuerin führte die Tiere und ging, die Pflugschar haltend, hinter ihnen her. Sie sorgte dafür, dass die Spur gerade blieb, damit die Saat gleichmäßig ausgebracht und das Feld ohne Verluste bestellt werden konnte. Die Pflugschar ist bsi heute das wichtigste Ackergerät und deshalb auch ein Symbol für die ganze Landwirtschaft.
Wir können uns aber auch vorstellen, dass so ein Pflug durch den Humus unserer Seele geführt wird und da manches auflockert, einiges umwendet und so dafür sorgt, dass eine gute Saat in unserem Innern aufgehen und gedeihen kann. Manches ist dort vielleicht auch schon etwas trocken, altbacken und konservativ geworden, und es gibt auf dem Boden unseres Gemüts bestimmt Bereiche, die einmal aufgelockert und bearbeitet werden könnten. Solch ein Pflug kann dafür sorgen, dass vieles bearbeitet und durchdrungen, einiges womöglich sogar umgewälzt wird – eine spannende Sache.
Auf dem Bild sehen wir die Bäuerin, die den Pflug durch ihren Boden zieht, um da eine Furche zu ziehen, wo sie später ihren Weizen aussäen will. Sie schaut nach vorn und geht konzentriert voran, vom einen Ende ihres Ackers bis zum anderen. Wenn sie am Feldrain angekommen ist, wird sie die Pflugschar aus der Erde nehmen und daneben wieder neu einsetzen, um an der Seite der bereits gezogenen Spur zurück zu gehen, wieder eine neue Rinne ziehend – so lange, bis sie ihr ganzes Feld für die Aussaat im Frühjahr vorbereitet hat. Sie schaut nach vorn und setzt dabei einen Fuß vor den anderen. Umgucken wird sie sich nicht, denn das wäre dumm. Ob sie ihre Spur schief oder gerade gezogen, das wird sie ohnehin erkennen, wenn sie an der Ackergrenze angekommen ist und wieder wenden muss. Wenn sie jetzt, mitten auf dem Weg, über die Schulter nach hinten schaute, während sie doch nach vorne geht, würde dadurch nur eins passieren: Spätestens dann müsste es garantiert krumm und schief werden. Die Bäuerin richtet ihre Aufmerksamkeit nach vorn, genau wie ihren Schritt, geht immer weiter geradeaus und zieht ihr Ding durch – ob der Boden nun gerade hart und trocken oder weich und nass ist, ob da Steine im Weg liegen oder Grasbüschel vor ihren Füßen wachsen – immer voran.
Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes, sagt Jesus. Leb' aufmerksam und unabgelenkt, lebe intensiv in der Gegenwart, das schwingt da mit. Wenn du dich gedanklich nur in der Vergangenheit aufhältst und ständig Rückschau hältst auf das, was gewesen ist – das, was du schon gemacht und geschafft hast, dann kommst du ins Schlingern und Schwanken, dann bist du nicht bei der Sache, und dann wird das, was du tust, auf jeden Fall uneben und ungleichmäßig werden.
Wer sich für das entscheidet, was wir in der Kirche „Nachfolge“ nennen, wer ein Leben als Christ oder Christin führen will, der sagt am besten fröhlich „I will follow him“ und eiert nicht ständig hin und her zwischen dem, was war, und dem, was ist.
In dem Evangelium nach Lukas, das wir gehört haben, begegnen uns nun aber drei Menschen, die „I will follow him“ sagen – und doch kommen sie bei Jesus nicht an. Es lohnt sich, einmal darüber nachzudenken und zu schauen, warum das hier so ist.
„Ich will dir folgen, wohin du gehst“, sagt der erste ganz begierig. Mit Feuereifer will er sich in das hineinstürzen, was er bei Jesus wahrgenommen und erlebt hat. Es ist faszinierend und neu. Es ist etwas besonderes und lockt ihn. Jesus braucht aber anscheinend keine hitzig Begeisterten. Er gießt dem Mann Wasser in den Wein und sagt: Du weißt nicht, worauf du dich einlassen willst. Wir wissen morgens nicht, was wir abends zu essen bekommen, und ein Dach über dem Kopf haben wir auch nicht. Den Vögeln und den Füchsen geht es besser als uns. Willst du da wirklich mitmachen?
Wer einen Bauern pflügen sieht – mit einem Gespann Ochsen oder mit der Hand – der mag das romantisch finden. Wer selber saubere, gerade Furchen für die Saat des Reichs Gottes ziehen will, braucht dazu aber eher Achtsamkeit, Wirklichkeitssinn und Willenskraft als träumerische Schwärmereien und Flausen im Kopf.
Der zweite will sich auf jeden Fall Jesus und seinen Jüngern anschließen – sagt er. Auf jeden Fall. Nur etwas – nur eine Sache muss er vorher noch erledigen. Seinen Vater beerdigen. Dieser Kandidat hier ist anscheinend nicht so ein draufgängerischer Abenteurer wie sein Vorgänger, sondern eher der verantwortungsbewusste, vielleicht sogar pflichtbewusste Familienmensch. „Lass die Toten ihre Toten begraben“, ruft Jesus ihm zu.
Wie sollen wir diese scharfe Antwort verstehen? Ich habe nur eine Erklärung dafür, und die heißt: Der Vater ist noch gar nicht gestorben. Er ist vielleicht gerade krank. Oder womöglich schon recht alt. Und es könnte sein, dass er demnächst abscheiden wird. Unter Umständen. Möglicherweise. Vorher will und kann der Sohn aber nicht aus dem Haus gehen – meint er.
Es gibt Menschen, die stecken voller Verhinderungsgründe. Sie möchten dies und wollen das, kommen aber am Ende nie dazu, weil ihnen immer irgendetwas dazwischenkommt. Dass sie selbst es sind, die sich ständig selbst Steine in den Weg legen, das sehen diese Leute nicht. Aber wie soll einer pflügen und den Boden vorbereiten für die Saat Gottes, wenn er immer „nur noch dies“ und „nur noch das“ tun will, bevor er endlich anfängt? Er wird nie damit anfangen. Das ist die traurige Wahrheit.
Der dritte Kandidat, der hier „I will follow him“ sagt, möchte sich noch eben schnell verabschieden und dann mitkommen. Seiner Familie Ade sagen, und den alten Freunden, dem Dorf, in dem er aufgewachsen ist, und seinem alten Leben. Das macht man ja auch nicht mal eben so, dass man sich einem Wanderprediger anschließt, um mit ihm und seinen Freunden durchs Land zu ziehen. „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück“, sagt Jesus zu ihm, „der ist nicht geschickt für das Reich Gottes“. Vergangenes Revue passieren zu lassen, nostalgische Rückschau auf ein bisher gelebtes Leben zu halten – das passt nicht zu Jesus und seiner Mission. Wer ihm nachfolgen will, sollte nicht Vergangenes vor seinem inneren Auge vorbeiziehen lassen, sondern fröhlich nach vorn schauen.
„Okuli“ heißt dieser Sonntag: Augen. Und aus dem Evangelium dieses Sonntags kommt uns ein großes „Augen auf!“ entgegen. Schau an, sagt es – guck selbst und sieh: Es gibt viel zu entdecken, es gibt eine Zukunft, der wir entgegensehen und entgegengehen dürfen, zusammen mit Jesus. Denn er ist dabei und begleitet uns auf dem Weg in die neue Zeit, die er uns verheißt. Er zieht mit, ja, er zieht die Pflugschar zusammen mit uns durch den Acker.
Auf dem Bild sehen wir die Frau, die mit ihres Leibes Kraft den Pflug durch den Erdboden bewegt. Sie ackert allein. Wir können sie bestaunen und bewundern und sagen: Toll, wie die das schafft! Wir können aber auch sagen: Besser geht es wohl zu zweit. So, wie ein Paar Ochsen zusammen den Pflug über das Feld zieht. Zur Zeit von Jesus war das schon so üblich. Man ackerte mit einem Gespann von kräftigen Tieren und führte die Pflugschar hinterher.
Damit die Tiere das Gerät gleichmäßig durchziehen und nicht etwa das eine nach links, das andere nach rechts ausweicht, legte man ihnen ein Joch auf. So gingen sie sicher nebeneinanderher und zogen in eine Richtung voran.
„Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir“, sagt Jesus einmal (Mt. 11, 29f). „Denn mein Joch ist sanft.“
Wie sollte das sanft sein, das Pflügen unter einem Joch? Wir können das so verstehen, dass Jesus selbst der zweite sein will in diesem Doppeljoch. Er zieht an unserer Seite, hält uns in der Spur und bringt uns voran auf dem Weg. Er sorgt selbst dafür, dass wir eine gute, gerade Furche ziehen und den Acker gut bestellen. Geschickt für das Reich Gottes sind wir Menschen nämlich alle nicht – nicht von uns aus. Aber das macht nichts, denn wenn Jesus uns schickt auf den Weg zu seinem Reich des Friedens und der Gerechtigkeit, dann ist er mit uns unterwegs. Was wir dazu beitragen können, dass es so kommt? Viel ist nicht nötig dafür: Nur eine Liebeserklärung an ihn. Ein von Herzen kommendes vertrauensvolles „I will folllow – ich will dir nachfolgen“. Amen.
EG 83, 4-6 Ein Lämmlein geht
Noten zu "I will follow him": http://www.reift.ch/fichiers/pdfbooks/EMR14561.pdf
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KONFI-IMPULS zu Lukas 9,57-62 von Thomas Ebinger
Der Bibeltext enthält steile und provozierende Sprüche zum Thema Familie und Nachfolge. Sie passen nicht zu einer bürgerlichen Moral, die Familie als Wert hochhält und meist auch mit dem christlichen Familienideal identifiziert wird. Deshalb ist der Text eine Chance für alle Jugendlichen, die in einer nichtkonventionellen Familie leben, wo es durchaus vorkommen kann, dass man an der Beerdigung des eigenen Vaters nicht teilnimmt.
Beim Thema Nachfolge ist es wichtig, zu einem symbolischen Verständnis der Wegmotivik zu kommen. Es ist klar, dass Christen heute nicht wie Jesus ein Leben auf der Straße von der Hand in den Mund führen sollen. Die Basisbibel erläutert schön „Jesus zu folgen bedeutet, das Leben ganz in seinen Dienst zu stellen.“
Gestaltungsideen
Die Konfis könnten nach einer gemeinsamen Erschließung des Textes drei kurze Anspiele gestalten, die die Themen der Nachfolgesprüche aufgreifen und sie in die heutige Zeit übertragen:
1. Wer Jesus nachfolgt, muss sich auf ungesicherte Verhältnisse einlassen, wird womöglich nicht immer ein Dach über dem Kopf haben.
2. Wer Jesus nachfolgt, muss (manchmal) seine Familie vernachlässigen.
3. Wer Jesus nachfolgt, muss sich konsequent auf die Zukunft ausrichten und die Vergangenheit vergangen sein lassen.
In ländlichen Gebieten lässt sich vielleicht ein alter Pflug organisieren, den man durch die Kirche ziehen kann, einmal mit dem Blick zurück in Kurven, einmal mit dem Blick nach vorn auf das Kreuz in gerader Linie.
Und das Elterngebot?
Spannend ist es, den Text mit dem Elterngebot in Verbindung zu bringen. Mögliche Fragen an Konfis, deren Ergebnisse sie in den Gottesdienst mit einbringen können:
Welche Gründe könnte es geben, die Beerdigung des eigenen Vaters oder der eigenen Mutter nicht zu besuchen?
Was heißt es, seine Eltern zu ehren.
Wie steht ihr zu dem Satz: „Eltern sollten im Alter nicht das zurückerwarten, was sie in ihre Kinder investiert haben. Was man von seinen Eltern empfangen hat, soll man seinen Kindern weitergeben.“
Wie und wo kann die Gemeinschaft von Christen als Schwestern und Brüder mit dem einen Vater (familia dei) zum Ersatz der Herkunftsfamilie oder sogar zur eigentlichen Familie werden? Wo habt ihr das schon einmal erlebt
Musik
Das Lied von Albert Frey „Dreimal“ (Werd ich dir folgen) greift am Beispiel von Petrus u. a. das Bild vom Pflug auf, es könnte mit Konfis angeschaut und im Rahmen der Predigt eingespielt werden (http://youtu.be/8y913YwM4b8 mit Herz-Bildern).
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Nachfolge - Predigt zu Lukas 9,57-62 von Kathrin Nothacker
Nachfolge
Liebe Gemeinde,
in diesen Wochen bereiten sich unsere Konfirmandengruppen auf die Konfirmation vor. Diese Vorbereitungen sind von vielen Dingen geprägt: der Feier im Familienkreis, der Auswahl der Kleider, den Einladungen an Verwandte und Freunde. Vielleicht seid ihr Konfirmanden auch schon mitten drin in diesen Vorbereitungen.
Im Unterricht wird aber in diesen Wochen auch über das andere gesprochen, nämlich das, worum es im Kern des Konfirmationsgottesdienstes geht. In diesem verpflichten sich die Konfirmandinnen und Konfirmanden öffentlich und vor Gott, ein Leben in der Nachfolge Jesu zu führen. Es ist eine spannende und große Aufgabe, darüber mit Euch Konfirmanden ins Gespräch zu kommen. Was heißt das: Leben in der Nachfolge Jesu?
Leben in der Nachfolge Jesu – das ist eine Lebensaufgabe für uns alle, die wir uns Christen nennen. Und ganz gewiss immer wieder eine riesengroße Herausforderung.
Jesus ruft uns in seine Nachfolge auch mit dem Bibelwort heute Morgen und dass das kein Spaziergang ist, merken wir gleich.
Hören wir auf dieses Jesuswort aus dem Lukas-Evangelium:
57 Und als sie auf dem Wege waren, sprach einer zu ihm: Ich will dir folgen, wohin du gehst. 58 Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.
59 Und er sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. 60 Aber Jesus sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!
61 Und ein andrer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Haus sind. 62 Jesus aber sprach zu ihm: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.
Obwohl dem einen oder der anderen von uns dieses Wort mit seiner bildhaften Sprache bekannt sein mag; eigentlich ist es ungeheuerlich, was Jesus uns da zumutet. Er mutet uns viel zu, nichts weniger als das, was ich einmal mit den Begriffen Heimatlosigkeit, Pietätlosigkeit und Beziehungslosigkeit beschreiben möchte.
Wer kann so leben? Ohne Heimat, ohne einen Ort, von dem er sagen kann. Hier bin ich zuhause. Hier gehöre ich hin.
Wer von uns kann leben ohne Pietät, ohne dass man den Toten die letzte Ehre erweist, gar dem eigenen Vater? Wer möchte so leben, dass der letzte Dienst, den man an einem Menschen tun kann, diesem nicht mehr erwiesen wird?
Und wer von uns kann und möchte leben ohne Beziehungen, ohne eingebunden zu sein in ein soziales Netz, in das Netz von Familie und Freunden, wer möchte leben ohne menschliche Nähe und Wärme?
Er mutet uns viel zu, unser Herr und Meister. Er ruft in die Nachfolge und redet von Heimatlosigkeit, von Pietätlosigkeit, von Beziehungslosigkeit.
Wir sind versucht zu sagen, das kann er so nicht gemeint haben. Das kann für uns, die wir uns zwar Christen nennen, aber uns eben als ganz normale Christen verstehen, so nicht gelten.
Aber was meinen dann diese Bildworte, die uns immer noch – auch im Jahr 2015 - zur Predigt aufgetragen sind? Was fangen wir mit diesem Jesuswort an, mit diesem radikalen Ruf in die Nachfolge? Was heißt das für Euch Konfirmanden, die ihr in den nächsten Wochen versprecht, in der Nachfolge Jesu leben zu wollen?
Das Wichtigste an diesem Wort ist zuerst einmal: Es geht um Nachfolge. Es geht um Nachfolge Jesu Christi und nicht um einen Ruf zu religiösen Höchstleistungen. Als Ruf in die Nachfolge gilt es aber natürlich auch uns.
Ich möchte versuchen, dieses Jesuswort zu deuten anhand von drei Begriffen, die das Wie dieser Nachfolge definieren. Und es sind drei Gegenbegriffe zu den eben gehörten.
Es geht um Nachfolge, nicht um einen Aufruf zu religiösen Höchstleistungen und als Aufruf zur Nachfolge hören wir den Ruf zur Freiheit, den Ruf zum Leben und den Ruf in eine Zukunft.
Freiheit, Leben, Zukunft – das verspricht uns Jesus, wenn wir uns auf ein Leben mit ihm einlassen.
Zuerst: Der Ruf in die Freiheit:
„Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.“
Vielleicht können wir diesem kräftigen Bildwort etwas abgewinnen, wenn wir es nicht nur verstehen als ein Zurücklassen der Heimat, dessen was uns lieb und wert ist. Wenngleich es auch die Erfahrung ist von vielen Menschen, die selbst auf der Flucht waren am Ende des letzten Krieges oder die in den vergangenen Monaten zu uns gekommen sind und noch kommen. Das Wort hat auch etwas mit Heimatlosigkeit zu tun, aber vielleicht vermögen wir es auch zu verstehen als einen Ruf in die Freiheit.
Diese Freiheit ist noch fremd und unheimlich, wir wissen nicht, was sie bringt. Israel hat die sicheren Fleischtöpfe Ägyptens hinter sich gelassen und hat sich auf dem Weg durch die Wüste nicht nur einmal nach ihnen zurückgesehnt. Aber die Israeliten tauschten die Fleischtöpfe ein – am Ende – nach langer mühevoller Wanderung für die Freiheit.
Der Weg in die Freiheit reißt oft heraus aus der häuslichen Geborgenheit und der Sicherheit der vier Wände. Aber am Ende wiegt die Freiheit schwerer als alles Zurückgelassene. Es ist gut, wenn wir uns das immer wieder vergegenwärtigen, wenn wir debattieren über die vielerlei Gründe, weshalb Menschen ihre Heimat verlassen und zu uns flüchten.
Für uns kann dieses Jesuswort aber auch heißen, dass wir die Fesseln der Sorge um unsere Zukunft ablegen.
Es hilft nichts, sich zu sorgen, ob mir die Gesundheit erhalten bleiben wird.
Es hilft nichts, sich zu sorgen, ob unser Geld seinen Wert behält.
Es hilft nichts, sich zu sorgen und sich den Kopf zu zermartern, ob wir unseren Lebensstandard in dieser Form behalten werden.
Das Sorgen an sich hilft nichts. Im Gegenteil: Es knechtet uns und nimmt uns Energien, die wir für anderes besser brauchen können.
Und für uns Christen gilt, was Jesus selbst uns sagt: Sorget nicht um euer Leben. Vertraut darauf, dass Gott euch jeden Tag das gibt, was ihr zum Leben braucht. Und vergesst nie: Der Menschensohn hatte keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen konnte.
Sollten wir da nicht mit dem auskommen können, was wir mehr haben als Millionen Menschen auf dieser Erdkugel?
In Jesu Worten scheint das auf, was wir Freiheit vom Sorgen nennen – und das ist gewiss ein hohes Gut.
Der Ruf ins Leben:
Es mutet seltsam an, wenn Jesus dem, der ihm mit Ernst nachfolgen will, nicht zugesteht, den eigenen Vater zu begraben. „Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!“
Nur vordergründig geht es hier um eine Bestattung. Hintergründig sagt Jesus etwas über den Tod und das Leben an sich aus. Jesus will, dass wir uns in seiner Nachfolge dem Leben zuwenden und nicht dem Tod. Er will, dass wir uns verabschieden von einer Kultur des Todes.
Es ist ja so, dass wir uns in unserer Gesellschaft kaum mehr über den Tod unterhalten. Wenn in der Familie ein Todesfall eintritt, so höre ich oft von den Angehörigen: Hätten wir doch mehr über den Tod gesprochen. Vielleicht könnten wir uns dann leichter verabschieden. Aber über den Tod an sich wird nicht gesprochen. So wie die Friedhöfe ganz an den Rand unserer Städte und Gemeinden gerückt sind, so ist auch der Tod zu einem Tabuthema geworden.
Und doch beobachten wir auf der anderen Seite, dass der Tod in unserer Gesellschaft sehr präsent und sogar dominant ist. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht konfrontiert werden mit den Bildern des Todes: Jeden Tag sterben Menschen; in Syrien, im Irak, in der Ukraine, im Mittelmeer.
Auch die Diskussion um das sogenannte selbstbestimmte Sterben und die aktive Sterbehilfe gehört – bei aller notwendigen Differenzierung – in dieses Feld. Es ist inzwischen immer schwerer geworden, diesen dezidiert christlichen Standpunkt zu verteidigen, dass das Leben schwerer wiegt als der Tod.
Und für unsere Kinder und Jugendliche ist der Tod in den vielen Computerspielen sogar schon zum Spiel geworden. Der Tod ist in unserem Leben allpräsent und eigentlich übermächtig.
Davon müssen wir wegkommen. Lasst die Toten ihre Toten begraben, wir aber wenden uns dem Leben zu! Es gilt, mit aller Macht, das Leben zu schützen. Das ist unsere Aufgabe. So wie es der Tübinger Theologe Eberhard Jüngel formuliert: „Es gilt, Abschied vom Tode zu nehmen – und nicht Abschied vom Leben. Wer Jesus folgt, ist ganz und gar für das Leben da. Und: Arbeit für das Gottesreich ist Abschied vom Tode.“
Und zuletzt: Wir vernehmen einen Ruf in die Zukunft
Zukunft gibt es nur, wenn wir nach vorne blicken. „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“
Das deutet darauf hin, dass es Zukunft nur gibt, wenn die Vergangenheit zurückgelassen wird. Dies ist freilich ein gefährliches Unternehmen. Denn wir wissen, dass es keine Zukunft gibt ohne den Blick zurück in die Vergangenheit und ohne die Erkenntnisse, die man aus der Vergangenheit gewonnen hat. Deshalb ist der Blick nach vorne auch klar zu definieren. Im Wochenpsalm, der diesem Sonntag den Namen gegeben hat, heißt es: „Meine Augen sehen stets auf den Herrn.“
Das ist der Blick nach vorne. Und wir Christen, die wir mitten in der Passionszeit stehen, blicken nach vorne auf einen Herrn, der ins Leiden, in den Tod ging. Und wir bekennen, dass er das für uns getan hat zur Vergebung unserer Sünden.
Er hat unsere oft so schuldhaft verstrickte Vergangenheit, auch unsere Verstrickung in den Tod auf sich genommen, sie für uns getragen, damit wir den Blick nach vorne tun können, damit uns Zukunft und Leben eröffnet ist. Und dies sage ich auch bewusst in diesem Jahr, in dem wir an das Kriegsende vor 70 Jahren denken.
Schuld und Versagen – so sagt uns der in die Nachfolge rufende Christus - werden nicht unter den Teppich gekehrt, ignoriert oder vertuscht. Schuld und Versagen dürft ihr bei mir, dem Christus Gottes ablegen, ich trage sie ab. „Du aber verkündige das Reich Gottes.“
So ruft er uns in die Nachfolge, dass wir zu Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Reich Gottes werden. Dass wir uns einsetzen dafür, dass Menschen Zukunft und Leben und Freiheit haben.
Amen.
GOTTESDIENST
Vorspiel
Lied: 390, 1-3 Erneure mich, o ewigs Licht
Votum
Begrüßung
WS: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“ (Lk 9,62)
Psalm 25 (713) Ehr sei dem Vater
Gebet - Stilles Gebet
Schriftlesung: 1. Kön 19, 1-8
Lied: 394, 1-5 Nun aufwärts froh den Blick gewandt
Predigt: Lk 9, 57-62
Lied: 384 Lasset uns mit Jesus ziehen
Fürbittgebet - Vaterunser
97, 1-5 Holz auf Jesu Schulter
Abkündigungen
97,6 Hart auf deiner Schulter
Segen – Nachspiel
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Predigt zu Lukas 8,4-8.11-15 von Sven Keppler
I. Ein Muslimbruder wird zum französischen Präsidenten gewählt. Die berühmte Pariser Sorbonne wird von saudischen Geldgebern übernommen und zur islamischen Universität umgebaut. Der Charakter der französischen Gesellschaft wandelt sich in kürzester Zeit: An die Stelle des liberalen Individualismus tritt ein traditionelles Patriarchat. Die Laizität, also die Trennung von Religion und Staat, wird aufgegeben. In kürzester Zeit verschwinden Miniröcke und Boutiquen für körperbetonte Frauenkleidung aus dem Stadtbild.
Liebe Gemeinde, dieses Zukunftsbild des Jahres 2022 entwirft Michel Houellebecq in seinem neuen Roman ‚Unterwerfung‘. Das Buch erschien gleichzeitig mit dem Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift ‚Charlie Hebdo‘. Eines der Opfer war ein enger Freund von Houellebecq. Und so erreicht der Roman enorme Verkaufszahlen. Auch in Deutschland steht er an der Spitze der Bestsellerliste.
Dieses Buch ist jedoch nicht einfach das Werk eines „Islamkritikers“. Houellebecqs erster Roman erschien 1994. Seitdem ist er ein ätzender Analytiker unserer westlichen Kultur. Die Islamisierung West- und Mitteleuropas ist bei ihm nicht das Werk finsterer Terroristen. Sondern sie erscheint ganz einfach als die Folge davon, dass unsere christlich-liberale Kultur innerlich hohl geworden sei.
Individualismus und Liberalität – das sind Schlüsselwörter dieser Kultur. Der unantastbare Wert und die Würde des einzelnen Menschen. Und das Recht jedes Menschen, sich frei zu entfalten. In Houellebecqs Augen sind davon nur frustrierende Trümmer übrig geblieben. Die Freiheit der Märkte und des Konsums. Die Vereinzelung der bindungslosen Menschen. Und eine tabulose Sexualität, die immer mehr zur Ware wird.
Zweimal bemüht sich der Erzähler, wieder mit der christlichen Tradition in Kontakt zu kommen: in einem Kloster und in einer Wallfahrtskirche. Aber diese Versuche scheitern. Er kommt zu dem Schluss, dass das Christentum seine lebendige Kraft ausgehaucht habe. Der Grund dafür sei geradezu eine tödliche Ansteckung. Die Verbindung mit den liberalen Gedanken habe zum Untergang des Christentums geführt.
II. Michel Houellebecq erzählt seine Geschichte ganz lakonisch: unaufgeregt, knapp, schnörkellos. Was eigentlich unerhört wäre, erscheint dadurch fast zwangsläufig. Wie eine ganze Gesellschaft sich widerstandslos von den Freiheitsrechten verabschiedet, die sie in 200 Jahren erkämpft hat: von der Gleichberechtigung der Frau, von der weltanschaulich neutralen Bildung, von der sozialen Fürsorge des Staates.
Liebe Gemeinde, Michel Houellebecq hat ja Recht: Tatsächlich ist heute der christliche Glaube ganz eng verbunden mit der Würdigung des einzelnen Menschen und seiner Freiheit. Ist das eine Fehlentwicklung? Eine Verformung unseres Glaubens? Ein Unfall der Neuzeit? Oder gehört das zum christlichen Glauben wesentlich dazu? Diese Fragen möchte ich an unseren heutigen Predigttext stellen – das berühmte Gleichnis vom Sämann. Ich lese aus dem 8. Kapitel des Lukasevangeliums [Lk 8, 4-8].
Bei seinem Gleichnis hatte Jesus eine ganz bestimmte Pointe im Sinn. Er wollte sagen: Wenn das Reich Gottes auch noch so klein anfängt – am Ende wird es überwältigend groß. Wie im Gleichnis vom Senfkorn: Aus einem winzigen Korn wird ein erstaunlich großer Strauch. So ist es auch bei der Saat: Auch wenn eine Menge daneben geht, gibt es trotzdem eine große Ernte. Weil die Saat auf gutem Boden hundertfach Frucht bringt und den Verlust mehr als ausgleicht.
Als Lukas sein Evangelium schrieb, hatte sich jedoch eine andere Deutung des Gleichnisses durchgesetzt. Weg, Fels, Dornen und gutes Land wurden auf die unterschiedlichen Menschentypen gedeutet. Ich lese wiederum aus dem Evangelium nach Lukas [Lk 8,11-15]
III. Es war eine Erfahrung von Anfang an: Die Samenkörner bringen nicht überall Frucht. Wenn die Saat gleichmäßig verstreut wird, ist das Ergebnis ernüchternd. Auf dem Weg werden die Körner zertreten und weggepickt. Auf dem Felsen reicht es allenfalls für ein kurzes Aufblühen. Und unter den Dornen kann sich nichts entfalten. Nur auf gutem Land bringt die Saat gute Frucht.
Von Anfang an wurde diese Erfahrung auch mit Menschen gemacht. Nicht jeder ist empfänglich für die Botschaft von Jesus. Manche sind verhärtet. Bei anderen löst das Evangelium nur ein Strohfeuer aus. Und bei wieder anderen werden die ersten Ansätze erstickt durch das, was sonst ihr Leben bestimmt.
Der Glaube ist nicht jedermanns Ding. Das ist nicht erst eine Erkenntnis unserer Zeit. Sondern eine Erfahrung von Anfang an. Die Deutung des Gleichnisses erklärt diese Erfahrung mit der Unterschiedlichkeit der Menschen. Ob Gottes Wort fruchtet oder nicht – das hat mit der Verschiedenartigkeit der Menschen zu tun. Ob sie verhärtet sind. Oder leichtfertig. Ob ihr Alltag sie im Griff hat. Oder ob sie sich öffnen können.
Jesus begründet den unterschiedlichen Erfolg nicht mit Gottes Vorsehung. Hätte er das gewollt, dann hätte er das Gleichnis anders erzählt: Es ging ein Sämann aus zu säen seinen Samen. Und er fand ein großes Feld. Und er säte hierhin und dorthin. Wohin sein Same fiel, da brachte er große Frucht. Der Rest des Feldes aber blieb brach.
So nicht. Sondern schon zu Beginn des Christentums wurden die Unterschiede der Menschen gesehen. Die Vielfalt der Persönlichkeiten und Charaktere. Und man wusste: Ob ein Mensch zum Glauben kommt, das entscheidet sich ganz individuell. Ganz persönlich. Das ist keine Frage des Kollektivs oder der traditionellen Gemeinschaft. Sondern eine Sache zwischen Gott und dem Einzelnen.
IV. Wenn das Gleichnis auf die verschiedenen Menschentypen gedeutet wird, kommt jedoch eine neue Frage auf: Was wird aus den Menschen, bei denen Gottes Wort nicht fruchtet? Bei Weizenkörnern lässt sich der Verlust ja verschmerzen. Und wenn ein Weg nicht zum blühenden Feld wird, ist das ja sogar ganz in Ordnung: Er soll ja auch ein Weg sein. Da würde es nur stören, wenn auf ihm etwas wüchse.
Wenn das Gleichnis jedoch auf Menschen gemünzt wird, dann lässt sich nicht so locker sagen: Es ist egal, wenn der Glaube bei manchen nicht fruchtet. Es gibt ja noch genügend andere. – Dann drängt sich doch vielmehr die Frage auf: Was wird aus den Menschen, bei denen die Saat nicht aufgeht? Wenn wir Michel Houellebecq glauben, dann werden das immer mehr.
Es passt überhaupt nicht zu Jesus, dass ihm diese Menschen gleichgültig gewesen sein sollten. Denken Sie an das Gleichnis vom verlorenen Schaf: Jesus geht jedem Einzelnen nach. Dem Zöllner. Der Ehebrecherin. Dem ausgegrenzten Kranken. Niemand soll verloren gehen!
Aber wie soll das gehen bei den Menschen, die wie ein Weg sind? Wie ein Fels? Wie ein von Dornen überwucherter Boden? Müssen sie doch alle zum Acker werden? Alle gleich?
Ich glaube, dass Gott mit jedem Menschen etwas ganz Eigenes vor hat. Denken Sie daran, was Paulus zu den unterschiedlichen Gaben schreibt: Viele verschiedene Glieder bilden einen Leib. Gerade in ihrer Unterschiedlichkeit und Vielfalt werden die Menschen gewürdigt. Gerade darin gehören sie zur bunten Gemeinschaft des Christentums.
Im Gleichnis gesprochen: Vielleicht werden die Wegtypen ja gerade nicht als Acker gebraucht. Sondern sie sind wertvoll, damit die Ernte zur Scheune gelangen kann. Und von dort zur Mühle und zum Bäcker. Vielleicht werden die Felstypen gebraucht, damit aus ihnen Bausteine werden. Für Scheunen, Mühlen und Backstuben. Und die unter den Dornen: Vielleicht wären sie ja gutes Ackerland. Aber sie müssen erst befreit werden von den belastenden Wucherungen ihres Lebens.
V. Liebe Gemeinde, die Auseinandersetzung mit dem Gleichnis hat zu drei Einsichten geführt.
Erstens: In unserem Glauben wird der Einzelne gewürdigt – in seiner Unverwechselbarkeit und seiner Freiheit! Das ist nicht erst ein neuzeitlicher Gedanke. Er ist tief im Christentum verwurzelt. Anders können wir den Glauben nicht haben als individuell und vielgestaltig. Und es gibt keinen Glauben ohne die Freiheit, sich gegen ihn zu entscheiden.
Zweitens: Trotz aller Freiheit will Gott, dass kein Mensch verloren geht! Der Weg der Vielfalt ist nicht ungefährlich. Welche Fehlentwicklungen dabei möglich sind, das führt Houellebecq unerbittlich vor Augen. Aber einfacher ist der Glaube nicht zu haben. Vertrauen wir trotzdem und gerade deshalb auf Gottes Fürsorglichkeit!
Und drittens: Es gibt keinen Grund zur Verzagtheit! Wo Houellebecq resigniert. Wo er provokativ beschreibt, wie sich eine ausgelaugte westliche Kultur dem Islam unterwirft. Wo vielleicht auch wir zu resignieren drohen in unserer immer stärker entchristlichten Welt. Da gibt das Gleichnis vom Sämann Trost: Selbst wenn nur wenige Samenkörner auf fruchtbaren Boden fallen – sie werden hundertfach Frucht bringen. Amen.
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„Suchet, so werdet Ihr finden“ - Predigt zu Lukas 2,41-52 von Henning Kiene
„Suchet, so werdet Ihr finden“
I. Wissen Sie…, wer ich bin?
Die Fenster sind mit schwarzen Vorhängen verhängt. Die neue Flüchtlingsunterkunft ist bezogen. Von außen gibt es keinen Einblick. Kinderfahrräder stehen vor der Tür, einige Spielsachen liegen bereit, ein Sandkasten scheint auf Kinder zu warten. Menschen habe ich hier bisher nicht gesehen. Doch: Kurz vor Weihnachten bewegt sich einer der schwarzen Vorhänge. Ein Kinderarm hebt sich, kaum erkennbar, von dem dunklen Stoff ab, schiebt den Vorhang bei Seite. Ein kurzer Blick, flüchtig zwei helle Kinderaugen, ein Moment, sofort vorbei. Jemand stoppt, „hoffentlich fühlen die sich bei uns wohl“, höre ich eine Stimme. Und ich frage mich: Sind Eltern und Kinder zusammengeblieben oder wurden sie auf der Flucht voneinander getrennt? Der Gedanke, dass es irgendwo Eltern geben könnte, die nach genau diesem Kind suchen, bleibt hängen.
Auf einer Europakarte sind die Flüchtlingsströme eingezeichnet, die sich ab Januar 1945 durch Europa quälten. Dicke Pfeile zeichnen die Bewegungen der Trecks nach. Diese Erinnerung wird im Januar dieses Jahres 70 Jahre alt. Ich habe noch die Plakate vor Augen, die vor vierzig Jahren noch an den öffentlichen Plakatwänden hingen. Man sieht Frauen und Männer: „Wissen Sie…, wer ich bin? wie ich heiße? woher ich komme?“ Ein Foto von ihnen und eine knappe Geschichte wird erzählt. Der DRK-Suchdienst betreut Kinder und Eltern, die während und nach dem Ende des sogenannten Dritten Reiches getrennt – oftmals auf der Flucht – auseinander gerissen worden waren. Mehr als hunderttausend Kinder und Eltern galt es wieder zusammenzubringen, wie wertvolle weit verstreute Puzzleteile, die zusammengefügt werden sollen. Mittags lief der Kindersuchdienst im Radio: Die Namen der Kinder waren häufig unbekannt, gesprochen wurde darum von einem Leberfleck, einer Narbe, einem alten Spielzeug. Wer es hörte und seine eigenen Eltern in der Nähe hatte, war für einen Moment überaus glücklich.
Die Geschichte, die von einem verlorenen Kind handelt, ereignet sich tagtäglich. Unzählige Eltern sind auf der Suche. Heute wird die Zahl der Flüchtlinge weltweit mit über 51 Millionen Menschen angegeben.[1] In meinen Jahren als Gemeindepastor habe ich am Ende eines Beerdigungsgesprächs manchmal gehört: „Noch eins – Sie sollten es wissen – da war noch ein Kind, unsere Schwester, die ist bei der Flucht…, Sie wissen schon. Wenigstens im Gebet sollten wir an die denken. Wir haben in unserer Familie nie über sie gesprochen.“
II. Genau da nicht: Zwischen Nutella und Playmobil
Der Schaden kann bei Eltern und Kindern nicht größer sein. Es gibt Verluste, die verschmerzt kein Mensch. Wer die drei Tage Maria und Joseph nach Jerusalem folgt, sich mit ihnen auf die Suche begibt, spürt: Das hier ist eine Suche, die hat eine neue Qualität. Hier ist es anders, als in diesem bekannten Schreckmoment, wenn ein Kind in einem gut gesicherten Supermarkt aus dem Blick verschwindet und zwischen Nutella und Playmobilfiguren wieder auftaucht und die Kinderaugen einen überrascht anstrahlen: „Guck mal, das habe ich gefunden!“ und eine Plastikfee mit Zauberstab wird dir in die Hand gedrückt. Es gibt eine Suche, die einen selber grundsätzlich verändert und die Suchenden auf den höchsten Level der Aufmerksamkeit heben. Da wird alles, der ganze Körper, zur Suche. Da ist dieses Wissen, „wie auch immer das hier ausgehen mag, du wirst ein anderer Mensch sein.“ Von dieser Art intensiver Suche handelt das heutige Evangelium. Das anfängliche Bangen, wo denn dieses Kind bloß geblieben ist, führt zu der intensivsten Suche, zu der Menschen fähig sind, um dann der Erkenntnis, wer dieses Kind eigentlich ist und wer es noch sein wird, einzumünden. Hier suchen zwei und wissen zugleich, wenn sie ihn wirklich finden sollten, dann wird er nicht mehr in der Weise ihr Kind sein, wie er zuvor ihr Kind gewesen ist. Es wäre nicht voreilig, heute Maria schon unter Jesu Kreuz zu sehen, die Symbolzahl der drei Tage legt diese Perspektive nah.
Drei Tage war Jona in dem großen Fisch gefangen, bevor er wieder an Land ausgespien wurde. Drei Tage lag Jesus im Grabe, dann erst fanden die Frauen den Toten bei den Lebenden. Es wirkt so, als deute der Evangelist schon im zweiten Kapitel das ganze Leben Jesu aus. Hier geht nicht nur ein Kind verloren, auch geht es nicht nur um diese Suche, hier wird eine Perspektive eröffnet und das Leben Jesu wird sichtbar.
III. „Bitte kümmern Sie sich um dieses Kind, danke schön“
Das Evangelium schickt die, die diese sogenannten Kindheitsgeschichten Jesu lesen und hören, in die Tiefe des Lebens Jesu hinein. Die Katastrophe, dieses unvorstellbare Leid, das einem Menschen wiederfahren kann und zu Boden gehen lässt ist, wird erkennbar. Das Lukasevangelium macht es einem leicht, sich selber in diesen Eltern wiederzufinden: Die Selbstvorwürfe, die innere Qual einer tagelangen Suche, das Gefühl, das eigene Kind nicht mehr schützen zu können und selber so unendlich schutzlos zu werden, dieses Wissen, dass jedes Kind ein Teil von einem selber ist und doch zugleich seinen Eltern nicht gehört…
Hier geht es um eine höchst intensive Suche, an deren Ende alles neu sortiert ist. Dieser erste Moment im Tempel zeigt, wie fremd sie sich in den drei Tagen der Suche geworden sind. Hier beginnt etwas ganz Anderes.
Ich war im Kino, habe den Film „Paddington bear“ gesehen. Das ist ein schöner, auf den ersten Blick harmloser Kinderfilm mit wunderbaren Effekten. Ein kleiner Bär flieht, nachdem ein Erdbeben seine Familie vernichtet hat, nach London. Er sitzt einsam, mit seinem roten Hut auf dem Kopf, in Paddington Station, einem der Londoner Bahnhöfe, auf der Bank: Der Bär trägt ein Schild um den Hals: „Please look after this Bear, thank you“ – „Bitte kümmern Sie sich um diesen Bären, danke schön“. Eine Familie nimmt ihn – widerwillig – mit, nennt ihn den Namenlosen nach dem Bahnhof, an dem sie ihn gefunden haben, „Paddington Bär“. Und während Bär und Gastfamilie diverse „Aneinander-Gewöhnungs-Hindernisse“ überwinden müssen, wird durch dieses braune Packpapierschild, das er um den Hals trägt, deutlich: Diese Geschichte erzählt zugleich eine ganz andere Geschichte.
Der Bär steht für eins der jüdischen Kinder, die in großer Zahl, ab 1930 in London Zuflucht fanden. Diese Kinder trugen solche Zettel um den Hals, Namen, Eltern, Herkunft und eine Bitte: „Nehmt mich auf.“ In ihrer Hand hielten viele Kinder einen solchen Koffer, in dem reiste das Wertvollste dieses Kindes mit. Tausende jüdische Kinder fanden Zuflucht, mühsam oft, innerlich zerrissen, verletzt, voller Traumata, aber immerhin sie überlebten und kamen nicht in die Lager und wurden nicht vergast. Und dann nach dem Krieg fanden die wenigen überlebenden Eltern mit den geretteten Kindern wieder zusammen. Aber: Aus dem „Georg“ war ein „George“, aus dem Schüler ein Student geworden. Und Selma, die Hals über Kopf aus dem feinen Berlin flüchten musste, war eine rotwangige Bauerntochter geworden. Das Deutsche –nicht nur die Sprache – war vergessen. Diese erzwungene Flucht der Kinder, die Zeit der Trennung und nun das wieder Zusammenfinden, veränderte alles, was sonst zwischen Eltern und Kindern gilt.[2] Und so erzählt diese ebenso schöne wie auch harmlose Geschichte von Paddington Bär auch die Geschichte vom schweren Verlust und von dem Wiederfinden, von der ebenso schmerzvollen, wie auch unumkehrbaren Veränderung. Hinter der symbolischen Zahl der drei Tage verbergen sich das Erwachsenwerden und eine Form der Eigenständigkeit, die vor allem der Glaube kennt. Er macht einerseits fremd, weil er sich in vielerlei Hinsicht von allem, was bisher war, unterscheidet, er ist andererseits vertraut, weil er Gott sucht und ihn in Momenten und an Orten entdeckt, an denen niemand mit ihm rechnet.
IV. „Bitte kümmern Sie sich um dieses Kind, danke schön“
Es ist auch heute so, wie es schon in der ganzen bisherigen Weihnachtszeit seit Heiligabend war: Seit Tagen hören wir die vertrauten Geschichten, die ihre wohlbekannten Bilderbögen vor uns aufspannen, sehen Maria, Joseph, Krippe, Hirten, Hannah, den alten Simeon, den Propheten, der entzückt das Kind auf dem Arm hält. Diese Geschichten helfen uns mit ihren Bildwelten durch diese Tage hindurch, sie begleiten viele von uns auch bei der Suche nach dem, was Jesus Christus uns heute bedeutet, womit er uns berührt. In welcher Kammer meines Herzens, in welchem Winkel meiner Gedankenwelt, berührt und verändert er mich? Ich bin auf der Suche, suche nach Sinn und Ziel des Lebens, nach Halt und Orientierung auch in Tagen der Suche. Da pocht jemand an die Tür: Es ist kein Raum in der Herberge, zunächst. Wo sollte man Gott denn suchen, wenn kein Raum vorgesehen ist? Ein Stallgebäude wird zur Geburtsstation. Das bleibt doch verblüffend: Ich suche in den weiten Fernen, Gott aber legt sich in einen Stall. Da ist ein Ort für dieses Kind, eine Futterkrippe dient als einigermaßen passables Notbett. Hier endet die Suche der drei Weisen aus dem Morgenland und meine Suche auch. Die Suche führt in die Ferne, aber das Ziel liegt in der Nähe. Die Suche nach einem Sinn im Leben führt oftmals genau an die Orte, an denen niemand suchen würde. Gott lässt sich entdecken, wo Gott nicht erwartbar ist. Heute führt die Spur vom Stall in Bethlehem zum Tempel nach Jerusalem.
Wer, wie Joseph oder Maria, auf die Suche geht, ahnt, wo und wie es wirklich zu suchen gilt, spürt die Mühe und die Anstrengung. An den Orten, die sich nicht aufdrängen, in den Momenten, in denen niemand wirklich mit Gott rechnet, wird man oft zuerst fündig. Am Ziel der Suche steht die Überraschung und weder die, die suchen, noch die, die gefunden wurden, sind noch dieselben geblieben, die Tage zuvor aufbrachen.
Diese dreitägige Suche von Maria und Joseph leuchtet die Suche aus, auf der sich viele Menschen befinden. Es gibt Tage, an denen verändert sich alles, da geraten die Grundfesten des Lebens ins Wanken und am Ende ist alles anders und neu. Da wird das Leben auf den Kopf gestellt und landet genau so auf beiden Füßen. Da ist dieses Gefühl, das viele suchende Eltern kennen, diese innere Unruhe, das nicht Schlafenkönnen, dieser furchtbare Gedanke an den möglichen, auch schlimmen Ausgang, den alles genommen haben könnte. Und da ist dieser weihnachtliche Bilderbogen, der zeigt: Dann, wenn kein Raum mehr vorhanden ist, schafft Gott sich ein Quartier, dann, wenn das Kind verloren zu sein scheint, treffen wir es heute im Tempel oder in unserem Lebensstall wieder. Wenn Jesus Christus einem dann verloren geht, zeigt er sich an anderer Stelle neu. Solche Suche kennt keine eigene Gesetzmäßigkeit, sie wühlt auf und führt – so in den Evangelien der Weihnachtszeit – an neue, unerwartbare Orte.
Niemand würde, wenn es diesen Kinderarm am Fenster der Unterkunft sähe, sagen: Hier ist kein Platz für diesen Menschen. Niemand würde an die Flucht vor 70 Jahren erinnern wollen, wäre da nicht die Suche nach Heimat zu einem Ziel gelangt. Kein Mensch wollte Weihnachten feiern, wüssten wir nicht, dass es hier so ist, wie in dem Film über den Paddington Bär: Unter der Oberfläche der leicht zu erzählenden Geschichte von Weihnachten, wird immer auch noch eine andere Geschichte mit erzählt: Von der Suche nach Gott, von den drei Tagen, die die Seele aufwühlen und die Welt verändern. Und von einem Finden wird berichtet: Da ist mit der Suche die Neuentdeckung Gottes eröffnet. Stall, Tempel, Kirche, Wohnzimmer, Bahnhof und die lange Schlange im Supermarkt… Die Phantasie reicht nicht, sich den Ort, an dem er sich finden lässt, zu denken.
[2] hier: Ursula Krechel, Landgericht. Roman, Wien 2012
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„Wir gehen und wir wandern...“- Predigt zu Lukas 2,41-52 von Christoph Maier
„Wir gehen und wir wandern...“
Pilgerschaft
„Wir gehn dahin und wandern von einem Jahr zum andern,
wir leben und gedeihen vom alten bis zum neuen.“ (EG 58,2)
Wieder ist ein Jahr vergangen. Kaum hat man sich an die 2014 im Datum einigermaßen gewöhnt, schon muss man sich wieder umstellen. Wir schreiben jetzt das Jahr 2015 nach Christus. Pilger sind wir nicht nur von einem Jahr zum anderen. Das Leben eines Christenmenschen lässt sich auch 2.015 Jahre nach Christi Geburt als Pilgerweg beschreiben. Wir Pilgern auf den Spuren der Mütter und Väter unseres Glaubens. Auf diesem Weg zu entdecken, wo wir hingehören, zu entdecken, wo wir dem Geheimnis Gottes begegnen können, wo Frieden, wo Freude, wo Ruhe und Geborgenheit wartet, dafür lohnt es sich immer wieder aufzubrechen, Neues zu wagen und die Mühen des Weges in Kauf zu nehmen.
Liebe Gemeinde,
unser Predigttext erzählt von solch einem Pilgerweg besser gesagt von dem Rückweg. Maria und Josef sind mit Freunden und Bekannten wie in jedem Jahr beim Passafest in Jerusalem gewesen. Gut gelaunt und voller Eindrücke machte sich der Tross aus Nazareth wieder auf den Heimweg. Erst am Abend, als man sich zur Zwischenübernachtung niederlassen wollte und der Knabe nicht auftauchen wollte, werden die Eltern unruhig. Wie gut, dass der Evangelist Lukas uns als Leser schon wissen lässt, was den Eltern erst in banger Ahnung allmählich dämmert: „als die Tage vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem und seine Eltern wussten's nicht.“ (Lk 2,43) Gut möglich, dass die Pilgerreise, die ja eigentlich schon zu Ende war, gerade jetzt erst beginnt!
Lukas leitet mit der Geschichte vom 12 jährigen Jesus im Tempel das Ende der Kindheitserzählungen Jesu ein und kommt damit zum Beginn des Erzählstoffes, wie ihn schon Markus als das „Evangelium von Jesus Christus, dem Sohn Gottes“ (Mk1,1) erzählt. Eine Pilgerreise, eine Weggeschichte, das ist das besondere Kennzeichen des Lukasevangeliums. Lukas nimmt uns als Leser mit auf dem Weg Jesu nach Jerusalem zu jenem einzigartigen Passafest, das Jesus dort mit seinen Jüngern gefeiert hat. Lukas gestaltet seinen Evangelienstoff als Weggeschichte als Pilgerrreise und dann als alles zuende schien, als die Jünger sich nach dem Passafest wieder auf den Heimweg machen, da geht die Pilgerreise eigentlich erst los. Zum Beispiel für die Zwei, die sich auf dem Weg nach Emmaus befanden und deren Herz brannte, als ihnen der Fremde in ihrer Traurigkeit ein wenig Gesellschaft leistete. Da geht die Geschichte noch einmal los, noch einmal beginnt die Reise und Lukas beginnt den zweiten Band seines Doppelwerkes. Wieder startet er in Jerusalem und wieder ist der Weg, die Reise ein zentrales Gestaltungselement. Die Apostelgeschichte des Lukas erzählt als Teil 2 des Evangeliums von den Missionsreisen der Apostel. Von Menschen auf dem Pilgerweg wie sie die Geschichte Gottes zu den Menschen tragen hinaus in alle Welt, auch zu uns.
Pilgerwege auf denen wir den Gott suchen, den wir doch scheinbar schon so gut kennen. Pilgerwege auf denen wir Gott begegnen möchten, der uns doch immer wieder entschlüpft und verlohren geht. Mal als 12 jähriger Knabe in Jerusalem, mal als gekreuzigter Gott auf Golgatha, mal als erstartes Feuer in der Geschichte der Kirche. Pilger, Gottsucher, Nachfolge...
„Wir gehn dahin und wandern von einem Jahr zum andern,
wir leben und gedeihen vom alten bis zum neuen.“ (EG 58,2)
Zum Tempel
Seit dem 4. Advent folgen wir nun in der Reihe der liturgisch vorgesehenen Predigttexte der Kindheitsgeschichte des Lukas. Neben den Schauplätzen überm Gebirge, als Maria durch den Dornwald ging und dem wohl berühmtesten Schauplatz der Kindheitsgeschichte Bethlehem gibt es genau einen weiteren zentralen Ort, an den wir in diesen ersten zwei Kapiteln immer wieder geführt werden: den Tempel in Jerusalem. Dreimal führt uns Lukas an diesen Ort.
Mit Zacharias, dem Vater Johannes des Täufers, gehen wir hinein. Die Gottesbegegnung hat ihn stumm gemacht, verstört, unfähig das Wort auszusprechen und doch gerade so fähig, Gott zu folgen und den zu zeugen, der zum Zeugen werden soll. Pilgerwege führen in die Sprachlosigkeit es muss erst noch geboren werden, was Zeugnis geben kann. Pilgerwege führen ins Schweigen.
Mit den beiden Alten Simeon und Hanna sind wir erneut im Tempel in Jerusalem. 40 Tage nach der Geburt bringen die Eltern den Knaben zum Tempel, um die vorgesehenen Opfergaben darzubringen. Jesus wird schon erwartet. Er wird ihnen gebracht, denen die ein ganzes Leben lang gewartet haben, auf diese Begegnung mit Gott. Die Gottesbegegnung hat sie froh gemacht und voller Frieden. Pilgerwege führen zur Freude und Ruhe, sie führen dazu, dass wir das eigene Leben loslassen und so – noch unterwegs – am Ziel sein können.
Und schließlich führt uns Lukas ein drittes und letztes Mal in der Kindheitsgeschichte nach Jerusalem an den Tempel. Nach 12 Jahren, „da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten. Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“
Pilgerwege führen ans Ziel, wenn man weiß, wo man hin will.
„Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“
Wo ist Jesus zu finden? Wie verstörend und erschreckend muss es sein zu merken, dass man den, den man bei sich auf dem Weg glaubte, unterwegs verloren hat. Nein, Verwandte und Freund haben ihn nicht für mich mitgenommen. Wo könnte er sein. Wo soll man dann anfangen zu suchen. Pilgerwege führen zur Umkehr, dorthin zurück, wo sich die Spur verloren hat, dorthin wo man ihn zuletzt gesehen hat.
Und da finden sie ihn – und finden ihn doch nicht. Nicht den als Kind geglaubten finden sie, sondern den, der den Glauben auf der Höhe der Zeit diskutiert, der den Gelehrten ein ebenbürtiger Gesprächspartner sein kann, dort finden sie den, den sie unterwegs verloren hatten und es noch nicht einmal merkten.
Das Leben eines Christenmenschen gleicht einem Pilgerweg, wo ist der sichere Tempel, der Ort, das Ziel, wo Gott wohnt, wo wir Gott begegnen können. Als Lukas sein Evangelium zu schreiben beginnt, ist der Tempel in Jerusalem schon zerstört, ist alle Sicherheit über Gottes Aufenthaltsort in der Welt mal wieder verlohen. Wo ist Gott zu finden, wohin führt der Weg den wir wandern, von einem Jahr zum andern?
„Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem,
was meines Vaters ist?“
In Maria, in der Krippe, in der Freude Elisabeths, im Frieden des Simeon, in mir?
„Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem,
was meines Vaters ist?“
Dies ist keine Geschichte über einen pubertierenden Jungen, der der elterlichen Vormundschaft entwachsen will. Der endlich eigene Wege geht, unverstanden von den Eltern. Dies ist keine Geschichte, die den Rebellen Jesu, der später die Tische der Händler im Tempel wütend zur Seite schleudert, vorzeichnet. Jesus kehrt brav zurück ins Haus seiner Eltern „und war ihnen untertan.“
Lukas schreibt diese Geschichte aus der Perspektive der Eltern und er lässt uns als Leser ahnen, dass es auch unsere Suche sein kann, die Maria und Josef da beginnen.
Es ist vor allem wieder eine Geschichte Marias, die uns durch die Geburts- und Kindheitsgeschichte mit ihrer Empfänglichkeit für das Göttliche und ihre Empfindsamkeit für den Glauben zur treuen Begleiterin geworden war. In Maria spiegeln sich Emotion und Glaube, Hoffnung und Freude und Frieden.
Es ist eine Geschichte Marias, als Mutter des Glaubens geht sie den Pilgerweg voran und behält auch diesesmal „alle diese Worte in ihrem Herzen.“
Amen
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Jesus suchen - Predigt zu Lukas 2,40-52 von Matthias Loerbroks
Jesus suchen
Das Kind wuchs und wurde stark, voller Weisheit und Gottes Gnade war auf ihm.
Und seine Eltern wanderten, wallfahrten jedes Jahr nach Jerusalem zum Pessachfest.
Und es geschah als er zwölf Jahre alt war, da stiegen sie hinauf nach dem Brauch des Festes.
Und als die Tage vollendet waren und sie sich wieder umwandten, blieb das Kind Jesus in Jerusalem, und seine Eltern erkannten es nicht.
Sie meinten, er sei unter den Weggenossen, und sie kamen eine Tagesreise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten.
Und als sie ihn nicht fanden, wandten sie sich wieder um nach Jerusalem und suchten ihn.
Und es geschah: nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel. Er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und fragte sie.
Alle aber, die ihn hörten, waren außer sich über seinen Verstand und seine Antworten.
Und als sie ihn sahen, waren sie bestürzt, und seine Mutter sprach zu ihm: Kind, warum hast du uns das angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich unter Schmerzen gesucht.
Und er sprach zu ihnen: was habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?
Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen redete.
Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen untergeordnet. Und seine Mutter behielt alle die Worte in ihrem Herzen.
Und Jesus machte Fortschritte in der Weisheit und im Wuchs und in der Gnade bei Gott und den Menschen.
Jesus geht verloren und wird schmerzlich gesucht. Zuerst suchen seine Eltern ihn unterwegs bei Bekannten und Verwandten, vermuten ihn unter den Weggenossen, sind sich sicher: Jesus ist mit ihnen unterwegs, auch wenn sie ihn nicht sehen, sondern suchen. Aber da, im Kreis der Vertrauten, in seiner gewohnten Umgebung ist er nicht zu finden, und so kehren seine Eltern um, kehren zurück nach Jerusalem und suchen ihn dort. Und da finden sie ihn schließlich, und zwar durchaus nicht im vertrauten Milieu, nicht unter Weggenossen, Bekannten und Verwandten, sondern in einer ganz anderen Umgebung, mitten unter den Lehrern, den Theologen Israels, den Schriftgelehrten, Schrifterforschern, Schriftdiskutierern: auch Jesus selbst sucht, und fragt und forscht. Nicht ohne Vorwurf – warum hast du uns das angetan? – weist seine Mutter Jesus darauf hin, dass er ihr und seinem Vater Schmerzen zugefügt hat mit seinem Verschwinden: Dein Vater und ich haben dich unter Schmerzen gesucht. Und diese Schmerzen müssen grausam gewesen sein, wie nicht nur alle Mütter und Väter unter uns nachvollziehen können, denen einmal auch nur für Stunden, nicht zu reden von drei Tagen ihr Kind verloren ging, sondern wie auch im Zusammenhang des Lukasevangeliums deutlich wird. Nur noch zwei weitere Male taucht dieses Wort für Schmerz in diesem Buch auf, und beide in der Geschichte vom reichen Mann und dem armen Lazarus, als davon die Rede ist, dass der Reiche nach seinem Tod Höllenqualen erleidet: so höllisch schmerzhaft war die Suche nach Jesus. Das einzige weitere Mal findet sich das Wort bei Lukas nicht in seinem Evangelium, sondern in der Apostelgeschichte, als sich Paulus in Milet für immer von seinen Gemeinden verabschiedet, als sozusagen die Leidensgeschichte des Paulus beginnt, die Lukas deutlich nach dem Bilde der Passion Jesu gestaltet hat. Und eine Andeutung in diese Richtung enthält auch unsere heutige Geschichte: nach drei Tagen finden sie ihn wieder, am dritten Tag. Das erinnert an den Ostermorgen und die Frage: was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten? Ähnlich hier die Frage Jesu an seine Eltern: was habt ihr mich gesucht? Er findet es völlig selbstverständlich, wo er zu finden ist: im Tempel in Jerusalem und zwar im Gespräch mit den Lehrern Israels über die Schrift. In der Gegenfrage Jesu: wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in den Dingen meines Vaters?, in seiner Aufnahme des Stichworts Vater – dein Vater und ich haben dich unter Schmerzen gesucht – haben manche einen kritischen, einen zurechtweisenden Ton gehört, als wollte der Zwölfjährige seine begreiflicherweise noch nicht sehr katechismuskundige Mutter über seine Gottessohnschaft belehren, über die Lehre von der Jungfrauengeburt und womöglich die von der Trinität, aber wir merken alle, dass da christlich theologischer Übereifer ins Alberne umgeschlagen und damit gerecht bestraft ist.
Auf zwei Seiten löst Jesus mit seinem Verhalten großes Erstaunen, fast Entsetzen aus: die Lehrer, die mit ihm sprechen, sind ganz außer sich über seinen Verstand und seine Antworten. Dass unsere Erzählung sich nicht ganz schlüssig ist, ob Jesus diesen Lehrern zuhörte und sie befragte oder ob er ihnen antwortete, sie also ihn befragten, muss uns nicht beunruhigen, denn zum einen ist es gute jüdische Art, mit einer Gegenfrage zu antworten – so ja auch Jesu Antwort an seine Mutter –, zum anderen sind nicht nur in der Schriftauslegung, sondern im jüdischen Lernen überhaupt Fragen wichtiger als Antworten. Eine jüdische Mutter fragt ihr Kind, wenn es aus der Schule kommt, nicht, ob es gut gelernt, gut geantwortet, sondern ob es eine Frage, möglichst eine gute Frage gestellt hat. Hier aber reagieren Mutter und Vater nicht stolz und erfreut auf die Gesprächsbeiträge ihres Schulkinds, sondern sind ihrerseits höchst erstaunt, ja bestürzt. Zwar gilt ein jüdischer Junge mit zwölf als erwachsen und mündig in religiösen Dingen, aber seine Eltern hatten nicht damit gerechnet, dass Jesus so selbstverständlich, aber auch so massiv davon Gebrauch macht. Die Eltern sind höchst erstaunt darüber, dass sie ihren Sohn nicht dort finden, wo sie ihn vermuteten, sondern in einer ihnen fremden Umgebung. Die Lehrer Israels sind nicht nur darüber verblüfft, dass, sondern auch wie er sich an ihrem Gespräch beteiligt.
Und nun folgen wir diesem Beispiel des Suchens, Fragens und Forschens und überlegen, warum und wozu uns Lukas diese Geschichte erzählt und was er uns damit sagt. Ich glaube nicht, dass er es nötig hat, uns Jesus als eine Art religiöses oder theologisches Wunderkind anzupreisen – etwa so wie das in viel zu vielen kitschigen Büchern und Filmen über Wolfgang Amadeus Mozart geschieht –, auch nicht, etwas ernsthafter, dass hier vom Drama des begabten Kindes die Rede ist. Aber Lukas legt auch sonst Wert darauf, dass mit Jesus nicht einfach ein Meister vom Himmel gefallen ist, dass er aufs Gespräch mit anderen, die Befragung anderer angewiesen ist, um sich über sich selbst klar zu werden: was sagen die Leute, wer ich sei? Und was sagt ihr?, fragt er seine Jünger. Und in einer Vision, möglicherweise einer vorweggenommenen Ostervision, sehen ihn drei seiner Jünger im Gespräch mit Mose und Elia, also mit der fleischgewordenen Hebräischen Bibel, der Tora und den Propheten in Person. Doch hier wird deutlich, er ist nicht nur auf ein Gespräch mit der Schrift, sondern auch mit ihrer jüdischen Auslegung angewiesen.
Unsere Geschichte ist umrahmt von Hinweisen auf das Wachstum Jesu: Das Kind wuchs, wurde stark und voll Weisheit, und Gottes Gnade war auf ihm, heißt es zu Beginn. Und am Schluss: Jesus machte Fortschritte in der Weisheit, im Wuchs und in der Gnade bei Gott und den Menschen. Das sind nicht nur Hinweise auf seine Entwicklung und sein Lernen, sie betonen auch seine enge Zusammengehörigkeit mit Johannes dem Täufer, von dem es zuvor hieß: Das Kind aber wuchs und wurde stark im Geist. Die beiden werden auch sonst von Lukas eng verbunden, ihre Geburten und deren Ankündigungen, die Schwangerschaften ihrer Mütter, die revolutionären Gesänge, die der Geist dem Vater des Johannes und der Mutter Jesu auf die Lippen legt. Und nun steht ihre Begegnung als Erwachsene bevor. Beide werden durch diese Hinweise auch noch biblisch eingeordnet. Bibelkundige Lukasleser erinnern sie an Samuel, dessen Geburt seine Mutter mit einem ähnlich revolutionären Lied begrüßt, der als Kind ganz und gar beim damaligen Heiligtum – einen Tempel gab es noch nicht – aufwächst: der Knabe Samuel wuchs auf beim HERRN, heißt es da, und: der Knabe Samuel nahm immer mehr zu an Alter und Gunst bei dem HERRN und bei den Menschen. Er wurde zwar nicht selbst zum Messias, zum Gesalbten, aber er wurde – ähnlich wie Johannes – zum Königsmacher, indem er den Gesalbten des HERRN salbte.
Damit wird deutlicher, wozu uns diese Geschichte erzählt wird. Die christliche Gemeinde ist sich vielleicht allzu sicher, dass Jesus mit ihr unterwegs ist, auch wenn sie ihn nicht sieht. Sie ist manchmal in Gefahr, die Besitzverhältnisse umzukehren, als sei sie nicht die Kirche Jesu Christi, sondern Jesus Christus sei so etwas wie verbrieftes Eigentum der Christen. Wenn etwa von der Absolutheit des Christentums die Rede ist, liegt so eine Verwechslung zwischen Jesus Christus und der Kirche vor. Auch die apodiktischen Sätze, die wir vorhin aus dem Johannesbrief hörten: wer den Sohn hat, hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, hat das Leben nicht, können wie eine stolze Besitzanzeige verstanden werden, und sind das auch, auch wenn Johannes fortfährt: das habe ich geschrieben, damit ihr wisst, dass ihr ewiges Leben habt – also nicht als Munition gegen andere. Und so neigen Christen dazu, Jesus nur noch im Kreis des Vertrauten, Verwandten und Bekannten zu suchen. Wir werden aufgefordert, ihn da zu suchen, wo wir ihn nicht vermutet hätten: im Gespräch mit der Hebräischen Bibel und ihrer jüdischen Auslegung, im Gespräch also mit jenen Schriftgelehrten, die wir uns sonst immer als Gegner Jesu vorgestellt haben. Damit es uns nicht so geht, wie es hier von den Eltern Jesu heißt: Sie aber verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen redete.
Wahrscheinlich gab es schon zu der Zeit, als Lukas schrieb, keinen Tempel in Jerusalem mehr. Seine starke Ausrichtung dorthin – letzte Woche hörten wir davon, wie Jesus schon als Baby nach Jerusalem und zum Tempel kam, und seine letzte Reise nach Jerusalem, wiederum zum Pessachfest, aber auch zu Tod und Auferstehung, geht bei ihm zehn Kapitel lang – ist darum auch im übertragenen Sinn: als Ausrichtung auf die Mitte des Judentums gemeint, auch wenn es inzwischen längst wieder möglich ist, Jüdisches in Jerusalem zu lernen. Die Schrift ist inzwischen bei Juden wie bei Christen zu einer Art transportablem Heiligtum, zu einem Zelt der Begegnung geworden. Und damit auch zu einer Möglichkeit, Jesus wieder zu finden, wenn wir ihn verloren haben – sofern wir ihn überhaupt schmerzlich suchen und vermissen. Lukas erinnert an diese Möglichkeit, indem er hier an seine Weihnachtsgeschichte anknüpft: Maria bewahrte alle diese Worte in ihrem Herzen.
Amen.
Ich schlage vor, v40 hinzuzunehmen, da er mit v52 einen Rahmen um die Geschichte bildet.
Lieder:
Als erstes Lied nach einer Begrüßung mit dem Wochenspruch aus Joh 1,14:
441,1-5 oder 70,1-4;
nach der Epistel: 5,1-3 oder 37,2-3 oder 20,5-8 oder 341,5-8:
nach dem Evangelium: 105,5.8 oder 282,1-2;
nach der Predigt: 252,3-4 oder 282,3-6;
zwischen Abkündigungen und Gebet: 346,1-4;
als Schlussstrophe zwischen Gebet und Segen: 300,3 oder 70,7.
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Der aufmüpfige Knabe - Predigt zu Lukas 2,41-52 von Klaus Pantle
Der aufmüpfige Knabe
Seine Eltern gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest.
Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach dem Brauch des Festes.
Als die Tage vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem und seine Eltern wussten's nicht. Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wieder nach Jerusalem und suchten ihn.
Und es begab sich nach drei Tagen, da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten.
Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: „Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“
Und er sprach zu ihnen: „Warum habt ihr mich gesucht? Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte.
Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen untertan.
Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen.
1
Kommt ein Kind auf die Welt ist die Freude groß. Aber kaum ist des da, beginnen die Probleme. Es wird größer, krabbelt aus dem Nest, entwächst seinen Eltern und versucht ihren Fittichen zu entfleuchen. Nicht nur manchen Eltern in deutschen Großstädten fällt es schwer, ihre Kinder loszulassen. Auch für die Eltern des „göttlichen Kindes“ ist das so.
Anfang Dezember schrieb der Schulleiter einer Stuttgarter Grundschule einen Brief an die Eltern seiner Schülerinnen und Schüler:
„’Persönlichkeit stärken – Gemeinschaft entwickeln’, dieser Leitspruch unserer Schule lässt sich, zumindest im ersten Teil, immer schwerer verwirklichen. Das liegt auch daran, dass Eltern zunehmend Schwierigkeiten haben, loszulassen. So erleben wir täglich, wie viele Eltern ihre Kinder mit dem Auto zur Schule bringen, verkehrswidrig und häufig gefährlich an der Kreuzung und vor dem Haupteingang der Schule parken, Kind und Schulranzen ausladen, den Ranzen teilweise bis ins Klassenzimmer tragen, dem Sohn oder der Tochter die Jacke abnehmen, helfen, die Hausschuhe anzuziehen, die unterschiedlichen Dinge mit der Klassenlehrerin besprechen. Und dies nicht selten nach Beginn des Unterrichts um 7.45 Uhr. … Neben der fehlenden Selbstständigkeit der Kinder kommt es durch die große Zahl der im Haus befindlichen Eltern immer wieder zu Störungen des Unterrichts, etwa durch Elterngespräche vor Unterrichtsende auf dem Flur oder winkende Eltern an den Fenstern.“ Im Gespräch erzählt er: „Bringt ein Kind eine mit einer 2-3 benotete Mathematik-Arbeit nach Hause, auf der der Lehrer vermerkt hat: ‚Wenn du dich noch mehr anstrengst, dann kannst du eine Zwei schaffen‘, dann stehen am nächsten Morgen die Eltern im Klassenzimmer und verlangen eine Erklärung.“
Solche Eltern würden Maria und Josef für ihren Umgang mit Jesus heute vermutlich beim Jugendamt anzeigen.
2
Maria, Josef und ihr Halbwüchsiger pilgern im Kreise ihrer Dorfgemeinschaft am Freitag nach dem ersten Frühjahrsvollmond zum Passafest nach Jerusalem. Wie in jedem Jahr begehen sie dort die rituelle Erneuerung des Auszugs des Volkes Israel aus Ägypten. In der Antike taten ihnen das Abertausende von Juden aus Kleinasien, Mesopotamien, Syrien und Ägypten gleich. Man schloss sich für diese Tour zum Schutz vor Überfällen in Karawanen zusammen. So kamen damals geschätzte 90.000 Feiertags-Touristen in diese Stadt, die normalerweise nur ca. 30-50.000 Einwohnern hatte. Dass die erhebliches Gedränge verursachen, in dem ein zwölfjähriger Knabe schon einmal verloren gehen kann, ist nachvollziehbar.
Jesus verschwindet in den Tempel und diskutiert dort mit Schriftgelehrten. Die Erzählung lässt vermuten, dass Jesus als Sohn des „mittelständischen Bauunternehmers“ Josef von Pharisäern in der jüdischen Tradition unterrichtet worden war. In seinem Alter war er religionsmündig. Der jüdische Historiker Flavius Josephus (ca. 37-100 n. Chr.) berichtet von sich selbst, dass er so gewaltige Fortschritte in seiner Ausbildung gemacht hätte, dass er im Ruf überragender Gedächtnis- und Verstandeskraft gestanden hätte. Schon in seinem 14. Lebensjahr hätte ihn deshalb der Hohepriester wegen seiner Schriftkenntnisse gelobt und hätten die Hohenpriester und Vornehmsten Jerusalems von ihm genauere Auskünfte über einzelne Gesetzesbestimmungen gebeten (Jos.vit. 8-10) „So bleibt die Erzählung von dem Zwölfjährigen, der mit Schriftgelehrten über das Gesetz zu diskutieren verstand, im Rahmen des für die Zeitgenossen Wahrscheinlichen“ (Otto Kaiser). Das Interessante an dieser Geschichte ist der inhaltliche Aspekt. Hier scheint früh auf, was für Jesu späteres Wirken bestimmend wird: Das ist sein Ringen um die richtige Auslegung der Tora. Und es ist die Freiheit, die er sich nimmt, darüber offen zu diskutieren und zu streiten.
Auch Jesu Selbstverständnis als „Sohn Gottes“, das in seiner Antwort auf Marias Vorwurf zum Ausdruck kommt, ist nichts Besonderes. Als Söhne und Töchter Gottes verstanden sich in dieser Zeit alle Jüdinnen und Juden. Als Gotteskind galt jeder, der sich um Gottes Weisheit bemühte, der sich ihr öffnete und nach ihr lebte (Jesus Sirach 6, 18-37). Das Interessante an dieser Geschichte ist die Radikalität und die Konsequenz, mit der Jesus das schon als Knabe tut.
3
Auffällig an dem verbalen Schlagabtausch zwischen Jesus und seinen Eltern im Tempel sind zwei Dinge. Zum einen wird das spannungsvolle Verhältnis Jesu zu seiner Mutter offenbar. Zum zweiten stellt sich die Frage, was Jesus mit seiner geheimnisvollen Entgegnung: „Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ meint.
Die Eltern finden ihren Sohn wieder und die Mutter schaltet sofort in den Vorwurfs-Modus. Der Vater steht stumm daneben. Josef, von dem kein einziges gesprochenes Wort überliefert ist, wird nach dieser Szene nicht mehr erwähnt. Starke Väter stellen sich ihren Söhnen, schwache Väter entziehen sich. Josef, so scheint es, hat nichts zu sagen. Jesu komplizierte Geschichte mit seinen verschiedenen „Vätern“ bleibt in mythisches Dunkel gehüllt. Seine Mutter dagegen bleibt präsent bis zu seinem Tod. Der hier aufscheinende Mutter-Sohn-Konflikt zieht sich durch das gesamte Evangelium. Erst nach Jesu Tod wird Maria „verstehen“. Erst dann bekommt sie ihren mythischen Glanz. Trotz oder vielleicht wegen seines prekären Verhältnisses zu Josef spricht Jesus im Evangelium nur von Vaterliebe und nie von Mutterliebe. Im weiteren Verlauf zitiert Lukas eine Frau aus dem Volk, die Jesu Mutter selig preist: „Selig ist der Leib, der dich getragen hat, und die Brüste, an denen du gesogen hast.“ Kühl entgegnet Jesus: „Ja, selig sind, die das Wort Gottes hören und bewahren“ (Lukas 11, 27-28). Als ihm an anderer Stelle berichtet wird, dass seine Mutter und seine Brüder draußen auf ihn warten, antwortet er lakonisch: „Meine Mutter und meine Brüder sind diese, die Gottes Wort hören und tun“ (Lukas 8, 21). Sprich: Meine wahre Familie sind nicht meine Blutsverwandten, sondern diejenigen, die sich entschieden haben, in der von Gott geschenkten Heilsordnung mit ihrem ethisch-moralischen Bezugssystem zu leben. Jesu Bio-/Patchwork-Familie gibt kein Beispiel ab für eine idyllische „Heilige Familie“. Er pflegt eine ausgesprochen familienkritische Tradition. Von seiner Blutsfamilie hat er sich nicht mit freundlichen Abschiedsworten gelöst, sondern er hat sich losgerissen, Wahlverwandte gesucht und zusammen mit ihnen eine Gegenfamilie gegründet. Im Tempel verhält sich der Vierzehnjährige wie ein arrogantes „Pubertier“. Er ignoriert den Vorwurf der Mutter, dass sie ihn tagelang gesucht und sich Sorgen um ihn gemacht haben. Geradeheraus kanzelt er die Eltern ab: „Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ Die Mutter ist perplex, der Vater sprachlos. Gelingende Kommunikation sieht anders aus. Heile Familie auch.
Was Jesus wegtreibt von seiner Bio-/Patchwork-Familie, das ist die Suche nach seinem „wirklichen Vater“. Es ist die Suche nach dem Vater, der ihn lehrt, wie er leben kann, der ein vollkommenes Vorbild ist und das ihn zur Identifizierung einlädt. Es ist die Suche nach dem Vater, der alles vermag und die Welt heilt und heiligt. Aber wo lässt sich dieser Vater finden?
In der Mitte dieser Erzählung steht das griechische Wort meso, „Mitte“. Im Tempel, „mitten unter den Lehrern“, hat der Zwölfjährige seinen Platz, seine „Mitte“ gefunden. Jesus folgt hier nicht nur der religiösen Konvention, die den „Glanz Gottes“ (Psalm 50, 2) auf dem Berg Zion im Allerheiligsten des Tempels wohnend findet und davon ausgeht, dass Gott die dort gesprochenen Gebete erhört. Aus der Erzählung wird noch etwas anderes deutlich: Jesus sucht und findet „seinen Vater“ in der Diskussion, im Disput - im Ringen um das richtige Verständnis des Gesetzes. Das bezeichnet man zu dieser Zeit als „Weisheit“. Die „Weisheit Gottes“ erweist sich als Erkenntnis der Schrift. Gerade bei den Gesprächen mit den Schriftgelehrten, den „Weisen Israels“, ist Jesus „mitten in dem, was seines Vaters ist“. Gott ist in der Weisheit gegenwärtig. Und in der Weisheit zu sein, bedeutet in dem zu sein, was des Vaters ist. Jesus, der später selbst als menschgewordene Weisheit Gottes bezeichnet wird (1. Kor. 1, 21-25), begibt sich nach dem Zeugnis des Lukas schon als Knabe in freier Entscheidung hinein in den Bezugsrahmen dieser Weisheit. Innerhalb dieses Bezugsrahmens entwickelt er im Laufe seines Heranwachsens Leitideen für ein „erwachsenes“ Leben aus einem freien Verständnis der Tora heraus. Es ist ein Bezugsrahmen, der um die Liebe Gottes zentriert ist. Das von Gott geliebte und auserwählte Kind liebt den Vater wie seinen Nächsten und sich selbst (Lukas 10, 25-28). Sogar der Feind wird einbezogen in diese Liebe (Lukas 6, 27-28). Diese grundlegende Entscheidung wird ihn geradezu zärtlich die Berührung suchen lassen mit den Randständigen und Ausgestoßenen, mit den Armen und Kranken, den Sündern und Huren. Sie lädt er an seinen Tisch und holt sie damit hinein in die lichte Welt Gottes. Dahinter mag die Erkenntnis stehen: „Jedes Wissen muss theoretisch bleiben, wenn es nicht zur eigenen Weisheit wird und zur konkreten Berührung führt. Die einzige Lehrerin, die uns auf Dauer wirksam verwandelt, ist die Erfahrung“ (Marica Bodrožić). Im allerersten von Jesus überlieferten Satz scheint schon sein gesamtes Lebensschicksal auf. Im Bekenntnis, in dem sein zu müssen, was seines Vaters ist, zeigt sich seine „Passion“: Sein Passion in Gestalt seiner Leidenschaft für den heilsgeschichtlichen und ethisch-moralischen Bezugsrahmen, der sich aus der göttlichen Weisheit herleitet. Und seine Passion im Sinne von Leidensbereitschaft, sich mit Haut und Haaren dafür einzusetzen. So wird der Sohn tatsächlich zum Gleichnis für den Vater, zur menschgewordenen Weisheit Gottes, bei dem Sein und Handeln nicht auseinander fallen.
Noch einmal kehrt der Knabe mit seinen Eltern nach Hause zurück. Was in den darauffolgenden 18 Jahren bis zu seinem endgültigen Auf- und Ausbruch geschieht ist nicht überliefert. Aber die Fortsetzung folgt. Am Ende geht er noch einmal nach Jerusalem und erfährt die Ablehnung der „Weisheit Gottes“ auf äußerst schmerzhafte Weise.
4
Vielleicht wäre es sinnvoll, Kinder gelegentlich Kinder sein zu lassen und nicht ständig zu versuchen, sie zu bremsen und zu lenken, sprich: sie zu erziehen. Sondern als Erwachsene ihnen in ihren Suchbewegungen und in ihrem Entdeckerdrang neugierig zu folgen. Vielleicht wäre es gut, zu versuchen, gelegentlich die Welt mit Kinderaugen zu betrachten und die natürliche Weisheit von Kindern als gottgeschenkt zu begreifen. Wenn Kinder nicht von Erwachsenen entsprechend vorprogrammiert sind, gehen sie beispielsweise vollkommen vorurteilsfrei miteinander um. Ein Kind schert sich nicht um den sozialen Hintergrund oder die ethnische, kulturelle oder religiöse Tradition, der sein Gegenüber entstammt. Menschen, die mit Kindern arbeiten, erfahren jeden Tag, was Verhaltensforscher wissen: Mitgefühl und Gerechtigkeitssinn, Gemeinsinn und der Drang zur Gemeinschaft sind dem Menschen angeboren. „Bereits im Vorschulalter teilen Kinder fair, auch wenn sie sich selber mehr zuschanzen könnten. Sie bestrafen Egoisten sogar dann, wenn es zu ihrem eigenen Nachteil ist und helfen und leiden mit, wenn sie Gleichaltrige in Not sehen. Fast alle Lebewesen ‚verhalten sich im richtigen Moment solidarisch und kooperativ’, schreibt der Verhaltensforscher Frans de Waal. Nämlich dann, wenn keine unmittelbare Konkurrenz und Gefahr droht, wenn Kleinmut und Angst (zum Beispiel der Erwachsenen) gerade keinen Ausgang haben – und sich das Gute ungebremst ausleben kann“ (Werner Bartens).
„Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen“ (Matthäus 18, 3) sollte der im Tempel einst aufmüpfige Knabe in seinem späteren Erwachsenenleben einmal seinen Jüngerinnen und Jüngern sagen – in der Hoffnung, dass ihnen dieser Satz helfe, dass ihr Leben gelinge.
Literatur:
Rektor wehrt sich gegen uneinsichtige Eltern, in: Stuttgarter Zeitung 3.12.2014, S. 17
Otto Kaiser, Gottes bedürfen ist des Menschen Vollkommenheit. 40 Predigten aus sechs Jahrzehnten, Gütersloh 2013, S. 108-115
Marica Bodrožić, Mein weisser Frieden, München 2014, S. 66
Werner Bartens, Die gute Seite, in: Süddeutsche Zeitung 24./25./26.12.2014, S. 16