Die Kraft der Irritation – Er wird ein Knecht und ich ein Herr / Predigt zu Lukas 12,35-40 von Ruth Conrad
Die Kraft der Irritation – Er wird ein Knecht und ich ein Herr
Der Predigttext für den heutigen Gottesdienst am Altjahrabend steht im Lukasevangelium, Kapitel 12, die Verse 35-40:
„Lasst eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter brennen (36) und seid gleich den Menschen, die auf ihren Herrn warten, wann er aufbrechen wird von der Hochzeit, damit, wenn er kommt und anklopft, sie ihm sogleich auftun. (37) Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und wird sie zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen. (38) Und wenn er kommt in der zweiten oder in der dritten Nachtwache und findet's so: selig sind sie. (39) Das sollt ihr aber wissen: Wenn ein Hausherr wüsste, zu welcher Stunde der Dieb kommt, so ließe er nicht in sein Haus einbrechen. (40) Seid auch ihr bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr's nicht meint.
Irritationen,
liebe Gemeinde,
Irritationen haben etwas heilsames.
Weil sie unsere gewohnten und etablierten Denkmuster unterlaufen.
Wir alle haben uns ja den Alltag so eingerichtet, dass er läuft.
Wir wissen, was wir zu tun haben,
haben entschieden, wie wir denken,
wie wir das Leben verstehen,
was wir gut und was wir eher unangenehm finden.
Wir haben uns festgelegt, im Handeln, im Denken, im Fühlen, im Deuten.
Und das ist auch gut so.
Ein Leben ohne Routinen, wäre extrem anstrengend. Wir müssten uns ständig neu erfinden. Wir könnten auf nichts zurückgreifen.
Routinen erleichtern das Leben.
Der Alltag, das Etablierte, das Gewohnheitsmäßige – sie sind der Normalfall des Lebens.
Gott sei Dank ist das so und gebe Gott, dass das zurückliegende Jahr für uns alle viel Alltag, viel Gewohnheit bereithielt.
Manchmal aber stockt das Normale.
Eine Irritation tritt auf.
Die gewohnten und vertrauten Muster werden durchbrochen.
Man muss innehalten, kommt ins Nachdenken und überprüft seine Muster.
Es gibt große Irritationen, nachhaltige Erschütterungen, Beben, die sich durch die Normalitäten des Alltags fräsen – eine Krankheit, ein Todesfall, eine tiefe Enttäuschung, aber auch: eine neue Liebe, der Auszug der Kinder, eine großartige Reise, neue Horizonte.
Daneben gibt es aber auch die kleinen Irritationen, die uns ins Nachdenken bringen.
Ein neuer Gedanke, der befremdet und das Gewohnte in Frage stellt. Im Kontakt mit Kindern kommt so etwas ja verlässlich vor.
Eine Alltagskonstellation, die plötzlich alles auf den Kopf stellt.
Eine kurze Szene, eine Beobachtung, in der Straßenbahn, am Arbeitsplatz.
Ein Bild, das anregt und Impulse gibt, weil es irritiert.
Der heutige Predigttext enthält eben eine solche „bildhafte“ Irritation:
Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und wird sie zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen.
Am Ende aller Zeiten,
dann, wenn der Wechsel aller Jahre in die letzte Zeit mündet und alle Zeit sich einfügt in die Ewigkeit,
dann, in jener Zeit, wird der Herr, also Christus, den Knechten, also uns, dienen.
Dann wird der Herr die Schürze anziehen, wird den Tisch festlich decken und die Knechte werden die Gäste des Herrn sein.
Der Herr wird dienen.
Die Knechte werden bedient werden.
Dass wir Menschen Knechte sind,
liebe Gemeinde,
das ist zunächst keine sonderlich irritierende Einsicht.
Das entspricht unserer Erfahrung.
Wenn wir auf das zurückliegende Jahr blicken, dann legt sich diese Einsicht einem vielleicht sogar von selbst nahe – ein elender Knecht bin ich.
Mein Leben – immer auch das Leben eines Knechtes.
Ein beladenes Arbeitsjahr liegt hinter uns: Erfolge, Versage, lästige Kollegen, unschöne Seilschaften, Umstrukturierungen und das Tempo wird immer schneller, der Takt wird dichter und immer läuft die Angst mit, dass alles noch schlimmer wird, dass sich der eigene Job in China wiederfindet, dass der Abstieg nicht aufzuhalten und das Tempo nicht zu drosseln ist.
Auch von der Schule sagen Eltern und Kinder: Eine Knechtsanstalt ist sie geworden. Gedrängte Zeiten. Kaum ist die eine Klassenarbeit vorbei, kommt schon die nächste Reform um die Ecke und jeden Tag ist ein Kampf gegen die Lehrer, gegen die Anfechtungen der Pubertät und um die Anerkennung der Freunde.
Und auch außerhalb des Arbeitslebens – das Leben ist kein Ponyhof. Alle müssen fit bleiben, bis ins hohe Alter. Da wird man leicht zum Knecht gesellschaftlicher Erwartungen, darf keine Schwäche zeigen, soll ein nützliches und kostengünstiges Mitglied der Gesellschaft sein. Nur keinem zur Last fallen.
„Knecht sein“, das heißt also: eingespannt sein. Zurückgeschraubt aufs Funktionieren-Müssen, aufs Erfolg-Haben.
„Knecht sein“, das heißt: Anschlussfähig sein an die Erwartungen anderer, sich einfügen in die Muster dessen, was gesellschaftlich genehmigt ist.
„Knecht sein“, das heißt: Immer besser werden müssen – am Arbeitsplatz noch schneller, für den Partner oder die Partnerin noch verständiger, für die Kinder noch einfühlsamer, für die Eltern noch pflegebereiter.
„Knecht sein“, das heißt: Immer weiter, immer weiter, immer weiter. Und nie ein Wort des Dankes. C‘est la vie. So ist das Leben.
Leben heißt Knecht sein.
Und diese Einsicht wird nicht leichter, wenn wir sehen, dass wir immer doppelt darin verwickelt sind.
Denn Leben heißt auch: Zum Knecht machen.
Andere und sich selbst.
Wir überziehen auch immer unsere Mitmenschen mit Erwartungen und Ansprüchen, in die diese sich einzufügen und unterzuordnen haben.
Vom Partner erwarten wir Geborgenheit und Toleranz, von der Partnerin dann doch auch, dass die Sache mit dem Haushalt diskret abgewickelt wird.
Von den Kindern erwarten wir natürlich gute Noten und natürlich sind es im Ernstfall die Lehrer, auf die wir unsere Ansprüche weiterleiten.
Von den Mitarbeitern am Arbeitsplatz erwarten wir Engagement, Einsatz, Erreichbarkeit rund um die Uhr.
Und wann sagen wir „Danke“?
Wann durchbrechen wir diesen Knechtskreislauf von Erwartungen und Funktionieren?
Doch eher selten.
Denn wir haben dieses Prinzip so verinnerlicht, dass es sogar zu einem Muster unserer Selbstdeutung geworden ist.
Wir sind Knechte unserer selbst.
Knechte unserer Erwartungen an uns selbst,
an das, was das Leben uns zu bieten hat,
an das, von dem wir denken, dass wir es zu leisten und vorzuweisen haben.
„Auf weiter!“ – so treiben wir uns an.
Da ist noch Luft nach oben.
Karriere heißt ein Zauberwort.
Selbstverwirklichung ein anderes.
Entwicklungspotential ein drittes.
Familienglück ein viertes.
Ja, liebe Gemeinde,
es ist wahr: Wir sind Knechte.
So ist das Leben.
Und vielleicht wird einem das gerade am Altjahrabend besonders deutlich. Schon wieder so ein Knechtsjahr hinter mir.
Bis hierher ist die Aussage Jesu also wenig irritierend. Ja, wir sind Knechte.
Und das ist ja nicht nur eine verheerende Einsicht. Oft leben wir damit ja ganz gut. Vieles gelingt uns, macht uns Freude, denn irgendwie haben wir uns doch alle eingerichtet in diesem Leben und in unseren verschiedenen Knechts-Alltagen.
Wir sind routinierte Knechte.
Immerhin wissen wir so, was wann wo zu tun ist,
was man von uns erwartet,
was wir von anderen erwartet,
was wir von uns selbst erwarten,
welche Freiräume es gibt.
Der Alltag der Knechte ist der Alltag der zwar lästigen, aber doch auch schützenden Routine.
Irritationen sind nicht vorgesehen, denn: C‘est la vie. So ist das Leben.
Worin liegt nun aber die Irritation in dem, was Jesus sagt?
Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und wird sie zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen.
Die erste Irritation besteht darin, dass Jesus gar nicht leugnet, dass wir Menschen Knechte sind und dass wir andere Menschen und uns selbst zu Knechten machen.
So ist das Leben.
Der Glaube kann die Gesetze des Lebens nicht außer Kraft setzen.
Erlösung heißt nicht, die Bedingungen des Lebens abzuschaffen.
Wir kommen nicht raus aus diesem Leben. Auch nicht durch die Religion.
Zum christlichen Glauben gehört deshalb immer eine gute Portion Nüchternheit.
Eine Nüchternheit, die anerkennt: So wie es ist, ist es. Auch wenn es ätzend ist. Und anstrengend.
Die erste Irritation ist also der dezente Hinweis von Jesus, von der Religion, vom Glauben nicht mehr und nichts anderes zu erwarten, als was er zu leisten im Stande ist.
Die zweite Irritation besteht dann aber darin, dem Glauben trotzdem Großes zuzutrauen, nämlich die Hoffnung darauf, dass sich einmal alles ändern wird.
Jesus rückt unsere Alltagserfahrung in ein anderes Licht.
In das Licht des Künftigen.
Und dadurch irritiert er sie.
Denn: Am Ende aller Tage, da wird das Knechtsprinzip dieser Welt aufgehoben werden.
Weil es rumgedreht wird.
Am Ende werden die Knechte wie einst die Herren zu Tische liegen, werden sich bedienen lassen, werden empfangen und wohl versorgt werden.
Am Ende wird der HERR wie einst die Knechte eine Schürze anhaben, wird das kühle Bier und den edlen Wein servieren, das Essen auftragen und wird Sorge tragen, dass es den Knechten an nichts fehlt.
Am Ende werden die Knechte rehabilitiert.
Am Ende kommt die Ordnung, von der Gott findet, dass sie die gute ist.
Am Ende dient Gott den Menschen.
An Weihnachten, von dem wir herkommen, an Weihnachten hat diese neue Weltordnung begonnen. Hier nimmt sie ihren Ausgang.
„Er wird ein Knecht und ich ein Herr; / das mag ein Wechsel sein!“
Und seitdem breitet sie sich aus, diese gottgewollte Ordnung der Dinge.
Breitet sich aus in unseren Knechtsalltagen, in unseren Knechtshaltungen.
In unserem Denken, Handeln und Fühlen.
Denn ja, das gibt es, dass wir zwar nicht aus den Gesetzen des Lebens auszusteigen vermögen, dass wir ihnen aber hier und dort Freiheiten und Widerständiges abzutrotzen vermögen.
Weil wir uns den Intrigen, die die anderen funktionalisieren, verweigern.
Weil wir uns überhaupt einmal klar werden darüber, in welche Erwartungen wir uns und die anderen ständig einstricken.
Und weil wir mindestens die anderen einmal freigeben, indem wir die Erwartungen an uns selbst nicht immer auch gleich auf die anderen übertragen.
Weil wir zur Ruhe kommen können, wenn wir einsehen: Das Glück des Lebens ist nicht mit der Menge erfüllter Ansprüche und Erwartungen identisch.
Weil wir in unserer Seele fühlen: Ich bin ein Herr, auch wenn ich als Knecht lebe, leben muss.
Das ist die Würde, die der christliche Glaube zu geben vermag und die verhindert, dass wir zu Tyrannen werden, gleichsam zu Knechts-Tyrannen.
Der Glaube vermag nicht die Bedingungen und Gesetze des Lebens außer Kraft zu setzen. Auch nicht im Neuen Jahr. Aber er vermag die Haltung zu ihnen zu irritieren und damit zu unterlaufen. Weil wir in Christus ein Zeichen haben dafür, wie es wirklich sein soll, wie es dereinst sein wird, in alle Ewigkeit und wie es hier und jetzt schon sein kann, auch im Neuen Jahr.
Erlösung heißt also nicht, die Bedingungen des Lebens abschaffen zu können.
Erlösung heißt: Eine veränderte Sicht gewinnen. Und deshalb anders leben wollen – und können.
Irritationen,
liebe Gemeinde,
Irritationen haben etwas heilsames.
Weil sie unsere gewohnten und etablierten Denkmuster unterlaufen und durchbrechen.
Wir halten inne, wie an diesem letzten Abend des Jahres, kommen ins Nachdenken und überprüfen unsere Muster.
So aber können wir Freiheit zurück gewinnen,
eine veränderte Haltung zu den Routinen und Zwängen unseres Lebens,
eine Hoffnung, die über die Zumutungen des Alltags und die Bedingungen des Lebens hinausreicht,
eine Ahnung davon, wie es eigentlich sein soll, wie Gott es will und wie es einst sein wird.
Ja, wir sind Knechte in diesem Leben.
Ja, wir kommen da nicht raus.
Und ja, auch der Glaube führt da nicht raus. So gerne wir das vielleicht hätten und so leichtfertig uns das manchmal suggeriert wird.
Aber nein, so wird es nicht bleiben.
Nicht für immer.
Nicht in alle Ewigkeit.
Und ja, diese Hoffnung verändert unser Leben schon heute, hier und jetzt.
In dieser Hoffnung wollen wir über die Schwelle der Jahre gehen.
Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und wird sie zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen. Darum seid auch ihr bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr's nicht meint. Amen
Predigtlied: EG 27, 1-6 Lobt Gott, ihr Christen alle gleich
Ich lese Lk 17, 7-10 als „Parallelperikope“ des heutigen Predigttextes und lege diesen vor diesem Hintergrund aus.
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Jedes Jahr ist ein „Jahr des Herrn“ - Predigt zu Lukas 4,16-21 von Reiner Kalmbach
Jedes Jahr ist ein „Jahr des Herrn“
Ein neues Jahr hat begonnen, hat Einzug gehalten. Was mag es mir bringen?, oder kann man von einem neuen Jahr überhaupt etwas „erwarten“?, müsste ich die Frage nicht umgekehrt stellen?: was kann ich in dieses Jahr einbringen, was erwartet „Gott“ von mir...?, ach ja, der liebe Gott, der will ja durch sein Wort zu uns sprechen, er will hier unter uns sein..., heute wie an jedem Gottesdienst.
Also hören wir es, es steht im Evangelium des Lukas, im 4. Kapitel, die Verse 16 – 21
Textlesung
Welch ein Wort!, sachlich und nüchtern beschreibt Lukas dieses Ereignis, und vielleicht gerade deshalb kommt es bei mir an, bewegt mich, (er)füllt meine Seele bis in den letzten Winkel...und wenn ich dieses Wort etwas länger auf mich einwirken lasse, dann entsteht so etwas wie eine Unruhe in mir, fast könnte ich sagen, es erschreckt mich.
Welch ein Wort!, und damit soll ein neues Jahr beginnen..., was wollen wir mehr?! (wir könnten es vielleicht ernst nehmen...). Schliesslich wird uns ein ganz besonderes Jahr verkündet: das „Gnadenjahr des Herrn“.
Jedes neue Jahr ist ein „Jahr des Herrn“.
Niemand weiss heute was morgen sein wird. Alles, was mit der Zukunft zu tun hat, ist offen, ungewiss...
Ja, diese Geschichte bewegt mich, vielleicht auch deshalb, weil sie mich an meinen eigenen Weg erinnert: Jesus kommt, vielleicht nach längerer Zeit zum ersten Mal, in sein Heimatdorf. Es muss ihm nicht unbedingt ein besonderer Ruf vorauseilen, dennoch wird seine Ankunft eine gewisse Aufmerksamkeit erregt haben.
Aufgewachsen bin ich in einem kleinen Dorf im Schwäbischen. Man kennt sich, man gehört zur „Dorfgemeinschaft“. Aber dann hat es mich fortgezogen. Ab und zu kam ich auf Besuch, das ist kaum aufgefallen. Viele junge Menschen zieht es in die Stadt. Später dann das Theologiestudium und danach die Ausreise nach Argentinien. Eines Tages kehre ich in mein Dorf zurück, nun als Pfarrer. Da gibt es für ein paar Tage kein anderes Gesprächsthema. Natürlich werde ich eingeladen am Sonntag zu predigen. Eine kleine Gemeinde, die sich allsonntäglich in der kleinen Dorfkirche versammelt. Der Kirchgang gehört einfach dazu, niemand würde diese Tradition in Frage stellen, alles nimmt seinen gewohnten Gang, auch die Liturgie, die Predigt...Früher, als ich noch dazu gehörte, fragte ich mich oft, ob das gepredigte Wort bei den Menschen überhaupt ankommt. Es wird wohl gehört, die Frage ist, aber wie?, spricht dieses Wort den Menschen in die Herzen?, in ihr persönliches Jetzt?, oder gehört es, eben wie all die anderen Dinge, einfach dazu? Man kann auch gewisse religiöse Überzeugungen haben, die man nicht missen mag, die einem wichtig sind, an denen man sich wärmt, in denen man zu Hause ist. Auch darin gibt es ein Heute, das Heute nämlich, das genauso wie das Gestern, genauso auch wie das Morgen sein wird. Man betet das Glaubensbekenntnis und auch das gehört dazu. Niemand würde die Existenz Gottes, seine Allmacht, in Frage stellen. Man kann in die Kirche gehen in der Erwartung, dass dort „ewige Wahrheiten“ verkündet, nein: „doziert“ werden. Aber niemand erwartet, dass jetzt irgend etwas passiert!
So stehe ich also auf der Kanzel und predige Sein Wort, jenes Wort, das von der selben Stelle aus jeden Sonntag die alten Gemäuer ausfüllt. Unten im Kirchenschiff sitzt meine Mutter, sie ist voller Stolz...Alle hören zu, man sieht, man spürt es, niemand schläft. Noch während ich predige, frage ich mich, ob sie ihrem Pfarrer die selbe Aufmerksamkeit schenken, eher nicht...Danach dann die Kommentare, ja, heute haben sie wirklich zugehört. Selbst der Pfarrer sagt anerkennend: „...heute nehmen die Menschen etwas mit nach Hause...“
War es so bei Jesus?, haben sie ihm mit aller Aufmerksamkeit zugehört, weil er, nach langer Zeit, die Seinen besucht...? Ich denke, ein bisschen schon. Das Wort aus dem Jesajabuch ist für die frommen Juden der Synagoge bestimmt nichts aussergewöhnliches, sie hören es nicht zum ersten Mal. Hätte einer von ihnen die selbe Stelle aus der Schriftrolle gelesen, kein Grund deshalb seinen verdienten Kirchenschlaf zu unterbrechen. Aber es ist Jesus, der einst unter uns lebte, Jesus, den wir doch alle kennen, wir haben zusammen mit ihm so manchen Schabernack getrieben. Also haben die Menschen ihre Ohren auf Empfang geschaltet..., und vielleicht auch ihre Herzen. Dieses Wort, aus seinem Munde, heute hört es sich ganz anderes an! Und Jesus weiss: heute hören sie mir wirklich zu. Und wer nicht ganz vernagelt ist, der spürt es sofort: das „mir“ und „mich“ in dem vorgelesenen Text weißt auf ihn hin. Irgendetwas geschieht da, das jedenfalls, verstehen die Nazarener. Aber es will ihnen einfach nicht in den Kopf, dass der, den sie von Kind auf in seiner ganzen Menschlichkeit kennen, der Erfüller der Verheissungen Gottes sein soll.
Nicht wahr?, so sieht es doch aus in unseren Gemeinden. Wir lesen, hören Gottes Wort, Sein Wort aus dem Munde des Propheten, der Apostel, der Evangelisten..., manchmal ist dieses Wort wie starker Tobak, es rüttelt und schüttelt uns, und dann kann es auch trösten, aufrichten..., aber dann ist auch schon vorbei, schliesslich steht es nur auf dem Papier, und da soll es auch bleiben!, wo kämen wir hin, wenn Gott unserer Bitte „...dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie (bereits) im Himmel, so auch auf Erden...“, ganz plötzlich nachkommen würde...?, nein, besser nicht, lassen wir doch alles wie es war und ist..! Unsere Kirche, unsere Gemeinde im Dauerdämmerschlaf...
So stelle ich mir die Situation um Jesus vor. Eine Gemeinde die ihre Routine feiert, den allsabbatlichen Ritus, mit wunderschönen Texten und Gebeten..., und ganz plötzlich ändert sich alles: „heute ist dieses Wort erfüllt vor euren Ohren.“
Heute!, nicht gestern und auch nicht morgen, sondern jetzt!, in diesem Augenblick, da ER zu uns spricht. Wenn sie, die Zuhörer Jesu, wenn wir doch dieses Heute verstünden!
Wir kennen diese Situation: es gibt Augenblicke, in denen das Schicksal eines Volkes, oder gar der ganzen Menschheit gewissermassen an einem Faden hängt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Welt nie so nahe am Abgrund, wie während der Kubakrise. In buchstäblich letzter Sekunde konnte die atomare Katastrophe vermieden werden.
Jesus in der Synagoge: er ist der dessen Geist aus den alten und wunderschönen Texten spricht, er ist, gewissermassen, der Autor dieses Wortes, es verleiht seinem Willen Ausdruck. Deshalb spüre ich eine gewisse Unruhe in mir, deshalb richten sich alle Blicke auf Jesus.
Dass Gott allmächtig ist, ist immer wahr, zu jeder Stunde, auch ausserhalb des Gottesdienstes. Sich eine eigene Vorstellung von Gott zulegen, die Gebote studieren, Opfer darbringen und Psalmen singen nach der Väter Weise, das können die Nazarener (und wir!) immer. Wie aber, wenn sich das, was sich zwischen Gott und uns abspielt, eben nicht das Zur-Kenntnis-Nehmen einiger Wahrheiten über Gott wäre, sondern ein lebendiges Geschehen?, wenn ich plötzlich erkennen würde, dass Jesus selbst in seinem Wort lebendig ist, d.h., Er spricht mich persönlich an und zwar jetzt! Und dann erkenne ich, wie es um mich steht: ich bin ja selbst Teil der schlafenden Gemeinde, ich habe ja selbst immer wieder dafür gesorgt, dass dieses Wort auf dem Papier bleibt und sich von dort nicht fort bewegen kann.
Gerade kommen wir von Weihnachten her..., wie sieht es damit aus?, lassen wir jedes Jahr nur ein geschichtliches Ereignis auferstehen, um es zu glorifizieren?, können wir wirklich die Freude spüren, erfahren, „heute“ (noch) erleben, die „allem Volk“ widerfahren ist?, oder ist für uns der Heiland nicht heute, sondern gestern geboren...? Denn darum geht es doch, eigentlich in jedem Gottesdienst, also auch heute, jetzt!
Jesus spricht jetzt zu mir, zu uns, ich darf diesen Moment nicht wieder verstreichen lassen, eine verpasste Gelegenheit ist eine verlorene Gelegenheit! Das Reich Gottes öffnet sich mir, uns und zwar jetzt und hier!, das sagt Jesus seinen Zuhörern in Nazareth und er sagt es uns!
Im Grunde gibt es für uns Christen nur eine einzige sorgenswerte Sorge: was ereignet sich zwischen Gott und mir? Ja, was ereignet sich da? Jesus steht vor uns, das Gnadenjahr ist angebrochen, wir dürfen kommen..., weil
...der Verheissene mitten unter uns ist.
Ja, für uns ist das Jahr des Herrn bereits angebrochen. Dazu ist Jesus gekommen!, dieses kleine Detail ist ungeheuer wichtig: Jesus stand von der Krippe auf und ist auf den staubigen Strassen dieser Welt gewandert. Das Evangelium wird den Armen verkündet!, da hilft keine Ausrede, keine noch so hochtrabende Rechtfertigung..., es ist so!
Und weil das so ist, nimmt uns dieses Wort in die Pflicht.
Jesus hat seine Liebe zu den Menschen gepredigt und gelebt, bis in die letzte Konsequenz. Und es ist genau das, was er von den „Seinen“ auch erwartet. Jesus war kein Diplomat und noch viel weniger ein Kirchenpolitiker, der „hinter den Kulissen“ versucht, „etwas“ zu erreichen. Jesus war konkret, Jesus hat im Jetzt gelebt und gehandelt. Deshalb dürfen wir uns niemals mit der Klage über die ach so dunkle und böse Welt zufriedengeben. Deshalb sollen wir fragen: was können, was müssen wir tun...? Und wenn wir die Augen öffnen, dann werden wir die Antwort sehen.
In unserer Gemeinde im Süden Argentiniens haben die Frauen vor einigen Jahren zwei soziale Projekte in einem Elendsviertel eingerichtet. Sie haben „gesehen“, „mit den Augen Jesu“, wie es mir eine ältere Frau erklärte. Frauen lernen die Kleidung für ihre Familien selbst nähen, sie erhalten psychologische Hilfe, um mit der allgegenwärtigen Gewalt besser umgehen zu können. Ihre Kinder werden bei den Schulaufgaben betreut, sie dürfen richtig spielen, lachen zum ersten Mal in ihrem Leben..., „...zu verkündigen das Evangelium den Armen...“, die Blinden werden sehend, die Gefangenen frei sein.
Es stimmt schon: wenn wir es wagen dieses Wort ernst zu nehmen, wenn wir uns von ihm wirklich ansprechen lassen, wenn es vom Papier auf uns überspringt, wie ein Funke, dann entsteht Widerstand in uns, dann suchen wir nach irgend einem Ausweg.
Wir spazieren durch die Stadt und kreuzen plötzlich die Strasse, weil auf unserer Seite ein Bettler sitzt, den unser Gewissen am liebsten ignorieren möchte. Und wenn der Bettler Jesus ist?
Aber ich habe es selbst gesehen und erlebt: unsere Frauen „opfern“ ihre Zeit und ihr Geld, ihre Phantasie und ihre Gaben, mit grosser Freude. Jede von ihnen hätte ohne Probleme mehrere Ausreden parat..., aber sie nutzen das Jetzt, um das zu tun, was Gott von ihnen erwartet: am Bau des Reiches mitzuarbeiten. Sie sind mit einer Begeisterung dabei, die für mich fast unerklärlich ist, sie stecken Rückschritte und frustrierende Erfahrungen einfach weg, schauen nach vorne und machen weiter.
Wenn wir den Abschnitt bei Lukas weiterlesen, dann werden wir erfahren, dass die Nazarener das „Jetzt“ nicht erkannten, sie sahen sich nicht im „Gnadenjahr“, sie liessen die Gelegenheit verstreichen (wieder eine!) und jagten ihn aus der Stadt.
Es wäre eine wundervolle Herausforderung für unsere Gemeinde, für jeden von uns, dieses neue Jahr als Gnadenjahr zu erkennen, in dem sich die Verheissungen erfüllen, eben weil der Verheissene bereits unter uns ist.
Amen.
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Das bedeutsame Familienfest
Liebe Gemeinde,
waren Sie schon mal die Maria? Oder der Josef? In der Schule oder in der Kirche beim Krippenspiel? Ich erinnere mich, dass die Rollen der Maria und des Josef immer leicht zu besetzen waren. Aber wenn die Proben dann losgingen, gab es regelmäßig ein Problem für die beiden: Wie macht man das eigentlich, ein Paar spielen? So wie zuhause? Oder lieber anders? Eines war schon klar: Es durfte nicht gestritten werden! Man war ja schließlich die Heilige Familie! Da musste es ordentlich und friedlich zugehen.
Die heilige Familie gab lange Zeit gleichsam das Vorbild für bürgerliche Familien ab. Dann musste die heilige Familie herhalten als Vorbild für die heile Familie. Vater, Mutter, Kind. Alles einträchtig beieinander, in wohlgeordneten Verhältnissen.
Und wenn man dann mit einem Weihnachtslied singt „ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen“, dann ist das, als wollte man dieses Heil-Sein der heiligen Familie in höchsten Tönen loben.
Ich glaube, dass sich tatsächlich viele Menschen nicht satt sehen können am Heiligen-Schein, am Heil-Sein dieser Familie. Das ist der Traum von Weihnachten: Wenigstens einmal im Jahr ahnen, wie es auch sein könnte. Heil. Friedlich. Geborgen.
Denn das Leben ist nicht immer heil. Auch unsere Familienverhältnisse nicht. Aber was an 364 Tagen im Jahr nicht oder nicht immer glückt in der Heiligen Nacht soll es doch gelingen. Denn diese Nacht ist eine besondere Nacht. Heilig und still.
„Nur das traute, hoch heilige Paar“ wacht einsam in dieser besonderen Nacht. Die Mutter, Maria, und Josef, der Vater.
Vor allem Maria ist im Blick: Die schöne junge Mutter, die fast jedes Mädchen gerne spielen will. Leise lächelnd. Mit fast schon überirdischem Leuchten im Gesicht.
Die Spur des Josef hingegen verliert sich. Dabei ist er so wichtig für das Jesuskind! Durch Josef bekommt es eine Reihe berühmter Vorfahren. Die Erzväter des Gottesvolkes sind dabei: Abraham, Isaak und Jakob, dazu die Könige David und Salomo – eine prominente Ahnengalerie, mit der Josef da aufwarten kann. Er bürgt für die königliche Abstammung des Jesuskindes. Nicht Maria.
Doch seine Rolle in der Heiligen Familie wurde lange übersehen. Eine Erfahrung, die er mit manchen Familienvätern heute teilt.
Christiane Schaaf-Saulin, Statement: Weihnachten, da geht es auch um eine Familiengründung. Eine Mutter und um ein Vater, die sich auf ein Kind freuen. Ein Vater, der nicht der leibliche Vater des Kindes ist, übernimmt Verantwortung, steht an der Seite seiner Frau, verdrückt sich nicht, haut nicht ab.
Superintendent Andreas Lange: Das macht mir diesen biblischen Joseph sympathisch, für mich ist er ein wunderbares Vorbild.
Und dann dieses Weihnachtsbild hier in unserer Kirche. Wenn ich es genauer betrachte, bin ich irritiert, verstört - ja, auch betroffen. Wir sehen keine Familienidylle.
Es zeigt eine jubelnde Mutter - Maria, die ihr Kind in den Händen trägt und einen ins Abseits gestellten Vater - Joseph unters Bett geschoben.
Das ist nah dran, wie es Menschen auch heute oft geht.
Ja, manche Männer heute fühlen sich in ihrer Familie als Verlierer. Wie Josef damals? Stand der etwa auch in Marias Schatten?
Oder wie soll man das Bild hier in der Kirche deuten mit dem Josef, klein mit Hut unterm Bett? Wir haben uns in der Vorbereitung lange mit diesem Bild beschäftigt. Wir wollten verstehen, wie dieses Bild eigentlich gemeint ist. Dann haben wir es abfotografiert und vergrößert. Wir haben entdeckt:
Es geht in diesem Bild nicht darum, den Josef klein zu machen. Sondern es geht darum, das Kind groß zu machen. So wie Maria es auf dem Bett liegend in die Höhe hält, soll gesagt werden: Schaut hin. Dieses Kind ist etwas ganz Besonderes. Es ist Gott und Mensch zugleich. Es ist geboren wie jedes Menschenkind von einer Frau, doch es kommt von woanders her. Es ist von göttlicher Herkunft.
Gott bleibt nicht fern im Himmel, sondern er kommt zur Welt. Er verbindet sich ganz und gar mit uns Menschen.
Lange Zeit hat Josef in der Kunst daher überhaupt keine Rolle gespielt. Maria als Mutter Gottes und das Kind saßen das ganze Mittelalter hindurch im Zentrum vieler Weihnachtsbilder. Josef war höchstens schmückendes Beiwerk. Ochs und Esel standen dem Christuskind näher als ausgerechnet er.
Später änderte sich das. Die Künstler malten auf einmal auch den Vater dazu. Aus der Zweisamkeit von Maria mit dem Jesuskind wurde die Heilige Familie. Mit Josef als einer Art „Hausmann“: er macht Feuer, er kocht Suppe, er wäscht die Windeln. Ganz schön fortschrittlich.
Damit wird er zum Vorbild für alle Väter, die ihre Rolle erst finden müssen. Und vielleicht manches in ihrem Familienleben schmerzlich ungereimt finden.
Arne Heger, Statement: Ich selbst bin ein Scheidungskind. Und ich bin über diesen Josef da unten überhaupt nicht verstört. Ich habe nämlich meine eigene Geschichte mit Weihnachten.Schon als Jugendlicher habe ich Weihnachten immer unter zwei Tannenbäumen feiern müssen. Beide Eltern unter einem Baum, das gab es für mich nicht mehr.
Vor fünf Jahren bin ich Vater geworden. Familie? Leider Fehlanzeige. Seit rund vier Jahren fahre ich jeden Monat 2.500 Kilometer Auto, um meinen Sohn zu sehen.
Als das erste Weihnachtsfest ohne ihn anstand, war ich furchtbar wütend. Wütend darüber, dass ich generell daran gehindert wurde, Vater sein zu dürfen. Darüber habe ich viel nachgedacht und aus Gesprächen mit Freunden wuchs ein Gedanke: Ich bin Vater und das kann mir niemand nehmen.
Als mein Sohn und ich unser erstes Weihnachtsfest bei mir zuhause gefeiert haben, habe ich durch ihn Weihnachten neu entdeckt: seine leuchtenden Augen, seine Ungeduld, sein Lachen… das hat mich mit Weihnachten versöhnt.
Es ist auch für mich zum Fest der Familie geworden. Nicht im klassischen Sinne: Vater, Mutter, Kind unter dem Weihnachtsbaum. Eher unterteilt in viele kleine Augenblicke, mit mir lieben Menschen.
Superintendent Andreas Lange: Vater, Mutter, Kind, alles in geordneten Verhältnissen − so kann es sein. Das wünscht sich auch weiterhin ein großer Teil unserer Gesellschaft. Und es ist schön, wenn es so ist. Aber es kann auch anders kommen.
Gott hätte es ja auch ganz anders machen können: Vater, Mutter, Kind, mit Ehering und Einbauküche. - So hätte es sein können, so war es aber nicht. - Doch genau deswegen wächst mir diese Heilige Familie ans Herz.
„Macht denn nur das Blut den Vater?“, fragt Lessing in „Nathan der Weise“. Vater-Sein, Mutter-Sein und Familie-Sein ist auch und vielleicht vor allem: Dass Menschen finden, was sie leben lässt und worauf es wirklich ankommt. Niemand soll daran zerbrechen, dass er oder sie die Idealbilder einer ach so Heiligen Familie nicht erfüllen kann.
Gott überlässt die kleine und große Welt nicht uns selbst. Er kommt uns nahe und macht unser Leben leicht, legt gleichsam sein Gold über unsere Brüche. Damit Wunden heilen und Friede wird.
Familie ist dort, wo Menschen spüren: Wir nehmen einander an wie Gott es auch tut. Wir brauchen nicht Maria oder Josef zu „spielen“. Wir gehören in die Weihnachtsgeschichte hinein. Und mit uns geht sie weiter.
Amen.
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Innehalten - Predigt zu Lukas 2,1–20 von Jan Hermelink
„Innehalten“
Lesungen: Jes 9, 1–6; Luk 2, 1–20
Lied vor der Predigt: EG 37, 1–4 [Ich steh an deiner Krippen hier]
Liebe Gemeinde,
eine große Kraft geht von dieser Geschichte aus,
die wir gerade wieder gehört haben.
Jedes Wort ist uns vertraut,
jeder Satz weckt Erinnerungen –
Szenen aus ganz anderen Zeiten steigen auf,
Töne und Bilder, Gerüche, Hoffnungsfetzen.[1]
Mit dieser Geschichte werden wir zurück versetzt –
in frühere Jahre, in die Räume der Kindheit,
zu Menschen, die längst nicht mehr da sind.
Diese Geschichte bringt uns zur Besinnung,
sie konzentriert uns; sie strahlt Ruhe aus.
Eigentlich ist das erstaunlich – denn diese Geschichte,
die Geschichte von der Geburt Jesu, wie sie der Evangelist Lukas erzählt,
sie ist ja eine Geschichte voller Unruhe, voller Bewegung,
mitunter freiwillig, oft auch unfreiwillig.
Das Gebot des Kaisers Augustus, der Erlass zur allgemeinen, weltweiten Steuerschätzung setzt „jedermann“ in Bewegung –
ich habe mir das immer wie eine Art Völkerwanderung vorgestellt:
ein gewaltiges Hin und Her auf den Fernstraßen,
alle Gefährte überfüllt, alle Gasthöfe ausgebucht.
Und mittendrin ein junges Paar, die Frau hochschwanger,
der Mann besorgt und verwirrt.
Auch in der nächsten Szene ist viel Bewegung:
der Engel, der urplötzlich bei den Hirten steht,
die himmlischen Geschwader, die herabkommen und wieder hinauffahren „gen Himmel“.
Und dann die Hirten selbst – „eilends“ brechen sie auf,
nach kurzer Beratung,
sie suchen und finden das Kind – und laufen alsbald wieder los,
werden zu Botschaftern der großen Freude – die ersten Evangelisten,
enorm ruhelos wie alle ihre Nachfolger.
Und dennoch, trotz aller Unruhe,
trotz des großen Aufgebots an Menschen und Engeln,
trotz gewaltiger Worte – „Heiland“, „Christus, der Herr“,
Frieden „in der Stadt Davids“ und „auf der ganzen Erde“ –
dennoch wird diese Geschichte – bis heute – zum Ruhepunkt.
Ich stelle mir vor, dass Sie jedenfalls auch deswegen heute hier sind,
in diesem Gottesdienst am Heiligen Abend:
um Ruhe zu finden – nach all den Tagen , die viel zu kurz sind
für die vielen Pläne und Erledigungen,
nach all’ der Organisation, wer wohin fährt und wer mit wem kommt
(oder nicht kommt).
Gewiss, es gab und gibt – das wünsche ich Ihnen jedenfalls –
auch andere Ruhepunkte,
Erfahrungen von Stille in dieser Vorweihnachtszeit:
Andachten, gemeinsame Feiern mit Freunden und Kollegen,
unerwarteter Besuch, oder ein lang geplantes Wiedersehen.
Aber heute, hier in der Kirche,
müssen Sie – müssen wir – nichts organisieren:
kein Essensvorbereitungen, keine Geschenke, kein Programm.
Der Baum ist geschmückt; die Lieder sind (einigermaßen) vertraut –
und erst recht diese Geschichte:
Sie ist uns vorgegeben, sie ist immer schon da –
wir hören sie, und es kann still werden.
Wo kommt diese Geschichte eigentlich selbst zur Ruhe,
habe ich mich gefragt; wo kommen die Bewegungen –
für einen Moment jedenfalls – zum Stillstand?[2]
„Und als sie dort waren“, in Bethlehem, „da kam die Zeit ihres Gebärens,
und sie gebar ihren Sohn, den ersten,
und sie wickelte ihn und legte ihn in eine Krippe –
denn sie hatten sonst keinen Ort in der Herberge.“
Nach der langen Reise, in aller Unruhe kommen die Wehen –
und mit einer großen, schmerzhaften Anstrengung wird das Kind geboren; das erste für Maria. Sie umsorgt und bettet es, so gut das geht –
und dann ist es – in der Geschichte jedenfalls – für einen Moment still.
Und einige Zeit später ist dies noch einmal der gleiche Ruhepunkt:
das Kind in der Krippe.
Die Hirten brechen auf, suchen nach dem angekündigten Zeichen, fragen sich durch, eilen sich – und „sie fanden beide, Maria und Josef, dazu“ –
wie nebenbei hört sich das an – „das Kind, in der Krippe liegend“.
Nur ein kurzer Moment ist das, bevor die Hirten aufgeregt erzählen,
was sie draußen, in der Nacht gehört haben,
und bevor sie – wiederum eilend (so scheint es mir) – wieder aufbrechen.
Nur Maria bleibt an der Krippe; sie wendet die Worte hin und her,
wie sie ihr weitergesagt wurden, wie sie sie selbst gehört hat.
„Ich steh’ an deiner Krippe hier“ – das ist der einzige Moment der Ruhe,
ein kurzer Augenblick des Friedens –
bevor das Kind zu schreien beginnt,
bevor sich die Stimmen überschlagen, aufgeregt und voller Freude,
bevor die Verheißungen zitiert werden –
„denn es ist uns ein Kind geboren, und ein Sohn ist uns gegeben,
und die Herrschaft ruht (ruht!) auf seiner Schulter“ (Jes 9,5).
Eine kurze Zeit des Friedens, ein knappes Innehalten
mitten im Durcheinander von Menschen und Engeln.
Selbst dem Evangelisten fällt es offenbar schwer,
diesen Moment zu würdigen.
Wie schwierig ist es, an der Krippe innezuhalten,
sich zu besinnen angesichts dieses Kindes –
so ganz alltäglich, so ganz besonders.
Wie zerbrechlich sind diese Momente des Friedens,
wie sehr ist die Ruhe bedroht –
durch Gebote von oben und Verbote von innen,
durch die Angst vor dem Morgen – oder durch die Erinnerung an das,
was man doch alles versäumt hat.
Je mehr mich diese Geschichte zur Ruhe bringt,
desto mehr spüre ich meine eigene Unruhe,
meine Sorge, auch meine Müdigkeit nach vielen Wochen des Semesters:
mit immer kürzeren Tagen, immer drängenderen Terminen.
Versuche auch ich, stehen zu bleiben vor der Krippe,
versuche ich die Erzählung des Lukas genau zu hören, nachzuspüren –
dann kommen alsbald die Einwände,
ja sie stürzen auf mich ein:
Wo ist denn der Frieden, den dieses Kind bringen sollte?
Wo ist die Erlösung, die mit Christus beginnen sollte –
für das Volk Davids, das – bis heute – immer neu im Finstern wandelt,
und für alle Völker, die sich ebenso sehnen nach Gerechtigkeit und Frieden?
Ich merke, angesichts der großen Worte,
die dieses Kind umgeben wie einen Strahlenkranz:
Gegenüber solchen großen Worten bin ich misstrauisch geworden:
„Arabischer Frühling“ – „Orangene Revolution“ –
ein Neuanfang in Brüssel, in Berlin
oder zwischen Washington und Havanna –
ich kann das alles nicht mehr so recht glauben.
Zu verschlissen scheinen die großen Ankündigungen;
zu rasch ist die Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden wieder zerstoben,
immer und immer wieder.
Und dieses Misstrauen, dieses Gefühl einer tiefen Erschöpfung,
durchzieht ja auch das persönliche Leben,
ebenso unfassbar wie allgegenwärtig,
und besonders vielleicht in diesen Wochen.
Wo immer etwas geschafft ist, allein oder mit anderen zusammen,
wo immer sich Konflikte – wenn nicht zu lösen, doch – zu entspannen scheinen, wo eine gemeinsame Basis (wieder) sichtbar wird –
da bleibe ich dennoch immer mehr misstrauisch
gegenüber der nächsten Wendung,
ängstlich vor dem nächsten falschen, unbedachten Wort,
auf der Hut vor einer Kränkung, die niemand wollte – und die doch da ist.
Es gibt kurze Momente der Ruhe inmitten allen Durcheinanders;
für eine Weile, für Stunden oder Tage herrscht Frieden.
Aber „Friede auf Erden“? Lauter Jubel? Grenzenloses Vertrauen?
Noch einmal höre ich auf die Weihnachtsgeschichte.
Der Moment der Ruhe nach der Geburt,
das konzentrierte Innehalten an der Krippe,
erwartungsvoll, gespannt.
Es sind unscheinbare, rasch verflogene Momente –
und doch sind sie voller Erinnerung – und voller Hoffnung.
Die kleine Stadt Bethlehem – aber aus ihr, so steht es geschrieben,
aus ihr soll der Fürst, der große Hirte Israels kommen.
Das Haus Davids – verblasste, verlorene Herrlichkeit,
und doch glänzt dieser Name bis heute: kraftvoll, verheißungsvoll.
Und schließlich, aber nicht zuletzt: Die Geburt des Gesalbten, des Christus, des Messias – am Rande zwar, mitten im Gedränge –
und doch ein großes Hoffnungszeichen, lange ersehnt:
so wie jede Geburt ein Zeichen der Hoffnung ist,
ein Moment des Neubeginns.
Dieser Augenblick, an der Krippe, vor dem Kind –
er führt zurück in die Anfänge;
er konzentriert unendlich viel Erwartung –
und er öffnet den Blick für das Kommende.
„Frieden auf Erden“ – das ist dann keine unwirkliche Behauptung,
auch kein leeres Versprechen –
sondern das ist ein einziger, ein verheißungsvoller Moment,
ein Augenblick der Konzentration, der uns das Neue sehen lässt.
So einen Moment haben wir, so denke ich, vor wenigen Tagen erlebt:
das Ende der Eiszeit zwischen Kuba und den USA,
den Moment, als die jahrzehntelange Erstarrung sich löste,
als das große, das gewaltsame Schweigen plötzlich gebrochen wurde.
Man kann angesichts dieser Wendung vorsichtig sein, auch misstrauisch,
vielleicht mit guten Gründen –
oder man lässt sich anstecken von der großen Freude,
von der Erleichterung nach so langer Zeit, die man aus Havanna hörte.
In diesen Tagen geschieht etwas Neues –
und im Licht der Weihnachtsgeschichte ist dieser Moment,
diese kleine große Wendung ein Zeichen der Hoffnung.
Auf der Suche nach solchen Momenten der Hoffnung,
nach Erfahrungen einer verheißungsvollen Ruhe können wir nun
noch einmal zurückblicken auf die vergangenen Wochen und Monate,
auf den langen Herbst, auf das Wintersemester.
Auch da hat es – für die meisten von uns, denke ich –
solche Augenblicke des Innehaltens gegeben,
solche Momente, in denen sich Erinnerung und Zukunft verbanden.
Das mag der Abschluss einer Seminararbeit oder eines ganzen Buches sein,
eine Prüfung oder die Bewilligung eines Projekts.
Ein Vertrag ist endlich abgeschlossen; eine Stelle neu eingerichtet.
An der Universität, in der Neues gelernt, und Neues erforscht werden soll,
hier sind solche Momente vielleicht besonders häufig –
Momente, in denen sich das Warten erfüllt,
und die zugleich einen Ausblick eröffnen auf künftige Einsichten,
auf neue Entwicklungen, auch künftige Karrieren.
An der Universität kann man – so gesehen – einüben, was das heißt:
„Ich steh’ an deiner Krippe hier“ –
staunend, erleichtert, erwartungsvoll.
Auch an der Universität allerdings sind solche Momente
des Innehaltens, der Erleichterung und des Ausblicks flüchtig,
auch, ja gerade hier geht es meistens rasch weiter:
die frohe Kunde wird verbreitet; die nächste Station angepeilt.
Umso wichtiger scheint es mir, auch im Umfeld der Universität
eben diese Geschichte zu hören –
mit ihrer Unruhe, ihrem Durcheinander im Himmel und auf Erden –
und mit den Momenten einer großen Ruhe,
in der alles und alle an dem Ort sind, an den sie gehören.
Ein letzter Gedanke, etwas bescheidener vielleicht,
auch etwas handlicher:
Mir hat sich im Nachdenken über jenen weihnachtlichen Moment des Innehaltens auch der Sinn des Schenkens neu eröffnet, oder besser:
der Sinn des Beschenktwerdens.
Auch das sind – leider – oft sehr flüchtige Momente;
eingeklemmt zwischen dichten Gesprächen und dem gemeinsamen Essen, auch zwischen dem vorigen und dem nächsten Päckchen.
Und doch geschieht hier eben das,
was den Kern des Weihnachtsfestes ausmacht:
Meine diffuse, vielleicht ganz vorsichtige, skeptische Erwartung
gegenüber dem Nächsten erfüllt sich doch –
ich bekomme etwas von Dir, was ich nicht voraussehen konnte –
und damit verbindet sich ein großes Versprechen:
Zwischen uns wird es weitergehen.
Beschenktwerden – das ist ein Signal, ein Ausblick auf die Zukunft.
„Und das habt zum Zeichen“: Wir werden in Verbindung bleiben;
wir bleiben – auf die eine oder andere Weise – beieinander.
Ich wünsche Ihnen in den kommenden Stunden und Tagen
solche Momente des Beschenktwerdens,
solche Augenblicke des Innehaltens und der Verheißung.
Denn uns ist heute der Heiland geboren,
das Kind, in Windeln gewickelt, in der Krippe.
Es wartet auf uns.
Amen.
Lied nach der Predigt: EG 55 [O Bethlehem, du kleine Stadt]
[1] Einige Formulierungen aus diesem und den folgenden Abschnitten verdanke ich der Predigtstudie von Thorsten Moos, in: PrSt 2014/15, Bd. I, Freiburg i.Br. 2014, S, 42–45.
[2] Diese Überlegung ist angestoßen durch die Predigtmeditation von Thorsten Latzel, Sieben erste Worte, in: GPM 69 (2014), S. 36f.
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Predigt zu Lukas 2,(1)15-20 von Martina Janßen
I. Weihnachten war immer zauberhaft. Zu gern erinnere ich mich daran, wie unsere Familienkrippe unter den Tannenbaum gestellt wurde. Dunkel war es in der guten Stube, nur ein paar Kerzen flackerten und tauchten alles in ein warmes Licht. Ganz still war es und irgendwie geheimnisvoll. Bis die schneidende Stimme meiner Oma ertönte. „Der Jesus stört!“ Unwillig beäugte sie die Familienkrippe. Die war zweifelsohne ein besonders prächtiges Exemplar, mit sorgfältig geschnitzten Figuren aus edlem Holz, die Kleider aus Samt mit Boraktrand und glitzernden Perlen. Besonders Maria mit ihrem zarten Lächeln, entrückt und voller Anmut, berührte das Herz. Alles wirkte edel und königlich, auch die kleine, mit einem Samtkissen ausstaffierte Wiege. Nur das Jesuskind wollte sich da nicht einfügen. Es hatte zwar ein Strahlenkrönchen auf dem Kopf, doch im Lauf der Zeit auch einen Arm eingebüßt. Das störte die heile Krippenwelt meiner Oma. Ein vollkommenes Kunstwerk war diese Jesusfigur wahrlich nicht mehr. „Der Jesus stört, wir brauchen einen neuen, eine Schande ist das, so ein kaputter Heiland!“ In der Stimme meiner Oma lag heilige Empörung. Lauthals habe ich damals als kleines Kind dagegengehalten. Der kaputte Jesus gehörte für mich dazu, ihn hatte ich ehrlich gesagt am liebsten, gerade weil er nicht vollkommen war – ein bisschen wie ich selbst damals mit meinen vom Toben aufgeschlagenen Knien und meiner Zahnlücke. Auch noch heute schlägt mein Herz für das kaputte Jesuskind. Es passt zur Weihnachtsgeschichte besser als Perlen, Samt und Edelholz. Denn es war nicht gerade eine Royal-Geburt, die sich da vor über 2000 Jahren in Bethlehem ereignete. Ganz im Gegenteil! „Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die der Herr uns kundgetan hat (Lk 2,15).“
II. „Kalt war die Nacht ihrer ersten Geburt.“ Mit diesen Worten bringt Bert Brecht in einem Mariengedicht die Umstände von Jesu Geburt auf den Punkt. In bescheidenen Verhältnissen kam Gottes Sohn auf die Welt. Alles erinnert eher an die Geschichte eines Flüchtlingskindes als an die eines Königskindes. Maria und Josef waren nicht William und Kate. Die Geburt ihres Kindes wurde nicht sehnsuchtsvoll erwartet. Als Maria und Josef Herberge suchten, wurden sie abgewiesen. Erschöpft wird Maria ausgesehen haben, müde und ohne Kraft, nicht gerade wie eine erhabene Himmelskönigin oder eine anmutige Prinzessin. Vor ihrer Schwangerschaft haben die meisten die Augen verschlossen und nicht gerade bereitwillig Türen und Herzen geöffnet. Kein Blitzlichtgewitter, sondern das stille Leuchten eines Sternes. In einem Stall hat Maria Jesus geboren. „Denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge (Lk 2,7).“ Kein Palast, sondern eine Hütte. Wie ein Prinz war Jesus nicht gebettet. Keine Samtkissen, sondern Heu und Stroh. So war’s als Jesus geboren wurde. Keine geöffneten Türen und Herzen, sondern ein zugiger Stall. So und nicht anders wurde Gottes Sohn geboren – verwundbar und arm, abgewiesen und schwach. Das mag verstören. Göttersöhne sollten eigentlich anders geboren werden. Das schwache Gotteskind in der Krippe und seine erschöpfte Mutter durchbrechen die Logik unserer Welt. Da kann ich meine Oma schon verstehen. Ein königliches Christkind sollte auf Samtkissen gebettet und vollkommen sein, lieblich anzusehen, holder Knabe mit lockigem Haar, gekrönt mit Macht, mit süßen Tönen himmlischer Chöre in den Schlaf gesungen, geehrt mit Anbetung und Festlichkeit. Wie es sich eben für einen göttlichen Sohn gehört. Doch die Geschichte von Bethlehem geht anders. Jesus kommt als schutzloses, abgewiesenes und verwundbares Kind. Das hatte schon damals etwas Verstörendes. „Als die Hirten es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten (Lk 2,17f).“ Wie die Geschichte beginnt, so geht sie weiter. Immer wieder wird man sich über diesen Gottessohn wundern. Jesus bessert sich auch im Lauf seines Lebens nicht. Er geht zu Gebrochenen, macht sich mit den Sündern gemein und wird zum Bruder der Ärmsten. Jesus stört immer. Anstatt sich von Heiligen, Königen und Makellosen in die Paläste einladen zu lassen, speist er in den Hütten. Er stirbt am Kreuz – das war der schändlichste Tod in der Antike, ein Skandal wie der Apostel Paulus es ausdrückt. So elendig Jesu Leben endet, so beginnt es auch – in einem ärmlichen Stall.
III. Liebe Gemeinde! Eine glatte Geschichte ist unsere Weihnachtsgeschichte nicht. Doch gerade in dem Verstörenden liegt der Kern der Weihnachtsbotschaft. Das arme abgewiesene Gotteskind in der Hütte ist kein Erzählmotiv, das die Geschichte irgendwie rührseliger macht. Jesus ist nicht Aschenputtel. In dieser Geschichte geht um mehr als um einen flüchtigen Zauber für’s Gemüt. Der russische Schriftsteller Leo Tolstoi erzählt die Geschichte neu - ganz ohne Stall, Krippe und Kind. Ein König wollte wissen, was Gott macht. Als seine Berater ihm nicht weiterhelfen konnten, fragte er einen armen Hirten. Der Hirte sagte. „König, ich bitte dich - lass uns unsere Kleider tauschen.“ So gab der König alle Zeichen seiner Königswürde und alle prächtigen Gewänder ab und kleidete damit den Hirten. Er selbst zog dessen zerschlissene Kleidung an. So verändert standen sie einander gegenüber. Da sagte der Hirte. „Siehst du – genau das macht Gott. Er verzichtet auf alle Pracht, Erhabenheit und Macht und wird einer von uns. Er nimmt an, was wir haben und sind. Und er gibt uns, was er hat.“ Eine seltsame Geschichte. Einen verstörenden Anblick mögen die beiden geboten haben: Der König, würdevoll in Haltung und Blick, aber in zerschlissenen Kleidern, und der Hirte in königlicher Pracht, aber mit zerzaustem Haar, Stallgeruch und rauen Händen. Nicht gerade ein stimmiges Bild. Doch hätten zwei Könige ihre Kleider getauscht, so wäre die Geschichte zwar glatt, aber es wäre auch nicht wirklich etwas passiert. Wäre Gottes Sohn als königlicher Prinz geboren, auf Samtkissen gebettet und mit süßen Tönen himmlischer Chöre in den Schlaf gesungen, so hätte das meiner Oma sicher gefallen und wäre auch passend für einen Gottessohn, aber es wäre doch nur eine schöne Geschichte für schöne Menschen in einem schönen Palast. Für die Elenden wäre nichts passiert, in den Hütten hätte man sich nichts zu erzählen gehabt. Doch die Geschichte, die da Bethlehem geschehen ist, geht anders. Sie geht für alle gut aus. Weil Gottes Sohn als abgewiesenes, schwaches Kind in einem Stall zu uns auf die Welt kommt, liegt auf allem Menschlichen – so niedrig, so schmerzhaft, so elend es auch sein mag - Gottes Glanz. Weihnachten kommt Gott in unsere gebrochenen Träume und Leben und in unsere zerrüttete Welt, er nimmt Wohnung in unseren verlassenen Herzen und verletzten Seelen. Wir müssen unsere Wohnzimmer nicht wie Paläste schmücken und müssen uns nicht in Heilige verwandeln. Gott nimmt an, was wir haben und sind. Keine Hütte ist zu klein, kein Leben zu zerstört, kein Ort dieser Welt zu dunkel. Und er gibt uns, was er hat. Und das, liebe Gemeinde, ist nichts weniger als unveräußerliche Würde des Gotteskindes! Heute wird sie uns geschenkt. Dir und mir – egal wie arm, traurig, verbittert, verletzt oder schuldig wir auch sein mögen. Das feiern wir Weihnachten, davon erzählt unsere Weihnachtsgeschichte. „Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die der Herr uns kundgetan hat (Lk 2,15).“
IV. Unsere Familienkrippe hat all die Umzüge nicht überlebt. Dafür aber dieser Engel mit seinem zerzaustem Haar, seinen zerknickten Flügeln, seiner fehlenden Wachshand. Wenn Sie in diesen Tagen an unserem erleuchteten Fenster vorbeigehen, werden Sie ihn ganz oben auf der Baumspitze sehen. Sicher, wir könnten mal eine heile Baumspitze kaufen und weiter unten am Baum hängen auch kostbare Kugeln. Aber kein Weihnachtsschmuck ist Gott so nahe wie dieser kaputte Engel. Er versinnbildlicht die Geschichte, die da in Bethlehem geschehen ist und die seit jener Nacht immer wieder geschieht auf der Welt. Ein bisschen so wie damals jenes Holzjesuskind aus unserer Familienkrippe, das nur noch einen Arm hatte, aber dessen Haupt dennoch mit einer Krone gekrönt war und auf dessen Lippen ein feines, verschmitztes Lächeln lag – fast als trüge es ein Geheimnis offen zur Schau und wolle sagen: „Wir mögen nicht perfekt und heil sein, aber wir tragen Gottes Würde in uns. Gottes Glanz liegt auf unserem Haupt – unverrückbar und auf ewig!“
Amen
Kanzelsegen
„Gott segne uns und behüte uns. Das Licht von Bethlehem scheine in unseren Herzen und dringe vor aus dem Elendsstall bis in die Paläste. Wir sind das Licht der Welt. Gehet hin Frieden zu schaffen.“ (D. Sölle)
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Eine unbegreifliche Reise - Predigt zu Lukas 2,25-32 von Søren Schwesig
Eine unbegreifliche Reise
25 Und siehe, ein Mann war in Jerusalem, mit Namen Simeon; und dieser Mann war fromm und gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels, und der Heilige Geist war mit ihm. 26 Und ihm war ein Wort zuteil geworden von dem heiligen Geist, er solle den Tod nicht sehen, er habe denn zuvor den Christus des Herrn gesehen. 27 Und er kam auf Anregen des Geistes in den Tempel. Und als die Eltern das Kind Jesus in den Tempel brachten, um mit ihm zu tun, wie es Brauch ist nach dem Gesetz, 28 da nahm er ihn auf seine Arme und lobte Gott und sprach: 29 Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; 30 denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, 31 den du bereitet hast vor allen Völkern, 32 ein Licht, zu erleuchten die Heiden und zum Preis deines Volkes Israel.
Liebe Gemeinde,
das Fest ist gefeiert, die Kerzen sind erloschen. Unsere Wunschzettel sind mehr oder weniger erfüllt, der Festtagsbraten erlegt, die Gäste aus dem Haus. Die Familie, die sich für wenige Tage zum gemeinsamen Feiern zusammengefunden hat, ist wieder verstreut. Wieder haben wir Weihnachten gefeiert. Sicher, eigentlich dauert die Weihnachtszeit bis zum Ende der Epiphaniaszeit, aber für das Volksbewusstsein endet Weihnachten mehr und mehr mit dem Ende der Weihnachtsfeiertage.
Das Fest ist gefeiert, die Kerzen sind erloschen. Ob die Menschen dieses Jahr wieder begriffen haben, was Weihnachten eigentlich bedeutet? Ob wir es begriffen haben? Zur Erinnerung: Wir haben dieses Weihnachten wieder Gottes Kommen in die Welt gefeiert, sein Kommen im neugeborenen Jesuskind. Wir haben dieses Wunder besungen und haben Gott in unseren Liedern dafür gepriesen. Wir haben also genau das getan, was Simeon uns vorgemacht hat, wenn es heißt: „Er lobte Gott und sprach: Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen.“
Simeon ist ein frommer Jude. Als solcher erwartet er voller Sehnsucht, dass Gott endlich den Messias schicken wird. Den Befreier, der tun wird, was der Prophet Jesaja verheißen hat, dass er den Elenden gute Botschaft bringen und zerbrochene Herzen verbinden wird, dass er den Gefangenen die Freiheit verkündigen und die Gebundenen frei machen wird. Simeon wartet schon lange auf den Messias. Vielleicht zweifelt er manchmal, ob Gott ihn jemals schicken wird.
Bis Maria und Joseph Jesus als ihren erstgeborenen Sohn in den Tempel bringen, um ihn dort, wie es das Gesetz vorschreibt, Gott zu weihen.
Als Simeon Jesus sieht, weiß er, dass sein Warten auf den Messias ans Ziel gekommen ist. Er sieht, ohne dass seine Augen noch Sehkraft besitzen, den, der Gottes Heil in die Welt bringt, und spürt auf unerklärliche Weise, dass sich sein nun Leben erfüllt hat. So kann er lebenssatt sagen: Herr, nun kannst du mich sterben lassen. Denn mit eigenen Augen habe ich den gesehen, der dein Heil bringt.
In der Begegnung mit dem Jesuskind hat Simeon erkannt, was Weihnachten bedeutet: Dass dieses Kind Gottes Heil in die Welt bringt.
Wenn das nur so leicht zu verstehen oder zu glauben wäre! Wenn sich das nur uns auch so intuitiv erschließen würde, wie es sich Simeon erschlossen hat. Aber unsere Skepsis lässt sich nicht einfach wegschieben und auch nicht unsere Fragen: Wenn Jesus Gottes Heil in die Welt gebracht hat, wo ist dieses Heil dann zu sehen? Leben wir nicht in einer unheilvollen Welt, einer im Grunde lebensfeindlichen Welt?
Die Realität unserer Welt lässt sich nicht einfach wegschieben. Und nach dem Christfest schiebt sie sich wieder die Trauerfelder unserer Erde in unsere Wohnzimmer: der Unfriede im Heiligen Land; die Ebola-Toten in Westafrika und die Spätfolgen dieser Epidemie; das Morden im Irak und Syrien durch die IS-Terroristen und andere; der Bürgerkrieg in Ukraine, der scheinbar eine Ruhepause eingelegt hat; die Flüchtlinge, für viele von ihnen das Mittelmeer zu einem Massengrab geworden ist und und und. Kann man angesichts dieser unheilvollen Realität sagen: Das Jesus-Kind hat Gottes Heil in die Welt gebracht?
Auch unsere jüdischen Geschwister halten diese schmerzliche Frage in uns wach. Wenn der Messias kommt, so sagen sie, wird Heil in die Welt einkehren. Dann werden nach den Worten der Bibel Schwerter zu Pflugscharen um geschmiedet und Wölfe bei den Lämmern wohnen. Dann wird Gerechtigkeit herrschen unter den Menschen und Menschen werden nach Gott fragen und ihn suchen. Aber ist dieses Heil wirklich schon in unserer Mitte verwirklicht?
Andererseits – wie stellen wir uns eigentlich das Heil der Welt vor? Wie stellen wir uns diese `heile Welt´ vor? Wenn Sie einen Wunschzettel schreiben könnten für eine heile Welt´ - was würde auf Ihrem Wunschzettel stehen? Keine Kriege mehr? Endlich Schluss mit Gewalt und Hass in so vielen Gegenden unserer Welt? Dass es gerecht zugehen soll unter den Menschen? Dass nicht Tausende ihren Arbeitsplatz verlieren, während sich Konzernleitung und Manager mit hohen Abfindungen vom Acker machen? Vielleicht würden Sie auch ganz pauschal schreiben: „Zu meiner heilen Welt gehört, dass die Bösen für ihr Tun bestraft werden, es den Guten gut ergeht und dass das Leid ein Ende hat.
Aber diese heile Welt gibt es so nicht. Die Realität spricht eine andere Sprache als unsere Wünsche. Trotzdem werden Menschen nicht müde, das Zeugnis des Simeon weiter zu sagen: Jesus hat Gottes Heil in die Welt gebracht. „Meine Augen haben deinen Heiland gesehen.“
Was aber dieses Heil ist, begreifen wir nur, wenn wir aufs Neue verstehen, was damals in der Nacht von Bethlehem geschehen ist. Das Heil besteht aus einem Paradox. Darin, dass Gott in tiefster Armut in die Welt kommt. In einen Trog wird er gebettet, aus dem sonst die Tiere essen, fern der Heimat in einem Stall, draußen auf dem Feld, angebetet von Hirten, den „outcasts“ der damaligen Gesellschaft.
So kommt Gott zur Welt. In tiefster Armut. Eigentlich mehr als erbärmlich. Aber diese Geburt ist Programm für das, was `Heil´ bedeutet: Dass Gott im Jesuskind nicht nur in unsere Welt gekommen ist, sondern dass er hinabgestiegen ist bis in die letzte menschliche Tiefe. In das Elend dieser Welt hat er sich begeben, um dem Menschen nahe zu sein, der inmitten von Not und Leid versucht, sein Leben zu bewältigen. So wie es in einem Weihnachtslied heißt:
Er äußert sich all seiner G´walt,
wird niedrig und gering,
und nimmt an eines Knechts Gestalt,
der Schöpfer aller Ding.
Der Schöpfer aller Ding nimmt Knechtsgestalt an. Gott wollte nicht den Himmel verlassen, um an gedeckten Tischen in reichen Palästen den Menschen nahe zu sein. Gott wollte im Elend dieser Welt uns nahe sein. Das ist das Paradoxe, das eigentlich Unbegreifliche dieser Gottesreise.
Ich bin überzeugt, auch Simeons Wunschzettel nach einer heilen Welt hätte Wünsche enthalten, ähnlich den unseren: Wünsche nach Frieden, nach Ende von Leid und Elend. Und vielleicht hat auch Simeon in seinem Warten auf den Messias eher auf einen kraftvollen Herrscher gesetzt an der Spitze einer Armee. Aber als er Jesus sieht, werden ihm die Augen geöffnet – vielleicht das zweitgrößte Wunder von Weihnachten - und er erkennt das Heil, das Jesus in die Welt bringen wird. Nicht ein vordergründig machtvolles Heil, wie wir es uns wünschen: dass alles Leid weggenommen wird, alle Tränen getrocknet werden, dass die Fragen nach dem Warum angesichts des Elends in dieser Welt verstummen werden. Sondern ein Heil, das darin besteht, dass Gott zu uns sagt: Fürchte dich nicht. Ich bin bei dir. Genau dort, wo du bist. Auch in deinem persönlichen Elend und Leid. Ich bin bei dir.
Das ist unser Heil.
Das mag zunächst banal klingen. Aber letztlich ist das die Botschaft, die Jesus Menschen gebracht hat. Vor allem Menschen, die nach den damaligen Maßstäben gemieden wurden und denen weisgemacht wurde, dass sie ganz sicher nichts von Gott zu erwarten hätten: Zöllner, Prostituierte, Andersgläubige, Ausländer, Heimatlose. „Gerade euch“, sagt Jesus immer wieder, „gerade euch gilt Gottes Liebe, gerade euch gilt seine Zusage: Egal, was andere von euch sagen - ich bin für euch da.“
Immer wieder haben Menschen im Lauf der Jahrhunderte diese Erfahrung gemacht und machen sie noch heute, dass Gott in ihrem Leben nahe ist, dass er ihnen Kraft gibt. Es ist wichtig, dass wir solche Erfahrungen nicht für uns behalten, sondern weitersagen. Denn solche Erfahrungen können wie ein Proviant sein, von dem wir zehren in Zeiten, in denen wir glauben, dass Gott uns verlassen und sich von uns abgewandt hat. Zeiten der Krankheit, Zeiten der Trennung, Zeiten, in denen der Tod uns bedroht. Gut, wenn wir dann uns immer wieder dieses Versprechen Gottes: Ich will bei euch sein! vor Augen halten und es uns neu zusprechen lassen. Denn das ist unser Heil, dass Gott uns immer wieder sagt: Fürchte dich nicht. Ich bin bei dir.
So haben wir auch dieses Jahr wieder Weihnachten gefeiert. Jetzt kehren wir allmählich wieder zurück in unseren Alltag. Mag sein, dass wir oft nicht verstehen, warum Gott dieses oder jenes zulässt. Mag sein, dass wir uns immer wieder besinnen müssen, worin denn nun eigentlich das Heil besteht, dass mit dem Jesuskind in die Welt gekommen ist. Aber nehmt aus diesen Festtagen das Eine mit in euren Alltag: Das Wissen um die Zusage Gottes, dass er uns begleitet in unserem Leben; dass er uns nicht verspricht, uns zu verschonen von Krankheit und Leid. Aber dass er verspricht, bei uns zu sein, in allen Tagen unseres Lebens.
Und am Ende unserer Lebensreise möge es uns geschenkt sein, wie Simeon Gott zu loben. Dass er uns das Heil und den Heiland geschenkt hat – im Leben wie im Sterben: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, den du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht, zu erleuchten die Heiden und zum Preis deines Volkes Israel“.
Amen.
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Predigt zu Lukas 2,1–20 von Karin Klement
LIED: 32, 1 – 4 Zu Bethlehem geboren
Hinführung und Lesung Lk 2, 1 – 7
Erster Predigtteil
Liebe große und kleine Menschen,
liebe Glaubende und Nach-Glauben-Suchende –
an diesem Heiligen Abend!
Mein Freund HÄGAR, der Schreckliche aus den Wikinger-Comicbüchern, sitzt auf einer Bank vor seinem Haus. HAMLET, sein schmächtiger, aber kluger Sohn sitzt neben ihm. „Warum hat GOTT die Dunkelheit geschaffen?“ fragt er. „Ich weiß nicht…“, sinniert HÄGAR und blickt hoch zum Nachthimmel. „Vielleicht, weil wir dann besser die Sterne sehen können.“
STERNE sieht man nicht am hellen Tag, sondern nur in der Nacht, nur wenn es sonst ganz dunkel um uns ist. So liegt im Unscheinbaren, Dunklen verborgen, was das Herz froh und leuchtend hell machen kann. Ähnlich ist es mit dem Glauben; er ist eine Sache des Vertrauens, nicht der Sichtbarkeit. Und dennoch brauchen wir etwas zum Anschauen. Bilder, die unserem Glauben auf die Sprünge helfen. Ansichten, die unser Herz berühren. Wie die Bilder der Weihnachtsgeschichte.
Eigentlich klingt sie recht nüchtern – diese weihnachtliche Geburtsgeschichte. Sachlich genaue, knappe Fakten. Zumindest am Anfang. Sie setzen etwas in Gang. Sobald ein Regierungschef Anweisungen erlässt, müssen alle gehorchen. Und Kaiser Augustus war nicht irgendwer. Ein machtbewusster Stratege, der sich geschickt zum Kaiser und Alleinherrscher emporgehoben hatte. Er litt gewiss nicht unter fehlendem Selbstwertgefühl, als er sich „Sohn Gottes“ titulieren ließ. Ein politisch denkender Herrscher muss wissen, wie viele Bürger ihm unterstehen. Damit er die Steuereinnahmen kontrollieren kann. So geschah die allererste Volkszählung, von der wir wissen. Sie brachte ein junges, verlobtes Paar in den Strudel der Geschichte ein, von denen sonst wohl nie jemand etwas erfahren hätte: JOSEF und MARIA, die schwanger war.
Schwangere Mädchen, junge Frauen, in denen neues Leben wächst. Nichts Wichtigeres gibt es als die Geburt eines neuen Lebens. Doch, wie kümmern wir uns um diesen kostbaren Schatz? Wie sorgsam gehen wir um, z.B. mit den Frauen ferner Länder, die „guter Hoffnung sind“ (wie man früher sagte), die aus ihren Heimatländern flüchten und bei uns anklopfen, weil Krieg oder Hungersnot sie fortreibt? Ein uneingeschränktes Bleiberecht ohne Abschiebung, ohne Trennung von Eltern und Kind wäre nötig. Offene Türen, ein gastfreundliches Willkommen. Denn wir haben weiten Raum in unserem Land, viel mehr, als für ihre Herberge tatsächlich gebraucht wird. Und wir können uns freuen an ihren Kindern, die unsere Gesellschaft jung machen. Wie Sterne leuchten sie für eine stabile Zukunft in unserem Land.
Und es kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Kein Wort von den anstrengenden Stunden der Geburtswehen, die Maria aushalten muss. Ihrer lauten und leise Schmerzensschreie; der sorgenvollen Blicke und sanften Handgriffe, mit denen Joseph zu helfen versucht. In zwei Sätzen kommt das Kind zur Welt – und findet sich alsbald in einem Futtertrog für Tiere wieder. Ein harter Lebensanfang; wie für Millionen Kinder weltweit.
So „einfach“ kommt Gott zur Welt. So schlicht und machtlos, so ungeschützt und hilfsbedürftig. Nicht in den Palästen der Kaiser und Herrschenden, sondern bei denen, die ihn brauchen. Kein Machthungriger mit Star-Allüren, sondern ein wahrer Sohn Gottes. Er kommt uns Menschen nahe, geht uns unter die Haut bis ins Herz hinein. Geboren in einfachen Verhältnissen – unter einem guten Stern – kümmert er sich als Erwachsener vor allem um die sogenannten einfachen Leute. Arme, Kranke, Behinderte, Bedürftige in vielfältiger Weise. Er stellt sie in die Mitte; zeigt uns, dass wir viel davon haben, wenn wir sie als unsere Geschwister ansehen, Kinder des einen, himmlischen Vaters. Wir lernen voneinander, lachen, weinen, streiten und versöhnen uns miteinander; wir sind stark in Gemeinschaft.
Und wie ging es weiter?
LIED: 24, 1 – 3 Vom Himmel hoch
Lesung Lk 2, 8 – 14
Zweiter Predigtteil
Der Heilsbringer – ein Neugeborenes, eine zerbrechliche, menschliche Gestalt für den Allmächtigen. Ein Kind, vor dem wir uns nicht fürchten müssen. Im Gegenteil; es lässt uns spüren, wie kostbar, einmalig, aufregend-schön das Leben ist. Aber auch, wie anstrengend und gefährdet.
Das Alltagsleben der HIRTEN war eher selten besonders bedeutungsvoll. Sie bewachen die Herden ihrer Herren, vertieft in das Leben, wie es läuft. Sie schuften für ihr Auskommen. Irgendwie zurechtkommen ist alles. Für Träume bleibt da keine Zeit. Viel Finsternis umfängt sie. Der Hirtenberuf – damals kein Wunschtraum! Bei Kälte oder Hitze, immer draußen auf dem Felde, bei Tag und meist auch noch bei Nacht. Von Lagerfeuer-Romantik keine Spur. Im Alltag war das Leben der Hirten sehr hart. Und obwohl ihre Arbeit unentbehrlich war, erhielten sie von ihren Mitmenschen wenig Ansehen.
Doch gerade ihnen öffnet sich der Himmel. Aufgeweckt durch das Leuchten des STERNS, beinahe aufgeschreckt durch die ENGEL, Gottes Botschafter, werden sie erleuchtet von Gottes Licht. Ihnen, den sonst so gering Geachteten, begegnet das Wunder der Heiligen Nacht zu allererst!
Und was ist mit den ENGELN?
Die kühlen, fernen Gottesboten, unnahbare Traumgestalten?
Glauben Sie an ENGEL, liebe Gemeinde? Kinder glauben bestimmt an sie! Es gibt schlaue Besserwisser, die leichthin behaupten, dass es Engel gar nicht geben kann. Dann frage ich sie: Was geschieht eigentlich, wenn entgegen allen Voraussagen ein Wunder geschieht? Die Rettung eines Verschütteten aus 1000 Meter Tiefe. Ein Unfall, der in letzter Sekunde verhindert wird. Ein Krebskranker, der ungeahnte Heilkraft in sich entdeckt, als ob ihm ein Unsichtbarer den Rücken stärkt…
Woher kommen die wunderbaren Erfahrungen von Behütet-Sein? Die unerwarteten Momente, wenn ein Mensch dem anderen unverhofft Glück und Freude schenken kann? Hat da nicht doch ein Engel die Hand im Spiel?
Nur echte Realisten wissen, dass es mehr gibt, als das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen.
Engel können die Nacht hell machen, können begleiten durch dunkle Schluchten. Engel sind die Briefträger Gottes für gute Nachrichten. Sie reden durch Träume und bringen Menschen auf den richtigen Weg.
Engel können auch Furcht einflößen; darum beginnt ihre Botschaft oft mit den Worten: „Fürchtet euch nicht!“ Engel sind die unsichtbaren Wesen der Liebe Gottes. Mit ihnen kommt Gottes Friede zu uns Menschen.
LIED: 48, 1 – 3 Kommet, ihr Hirten
Lesung Lk 15 – 20
Dritter Predigtteil
Aufbruchsstimmung. Die HIRTEN bleiben nicht bei ihrem Alltag stehen. Sie wollen sich persönlich überzeugen. Die Geschichte sehen, die ihnen zugesprochen wurde. Das hoffnungsvolle Wort lässt ihre Gesichter aufleuchten: FREUDE wird verheißen für das ganze Volk, für alle, die den Erdkreis bewohnen. Der Heiland – für euch geboren! Ein Geschenk des Himmels mitten hinein in diese dunkle Welt. Ein Wort und sein Zeichen: das Wickelkind in der Krippe. Da fließen den himmlischen Heerscharen die Lippen über mit Lobgesang für GOTT und Friedenswünschen für uns Menschen seines göttlichen Wohlgefallens.
Wie können sich die Hirten dabei noch zurückhalten? Sternenglanz und himmlische Stimmen entzünden ihr Herz, wecken in ihnen die Sehnsucht danach, dass es wahr sein könnte: der Heiland – leibhaftig nahe. Sie müssen es selbst sehen, hören, wahrnehmen.
Wer glauben will, schaltet den Verstand nicht aus; ganz im Gegenteil. Er will sich überzeugen, die Bilder prüfen, der Sache auf den Grund gehen, das Gehörte ernst nehmen.
So kommen sie eilend. Kein Aufschub, wenn es um die eigene Seele geht. Wenn Leib und Seele, Herz und Verstand berührt sind. Sie kommen eilends – und finden eigentlich nur das, was ihnen die Engel versprachen: Zwei Menschen mit einem neugeborenen Kind. Kein Heiligenschein um sein Köpfchen, kein Sternenschimmer am Himmel über ihm. Und dennoch gehen ihnen Augen und Mund über, so voll werden ihre Herzen von dem, was sie erleben dürfen.
Wie schön, wenn Menschen sich so bewegen lassen können von dem, was ihnen geschieht, was ihnen zu Ohren kommt und vor Augen ist! Kinder sind da den Hirten ganz ähnlich und uns Erwachsenen manchmal voraus! Was sie bewegt, das sprechen sie aus. Von ihren Erlebnissen erzählen sie unbefangen immer wieder.
Manchmal wundern wir Erwachsenen uns über ihre Worte, und manchmal behalten wir sie ganz fest in unseren Herzen. Damit wir auch noch später, wenn die erste Aufregung vorüber ist, erinnern können, was damals geschah.
Die HIRTEN kehrten wieder um, lobten und priesen Gott, und gingen dann zurück in ihren Alltag, an ihre Arbeit. Denn die Schäfchen mussten weiterversorgt werden.
Und doch hatte sich etwas verändert – in den Hirten selbst und um sie herum. Sie sahen die Sterne in der Nacht mit anderen Augen. Sie wussten, es steckt noch mehr dahinter, als man auf den ersten Blick erkennt.
Mochte es Tag oder Nacht sein, sie wussten sich begleitet vom Stern über Bethlehem. Er erinnerte sie immer wieder daran, dass Gott MENSCH wurde, ganz klein, so arm wie sie, ohne Macht, aber mit so viel Liebe, wie ein kleines Kind.
Ob der kleine HAMLET weiter darüber nachdenkt, was hinter den Sternen liegt? Und warum GOTT Licht und Schatten geschaffen hat? Er wird weiter fragen.
Die Geschichte weitererzählen, die da vor unseren inneren Augen und Ohren geschehen ist. Das ist auch unsere Aufgabe. Vertrauen wachsen lassen, damit eine neue Hoffnung sich wie Sternenglanz ausbreitet. Und der Friede wahr wird!
AMEN
LIED: 37, 1 – 3 Ich steh` an deiner Krippen
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Predigt zu Lukas 2,1-20 von Martin Braukmann und Karsten Schreiber
Und Lukas hat doch Recht!
Liebe Gemeinde am Heiligenabend,
„und es begab sich zu der Zeit, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging“. Mit diesen Worten beginnt eine Geschichte, die uns immer wieder in Ihren Bann zieht. Und ich bin freudig darüber erstaunt, was diese Worte an Sehnsucht in uns auslösen. Mit diesen Worten ist etwas verbunden, was zutiefst in uns verankert ist und uns anrührt. Und die Weihnachtsgeschichte muss eben so lauten und klingen, wie wir das gewohnt sind.
Das erinnert mich daran, wie ich meinen Kindern gute Nachtgeschichten erzählt habe. Sie legten größten Wert darauf, dass diese Geschichten immer gleich erzählt wurden. Die Worte waren bekannt und vertraut und eben deshalb nicht veränderbar.
„und es begab sich zu der Zeit, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging“. Und wieder sind wir mitten drin in dieser zauberhaften Geschichte, die doch so viel von uns selbst erzählt und unseren Sehnsüchten. Aber genau das müssen wir jeweils wieder neu entdecken. Wo das fehlt und offen bleibt, da könnte die Geschichte auch beginnen mit den Worten: „es war einmal“. Aber Lukas erzählt kein Märchen, sondern er erzählt die Geschichte des Jesus von Nazareth, in dem auf wundersame Weise Gott selbst zu entdecken ist. Nur kann man eben das nicht mit Händen greifen, sondern nur mit den Augen des Glaubens schauen. Wir können es hören, aber verstehen es nicht automatisch als unsere Geschichte, als Anrede an mich.
Von der eigentlichen Geburt Jesu, die Lukas einleitend in die Geschichte des römischen Weltreiches einbindet und erdet, erfahren wir erstaunlich wenig. Was will man auch sagen zu dem, was man nicht erklären kann; höchstens beschreiben oder umschreiben. Die Ansage dieser sonderbaren Geburt beziehungsweise dieses sonderbaren Kindes liegt vor unserem Predigttext. Maria wird angekündigt, dass sie in einem Schöpfungsakt Gottes ein Kind empfangen wird. Aber weder die Empfängnis noch die Geburt sind das Wesentliche, sondern sie sind nur Begleitumstände dessen, dass Gottes Sohn zur Welt kommt. Von ihm heißt es in der Verkündigung des Engels: „Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben“.
Und eben damit sind wir mitten in der Widersprüchlichkeit der Weihnachtsgeschichte, denn die Fäden der Weltgeschichte werden doch ganz woanders gesponnen und gezogen; doch nicht in einem Provinznest irgendwo in Israel. Hier bringt eine junge Frau ein Kind zur Welt, wickelt es wie jedes andere Kind in Windeln und legt in ein provisorisches Kinderbettchen; eine Futterkrippe muss dafür herhalten. Aber all das ist doch nichts Besonderes und auch nicht Gegenstand eines Sozial- und Flüchtlingsdrama von vor 2000 Jahren.
Wenn es nicht zu derb wäre, dann könnte Lukas auch sagen: Gott kommt zur Welt; basta! Aber wäre das eine angemessene Sprachform, um in die Welt hineinzusprechen, was sich ansonsten doch von der Welt angeblich eher fernhält? Mit dem Gedanken, dass irgendein Gott irgendwo in irgendeinem Himmel sein Dasein fristet, können wir gut umgehen. Aber ein Gott, der sich mitten in der Zeit und auf Erden festmacht, das scheint uns suspekt. Und vor allem, wenn das schon so ist, dann erwarten wir Pomp und Gloria und einen richtig fetten Auftritt.
Wie nüchtern schildert Lukas dagegen das Ganze: „Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. 9 Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr.10 Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird;11 denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.12 Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.13 Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: 14 Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens“.
Vor den Augen der Hirten geschieht ein Ereignis kosmischen Ausmaßes. Aber genau schnell, wie es gekommen ist, ist es auch wieder verborgen. Und schon ist die Nacht wieder so dunkel wie alle anderen Nächte. Aber hat sich damit die Geschichte denn auch schon erledigt oder wird sie sich noch erfüllen? Und vor allem, was wird das für die Hirten bedeuten und welchen Konsequenzen wird das haben? Wird sich denn die Welt grundlegend ändern? Wird alles neu, anders, gerechter werden? Die Sehnsucht danach ist geweckt. Die Menschlichen Augen suchen den Herrn der Welt, den Erfüller göttlicher Verheißung. Und dann schreibt Lukas ganz lapidar: Und nach 8 Tagen bringen sie das Kind zur Beschneidung und nennen ihn Jesus. War es das etwa schon? => EG 37,1+2
II.) Nein, die Geschichte geht weiter; nur nicht ganz so spektakulär wie sie begonnen hat. Von dem Kind und jugendlichen Jesus erfahren wir nicht viel in der Bibel. Sie berichtet maßgeblich von der Zeit, in der Jesus als Wanderprediger durchs Land zog und davon predigte, dass das Gottes Reich nahe herbei gekommen ist. In seiner Gegenwart erfahren Menschen Heilung, Liebe und Annahme Gottes; exemplarisch erfahren sie das Reich Gottes hier auf Erden. Jesus wirkt etwa drei Jahre bis er in Jerusalem gefangengenommen, verurteilt und hingerichtet wird. Danach wird die Gruppe seiner Jünger zerschlagen und ihnen bleibt nichts als sich wieder auf den Weg zurück nach Hause, in ihren Alltag zu machen. War es das, mit dem Reich Gottes? War es das mit der Sehnsucht nach Freiheit, Heilung, Frieden und Gerechtigkeit. Sollte das, was unter anderem mit dem Lobgesang der Engel begonnen hatte, so schmählich am Kreuz enden?
Was bleibt, wenn nichts mehr bleibt; oder alles so bleibt, wie es schon immer war? Zwei Jünger sind unterwegs zurück zu ihren Familien. Gedämpft die Stimmung; Niedergeschlagenheit, Frust und Enttäuschung machen sich breit. Was hatten sie sich für Vorstellungen gemacht von der Herrschaft des Messias auf dieser Erde? Vom Friedensreich und welche Rolle sie dabei spielen würden. Und jetzt? Jetzt ist alles plötzlich ganz anders und sie sind sichtlich enttäuscht und wissen die Situation nicht einzuordnen. Sie unterhalten sich über all das, was in den vergangenen Tagen so geschehen ist. Lassen es noch einmal Revue passieren und fragen immer und immer wieder nach dem – Wozu? Sollten sie in ihrer Sehnsucht tatsächlich einem Trugbild nachgelaufen sein, wie der Verdurstende einer Fata Morgana? Zwar haben zwei Frauen berichtet, dass er von den Toten auferstanden sein soll, aber wer soll das bitteschön glauben? Alle Sehnsüchte auf eine gerechtere Welt, auf ein ewiges Friedensreich sind doch mit dem Tod ein für alle Mal ausgelöscht. Das mit dem Retter der Welt, mit dem Messias, das sollte doch ganz anders sein. Der Menschensohn war doch gekommen, um all die Verheißungen des Alten Testaments zu erfüllen; und jetzt dieses Desaster.
Sie treffen auf einen Mann und der wird für sie zum Begleiter auf der Wegstrecke von Jerusalem zurück nach Hause, in das Gewohnte, zurück nach Emmaus. „Worüber redet ihr denn miteinander auf eurem Weg?“ fragt er. Ja sollte dieser Fremde denn der Einzige sein, der in Jerusalem nicht mitbekommen hat, was da passiert ist? Sie beginnen zu erzählen von Jesus. Davon, dass mit ihm etwas Neues anzubrechen schien. Sie erzählen von der Ansage des Reiches Gottes und davon, wie sie erste Zeichen und kleine Pflänzchen dieses ungeheuren Umbruchs und Aufbruchs selbst miterleben durften. Sie erzählen von ihrer Hoffnung und davon, dass sie wohl doch weiter warten müssen.
Da sagt der Fremde zu Ihnen: »Ihr unverständigen Leute! Wie schwer fällt es euch, all das zu glauben, was die Propheten gesagt haben! 26 Musste denn der Messias nicht das alles erleiden, um zu seiner Herrlichkeit zu gelangen?« 27 Dann ging er mit ihnen die ganze Schrift durch und erklärte ihnen alles, was sich auf ihn bezog – zuerst bei Mose und dann bei sämtlichen Propheten.
Sie begreifen das Wunder nicht, das vor Ihren Augen geschieht. Auch jetzt, etwa 30 Jahre später geht es ihnen ähnlich wie den Hirten auf dem Feld. Sie sehen und verstehen nicht. Sie hören und begreifen nicht. Sie bleiben gefangen in ihrer Vorstellung von dem, wie der Messias zu handeln und sein hat, Sie haben ein gänzlich anders Bild von dem, wie sich die Verheißungen erfüllen sollten. Dann legt ihnen der Mitreisende den Bezug der jüngsten Ereignisse zu den Prophezeiungen des Alten Testamentes dar und stellt einen Rückbezug her. Musste das denn nicht genauso passieren?
Und erst jetzt, am Abend dieser langen Tagesreise, gibt Jesus ihnen auch noch die Bestätigung für seine Auferstehung, indem er sich den Reisenden zu erkennen gibt. Wie Schuppen fällt es von Ihren Augen und in dem Moment ist Jesus auch schon wieder verborgen. Das, was ihnen nun bleibt, sind nicht die Antworten auf alle ihre Fragen. Was ihnen bleibt, ist die Frage: „War uns nicht zumute, als würde ein Feuer in unseren Herzen brennen als er mit uns redete?“
Viele Fragen und Zweifel bleiben. Vieles bleibt einfach unbeantwortet. Sehnsüchte werden nicht eins zu eins erfüllt. Ist das nicht genau auch unsere Situation, wenn wir unterm Weihnachtsbaum sitzen und danach fragen, was sich denn seit dem Lobgesang der Engel und den vollmundigen Ansagen geändert hat. Sind wir nicht suchend nach dem, was bleibt, wenn die Weihnachtszeit vorbei ist? Unsere Sehnsüchte und Hoffnungen werden abgeschmückt; gemeinsam mit den Kugeln am Christbaum. Und dann warten wir wieder. Warten in unseren Erwartungen der nächsten Weihnacht entgegen. Warten und hoffen. => EG 37,3+4
III.) Für den Evangelisten Lukas gehört eben dies Warten, Suchen und Fragen zum christlichen Glauben dazu, wie die Kugeln oder das Lametta zum Weihnachtsbaum. Solange wir auf dieser Welt leben, wird sich der Glaube wohl nie darüber erheben können. Damals wie auch heute noch gilt: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird;11 denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.12 Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen“. Mehr gibt es nicht. Und zugleich ist damit schon alles da. Bloß: erkenne ich das? Reicht mir das?
Der Evangelist Lukas erzählt davon, dass Johannes der Täufer Jesus einmal fragen lässt, ob er der sei, der kommen soll; oder ob man auf einen anderen warten solle? Jesus weist ihn dann hin auf die gegenwärtigen Zeichen des Reiches Gottes. Und zugleich weiß er doch, dass es immer nur gebrochene Zeichen sind; mehrdeutig und vielschichtig. Und eben deshalb sagt er: „selig ist, wer sich nicht an mir ärgert“. Um dieses Ärgernis des Glaubens kommen wir nicht herum und das können wir auch nicht umschiffen.
Als Lukas sein Evangelium schreibt, da ist der Tempel in Jerusalem zerstört. In manchen Provinzen werden die Christen wegen ihres Glaubens verfolgt, weil sie dem Kaiser den Eid verweigern. Im römischen Reich hatte man unter Augustus das Goldene Zeitalter ausrufen lassen, dass mit Augustus als Heilsgestalt verbunden war: Von ihm hieß es: „Die Vorsehung, die über allem Leben waltet, hat diesen Mann zum Heil der Menschen mit solchen Gaben erfüllt, indem sie ihn uns in den kommenden Geschlechtern als Heiland gesandt hat. Allem Krieg wird er ein Ende setzen und alles herrlich ausgestalten … der Geburtstag des Gottes war für die Welt der Anfang der guten Nachrichten (Evangelien), die seinetwegen ergangen sind.“ (Inschrift aus Priene; 9 v.Chr.) Dem gegenüber schreibt Lukas ein ganz anderes Evangelium. Im Schatten dieses Glanzes des in Rom proklamierten Goldenen Zeitalters wächst unbemerkt ein anderer, in Israel lang ersehnter Friedensfürst heran, dessen Anspruch es ebenfalls ist, über die ganze οἰκουμένη, den ganzen Erdkreis zu herrschen: der neugeborene jüdische Junge Jesus! Nicht der Kaiser in Rom ist der Heilsbringer, sondern Jesus!
Die damals verfolgte Gemeinde, fernab von aller weihnachtlichen Romantik, stellt die gleiche Frage wie wir heute: Bist du wirklich der, der kommen soll? Und alle Antworten, die sie bekommen, ermangeln jeglicher äußeren Beweiskraft: „Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen“. Und den Jüngern von Emmaus bleibt nur die Art und Weise wie er das Brot mit ihnen bricht als Zeichen seiner Auferstehung. Und eben deshalb bleibt es bei der Aussage Jesu: „selig ist, wer sich nicht an mir ärgert!“
Dass er auf den Messias gewartet hat, und ihn in Jesus gefunden hat, hat Johannes nicht vor seiner Hinrichtung bewahrt. Viele Gebete werden gesprochen, Tränenströme voll Hoffnung werden geweint. In Sehnsucht nach Erlösung wird manche Nacht durchwacht. Und dennoch siegt scheinbar die Krebserkrankung über das Leben der geliebten Frau. Wird die zerstörte Beziehung nicht heil. Die zerrissene Familie nicht eins. Die Arbeits- und damit gefühlte Sinnlosigkeit bleibt und der ersehnte Weltfriede stellt sich nicht ein. Und dennoch gilt als Ansage des Neuen: „Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen“. Und es bleibt dabei: „selig ist, wer sich nicht an mir ärgert“.
Es braucht den Glauben, der in dem Kind den Heiland der Welt entdeckt. Es braucht Gottes Heiligen Geist, der auch uns heute und hier die Ohren für den Lobgesang der Engel öffnet, damit wir diese Botschaft auch wirklich hören und uns gesagt sein lassen: dir ist der Heiland geboren. Gottes Geist kann uns dazu befähig, dass wir als christliche Gemeinde uns gegenseitig zum Verkündigungsengel der Weihnachtsbotschaft werden. Und wo das geschieht, da wird uns der Heiland geboren: mitten hinein in unsere zerrissene und sehnsüchtig hoffende Welt.
Und da soll doch mal einer sagen, Lukas habe nicht Recht. Vom Goldenen Zeitalter des Römischen Reiches redet heute niemand mehr. Aber die Weihnachtsbotschaft von Jesus ist noch heute das wirkliche Evangelium, die wirkliche gute Nachricht: „Euch ist heute der Heiland geboren…Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen“. Selig ist, wer das im Glauben annimmt!
Euch allen gesegnete Weihnachten! Amen
(Dialogpredigt in der Johanneskirche Oberfischbach von Pfarrer Martin Braukmann (I. u. III.) und Prädikant Karsten Schreiber (II.) in der Christvesper 2014. Im Hintergrund steht eine Exegese zur Textstelle von Prof. Dr. Johannes Woyke auf der Pfarrkonferenz Siegen 10.12.2014)
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Predigt zu Lukas 2,1-14 von Heinz Behrends
Weihnachten geschieht – auch ohne dich
Weihnachten geschieht. Weihnachten geschieht, auch wenn der Lachs schon ausverkauft war und du die Gans nicht rechtzeitig bestellt hattest. Weihnachten geschieht, auch wenn du nicht mehr alle Geschenke zu kaufen geschafft hast. Es geschieht, auch wenn dieses Jahr nicht alle Kinder nach Hause kommen. Es geschieht, auch wenn du nach Mallorca flüchtest. Wenn der 9. Monat da ist, dann geschieht es.
Weihnachten geschieht. Du magst es als große Last empfinden. Aber lege all diese Gedanken einfach mal ab und sieh es mal anders.
Weihnachten ist völlig unabhängig von all deinem Tun und Machen. Nicht einmal Weihnachten hast du gemacht. Es findet nicht erst statt, wenn du alles perfekt vorbereitet hast.
Weihnachten ist ein Geschenk. Gott hat es gemacht und deine Eltern haben es Dir überliefert. Sonst würdest du heute nicht hier, sondern gerade von Deiner Arbeit nach Hause kommen.
Weihnachten geschieht. Wenn der 9.Monat da ist, kommt das Kind.
Weihnachten will ich zu Hause sein.
Und du stellst dich dem Fest. Was auch immer ist: Du willst Weihnachten zu Hause sein.
Ich sitze am letzten Freitagnachmittag im Zug nach Hannover. Der Metronom ist brechend voll. Rucksäcke, Taschen überall, fast nur junge Menschen zwischen 20 und 30. Ich finde noch einen Platz, in Kreiensen steigt eine junge Frau zu und sitzt neben mir. „Kann ich Sie sprechen“? sagt sie bald zur Schaffnerin, „ich brauche einen Taxi-Gutschein, der Zug von Holzminden nach Kreiensen hatte 35 Minuten Verspätung, nun bricht mein Fahrplan zusammen“. Die Schaffnerin gibt einige Tipps mit Bahnhof Uelzen und so. „Wohin müssen Sie denn noch ganz“? frage ich. „Nach Bützow, das liegt bei Güstrow, aber eigentlich muss ich noch weiter nach Teterow. Ich arbeite in Holzminden und will nach Hause. Da komme ich heute nicht mehr hin. Die Taxe kostet mich 250 €, aber den Gutschein von der Bahn, den krieg ich. Dann bin ich am Ende 13 Stunden unterwegs gewesen“.
Ich will nach Hause. Ja, Weihnachten will ich zu Hause sein. Ein langer Zug voller junger Leute mit viel Gepäck will zu Hause sein. Mich rührt das an.
Zu Hause ist, wo ich mich nicht erklären oder begründen muss, wo ich mich fallen lassen kann. Ich erwarte immer noch, dass dieser Ort ist, wo meine Eltern sind oder wo ich lebe.
Der Zug kommt in Hannover an, ich stehe auf und wünsche der jungen Frau, dass sie vor Mitternacht noch zu Hause ankommt.
Sie hat inzwischen ein Buch zum Lesen herausgeholt. „Shades of Grey Band 3“, das meist verkaufte Buch der Welt der letzen drei Jahre. Ein Buch voller erotischer Szenen, in der sich eine Frau gerne von einem Mann quälen lässt. Ja, die Sehnsucht nach Liebe und nach einem zu Hause, wie auch immer. Unverwüstlich bleibt sie, Gott sei Dank.
Die heilige Familie ist Weihnachten nicht zu Hause.
Dabei ist die erste Weihnachts-Familie mit Maria, Josef und dem Kind Weihnachten nicht zu Hause. Und dennoch rührt unsere Sehnsucht nach zu Hause von dieser Geschichte her.
Denn das zu Hause der beiden ist die Liebe. Ein Kind wird geboren. Ein Mann steht zu seiner Frau, obwohl das Kind nicht von ihm ist. Frierende und von ihren Schafen stinkende Hirten kommen und lassen sich erwärmen.
Wir können uns diese Liebe gar nicht groß genug vorstellen.
Denn die Welt um Bethlehem herum ist brutal. Soldaten auf allen Plätzen, an Stadttoren und Landstraßen. Frauen werden vergewaltigt, junge Männer als Sklaven abgeholt. Macht und Geld bestimmen das Leben.
Mittendrin wird ein Kind geboren. Der Erzähler Lukas sagt: Wenn ihr verstehen wollt, wie ihr euch Gott und seinen Willen vorstellen wollt, dann schaut das Kind an. Es steht für Unschuld, für Verzicht auf Macht. Und dann erinnern sie, was der Prophet Jesaja gesagt hat.
Ein Kind ist uns geboren. Und um eins draufzusetzen, zählt er alle Titel auf, die man sonst einem König zuschreibt:
Vater der Ewigkeit, Wunderbarer Rat, Friedensfürst. Ein Gegenbild zur Macht, wie die Welt sie kennt.
Eine Provokation. Für Leute, die über andere bestimmen wollen, ist Liebe immer eine Provokation. Leute in Unfrieden können Menschen, die in Liebe zusammen sind, schwer aushalten. Es sei denn, sie lassen ihre Sehnsucht wecken.
So spricht denn die Weihnachtsgeschichte dieses Jahr in eine Welt, die uns in Atem gehalten hat.
Weihnachten spricht in die aktuell zerrissene Welt
Das Wirken der Groß-Banker wirkt immer noch nach, die jedes Maß verloren hatten, für die Geld kein Mittel mehr ist, sondern Selbstzweck. PEGIDA, die Diffamierung von Muslimen in einem christlichen Land. Die wahllose Tötung von Unschuldigen durch die sogenannte IS, ein im Selbstbewußtsein verletztes Regime einverleibt sich mit Geheimdienstmethoden die Krim. Syrien, einst eine stolze Kultur, zerlegt sich selbst. Und der Weltmeister-Rausch in Deutschland ist schnell verraucht. Der kalte Krieg ist heimgekehrt.
Dabei war letzte Weihnachten in den Nachrichten noch ständig von Rettung die Rede. Griechenland, Euro, Banken, Systeme, Glaubwürdigkeit. Rettungsschirme über allem. Suggeriert wurde, es ginge um den Menschen. Die Retter hießen Merkel, Monti, Baroso. Dies Jahr ist es still geworden um sie, selbst unsere Kanzlerin ringt um Besonnenheit. Gerettet wurden nicht Menschen, sondern Schuldverhältnisse, Finanzbeziehungen, Machtgefüge, Wirtschaftssysteme, Reiche.
Da kann man sich doch wenigstens jedes Jahr auf die BILD-Zeitung verlassen, jedes Jahr an Heiligabend dieselbe Schlagzeile „Heute nur Gute Nachrichten“.
(Ich empfehle, die BILD zu kaufen, die Zeitung vor die Kanzel halten und die Schlagzeilen zu zitieren. Die Gemeinde wird erheitert sein. )
Immerhin, die BILD stellt unter die guten Nachrichten die Weihnachtsgeschichte des Lukas in großen Buchstaben. Das ist gut so.
Der Mensch ist in seinem Wesen ein Geborener
Das Kind wird im Stall geboren. Die Rettung kommt in Tuchfühlung mit denen da unten, mit dem Blick von unten. So ist Gott. Wir können ruhig mal stolz sein auf dieses Bild, das die Bibel uns von unserem Gott vermittelt. Gott als Kind geboren. Ein neuer Anfang. Philosophen sprechen gerne von der Mortalität des Menschen, der Sterblichkeit.
Die jüdische Philosophin Hannah Arendt spricht von der Natalität des Menschen, der Mensch ist seinem Wesen nach einer der Geboren wird. Weil Menschen geboren werden, gibt es immer wieder einen neuen Anfang. Wo ein Kind in eine Familie kommt, verändert sich das Gewebe der Beziehungen. Es kann neues entstehen.
Das feiern wir heute Abend. Neues kann werden. Der Mensch kann neu anfangen unter Bedingungen, die er nicht selbst gemacht hat.
Liebe wächst unter den kargsten Verhältnissen in Bethlehem. Schaut Euch an, was neu werden kann zwischen Euch zu Hause.
Die Heilige Familie findet ihr zu Hause in der Liebe, in der Verbundenheit mit den Menschen, die zur Krippe kommen.
Weihnachten geschieht, lass es geschehen, feiere und pflege die Liebe.
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Der erfundene Wirt - Predigt zu Lukas 2,1-7 von Margot Runge
Liebe Gemeinde,
wenn Maria und Josef in Bethlehem angekommen sind, hat der Wirt im Krippenspiel seinen Auftritt. Er steckt seinen Kopf aus der Tür. Kein Platz bei uns, weist er die beiden ab, trotz flehentlicher Bitten. Erst in der letzten Herberge finden sie Aufnahme. Manchmal ist es die Wirtsfrau, die ihrem Mann gut zuredet und den beiden einen Platz im Stall zuweist. So wird Jesus geboren.
Kaum ein Krippenspiel ohne den Wirt – dabei kommt er in der Weihnachtsgeschichte überhaupt nicht vor. In der Bibel heißt es: Maria gebar ihren ersten Sohn, wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Futterkrippe, einen Futtertrog, denn sie hatten keine Unterkunft. Martin Luther hat aus dem Griechischen übersetzt: sie hatten keinen Raum in der Herberge. Heutige Übersetzungen sagen: sie hatten keine Unterkunft. Jedenfalls: vom Wirt keine Spur in der Bibel.
Die Kinder wären enttäuscht, wenn sie ein Krippenspiel ohne Wirt einüben sollten, der, mit Grillschürze und Schiebermütze ausstaffiert, Maria und Josef die Tür energisch vor der Nase zuschlägt. Es würde irgendwie etwas fehlen.
Wieso ist der Wirt für uns so wichtig, daß wir ihn erfinden müssen?
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, Charles Dickens Weihnachtsmärchen, Maria und Josef – zu Weihnachten erzählen wir uns gern Geschichten von herzzerreißender Not, die am Ende gut ausgehen. Das fremde Kind findet Obdach, die hungrige Alte wärmt die erfrorenen Hände am blubbernden Ofen und wir atmen erleichtert auf.
Nur im wirklichen Leben, da ist’s oft nicht so. Da verwirrt es eher, wenn abgerissene Gestalten durch die Gegend irren. Ist’s eine Notsituation? Sind es gescheiterte Existenzen? Und wenn ihnen himmelschreiendes Unrecht widerfahren ist?
Draußen vor der Tür stehen, betteln müssen, auf Wohlwollen und Beistand angewiesen sein, das macht niemand gern. Es tut weh, es ist demütigend genug. Maria und Josef müssen nicht nur an fremden Türen klopfen. Der Wirt weist sie auch noch ab, eine doppelte Entwürdigung. Er verkörpert die Herzlosigkeit, die Leuten wie Maria und Josef entgegenschlägt, damals wie heute.
Die Geschichte rührt das Gefühl in uns an, selbst dieses kleine, hilflose Kind, diese arme Familie zu sein und abgewiesen zu werden. Sie rührt an die Angst, daß wir herzlos behandelt und ausgeliefert sind, als Kind, auf der Arbeit oder dem Amt, in der Familie, und daß wir ohnmächtig und verletzt zurückbleiben.
Brauchen wir den Wirt in der Weihnachtsgeschichte deshalb, um diese ganze Herzlosigkeit zu spüren – und gleichzeitig den erlösenden Zipfel Menschlichkeit am Ende? Ein Herz läßt sich erweichen. Wir hoffen nicht umsonst. Die Tür zum Stall von Bethlehem öffnet sich. Auch für uns. Jesus wird geboren, das göttliche Kind.
Der Wirt gehört zu den Eingesessenen. Maria und Josef sind fremd. Sie sind arm dran. Sie haben nichts vorzuweisen, haben nichts zu sagen. Sie haben nur sich selbst. Und Gott. Und das reicht. Es reicht, um im Herz des Wirtes etwas anzurühren, soviel, daß er die beiden hineinläßt. So schildern es die Krippenspiele. Letztendlich öffnet Menschlichkeit die Türen. Gottes Menschlichkeit.
Maria gebärt ihr Kind. Die Bettelleute werden zur heiligen Familie und wenig später zur Flüchtlingsfamilie.
Wenn Maria und Josef in Sangerhausen angekommen sind, heißen sie Ahmed und Zahira, sie kommen aus Syrien, dem Irak, aus Nigeria und Indien - 530 im Raum Sangerhausen im nächsten Jahr. Ein Dach über dem Kopf brauchen sie. Aber wir haben ja eher zu viele Häuser, die leer stehen, und wir warten auf Kinder, die in unsere Schulen gehen, damit sie nicht geschlossen werden.
Mehr noch brauchen sie Freundlichkeit, ein nettes Wort, ein Augenzwinkern, Schutz vor Anfeindungen und übler Nachrede. Sie brauchen Einheimische, die mit ihnen sprechen, damit sie die Sprache hier lernen. Sie brauchen Leute aus der Gegend, die ein bißchen Zeit mit ihnen teilen und ihnen helfen, damit sie sich in diesem fremden Land zurechtfinden.
Wenn also Maria und Josef, Ahmed und Zahira in Sangerhausen angekommen sind, hat der Wirt seinen Auftritt. Eine Oase gibt es schon, zwei Räume zum Begegnen in einem ehemaligen Café auf dem Markt. Wir müssen uns also nicht einmal auf Herbergssuche begeben.
Vielleicht ändern sich dann die Rollen. Der Wirt wird neu erfunden, das Drehbuch neu geschrieben. Der Wirt muss nicht mehr grimmig dreinschauen, sondern wedelt aufgekratzt mit den Armen und bekommt viele Kolleginnen und Kollegen. Maria und Jusuf, Ahmed und Zahira brauchen sich nicht mehr wie Fremde vorzukommen, sondern können zeigen, was in ihnen steckt. Sie bringen einen Hauch von Bethlehem und Jerusalem und weiß ich was nach Sangerhausen. So werden wir die Beschenkten.
Vielleicht ändern sich so die Rollen. Aber das wäre im Grunde genau der Rollentausch, von dem die Weihnachtsgeschichte der Bibel erzählt: Gott wird Mensch, göttlicher Glanz verwandelt die Menschen. Oder im Lied heißt es: „Er wechselt mit uns wunderlich: Fleisch und Blut nimmt er an und gibt uns in seins Vaters Reich die klare Gottheit dran. Er wird ein Knecht und ich ein Herr, das mag ein Wechsel sein! Wie könnt es doch sein freundlicher, das herze Jesulein!“ (EG 27, 4+5)