Jesus suchen - Predigt zu Lukas 2,40-52 von Matthias Loerbroks

Jesus suchen - Predigt zu Lukas 2,40-52 von Matthias Loerbroks
2,40-52

Jesus suchen

Das Kind wuchs und wurde stark, voller Weisheit und Gottes Gnade war auf ihm.
Und seine Eltern wanderten, wallfahrten jedes Jahr nach Jerusalem zum Pessachfest.
Und es geschah als er zwölf Jahre alt war, da stiegen sie hinauf nach dem Brauch des Festes.
Und als die Tage vollendet waren und sie sich wieder umwandten, blieb das Kind Jesus in Jerusalem, und seine Eltern erkannten es nicht.
Sie meinten, er sei unter den Weggenossen, und sie kamen eine Tagesreise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten.
Und als sie ihn nicht fanden, wandten sie sich wieder um nach Jerusalem und suchten ihn.
Und es geschah: nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel. Er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und fragte sie.
Alle aber, die ihn hörten, waren außer sich über seinen Verstand und seine Antworten.
Und als sie ihn sahen, waren sie bestürzt, und seine Mutter sprach zu ihm: Kind, warum hast du uns das angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich unter Schmerzen gesucht.
Und er sprach zu ihnen: was habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?
Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen redete.
Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen untergeordnet. Und seine Mutter behielt alle die Worte in ihrem Herzen.
Und Jesus machte Fortschritte in der Weisheit und im Wuchs und in der Gnade bei Gott und den Menschen.

Jesus geht verloren und wird schmerzlich gesucht. Zuerst suchen seine Eltern ihn unterwegs bei Bekannten und Verwandten, vermuten ihn unter den Weggenossen, sind sich sicher: Jesus ist mit ihnen unterwegs, auch wenn sie ihn nicht sehen, sondern suchen. Aber da, im Kreis der Vertrauten, in seiner gewohnten Umgebung ist er nicht zu finden, und so kehren seine Eltern um, kehren zurück nach Jerusalem und suchen ihn dort. Und da finden sie ihn schließlich, und zwar durchaus nicht im vertrauten Milieu, nicht unter Weggenossen, Bekannten und Verwandten, sondern in einer ganz anderen Umgebung, mitten unter den Lehrern, den Theologen Israels, den Schriftgelehrten, Schrifterforschern, Schriftdiskutierern: auch Jesus selbst sucht, und fragt und forscht. Nicht ohne Vorwurf – warum hast du uns das angetan? – weist seine Mutter Jesus darauf hin, dass er ihr und seinem Vater Schmerzen zugefügt hat mit seinem Verschwinden: Dein Vater und ich haben dich unter Schmerzen gesucht. Und diese Schmerzen müssen grausam gewesen sein, wie nicht nur alle Mütter und Väter unter uns nachvollziehen können, denen einmal auch nur für Stunden, nicht zu reden von drei Tagen ihr Kind verloren ging, sondern wie auch im Zusammenhang des Lukasevangeliums deutlich wird. Nur noch zwei weitere Male taucht dieses Wort für Schmerz in diesem Buch auf, und beide in der Geschichte vom reichen Mann und dem armen Lazarus, als davon die Rede ist, dass der Reiche nach seinem Tod Höllenqualen erleidet: so höllisch schmerzhaft war die Suche nach Jesus. Das einzige weitere Mal findet sich das Wort bei Lukas nicht in seinem Evangelium, sondern in der Apostelgeschichte, als sich Paulus in Milet für immer von seinen Gemeinden verabschiedet, als sozusagen die Leidensgeschichte des Paulus beginnt, die Lukas deutlich nach dem Bilde der Passion Jesu gestaltet hat. Und eine Andeutung in diese Richtung enthält auch unsere heutige Geschichte: nach drei Tagen finden sie ihn wieder, am dritten Tag. Das erinnert an den Ostermorgen und die Frage: was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten? Ähnlich hier die Frage Jesu an seine Eltern: was habt ihr mich gesucht? Er findet es völlig selbstverständlich, wo er zu finden ist: im Tempel in Jerusalem und zwar im Gespräch mit den Lehrern Israels über die Schrift. In der Gegenfrage Jesu: wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in den Dingen meines Vaters?, in seiner Aufnahme des Stichworts Vater – dein Vater und ich haben dich unter Schmerzen gesucht – haben manche einen kritischen, einen zurechtweisenden Ton gehört, als wollte der Zwölfjährige seine begreiflicherweise noch nicht sehr katechismuskundige Mutter über seine Gottessohnschaft belehren, über die Lehre von der Jungfrauengeburt und womöglich die von der Trinität, aber wir merken alle, dass da christlich theologischer Übereifer ins Alberne umgeschlagen und damit gerecht bestraft ist.

Auf zwei Seiten löst Jesus mit seinem Verhalten großes Erstaunen, fast Entsetzen aus: die Lehrer, die mit ihm sprechen, sind ganz außer sich über seinen Verstand und seine Antworten. Dass unsere Erzählung sich nicht ganz schlüssig ist, ob Jesus diesen Lehrern zuhörte und sie befragte oder ob er ihnen antwortete, sie also ihn befragten, muss uns nicht beunruhigen, denn zum einen ist es gute jüdische Art, mit einer Gegenfrage zu antworten – so ja auch Jesu Antwort an seine Mutter –, zum anderen sind nicht nur in der Schriftauslegung, sondern im jüdischen Lernen überhaupt Fragen wichtiger als Antworten. Eine jüdische Mutter fragt ihr Kind, wenn es aus der Schule kommt, nicht, ob es gut gelernt, gut geantwortet, sondern ob es eine Frage, möglichst eine gute Frage gestellt hat. Hier aber reagieren Mutter und Vater nicht stolz und erfreut auf die Gesprächsbeiträge ihres Schulkinds, sondern sind ihrerseits höchst erstaunt, ja bestürzt. Zwar gilt ein jüdischer Junge mit zwölf als erwachsen und mündig in religiösen Dingen, aber seine Eltern hatten nicht damit gerechnet, dass Jesus so selbstverständlich, aber auch so massiv davon Gebrauch macht. Die Eltern sind höchst erstaunt darüber, dass sie ihren Sohn nicht dort finden, wo sie ihn vermuteten, sondern in einer ihnen fremden Umgebung. Die Lehrer Israels sind nicht nur darüber verblüfft, dass, sondern auch wie er sich an ihrem Gespräch beteiligt.

Und nun folgen wir diesem Beispiel des Suchens, Fragens und Forschens und überlegen, warum und wozu uns Lukas diese Geschichte erzählt und was er uns damit sagt. Ich glaube nicht, dass er es nötig hat, uns Jesus als eine Art religiöses oder theologisches Wunderkind anzupreisen – etwa so wie das in viel zu vielen kitschigen Büchern und Filmen über Wolfgang Amadeus Mozart geschieht –, auch nicht, etwas ernsthafter, dass hier vom Drama des begabten Kindes die Rede ist. Aber Lukas legt auch sonst Wert darauf, dass mit Jesus nicht einfach ein Meister vom Himmel gefallen ist, dass er aufs Gespräch mit anderen, die Befragung anderer angewiesen ist, um sich über sich selbst klar zu werden: was sagen die Leute, wer ich sei? Und was sagt ihr?, fragt er seine Jünger. Und in einer Vision, möglicherweise einer vorweggenommenen Ostervision, sehen ihn drei seiner Jünger im Gespräch mit Mose und Elia, also mit der fleischgewordenen Hebräischen Bibel, der Tora und den Propheten in Person. Doch hier wird deutlich, er ist nicht nur auf ein Gespräch mit der Schrift, sondern auch mit ihrer jüdischen Auslegung angewiesen.

Unsere Geschichte ist umrahmt von Hinweisen auf das Wachstum Jesu: Das Kind wuchs, wurde stark und voll Weisheit, und Gottes Gnade war auf ihm, heißt es zu Beginn. Und am Schluss: Jesus machte Fortschritte in der Weisheit, im Wuchs und in der Gnade bei Gott und den Menschen. Das sind nicht nur Hinweise auf seine Entwicklung und sein Lernen, sie betonen auch seine enge Zusammengehörigkeit mit Johannes dem Täufer, von dem es zuvor hieß: Das Kind aber wuchs und wurde stark im Geist. Die beiden werden auch sonst von Lukas eng verbunden, ihre Geburten und deren Ankündigungen, die Schwangerschaften ihrer Mütter, die revolutionären Gesänge, die der Geist dem Vater des Johannes und der Mutter Jesu auf die Lippen legt. Und nun steht ihre Begegnung als Erwachsene bevor. Beide werden durch diese Hinweise auch noch biblisch eingeordnet. Bibelkundige Lukasleser erinnern sie an Samuel, dessen Geburt seine Mutter mit einem ähnlich revolutionären Lied begrüßt, der als Kind ganz und gar beim damaligen Heiligtum – einen Tempel gab es noch nicht – aufwächst: der Knabe Samuel wuchs auf beim HERRN, heißt es da, und: der Knabe Samuel nahm immer mehr zu an Alter und Gunst bei dem HERRN und bei den Menschen. Er wurde zwar nicht selbst zum Messias, zum Gesalbten, aber er wurde – ähnlich wie Johannes – zum Königsmacher, indem er den Gesalbten des HERRN salbte.

Damit wird deutlicher, wozu uns diese Geschichte erzählt wird. Die christliche Gemeinde ist sich vielleicht allzu sicher, dass Jesus mit ihr unterwegs ist, auch wenn sie ihn nicht sieht. Sie ist manchmal in Gefahr, die Besitzverhältnisse umzukehren, als sei sie nicht die Kirche Jesu Christi, sondern Jesus Christus sei so etwas wie verbrieftes Eigentum der Christen. Wenn etwa von der Absolutheit des Christentums die Rede ist, liegt so eine Verwechslung zwischen Jesus Christus und der Kirche vor. Auch die apodiktischen Sätze, die wir vorhin aus dem Johannesbrief hörten: wer den Sohn hat, hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, hat das Leben nicht, können wie eine stolze Besitzanzeige verstanden werden, und sind das auch, auch wenn Johannes fortfährt: das habe ich geschrieben, damit ihr wisst, dass ihr ewiges Leben habt – also nicht als Munition gegen andere. Und so neigen Christen dazu, Jesus nur noch im Kreis des Vertrauten, Verwandten und Bekannten zu suchen. Wir werden aufgefordert, ihn da zu suchen, wo wir ihn nicht vermutet hätten: im Gespräch mit der Hebräischen Bibel und ihrer jüdischen Auslegung, im Gespräch also mit jenen Schriftgelehrten, die wir uns sonst immer als Gegner Jesu vorgestellt haben. Damit es uns nicht so geht, wie es hier von den Eltern Jesu heißt: Sie aber verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen redete.

Wahrscheinlich gab es schon zu der Zeit, als Lukas schrieb, keinen Tempel in Jerusalem mehr. Seine starke Ausrichtung dorthin – letzte Woche hörten wir davon, wie Jesus schon als Baby nach Jerusalem und zum Tempel kam, und seine letzte Reise nach Jerusalem, wiederum zum Pessachfest, aber auch zu Tod und Auferstehung, geht bei ihm zehn Kapitel lang – ist darum auch im übertragenen Sinn: als Ausrichtung auf die Mitte des Judentums gemeint, auch wenn es inzwischen längst wieder möglich ist, Jüdisches in Jerusalem zu lernen. Die Schrift ist inzwischen bei Juden wie bei Christen zu einer Art transportablem Heiligtum, zu einem Zelt der Begegnung geworden. Und damit auch zu einer Möglichkeit, Jesus wieder zu finden, wenn wir ihn verloren haben – sofern wir ihn überhaupt schmerzlich suchen und vermissen. Lukas erinnert an diese Möglichkeit, indem er hier an seine Weihnachtsgeschichte anknüpft: Maria bewahrte alle diese Worte in ihrem Herzen.

Amen.

Ich schlage vor, v40 hinzuzunehmen, da er mit v52 einen Rahmen um die Geschichte bildet.

Lieder:

Als erstes Lied nach einer Begrüßung mit dem Wochenspruch aus Joh 1,14:

441,1-5 oder 70,1-4;

nach der Epistel: 5,1-3 oder 37,2-3 oder 20,5-8 oder 341,5-8:

nach dem Evangelium: 105,5.8 oder 282,1-2;

nach der Predigt: 252,3-4 oder 282,3-6;

zwischen Abkündigungen und Gebet: 346,1-4;

als Schlussstrophe zwischen Gebet und Segen: 300,3 oder 70,7.

Perikope
04.01.2015
2,40-52

Der aufmüpfige Knabe - Predigt zu Lukas 2,41-52 von Klaus Pantle

Der aufmüpfige Knabe - Predigt zu Lukas 2,41-52 von Klaus Pantle
2,41-52

Der aufmüpfige Knabe 

Seine Eltern gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest.
Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach dem Brauch des Festes.
Als die Tage vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem und seine Eltern wussten's nicht. Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wieder nach Jerusalem und suchten ihn.
Und es begab sich nach drei Tagen, da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten.
Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: „Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“
Und er sprach zu ihnen: „Warum habt ihr mich gesucht? Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte.
Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen untertan.
Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen.

1

Kommt ein Kind auf die Welt ist die Freude groß. Aber kaum ist des da, beginnen die Probleme. Es wird größer, krabbelt aus dem Nest, entwächst seinen Eltern und versucht ihren Fittichen zu entfleuchen. Nicht nur manchen Eltern in deutschen Großstädten fällt es schwer, ihre Kinder loszulassen. Auch für die Eltern des „göttlichen Kindes“ ist das so.

Anfang Dezember schrieb der Schulleiter einer Stuttgarter Grundschule einen Brief an die Eltern seiner Schülerinnen und Schüler:

„’Persönlichkeit stärken – Gemeinschaft entwickeln’, dieser Leitspruch unserer Schule lässt sich, zumindest im ersten Teil, immer schwerer verwirklichen. Das liegt auch daran, dass Eltern zunehmend Schwierigkeiten haben, loszulassen. So erleben wir täglich, wie viele Eltern ihre Kinder mit dem Auto zur Schule bringen, verkehrswidrig und häufig gefährlich an der Kreuzung und vor dem Haupteingang der Schule parken, Kind und Schulranzen ausladen, den Ranzen teilweise bis ins Klassenzimmer tragen, dem Sohn oder der Tochter die Jacke abnehmen, helfen, die Hausschuhe anzuziehen, die unterschiedlichen Dinge mit der Klassenlehrerin besprechen. Und dies nicht selten nach Beginn des Unterrichts um 7.45 Uhr. … Neben der fehlenden Selbstständigkeit der Kinder kommt es durch die große Zahl der im Haus befindlichen Eltern immer wieder zu Störungen des Unterrichts, etwa durch Elterngespräche vor Unterrichtsende auf dem Flur oder winkende Eltern an den Fenstern.“ Im Gespräch erzählt er: „Bringt ein Kind eine mit einer 2-3 benotete Mathematik-Arbeit nach Hause, auf der der Lehrer vermerkt hat: ‚Wenn du dich noch mehr anstrengst, dann kannst du eine Zwei schaffen‘, dann stehen am nächsten Morgen die Eltern im Klassenzimmer und verlangen eine Erklärung.“

Solche Eltern würden Maria und Josef für ihren Umgang mit Jesus heute vermutlich beim Jugendamt anzeigen.

2

Maria, Josef und ihr Halbwüchsiger pilgern im Kreise ihrer Dorfgemeinschaft am Freitag nach dem ersten Frühjahrsvollmond zum Passafest nach Jerusalem. Wie in jedem Jahr begehen sie dort die rituelle Erneuerung des Auszugs des Volkes Israel aus Ägypten. In der Antike taten ihnen das Abertausende von Juden aus Kleinasien, Mesopotamien, Syrien und Ägypten gleich. Man schloss sich für diese Tour zum Schutz vor Überfällen in Karawanen zusammen. So kamen damals geschätzte 90.000 Feiertags-Touristen in diese Stadt, die normalerweise nur ca. 30-50.000 Einwohnern hatte. Dass die erhebliches Gedränge verursachen, in dem ein zwölfjähriger Knabe schon einmal verloren gehen kann, ist nachvollziehbar.

Jesus verschwindet in den Tempel und diskutiert dort mit Schriftgelehrten. Die Erzählung lässt vermuten, dass Jesus als Sohn des „mittelständischen Bauunternehmers“ Josef von Pharisäern in der jüdischen Tradition unterrichtet worden war. In seinem Alter war er religionsmündig. Der jüdische Historiker Flavius Josephus (ca. 37-100 n. Chr.) berichtet von sich selbst, dass er so gewaltige Fortschritte in seiner Ausbildung gemacht hätte, dass er im Ruf überragender Gedächtnis- und Verstandeskraft gestanden hätte. Schon in seinem 14. Lebensjahr hätte ihn deshalb der Hohepriester wegen seiner Schriftkenntnisse gelobt und hätten die Hohenpriester und Vornehmsten Jerusalems von ihm genauere Auskünfte über einzelne Gesetzesbestimmungen gebeten (Jos.vit. 8-10) „So bleibt die Erzählung von dem Zwölfjährigen, der mit Schriftgelehrten über das Gesetz zu diskutieren verstand, im Rahmen des für die Zeitgenossen Wahrscheinlichen“ (Otto Kaiser). Das Interessante an dieser Geschichte ist der inhaltliche Aspekt. Hier scheint früh auf, was für Jesu späteres Wirken bestimmend wird: Das ist sein Ringen um die richtige Auslegung der Tora. Und es ist die Freiheit, die er sich nimmt, darüber offen zu diskutieren und zu streiten.

Auch Jesu Selbstverständnis als „Sohn Gottes“, das in seiner Antwort auf Marias Vorwurf zum Ausdruck kommt, ist nichts Besonderes. Als Söhne und Töchter Gottes verstanden sich in dieser Zeit alle Jüdinnen und Juden. Als Gotteskind galt jeder, der sich um Gottes Weisheit bemühte, der sich ihr öffnete und nach ihr lebte (Jesus Sirach 6, 18-37). Das Interessante an dieser Geschichte ist die Radikalität und die Konsequenz, mit der Jesus das schon als Knabe tut.

3

Auffällig an dem verbalen Schlagabtausch zwischen Jesus und seinen Eltern im Tempel sind zwei Dinge. Zum einen wird das spannungsvolle Verhältnis Jesu zu seiner Mutter offenbar. Zum zweiten stellt sich die Frage, was Jesus mit seiner geheimnisvollen Entgegnung: „Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ meint.

Die Eltern finden ihren Sohn wieder und die Mutter schaltet sofort in den Vorwurfs-Modus. Der Vater steht stumm daneben. Josef, von dem kein einziges gesprochenes Wort überliefert ist, wird nach dieser Szene nicht mehr erwähnt. Starke Väter stellen sich ihren Söhnen, schwache Väter entziehen sich. Josef, so scheint es, hat nichts zu sagen. Jesu komplizierte Geschichte mit seinen verschiedenen „Vätern“ bleibt in mythisches Dunkel gehüllt. Seine Mutter dagegen bleibt präsent bis zu seinem Tod. Der hier aufscheinende Mutter-Sohn-Konflikt zieht sich durch das gesamte Evangelium. Erst nach Jesu Tod wird Maria „verstehen“. Erst dann bekommt sie ihren mythischen Glanz. Trotz oder vielleicht wegen seines prekären Verhältnisses zu Josef spricht Jesus im Evangelium nur von Vaterliebe und nie von Mutterliebe. Im weiteren Verlauf zitiert Lukas eine Frau aus dem Volk, die Jesu Mutter selig preist: „Selig ist der Leib, der dich getragen hat, und die Brüste, an denen du gesogen hast.“ Kühl entgegnet Jesus: „Ja, selig sind, die das Wort Gottes hören und bewahren“ (Lukas 11, 27-28). Als ihm an anderer Stelle berichtet wird, dass seine Mutter und seine Brüder draußen auf ihn warten, antwortet er lakonisch: „Meine Mutter und meine Brüder sind diese, die Gottes Wort hören und tun“ (Lukas 8, 21). Sprich: Meine wahre Familie sind nicht meine Blutsverwandten, sondern diejenigen, die sich entschieden haben, in der von Gott geschenkten Heilsordnung mit ihrem ethisch-moralischen Bezugssystem zu leben. Jesu Bio-/Patchwork-Familie gibt kein Beispiel ab für eine idyllische „Heilige Familie“. Er pflegt eine ausgesprochen familienkritische Tradition. Von seiner Blutsfamilie hat er sich nicht mit freundlichen Abschiedsworten gelöst, sondern er hat sich losgerissen, Wahlverwandte gesucht und zusammen mit ihnen eine Gegenfamilie gegründet. Im Tempel verhält sich der Vierzehnjährige wie ein arrogantes „Pubertier“. Er ignoriert den Vorwurf der Mutter, dass sie ihn tagelang gesucht und sich Sorgen um ihn gemacht haben. Geradeheraus kanzelt er die Eltern ab: „Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ Die Mutter ist perplex, der Vater sprachlos. Gelingende Kommunikation sieht anders aus. Heile Familie auch.

Was Jesus wegtreibt von seiner Bio-/Patchwork-Familie, das ist die Suche nach seinem „wirklichen Vater“. Es ist die Suche nach dem Vater, der ihn lehrt, wie er leben kann, der ein vollkommenes Vorbild ist und das ihn zur Identifizierung einlädt. Es ist die Suche nach dem Vater, der alles vermag und die Welt heilt und heiligt. Aber wo lässt sich dieser Vater finden?

In der Mitte dieser Erzählung steht das griechische Wort meso, „Mitte“. Im Tempel, „mitten unter den Lehrern“, hat der Zwölfjährige seinen Platz, seine „Mitte“ gefunden. Jesus folgt hier nicht nur der religiösen Konvention, die den „Glanz Gottes“ (Psalm 50, 2) auf dem Berg Zion im Allerheiligsten des Tempels wohnend findet und davon ausgeht, dass Gott die dort gesprochenen Gebete erhört. Aus der Erzählung wird noch etwas anderes deutlich: Jesus sucht und findet „seinen Vater“ in der Diskussion, im Disput - im Ringen um das richtige Verständnis des Gesetzes. Das bezeichnet man zu dieser Zeit als  „Weisheit“. Die „Weisheit Gottes“ erweist sich als Erkenntnis der Schrift. Gerade bei den Gesprächen mit den Schriftgelehrten, den „Weisen Israels“, ist Jesus „mitten in dem, was seines Vaters ist“. Gott ist in der Weisheit gegenwärtig. Und in der Weisheit zu sein, bedeutet in dem zu sein, was des Vaters ist. Jesus, der später selbst als menschgewordene Weisheit Gottes bezeichnet wird (1. Kor. 1, 21-25), begibt sich nach dem Zeugnis des Lukas schon als Knabe in freier Entscheidung hinein in den Bezugsrahmen dieser Weisheit. Innerhalb dieses Bezugsrahmens entwickelt er im Laufe seines Heranwachsens Leitideen für ein „erwachsenes“ Leben aus einem freien Verständnis der Tora heraus. Es ist ein Bezugsrahmen, der um die Liebe Gottes zentriert ist. Das von Gott geliebte und auserwählte Kind liebt den Vater wie seinen Nächsten und sich selbst (Lukas 10, 25-28). Sogar der Feind wird einbezogen in diese Liebe (Lukas 6, 27-28). Diese grundlegende Entscheidung wird ihn geradezu zärtlich die Berührung suchen lassen mit den Randständigen und Ausgestoßenen, mit den Armen und Kranken, den Sündern und Huren. Sie lädt er an seinen Tisch und holt sie damit hinein in die lichte Welt Gottes. Dahinter mag die Erkenntnis stehen: „Jedes Wissen muss theoretisch bleiben, wenn es nicht zur eigenen Weisheit wird und zur konkreten Berührung führt. Die einzige Lehrerin, die uns auf Dauer wirksam verwandelt, ist die Erfahrung“ (Marica Bodrožić). Im allerersten von Jesus überlieferten Satz scheint schon sein gesamtes Lebensschicksal auf. Im Bekenntnis, in dem sein zu müssen, was seines Vaters ist, zeigt sich seine „Passion“: Sein Passion in Gestalt seiner Leidenschaft für den heilsgeschichtlichen und ethisch-moralischen Bezugsrahmen, der sich aus der göttlichen Weisheit herleitet. Und seine Passion im Sinne von Leidensbereitschaft, sich mit Haut und Haaren dafür einzusetzen. So wird der Sohn tatsächlich zum Gleichnis für den Vater, zur menschgewordenen Weisheit Gottes, bei dem Sein und Handeln nicht auseinander fallen.

Noch einmal kehrt der Knabe mit seinen Eltern nach Hause zurück. Was in den darauffolgenden 18 Jahren bis zu seinem endgültigen Auf- und Ausbruch geschieht ist nicht überliefert. Aber die Fortsetzung folgt. Am Ende geht er noch einmal nach Jerusalem und erfährt die Ablehnung der „Weisheit Gottes“ auf äußerst schmerzhafte Weise.

4

Vielleicht wäre es sinnvoll, Kinder gelegentlich Kinder sein zu lassen und nicht ständig zu versuchen, sie zu bremsen und zu lenken, sprich: sie zu erziehen. Sondern als Erwachsene ihnen in ihren Suchbewegungen und in ihrem Entdeckerdrang neugierig zu folgen. Vielleicht wäre es gut, zu versuchen, gelegentlich die Welt mit Kinderaugen zu betrachten und die natürliche Weisheit von Kindern als gottgeschenkt zu begreifen. Wenn Kinder nicht von Erwachsenen entsprechend vorprogrammiert sind, gehen sie beispielsweise vollkommen vorurteilsfrei miteinander um. Ein Kind schert sich nicht um den sozialen Hintergrund oder die ethnische, kulturelle oder religiöse Tradition, der sein Gegenüber entstammt. Menschen, die mit Kindern arbeiten, erfahren jeden Tag, was Verhaltensforscher wissen: Mitgefühl und Gerechtigkeitssinn, Gemeinsinn und der Drang zur Gemeinschaft sind dem Menschen angeboren. „Bereits im Vorschulalter teilen Kinder fair, auch wenn sie sich selber mehr zuschanzen könnten. Sie bestrafen Egoisten sogar dann, wenn es zu ihrem eigenen Nachteil ist und helfen und leiden mit, wenn sie Gleichaltrige in Not sehen. Fast alle Lebewesen ‚verhalten sich im richtigen Moment solidarisch und kooperativ’, schreibt der Verhaltensforscher Frans de Waal. Nämlich dann, wenn keine unmittelbare Konkurrenz und Gefahr droht, wenn Kleinmut und Angst (zum Beispiel der Erwachsenen) gerade keinen Ausgang haben – und sich das Gute ungebremst ausleben kann“ (Werner Bartens).

Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen (Matthäus 18, 3) sollte der im Tempel einst aufmüpfige Knabe in seinem späteren Erwachsenenleben einmal seinen Jüngerinnen und Jüngern sagen – in der Hoffnung, dass ihnen dieser Satz helfe, dass ihr Leben gelinge.

Literatur:

Rektor wehrt sich gegen uneinsichtige Eltern, in: Stuttgarter Zeitung 3.12.2014, S. 17

Otto Kaiser, Gottes bedürfen ist des Menschen Vollkommenheit. 40 Predigten aus sechs Jahrzehnten, Gütersloh 2013, S. 108-115

Marica Bodrožić, Mein weisser Frieden, München 2014, S. 66

Werner Bartens, Die gute Seite, in: Süddeutsche Zeitung 24./25./26.12.2014, S. 16

 

Perikope
04.01.2015
2,41-52

Predigt zu Lukas 12,35-40 von Georg Freuling

Predigt zu Lukas 12,35-40 von Georg Freuling
12,35-40

Ein paar Stunden noch. Dann geht das alte Jahr zu Ende.

Im Fernsehen werden die letzten Sekunden mitgezählt. 3 – 2 – 1 – 0: 2014 ist vorbei, 2015 hat begonnen. Draußen steigen Raketen in den Himmel. Nachbarn rufen sich ihre Wünsche zum neuen Jahr zu. So endet das alte Jahr, ein neues beginnt - begleitet von Gedanken, wie das alte war, wie das neue sein wird …

Im Predigttext heute Abend ticken die Uhren anders. Es geht nicht um den Ausblick auf ein neues Jahr. Vorausgeblickt wird auf die Wiederkehr Jesu. Die Zeit bis dahin lässt sich nicht berechnen. Trotzdem kann ich diese Worte Jesu mit unserem Weg durch die Zeit verbinden, mit unserem Aufbruch in das neue Jahr. Jesus sagt dort (Lk 12,35-40):

35) Lasst eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter brennen 36) und seid gleich den Menschen, die auf ihren Herrn warten, wann er aufbrechen wird von der Hochzeit, damit, wenn er kommt und anklopft, sie ihm sogleich auftun.

37) Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und wird sie zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen. 38) Und wenn er kommt in der zweiten oder in der dritten Nachtwache und findet's so: selig sind sie.

39) Das sollt ihr aber wissen: Wenn ein Hausherr wüsste, zu welcher Stunde der Dieb kommt, so ließe er nicht in sein Haus einbrechen. 40) Seid auch ihr bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr's nicht meint.

Diener haben eine Aufgabe. Der Herr ist nicht im Haus. Er ist unterwegs. Er wurde eingeladen zu einem Fest. Wann er zurückkommt, wissen die Diener nicht. Trotzdem richtet sich ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, dass ihr Herr zurückkehrt:

Wenn es so weit ist, dann soll er nicht vor dem dunklen Haus stehen, erst einmal den Schlüssel suchen, auf Socken durchs Haus schleichen, weil alle anderen schon schlafen. Dem Herrn des Hauses steht etwas anderes zu: Wenn er heimkehrt, sollen die Lampen brennen. Wenn er kommt, wird ihm die Tür geöffnet. Er wird begrüßt und willkommen geheißen. Solange er noch nicht heimgekehrt ist, werden die Diener auch nicht schlafen. So gehört sich das...

Worauf leben wir hin? Der letzte Abend im Jahr: Viele blicken zurück und denken dabei an die besonderen Momente des Jahres. Auf dem Sofa lasse ich die Höhepunkte des Jahres noch einmal vorbei ziehen - mit den Fotos von Ausflügen und Sommerurlaub.

Viele blicken in diesen Tagen zurück und ziehen ihre persönliche Jahresbilanz: Was habe ich erreicht? Welche Aufgaben habe ich gemeistert? Was bliebt unerledigt? Und: Was nehme ich mit ins neue Jahr? Welche Pläne begleiten mich?

So eine Bilanz kann auch bedrückend sein: Wieder ein Jahr Leben, von dem ich mich verabschiede... Wieder vergangene Lebenszeit, die ich hier und da gerne anders gefüllt hätte... Wieder Vorsätze und Vorhaben, die ich mit ins neue Jahr nehme... Worauf leben wir hin?

Bei den Dienern in der Geschichte, die Jesus hier erzählt, sieht das anders aus: Die sind nicht Herr ihres eigenen Lebens. Was sie zu tun und zu lassen haben, das wird ihnen von ihrem Herrn gesagt. Und dieser Herr ist es auch, der Bilanz zieht. Sie leben ganz und gar für ihn.

Das klingt nicht sehr angenehm. Wer von uns möchte schon so ein Diener sein, der seinem Herrn die Pantoffeln hinstellt, wenn der nach hause kommt? Die meisten von uns haben wahrscheinlich eine andere Sicht ihres Lebens: Herr im Hause – das bin ich selbst.

Aber – bin ich das wirklich? Bin ich mein eigener Herr? Ein Jahr geht zu Ende. Viele merken bei die Bilanz: Ich bin nicht Herr meines Lebens. Ich bin oft genug fremd bestimmt. Ich renne selbstgesteckten Zielen hinterher. Ich versuche, den Erwartungen anderer gerecht zu werden. Unser Ideal eines selbstbestimmten Lebens entspricht oft  nicht unserer Lebens-Wirklichkeit.

Ist das eigentlich schlimm?

Wenn ich zurückblicke, stelle ich immer wieder fest, dass ich die schönsten Augenblicke meine Leben nicht geplant habe. Sie haben sich unerwartet eingestellt. Einfach so. Manchmal auch ganz und gar gegen meine Erwartungen. Gut wenn ich dann wach bin, aufgeschlossen und in der Lage, das so anzunehmen!

Genauso ist es mit den Aufgaben. Wenn ich zurückblicke, stelle ich immer wieder fest, dass mir manches vor die Füße gelegt wird. Das ist dann wichtig. Umgekehrt erledigt sich vieles, was ich für wichtig halte, ganz von allein.

Wer sagt, was dran ist? Nach dem Gleichnis sind wir das nicht selbst. Als Christinnen und Christen haben wir einen Herrn, der uns Ziele und Aufgaben gibt. Unsererseits braucht es dann nur Wachsamkeit, Aufmerksamkeit und Aufgeschlossenheit für den Augenblick, in dem es drauf ankommt. Dabei stehen wir nicht unter der Knute unseres Herrn, sondern sind umsorgte Diener:

Diese Diener erleben eine Überraschung. So wie Jesus diese Geschichte erzählt, hat sie zunächst einen bedrohlichen Klang: Die Diener warten darauf, dass ihr Herr heimkehrt. Wird er alles so vorfinden, wie er es sich wünscht? Wird er zufrieden sein? Vielleicht ist er auch ein Despot, vor dem die Diener zittern. Wer weiß, ob er nicht seine Launen an ihnen auslässt? Wer weiß, ob er nicht direkt tobt, wenn die Tür nicht sofort geöffnet wird, wenn nicht alle sofort bereit stehen...

Und dann bekommt die Geschichte eine Wendung, mit der erst einmal niemand rechnet: „Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet.“ Und diese Diener erwartet nicht etwa nur ein Lob, eine Anerkennung. Was dann kommt, stellt die Verhältnisse komplett auf den Kopf: „Er wird sich schürzen und wird sie zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen.“ Da kehrt der Hausherr nachts heim. Seine Diener haben ihn schon erwartet. Und was macht er? Er bedient seine Diener. Wenn sie so lange gewartet haben, wenn sie so aufmerksam waren, dann sollen sie es richtig gut haben. Der Herr sucht einen seiner besten Weine und nimmt sich Zeit. Er sitzt noch mit seinen Untergebenen zusammen und lässt das Fest mit ihnen ausklingen.

Wann kommen wir zur Ruhe? Zwischen den Jahren haben die meisten von uns Zeit. Zeit, zur Ruhe zu kommen, bevor das neue Jahr anfängt, bevor der Alltag wieder an Fahrt aufnimmt. Manchen ist die Zeit zu kurz, um Atem zu schöpfen, weiterzugehen.

Wachet! Seid bereit! Auch die Diener in der Geschichte stehen auf Abruf. Auch sie sind eingespannt durch die Aufgaben, die ihr Herr ihnen gibt. Es klingt fast unbarmherzig: Dauerhaftes Wachen kann doch keinem gut tun!

Doch die merkwürdige Wendung der Geschichte zeigt mir: Rastloses Wachen gibt es für uns Christinnen und Christen nicht. Wir sind nicht Getriebene der Erwartung anderer, unserer eigenen Ziele, der Zeit, die läuft. Wir haben einen anderen Herrn: Gott selbst, der die Verhältnisse auf den Kopf stellt und sich zu unserem Diener macht. Jesus Christus, der uns zu sich einlädt, zu Brot und Wein. Mit ihm feiern wir auch heute Abend. Damit feiern wir, dass er uns mitten im Lauf der Zeit seine Nähe schenkt, dass wir nicht getrieben, sondern durch ihn befreit sind! Das ist jetzt dran. Dazu sind wir heute Abend zusammen. So gehen wir dann weiter in das neue Jahr, gewiss, dass Gott auch im neuen Jahr derselbe bleibt, dass Christus uns entgegenkommt.

Sein Kommen erwarte ich nicht so sehr am Ende unserer Zeit, nicht mit Pauken und Trompeten. Jesus hat das so angekündigt. Und die Christinnen und Christen, für die Lukas sein Evangelium geschrieben hat, haben sich bereits schwer damit getan, dass diese Wiederkehr ausblieb. Von dieser Frage ist die Geschichte der Diener, die auf ihren Herrn warten, bestimmt.

Nach dieser Predigt können Sie es sich denken: Ich erwarte diesen Jesus jetzt schon. Nicht am Ende der Zeit, sondern in unserer Zeit: In den Aufgaben, auf die er mich stößt. In der Ruhe, die er mir schenkt. Für mich geht es hier um den Moment, in dem Gott mir begegnet, in dem ich durch ihn Klarheit gewinne, Richtung und Ziel. Das kann jederzeit sein. Auch im neuen Jahr 2015. Und dafür lohnt sich Wachsamkeit. Amen. 

Perikope
31.12.2014
12,35-40

Ein Jahr des Herrn - Predigt zu Lukas 4,16-21 von Karin Latour

Ein Jahr des Herrn - Predigt zu Lukas 4,16-21 von Karin Latour
4,16-21

Ein Jahr des Herrn

Liebe Gemeinde am Neujahrstag 2015,

Wir kennen alle dieses Bild aus dem Lebensmittelgeschäft: Da stehen Kinder, manchmal auch Erwachsene vor dem Stand mit den bunten Überraschungseiern.
Sie nehmen eines in die Hand und schütteln es nahe am Ohr, sie wiegen es in der rechten Hand, schütteln es wieder, testen ein anderes in eben derselben Weise, vielleicht noch eins, bis sie sich entscheiden. Nein, sehen können sie nicht was darinnen ist, aber es ist als könne ihr Hineinhorchen den Inhalt offenbaren: Bunte Spielzeugfiguren oder kleine Plastikteile, aus denen man irgendetwas zusammensetzen kann mit viel Geschick und Geduld. Die Erwartung beim Öffnen ist groß- manchmal dann aber auch die Enttäuschung.

So ein bisschen mag es uns heute am 1. Tag des neuen Jahres gehen wie den Kindern. Sehen können wir noch nicht was vor uns liegt- aber wir wüssten es  schon ganz gerne. Vielleicht möchten wir es gerne ein wenig schütteln, das Neue Jahr, und horchen- vorsichtig und erwartungsvoll- was mag es uns bringen, neugierig auf das, was kommt. Manche aber vielleicht auch ängstlich. Denn anders als beim bunten Spielzeug unserer Kinder im Überraschungsei ist Tauschhandel ausgeschlossen. Wir können das, was uns erwartet nicht ins Sammelbord stellen oder bei Nichtgefallen in den Abfalleimer werfen. Was da in diesem neuen Jahr für uns drin ist - es wird uns begleiten, wird Teil unseres Lebens werden.

Bleiben wir gesund?
Werden wir einander am Jahresende noch haben dürfen?
Behalte ich meine Arbeitsstelle?
Finden die Kinder Arbeit?
Kann ich alleine und selbstständig in meiner Wohnung bleiben oder muss ich in ein Heim?
Natürlich haben wir auch Pläne, Wünsche, Projekte für das gerade angebrochene Jahr. Wir freuen uns auch auf bevorstehende Ereignisse.
Aber da sind eben auch viele Fragen und Unsicherheiten im Raum, wenn wir in Gedanken durch das neue Jahr wandern, das vor uns liegt.
Im ganz Persönlichen und auch im Großen:

Gibt es ein Ende der unzähligen Konflikte und Kriege?
Kommen neue Konflikte hinzu?
Wie wird es weitergehen mit all den unzähligen Menschen, die überall auf der Welt auf der Flucht sind?
Welche Katastrophen werden die Menschen in diesem Jahr heimsuchen?
Not und Armut, die das Leben und die Zukunft vieler ganz persönlich bedrohen und in Frage stellen.
Ängste und Sorgen, wenn wir an die Zukunft des Landes und der Welt denken.

Vielleicht sind wir darum heute hier zusammengekommen, weil wir nach einem Wort suchen, das uns Halt gibt und Orientierung, etwas, das man mit hineinnehmen könnte in den Alltag um sich daran festzuhalten, um klar zu sehen, um getrost und fröhlich wie die Kinder in das neue Jahr zu ziehen. Nein, nicht naiv, nicht die Augen vor dem verschließend , was um uns ist, aber doch mit der Gewissheit: wir sind ja nicht allein, in dem, was kommt, sondern haben einen Herrn, der uns Wegweisung gibt und Trost, Kraft und Mut heute, an der Schwelle des Neuen Jahres.
Und es ist tatsächlich ein Wort des Anfangs, das über unserem Neujahrstag 2015 steht. Ein Wort mit dem eine neue Zeit beginnen soll.  

Jesus kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf und wollte lesen. Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht: „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei sein und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.“
Und als er das Buch zutat, gab er es dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn. Und er fing an, zu ihnen zu reden: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.“ (Lukas 4,16-21)

Jesu Antrittspredigt, so werden diese Worte auch genannt. Und der Evangelist Lukas nimmt uns mit in jene Synagoge in Nazareth.
Wir können förmlich sehen wie Jesus aufsteht, die Schriftrolle nimmt. Ob die Stelle zufällig war? Ob er sie bewusst ausgewählt hatte? Ob sie an jenem Sabbat „dran“ war so wie unsere Losungen oder Lesungstexte?
Wir wissen es nicht, aber Jesus liest dieses Wort aus dem Buch des Jesaja.
Er liest die wahrscheinlich sehr bekannten Worte des Propheten, die von der Hoffnung sprechen auf einen, der kommt und mit dem eine neue Zeit beginnt.
Ein Jubeljahr, ein Gnadenjahr, wie es nach der Thora alle 49 Jahre gehalten werden sollte, in dem Schulden erlassen und Gefangene in ihre Heimat zurückkehren sollen. Ein Erlassjahr, ein Jahr der Freude in jeder Hinsicht. Und seit Jesaja war diese Hoffnung nicht mit einem bestimmten Jahr verknüpft, sondern: alle Ungerechtigkeit und alles Leid sollte ein Ende haben, wenn ER kommt. Der Messias. 
In der Synagoge waren nun alle Augen auf Jesus gerichtet. Es ist als könnten wir eine Stecknadel fallen hören! Und Jesus sagt: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor Euren Ohren!“

Liebe Gemeinde,

wie Jesu Hörer damals vor allem diesen letzten Satz gehört haben? Dem anfänglichen Beifall und der Anerkennung folgt innerhalb weniger Verse bei Lukas die Ablehnung durch seine Hörer in der Synagoge, ja, die ersten Gedanken:  Dieser Jesus muss weg. Und sie werfen ihn aus dem Ort.
Wie wir diese Worte hören?
Ja, sie stehen im Lukasevangelium zu Beginn der Wirksamkeit und des öffentlichen Auftretens Jesu.
Und wir, beinahe 2000 Jahre später, hören und haben vor Augen all diese Geschichten von ihm, seine  Predigten, die Wunder und die Menschen, denen er zugewandt war.
In diesen Worten, die Jesus aus Jesaja liest, hören wir verdichtet sozusagen seinen Weg, den wir vielleicht von Kindesbeinen aus all den bibl. Geschichten kennen. Wir hören in diesen Worten seine Sendung, das wofür er steht, woher er kommt und warum, von wem er kommt und wozu. Am Anfang sein „Programm“.
Mit ihm beginnt eine neue Zeit.

Liebe Gemeinde,
hat wirklich eine neue Zeit begonnen?
Und wie sieht diese Zeit aus?
Wartet die Welt nicht immer noch, dass es endlich besser, gerechter, friedlicher zugehe? Wartet sie nicht immer noch so wie zu Jesajas Zeit, zu Jesu Zeit, zu allen Zeiten? Oder haben wir das Warten aufgegeben?
Wo ist das Gnadenjahr, das Jubeljahr? „Seht die gute Zeit ist nah“, haben wir vor wenigen Tagen gesungen! Aber wo ist sie?
Unsere Flüchtlingsheime sind über und übervoll, weil immer mehr Menschen weltweit auf der Flucht sind, auf der Flucht sein müssen! Gewalt und Terror haben nicht aufgehört, sondern wuchern an immer neuen Stellen und präsentieren sich mit immer neuen schrecklichen Gesichtern und Methoden.
Armut, Hunger, Krankheiten, nein, ich will nicht alles noch einmal aufzählen, worunter diese Welt auch im Jahr 2015 leidet.
Wo, Jesus, ist dieses Wort erfüllt vor unseren Ohren?

Da ist es erfüllt vor unseren Ohren, wo wir, wo Menschen es eingelassen haben. Wo Menschen es angenommen haben. Wo diese Worte konkrete Konsequenzen  haben.
Bei Jesus selbst, der sich – so wie er es versprochen hat- der Armen, der Blinden, der Zerschlagenen, der Schwachen und Kleinen angenommen hat, gepredigt und sie  in der Begegnung verändert hat.
Und in seinen Worten, ist es nicht so, trifft er nicht nur unsere Sehnsucht nach Heilwerden und Frieden und Gerechtigkeit, in der das Kleine und Schwache einen Platz haben darf- er lebte die Erfüllung vor. Es waren nicht leere Versprechungen, sondern tatsächlich der Anfang von etwas ganz Großem,
Neuem.
Nein, die Welt hatte sich auch mit seinem Kommen nicht von einer Stunde zur anderen verändert, schlagartig, aber eine andere Sicht des Lebens wurde möglich und hat mit ihm begonnen.
Seine Worte, ja, sie treffen unsere menschliche Sehnsucht – und halten sie wach und verändern  Menschen und bewegen und verwandeln. Und halten auch den Glauben wach, dass es nicht nur Sehnsucht bleibt, sondern, dass sie Wirklichkeit werden.
Ich habe in diesem Jahr, nein eigentlich in meinem ganzen Leben so viele Menschen gesehen, die sich nicht abfinden mit Not, Ungerechtigkeit und Leid, die nicht sagen: „Kann man nichts machen- ist halt so“, sondern die sich von Jesus im wahrsten Sinne des Wortes „anstecken“ lassen.
Sie gehen in Flüchtlingsheime, sammeln  Geld und Kleidung, besuchen Kranke und Alte, bleiben bei Sterbenden, begegnen Menschen ohne Unterkunft und Einkommen in Würde und lindern Not, setzen sich ein für den Frieden im Großen und im Kleinen…Beispiele so vieler engagierter und meist absolut bescheiden und unspektakulär helfender Menschen, für die Jesu Worte - wenn auch im Kleinen, an ihrem vielleicht bescheidenen Ort „Programm“ sind.
Nein, durch Jesu Kommen in unsere Welt hat sie sich nicht schlagartig weltpolitisch geändert.  Aber da, wo Menschen sich haben von Jesu Worten verändern lassen, wo sie nicht aufhören daran zu glauben, dass es eine andere Sprache gibt als Gewalt und Egoismus und das Recht des Stärkeren, da wo wir daran festhalten, dass den Armen das Evangelium gepredigt wird … da hat diese neue Zeit, diese andere Zeit begonnen.

In diesem Jahr im Advent gab es für mich einen Moment, den ich nicht vergesse.
Eigentlich nur eine unscheinbare kleine Szene, die für mich aber ein wunderbares Bild geworden ist:
Menschen der Gemeinde hatten in das Übergangsflüchtlingsheim im Wald in Stenden Plätzchen und Tee, Lichterketten und Adventsschmuck geschleppt. Sie kamen mit Instrumenten und Liedern- christlichen Liedern und Winterliedern um den Flüchtlingen einen Nachmittag zu schenken- nicht nur Kleider und Schuhe und Spielzeug, sondern auch Musik und etwas von unserem Advent und der Gewissheit: „Ihr seid uns nicht egal. Wir sehen Euch und heißen Euch willkommen.“
Der ganze große ehemals kahle Raum war gefüllt mit Flüchtlingen, die erwartungsvoll da saßen. Erwachsene, auch viele Kinder. Und als sie notdürftig an einen wackligen Notenständer einen elektrischen Stern hängten und ihn erleuchteten, direkt vor den Augen eines kleinen Flüchtlingsmädchen, da ging ein „Oh“ durch diesen Raum, ein „Oh“ des Entzückens, des Erstaunens, des sich Freuens…Ein Strahlen in den Augen als hätte dieses Mädchen nie ein größeres Wunder gesehen!

Nein, natürlich hat dieses Kind nicht nur eine Odyssee hinter sich sondern vermutlich mit seiner Familie auch noch vor sich.
Aber da gibt es die Erfahrung: wir werden gesehen und Menschen begegnen uns freundlich! Diesen Moment, in dem es hell wurde- der wird bleiben.

Liebe Gemeinde, wir stehen am Anfang eines Neuen Jahres-
Eine Menge Herausforderungen kommen auf uns zu und die Fülle dieser Herausforderungen darf nicht dazu führen, dass wir uns ihnen verschließen.
Was die Jahresrückblicke im Dezember 2015 uns zeigen werden wissen wir nicht. Im Großen und im Kleinen.
Ob es ein glückliches Jahr wird, ein Jahr mit Sorgen, ob Katastrophen kommen werden und wenn ja welche, welche Ängste uns und andere Menschen auf diesem Erdenrund bewegen werden, das alles wissen wir nicht.
Wir brauchen das Jahr nicht zu schütteln wie die Kinder das Überraschungsei. Es kommt mit allem, was darin sein wird.
Aber wir haben hineingehorcht. Und haben Jesu Worte gehört, die über unserem Jahr stehen wollen:

- Da, wo Armen die gute Botschaft gepredigt wird, Menschen sich der Kleinen und Schwachen annehmen, wo Trauernde nicht alleingelassen werden, Sterbende begleitet, Fremde aufgenommen, Hungernde gesättigt werden, Kranken geholfen wird  …da wo Menschen in Not wahrgenommen werden, wir für sie beten und mit unserer Zeit und unserem Geld, wie der EKD Ratsvorsitzende in seiner Weihnachtspredigt dieses Jahres schrieb,  zur Überwindung der Not beitragen und uns öffentlich einsetzen, dass die Ursachen der Not bekämpft werden- bricht da nicht eine neue Zeit an, eine andere, eine die nicht nur Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit ist, sondern in der zumindest teilweise, ein kleines Stück Erfüllung erfahren werden kann.

Jesus hat uns gesagt, wer er ist, woher er kommt und wie sein Weg ist.
Ganz klar hat er es gesagt, ganz deutlich, ganz unmissverständlich.
Und wir dürfen dieses Wort mitnehmen in unser Neues Jahr. Und dürfen sagen: er meint auch uns. Wir dürfen ihm folgen. Uns daran festhalten. Uns trösten lassen und ermutigen.
Wenn ich malen könnte würde ich ein kleines schäbiges Haus malen ganz klein in ganz viel Weite und mit ganz viel Verlorenheit und mit ganz viel Dunkel drum herum und der Sturm der dahinfegt und die Kälte die zittern lässt und die Hoffnungslosigkeit und die Angst und die Sorge und dann würde ich mitten in dieses kleine schäbige Haus mit dem gelbesten Gelb einen Punkt setzen und diesem Bild würde ich den Titel  Du  geben,  Andrea Schwarz hat dieses Verse geschrieben mit dem Titel Heilige Nacht. Ein wunderschönes Bild. (Eigentlich ist Weihnachten ganz anders, S. 113) Für mich ist es aber nicht nur ein Weihnachtsgedicht, sondern auch eines für ein Neues Jahr.
Jesu Wort und sein Licht mögen uns und unsere Welt in diesem Neuen Jahr so begleiten und ihr und uns immer wieder den Weg zeigen, damit wir ihn nicht aus den Augen verlieren.
Ich wünsche Ihnen in diesem Sinne ein gutes, ein frohes, ein gesegnetes neues Jahr. Ein Jahr des Herrn.

Amen
 

Perikope
01.01.2015
4,16-21

Bereitschaft und die Verheißung des Bedient Werdens - Predigt zu Lukas 12,35-40 von Christian Bogislav Burandt

Bereitschaft und die Verheißung des Bedient Werdens - Predigt zu Lukas 12,35-40 von Christian Bogislav Burandt
12,35-40

Bereitschaft und die Verheißung des Bedient Werdens

Krach und Lärm, liebe Gemeinde, regieren auf den Straßen. Heute sind Silvesterknaller und Böller erlaubt. Und das ist ja auch schon zu hören: Böller sind Hör-Signale für glückliche Ereignisse. Die Freunde der europäischen Adelshäuser wissen das. Für die Zwillinge, die die Ehefrau des regierenden Fürsten Albert in Monaco zur Welt gebracht hat, gab es satte 42 Böllerschüsse als Salut! Krach und Lärm als Begleiterscheinungen freudiger Ereignisse durften wir in diesem Jahr durchaus erleben. Der Gewinn der Fußball Weltmeisterschaft war keine stille Angelegenheit. Da haben es viele auf die eine oder andere Art und Weise krachen lassen!

Allerdings. Die Silvesterknallerei dient nicht nur als Kundgabe von Freude. Allzuoft versteckt sich im Werfen von Böllern auch Aggression gegen dies oder jenes. Und dann scheint es mir, als wollten manche Menschen ihre Angst und Unsicherheit vor der Zukunft kaschieren, indem sie ein Feuerwerk anzünden. Krach und Lärm gewissermaßen als Waffen gegen die Dämonen der eigenen Angst!

Das zu Ende gehende Jahr 2014 hat uns mehrfach das Fürchten gelehrt: Das gab es in der Ukraine, in Kiew eine relativ unblutige Revolution. Aber die führte das Land an den Rand des Bürgerkriegs und ließ nahezu die Zeit des Kalten Krieges wiederkehren! Dass eine terroristische Gruppe von Islamisten weite Gebiete von Syrien und Irak unter ihre Gewalt gebracht hat, ist nicht ermutigend, schon gar nicht wenn man an die vielen hunderte Kämpfer denkt, die aus Deutschland dorthin gegangen sind! In was für einer Welt leben wir, wenn ein 15-jähriges Mädchen aus Pakistan für ihren Einsatz um die Bildung von Mädchen und Frauen den Friedensnobelpreis bekommt? Ein Mädchen, das einen Mordanschlag der Taliban nur knapp überlebt hat? Gefährliche Krankheiten – Stichwort Ebola – machten auf sich aufmerksam. Und der Blick in die Geschichte vor 100 Jahre, der Beginn des 1. Weltkriegs offenbarte ebenfalls Abgründe des menschlichen Geschlechts!

An Gründen, den eigenen Ängsten und Unsicherheiten die Böller entgegen zu werfen, fehlt es nicht. Aber wir öffnen in diesem Moment unsere Ohren. Als Christen hören wir auf das, was Jesus im Evangelium zu den Seinen sagt. Lasst eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter brennen.

Zur Zeit Jesu trugen die Menschen ein langes Gewand, eine Tunika. Und wenn sie sich schlafen legten, zogen sie ihren Gürtel aus. Wenn es dagegen an die Arbeit ging oder sie sich auf einen längeren Weg machten, dann schnallten sie den Gürtel enger, damit das Gewand sie nicht behinderte. Jesus fordert also die Seinen auf, in einer tätigen Haltung zu warten und wachsam zu sein. –

Die Jüngerinnen und Jünger Jesu konnten diese Aufforderung nicht hören, ohne an den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten zu denken: Die Israeliten hatten sich damals in der Nacht zum Aufbruch fertig gemacht, also den Gürtel eng geschnallt. Und sie hatten ihre Lampen angezündet, um sehen zu können, wohin die Flucht führen sollte. ‚Aufbruch zur Befreiung’, das steht für die Zukunft noch aus, meint Jesus.

Und dann sagt er weiter: Seid gleich den Menschen, die auf ihren Herrn warten, wann er aufbrechen wird von der Hochzeit, damit, wenn er kommt und anklopft, sie ihm sogleich auftun. Wartet auf euren Erlöser, auf Jesus Christus, heißt das! Geht nicht so in eurem Leben auf, dass ihr euer Christsein vergesst! Rechnet beständig damit, dass er euch begegnen könnte! Allzeit bereit! Haltet eure Augen und Ohren offen, dass Ihr sein Anklopfen nicht überhört. Seid bereit und zur Stelle, wenn er euch braucht, damit ein Einsamer Besuch empfängt, ein Hungernder zu Essen bekommt, ein Trauriger getröstet wird, ein Nackter bekleidet wird, ein Flüchtling eine Bleibe erhält, einem Unterdrückten Gerechtigkeit widerfährt, ein Mutloser neuen Mut bekommt. Seid aufmerksam, lasst eure Lichter brennen! Setzt eure Fähigkeiten ein, um Licht in die Dunkelheiten der Welt zu bringen! Lasst Geistesblitze aufleuchten, um die Erde und die Schöpfung zu bewahren!

Vielleicht regt sich jetzt bei dem einen oder der anderen unter uns stiller Protest. Wer unter Müdigkeit und Erschöpfung leidet am Ende des Jahres fühlt sich womöglich von Jesus unter Druck gesetzt. Aber das wäre ein Missverständnis! Denn Jesus schwingt hier ja nicht die Peitsche oder treibt uns zur Arbeit an. Er ruft uns vielmehr auf, unser Herz auf ihn auszurichten.

Worauf warten wir ansonsten im tiefsten und letzten? Auf was oder wen wollen wir warten? Auf eine Verschlechterung der Gesundheit? Eine Steuer-Rückzahlung? Einen Märchenprinzen? Die Zeugnisse? Einen Tabellenplatz für Hannover 96, der das Mitmachen in einem europäischen Wettbewerb ermöglicht? – Es gibt ja doch sehr vieles, worauf wir ungeduldig, ängstlich oder hektisch warten könnten.

‚Wartet auf mich’ ruft uns da das Kind in der Krippe, der Sohn Gottes zu. Warten auf Jesus Christus bedeutet Warten auf den Befreier. Das verbreitet positive Aufbruchstimmung. So wie die Israeliten damals voller Erwartung auf das Startsignal zum Aufbruch aus der Ägyptischen Sklaverei gewartet haben, so sollen auch wir bereit sein zum Aufbruch in die Freiheit, in die uns Jesus Christus führen wird! Das Warten auf Jesus Christus hat Verheißungscharakter!

Dazu passt auch das Stichwort von der Hochzeit, von der der Herr der Knechte zurückkehren wird. Die Hochzeit ist ein Bild für die Herrlichkeit des Reiches Gottes, um das wir im Vaterunser beten. Warten auf Jesus Christus hat Verheißungscharakter.

Positive Aufbruchstimmung, sie erwächst nicht aus unseren Leistungsbilanzen. Je ehrlicher wir das eigene Tun und Lassen im zu Ende gehenden Jahr anschauen, um so kritischer fällt unser persönlicher Jahresrückblick aus. Da stehen der einen oder anderen gelungenen Aktion zahlreiche Unterlassungssünden gegenüber. Freundlichkeit und Mitmenschlichkeit, wie sah es damit aus? Wen oder was haben wir vergessen? – Wie gut, dass wir nicht auf einen depressiven Rückblick festgenagelt sind, sondern nach vorne schauen dürfen: in die Zukunft, wo und wann auch immer Jesus Christus bei uns anklopft, wann auch immer das Reich Gottes in Herrlichkeit sich durchsetzen wird.

Jesus sagt. Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und wird zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen. Was für ein Rollentausch, liebe Gemeinde! Die Bereitschaft zum Aufbruch, die Grundausrichtung des Herzens auf Jesus Christus führt nicht zu massiver Sklavenarbeit! Im Gegenteil! Es ereignet sich die Befreiung aus der eigenen Rolle! Was Jesus zu Lebzeiten selber seinen Freundinnen und Freunden schon vorgelebt hat, der Verzicht auf einen Herrschaftsstatus, wird uns zugute kommen.

Er wird sich schürzen und wird zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen. Das ist das, was wir zu Weihnachten gesungen haben: Er wird ein Knecht und ich ein Herr, das mag ein Wechsel sein. Der Herr bittet die Sklaven zu Tisch und dient ihnen. Diakonie, so steht es im griechischen Urtext!

Auch wenn wir nicht glänzen konnten im letzten Jahr weder vor Gott, noch vor den Menschen, noch vor uns selber, wir dürfen auf einen Herrn warten, der uns bewirtet! Einen Herrn, der unsere Schuld auf sich nimmt und darum unser Leben heil machen wird! Was für ein hoffnungsvoller Ausblick auf die Zukunft!

Immerhin. Im letzten Jahr gab es mit Blick auf die Vergangenheit auch die Mut machende Erinnerung an das 25-jährige Jubiläum vom Fall der Berliner Mauer. 70 Jahre sind vergangen seit dem Attentat auf Adolf Hitler. Einer der Mitwisser der Verschwörer war Oberst Alexis Freiherr von Roenne. Er schrieb im Oktober 1944 vor seiner Hinrichtung an seine Frau: Gleich gehe ich nun heim zu unserem Herrn in voller Ruhe und Heilsgewissheit... Ich bitte Dich als letztes: Klammere Dich nur an Ihn und habe in ihm volle Zuversicht: Er liebt Dich.

Mut zur Zukunft. Heute Abend werde ich ein paar Böller loslassen. Aber entscheidend ist für mich das Festhalten an der Verheißung meines kommenden Herrn!

Herr Jesus Christus,
wir breiten unsere Arme aus,
bereit das Neue Jahr anzunehmen,
bereit zum Aufbruch,
bereit zum Teilen von Freude und Leid,
wir bitten dich um Aufmerksamkeit, Dein Anklopfen bei uns zu hören,
wir bitten dich um Zuversicht, die sich auf Dich gründet,
wir bitten dich um Tatkraft, die sich deiner Liebe verdankt,

AMEN

Perikope
31.12.2014
12,35-40

Die Kraft der Irritation – Er wird ein Knecht und ich ein Herr / Predigt zu Lukas 12,35-40 von Ruth Conrad

Die Kraft der Irritation – Er wird ein Knecht und ich ein Herr / Predigt zu Lukas 12,35-40 von Ruth Conrad
12,35-40

Die Kraft der Irritation – Er wird ein Knecht und ich ein Herr

Der Predigttext für den heutigen Gottesdienst am Altjahrabend steht im Lukasevangelium, Kapitel 12, die Verse 35-40:
„Lasst eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter brennen (36) und seid gleich den Menschen, die auf ihren Herrn warten, wann er aufbrechen wird von der Hochzeit, damit, wenn er kommt und anklopft, sie ihm sogleich auftun. (37) Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und wird sie zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen. (38) Und wenn er kommt in der zweiten oder in der dritten Nachtwache und findet's so: selig sind sie. (39) Das sollt ihr aber wissen: Wenn ein Hausherr wüsste, zu welcher Stunde der Dieb kommt, so ließe er nicht in sein Haus einbrechen. (40) Seid auch ihr bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr's nicht meint.

Irritationen,
liebe Gemeinde,
Irritationen haben etwas heilsames.
Weil sie unsere gewohnten und etablierten Denkmuster unterlaufen.
Wir alle haben uns ja den Alltag so eingerichtet, dass er läuft.
Wir wissen, was wir zu tun haben,
haben entschieden, wie wir denken,
wie wir das Leben verstehen,
was wir gut und was wir eher unangenehm finden.
Wir haben uns festgelegt, im Handeln, im Denken, im Fühlen, im Deuten.
Und das ist auch gut so.
Ein Leben ohne Routinen, wäre extrem anstrengend. Wir müssten uns ständig neu erfinden. Wir könnten auf nichts zurückgreifen.
Routinen erleichtern das Leben.
Der Alltag, das Etablierte, das Gewohnheitsmäßige – sie sind der Normalfall des Lebens.
Gott sei Dank ist das so und gebe Gott, dass das zurückliegende Jahr für uns alle viel Alltag, viel Gewohnheit bereithielt.

Manchmal aber stockt das Normale.
Eine Irritation tritt auf.
Die gewohnten und vertrauten Muster werden durchbrochen.

Man muss innehalten, kommt ins Nachdenken und überprüft seine Muster.
Es gibt große Irritationen, nachhaltige Erschütterungen, Beben, die sich durch die Normalitäten des Alltags fräsen – eine Krankheit, ein Todesfall, eine tiefe Enttäuschung, aber auch: eine neue Liebe, der Auszug der Kinder, eine großartige Reise, neue Horizonte.
Daneben gibt es aber auch die kleinen Irritationen, die uns ins Nachdenken bringen.
Ein neuer Gedanke, der befremdet und das Gewohnte in Frage stellt. Im Kontakt mit Kindern kommt so etwas ja verlässlich vor.
Eine Alltagskonstellation, die plötzlich alles auf den Kopf stellt.
Eine kurze Szene, eine Beobachtung, in der Straßenbahn, am Arbeitsplatz.
Ein Bild, das anregt und Impulse gibt, weil es irritiert.
Der heutige Predigttext enthält eben eine solche „bildhafte“ Irritation:
Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und wird sie zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen.

Am Ende aller Zeiten,
dann, wenn der Wechsel aller Jahre in die letzte Zeit mündet und alle Zeit sich einfügt in die Ewigkeit,
dann, in jener Zeit, wird der Herr, also Christus, den Knechten, also uns, dienen.
Dann wird der Herr die Schürze anziehen, wird den Tisch festlich decken und die Knechte werden die Gäste des Herrn sein.
Der Herr wird dienen.
Die Knechte werden bedient werden.

Dass wir Menschen Knechte sind,
liebe Gemeinde,
das ist zunächst keine sonderlich irritierende Einsicht.
Das entspricht unserer Erfahrung.
Wenn wir auf das zurückliegende Jahr blicken, dann legt sich diese Einsicht einem vielleicht sogar von selbst nahe – ein elender Knecht bin ich.
Mein Leben – immer auch das Leben eines Knechtes.
Ein beladenes Arbeitsjahr liegt hinter uns: Erfolge, Versage, lästige Kollegen, unschöne Seilschaften, Umstrukturierungen und das Tempo wird immer schneller, der Takt wird dichter und immer läuft die Angst mit, dass alles noch schlimmer wird, dass sich der eigene Job in China wiederfindet, dass der Abstieg nicht aufzuhalten und das Tempo nicht zu drosseln ist.
Auch von der Schule sagen Eltern und Kinder: Eine Knechtsanstalt ist sie geworden. Gedrängte Zeiten. Kaum ist die eine Klassenarbeit vorbei, kommt schon die nächste Reform um die Ecke und jeden Tag ist ein Kampf gegen die Lehrer, gegen die Anfechtungen der Pubertät und um die Anerkennung der Freunde.
Und auch außerhalb des Arbeitslebens – das Leben ist kein Ponyhof. Alle müssen fit bleiben, bis ins hohe Alter. Da wird man leicht zum Knecht gesellschaftlicher Erwartungen, darf keine Schwäche zeigen, soll ein nützliches und kostengünstiges Mitglied der Gesellschaft sein. Nur keinem zur Last fallen.

„Knecht sein“, das heißt also: eingespannt sein. Zurückgeschraubt aufs Funktionieren-Müssen, aufs Erfolg-Haben.
„Knecht sein“, das heißt: Anschlussfähig sein an die Erwartungen anderer, sich einfügen in die Muster dessen, was gesellschaftlich genehmigt ist.
„Knecht sein“, das heißt: Immer besser werden müssen – am Arbeitsplatz noch schneller, für den Partner oder die Partnerin noch verständiger, für die Kinder noch einfühlsamer, für die Eltern noch pflegebereiter.
„Knecht sein“, das heißt: Immer weiter, immer weiter, immer weiter. Und nie ein Wort des Dankes. C‘est la vie. So ist das Leben.
Leben heißt Knecht sein.
Und diese Einsicht wird nicht leichter, wenn wir sehen, dass wir immer doppelt darin verwickelt sind.
Denn Leben heißt auch: Zum Knecht machen.
Andere und sich selbst.
Wir überziehen auch immer unsere Mitmenschen mit Erwartungen und Ansprüchen, in die diese sich einzufügen und unterzuordnen haben.

Vom Partner erwarten wir Geborgenheit und Toleranz, von der Partnerin dann doch auch, dass die Sache mit dem Haushalt diskret abgewickelt wird.
Von den Kindern erwarten wir natürlich gute Noten und natürlich sind es im Ernstfall die Lehrer, auf die wir unsere Ansprüche weiterleiten.
Von den Mitarbeitern am Arbeitsplatz erwarten wir Engagement, Einsatz, Erreichbarkeit rund um die Uhr.
Und wann sagen wir „Danke“?
Wann durchbrechen wir diesen Knechtskreislauf von Erwartungen und Funktionieren?
Doch eher selten.
Denn wir haben dieses Prinzip so verinnerlicht, dass es sogar zu einem Muster unserer Selbstdeutung geworden ist.
Wir sind Knechte unserer selbst.
Knechte unserer Erwartungen an uns selbst,
an das, was das Leben uns zu bieten hat,
an das, von dem wir denken, dass wir es zu leisten und vorzuweisen haben.
„Auf weiter!“ – so treiben wir uns an.
Da ist noch Luft nach oben.
Karriere heißt ein Zauberwort.
Selbstverwirklichung ein anderes.
Entwicklungspotential ein drittes.
Familienglück ein viertes.

Ja, liebe Gemeinde,
es ist wahr: Wir sind Knechte.
So ist das Leben.

Und vielleicht wird einem das gerade am Altjahrabend besonders deutlich. Schon wieder so ein Knechtsjahr hinter mir.
Bis hierher ist die Aussage Jesu also wenig irritierend. Ja, wir sind Knechte.
Und das ist ja nicht nur eine verheerende Einsicht. Oft leben wir damit ja ganz gut. Vieles gelingt uns, macht uns Freude, denn irgendwie haben wir uns doch alle eingerichtet in diesem Leben und in unseren verschiedenen Knechts-Alltagen.
Wir sind routinierte Knechte.
Immerhin wissen wir so, was wann wo zu tun ist,
was man von uns erwartet,
was wir von anderen erwartet,
was wir von uns selbst erwarten,

welche Freiräume es gibt.
Der Alltag der Knechte ist der Alltag der zwar lästigen, aber doch auch schützenden Routine.
Irritationen sind nicht vorgesehen, denn: C‘est la vie. So ist das Leben.

Worin liegt nun aber die Irritation in dem, was Jesus sagt?

Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und wird sie zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen.
Die erste Irritation besteht darin, dass Jesus gar nicht leugnet, dass wir Menschen Knechte sind und dass wir andere Menschen und uns selbst zu Knechten machen.
So ist das Leben.
Der Glaube kann die Gesetze des Lebens nicht außer Kraft setzen.
Erlösung heißt nicht, die Bedingungen des Lebens abzuschaffen.

Wir kommen nicht raus aus diesem Leben. Auch nicht durch die Religion.

Zum christlichen Glauben gehört deshalb immer eine gute Portion Nüchternheit.

Eine Nüchternheit, die anerkennt: So wie es ist, ist es. Auch wenn es ätzend ist. Und anstrengend.
Die erste Irritation ist also der dezente Hinweis von Jesus, von der Religion, vom Glauben nicht mehr und nichts anderes zu erwarten, als was er zu leisten im Stande ist.
Die zweite Irritation besteht dann aber darin, dem Glauben trotzdem Großes zuzutrauen, nämlich die Hoffnung darauf, dass sich einmal alles ändern wird.
Jesus rückt unsere Alltagserfahrung in ein anderes Licht.
In das Licht des Künftigen.
Und dadurch irritiert er sie.

Denn: Am Ende aller Tage, da wird das Knechtsprinzip dieser Welt aufgehoben werden.
Weil es rumgedreht wird.
Am Ende werden die Knechte wie einst die Herren zu Tische liegen, werden sich bedienen lassen, werden empfangen und wohl versorgt werden.
Am Ende wird der HERR wie einst die Knechte eine Schürze anhaben, wird das kühle Bier und den edlen Wein servieren, das Essen auftragen und wird Sorge tragen, dass es den Knechten an nichts fehlt.
Am Ende werden die Knechte rehabilitiert.
Am Ende kommt die Ordnung, von der Gott findet, dass sie die gute ist.

Am Ende dient Gott den Menschen.
An Weihnachten, von dem wir herkommen, an Weihnachten hat diese neue Weltordnung begonnen. Hier nimmt sie ihren Ausgang.

„Er wird ein Knecht und ich ein Herr; / das mag ein Wechsel sein!“
Und seitdem breitet sie sich aus, diese gottgewollte Ordnung der Dinge.
Breitet sich aus in unseren Knechtsalltagen, in unseren Knechtshaltungen.
In unserem Denken, Handeln und Fühlen.
Denn ja, das gibt es, dass wir zwar nicht aus den Gesetzen des Lebens auszusteigen vermögen, dass wir ihnen aber hier und dort Freiheiten und Widerständiges abzutrotzen vermögen.
Weil wir uns den Intrigen, die die anderen funktionalisieren, verweigern.
Weil wir uns überhaupt einmal klar werden darüber, in welche Erwartungen wir uns und die anderen ständig einstricken.
Und weil wir mindestens die anderen einmal freigeben, indem wir die Erwartungen an uns selbst nicht immer auch gleich auf die anderen übertragen.
Weil wir zur Ruhe kommen können, wenn wir einsehen: Das Glück des Lebens ist nicht mit der Menge erfüllter Ansprüche und Erwartungen identisch.
Weil wir in unserer Seele fühlen: Ich bin ein Herr, auch wenn ich als Knecht lebe, leben muss.
Das ist die Würde, die der christliche Glaube zu geben vermag und die verhindert, dass wir zu Tyrannen werden, gleichsam zu Knechts-Tyrannen.
Der Glaube vermag nicht die Bedingungen und Gesetze des Lebens außer Kraft zu setzen. Auch nicht im Neuen Jahr. Aber er vermag die Haltung zu ihnen zu irritieren und damit zu unterlaufen. Weil wir in Christus ein Zeichen haben dafür, wie es wirklich sein soll, wie es dereinst sein wird, in alle Ewigkeit und wie es hier und jetzt schon sein kann, auch im Neuen Jahr.
Erlösung heißt also nicht, die Bedingungen des Lebens abschaffen zu können.
Erlösung heißt: Eine veränderte Sicht gewinnen. Und deshalb anders leben wollen – und können.

Irritationen,
liebe Gemeinde,
Irritationen haben etwas heilsames.
Weil sie unsere gewohnten und etablierten Denkmuster unterlaufen und durchbrechen.
Wir halten inne, wie an diesem letzten Abend des Jahres, kommen ins Nachdenken und überprüfen unsere Muster.
So aber können wir Freiheit zurück gewinnen,
eine veränderte Haltung zu den Routinen und Zwängen unseres Lebens,
eine Hoffnung, die über die Zumutungen des Alltags und die Bedingungen des Lebens hinausreicht,
eine Ahnung davon, wie es eigentlich sein soll, wie Gott es will und wie es einst sein wird.
Ja, wir sind Knechte in diesem Leben.
Ja, wir kommen da nicht raus.
Und ja, auch der Glaube führt da nicht raus. So gerne wir das vielleicht hätten und so leichtfertig uns das manchmal suggeriert wird.
Aber nein, so wird es nicht bleiben.
Nicht für immer.

Nicht in alle Ewigkeit.
Und ja, diese Hoffnung verändert unser Leben schon heute, hier und jetzt.
In dieser Hoffnung wollen wir über die Schwelle der Jahre gehen.
Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und wird sie zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen. Darum seid auch ihr bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr's nicht meint. Amen
 

Predigtlied: EG 27, 1-6 Lobt Gott, ihr Christen alle gleich
Ich lese Lk 17, 7-10 als „Parallelperikope“ des heutigen Predigttextes und lege diesen vor diesem Hintergrund aus.
 

Perikope
31.12.2014
12,35-40

Jedes Jahr ist ein „Jahr des Herrn“ - Predigt zu Lukas 4,16-21 von Reiner Kalmbach

Jedes Jahr ist ein „Jahr des Herrn“ - Predigt zu Lukas 4,16-21 von Reiner Kalmbach
4,16-21

Jedes Jahr ist ein „Jahr des Herrn“

Ein neues Jahr hat begonnen, hat Einzug gehalten. Was mag es mir bringen?, oder kann man von einem neuen Jahr überhaupt etwas „erwarten“?, müsste ich die Frage nicht umgekehrt stellen?: was kann ich in dieses Jahr einbringen, was erwartet „Gott“ von mir...?, ach ja, der liebe Gott, der will ja durch sein Wort zu uns sprechen, er will hier unter uns sein..., heute wie an jedem Gottesdienst.

Also hören wir es, es steht im Evangelium des Lukas, im 4. Kapitel, die Verse 16 – 21

Textlesung

Welch ein Wort!, sachlich und nüchtern beschreibt Lukas dieses Ereignis, und vielleicht gerade deshalb kommt es bei mir an, bewegt mich, (er)füllt meine Seele bis in den letzten Winkel...und wenn ich dieses Wort etwas länger auf mich einwirken lasse, dann entsteht so etwas wie eine Unruhe in mir, fast könnte ich sagen, es erschreckt mich.

Welch ein Wort!, und damit soll ein neues Jahr beginnen..., was wollen wir mehr?! (wir könnten es vielleicht ernst nehmen...). Schliesslich wird uns ein ganz besonderes Jahr verkündet: das „Gnadenjahr des Herrn“.

Jedes neue Jahr ist ein „Jahr des Herrn“.

Niemand weiss heute was morgen sein wird. Alles, was mit der Zukunft zu tun hat, ist offen, ungewiss...

Ja, diese Geschichte bewegt mich, vielleicht auch deshalb, weil sie mich an meinen eigenen Weg erinnert: Jesus kommt, vielleicht nach längerer Zeit zum ersten Mal, in sein Heimatdorf. Es muss ihm nicht unbedingt ein besonderer Ruf vorauseilen, dennoch wird seine Ankunft eine gewisse Aufmerksamkeit erregt haben.

Aufgewachsen bin ich in einem kleinen Dorf im Schwäbischen. Man kennt sich, man gehört zur „Dorfgemeinschaft“. Aber dann hat es mich fortgezogen. Ab und zu kam ich auf Besuch, das ist kaum aufgefallen. Viele junge Menschen zieht es in die Stadt. Später dann das Theologiestudium und danach die Ausreise nach Argentinien. Eines Tages kehre ich in mein Dorf zurück, nun als Pfarrer. Da gibt es für ein paar Tage kein anderes Gesprächsthema. Natürlich werde ich eingeladen am Sonntag zu predigen. Eine kleine Gemeinde, die sich allsonntäglich in der kleinen Dorfkirche versammelt. Der Kirchgang gehört einfach dazu, niemand würde diese Tradition in Frage stellen, alles nimmt seinen gewohnten Gang, auch die Liturgie, die Predigt...Früher, als ich noch dazu gehörte, fragte ich mich oft, ob das gepredigte Wort bei den Menschen überhaupt ankommt. Es wird wohl gehört, die Frage ist, aber wie?, spricht dieses Wort den Menschen in die Herzen?, in ihr persönliches Jetzt?, oder gehört es, eben wie all die anderen Dinge, einfach dazu? Man kann auch gewisse religiöse Überzeugungen haben, die man nicht missen mag, die einem wichtig sind, an denen man sich wärmt, in denen man zu Hause ist. Auch darin gibt es ein Heute, das Heute nämlich, das genauso wie das Gestern, genauso auch wie das Morgen sein wird. Man betet das Glaubensbekenntnis und auch das gehört dazu. Niemand würde die Existenz Gottes, seine Allmacht, in Frage stellen. Man kann in die Kirche gehen in der Erwartung, dass dort „ewige Wahrheiten“ verkündet, nein: „doziert“ werden. Aber niemand erwartet, dass jetzt irgend etwas passiert!

So stehe ich also auf der Kanzel und predige Sein Wort, jenes Wort, das von der selben Stelle aus jeden Sonntag die alten Gemäuer ausfüllt. Unten im Kirchenschiff sitzt meine Mutter, sie ist voller Stolz...Alle hören zu, man sieht, man spürt es, niemand schläft. Noch während ich predige, frage ich mich, ob sie ihrem Pfarrer die selbe Aufmerksamkeit schenken, eher nicht...Danach dann die Kommentare, ja, heute haben sie wirklich zugehört. Selbst der Pfarrer sagt anerkennend: „...heute nehmen die Menschen etwas mit nach Hause...“

War es so bei Jesus?, haben sie ihm mit aller Aufmerksamkeit zugehört, weil er, nach langer Zeit, die Seinen besucht...? Ich denke, ein bisschen schon. Das Wort aus dem Jesajabuch ist für die frommen Juden der Synagoge bestimmt nichts aussergewöhnliches, sie hören es nicht zum ersten Mal. Hätte einer von ihnen die selbe Stelle aus der Schriftrolle gelesen, kein Grund deshalb seinen verdienten Kirchenschlaf zu unterbrechen. Aber es ist Jesus, der einst unter uns lebte, Jesus, den wir doch alle kennen, wir haben zusammen mit ihm so manchen Schabernack getrieben. Also haben die Menschen ihre Ohren auf Empfang geschaltet..., und vielleicht auch ihre Herzen. Dieses Wort, aus seinem Munde, heute hört es sich ganz anderes an! Und Jesus weiss: heute hören sie mir wirklich zu. Und wer nicht ganz vernagelt ist, der spürt es sofort: das „mir“ und „mich“ in dem vorgelesenen Text weißt auf ihn hin. Irgendetwas geschieht da, das jedenfalls, verstehen die Nazarener. Aber es will ihnen einfach nicht in den Kopf, dass der, den sie von Kind auf in seiner ganzen Menschlichkeit kennen, der Erfüller der Verheissungen Gottes sein soll.

Nicht wahr?, so sieht es doch aus in unseren Gemeinden. Wir lesen, hören Gottes Wort, Sein Wort aus dem Munde des Propheten, der Apostel, der Evangelisten..., manchmal ist dieses Wort wie starker Tobak, es rüttelt und schüttelt uns, und dann kann es auch trösten, aufrichten..., aber dann ist auch schon vorbei, schliesslich steht es nur auf dem Papier, und da soll es auch bleiben!, wo kämen wir hin, wenn Gott unserer Bitte „...dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie (bereits) im Himmel, so auch auf Erden...“, ganz plötzlich nachkommen würde...?, nein, besser nicht, lassen wir doch alles wie es war und ist..! Unsere Kirche, unsere Gemeinde im Dauerdämmerschlaf...

So stelle ich mir die Situation um Jesus vor. Eine Gemeinde die ihre Routine feiert, den allsabbatlichen Ritus, mit wunderschönen Texten und Gebeten..., und ganz plötzlich ändert sich alles: „heute ist dieses Wort erfüllt vor euren Ohren.“

Heute!, nicht gestern und auch nicht morgen, sondern jetzt!, in diesem Augenblick, da ER zu uns spricht. Wenn sie, die Zuhörer Jesu, wenn wir doch dieses Heute verstünden!

Wir kennen diese Situation: es gibt Augenblicke, in denen das Schicksal eines Volkes, oder gar der ganzen Menschheit gewissermassen an einem Faden hängt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Welt nie so nahe am Abgrund, wie während der Kubakrise. In buchstäblich letzter Sekunde konnte die atomare Katastrophe vermieden werden.

Jesus in der Synagoge: er ist der dessen Geist aus den alten und wunderschönen Texten spricht, er ist, gewissermassen, der Autor dieses Wortes, es verleiht seinem Willen Ausdruck. Deshalb spüre ich eine gewisse Unruhe in mir, deshalb richten sich alle Blicke auf Jesus.

Dass Gott allmächtig ist, ist immer wahr, zu jeder Stunde, auch ausserhalb des Gottesdienstes. Sich eine eigene Vorstellung von Gott zulegen, die Gebote studieren, Opfer darbringen und Psalmen singen nach der Väter Weise, das können die Nazarener (und wir!) immer. Wie aber, wenn sich das, was sich zwischen Gott und uns abspielt, eben nicht das Zur-Kenntnis-Nehmen einiger Wahrheiten über Gott wäre, sondern ein lebendiges Geschehen?, wenn ich plötzlich erkennen würde, dass Jesus selbst in seinem Wort lebendig ist, d.h., Er spricht mich persönlich an und zwar jetzt! Und dann erkenne ich, wie es um mich steht: ich bin ja selbst Teil der schlafenden Gemeinde, ich habe ja selbst immer wieder dafür gesorgt, dass dieses Wort auf dem Papier bleibt und sich von dort nicht fort bewegen kann.

Gerade kommen wir von Weihnachten her..., wie sieht es damit aus?, lassen wir jedes Jahr nur ein geschichtliches Ereignis auferstehen, um es zu glorifizieren?, können wir wirklich die Freude spüren, erfahren, „heute“ (noch) erleben, die „allem Volk“ widerfahren ist?, oder ist für uns der Heiland nicht heute, sondern gestern geboren...? Denn darum geht es doch, eigentlich in jedem Gottesdienst, also auch heute, jetzt!

Jesus spricht jetzt zu mir, zu uns, ich darf diesen Moment nicht wieder verstreichen lassen, eine verpasste Gelegenheit ist eine verlorene Gelegenheit! Das Reich Gottes öffnet sich mir, uns und zwar jetzt und hier!, das sagt Jesus seinen Zuhörern in Nazareth und er sagt es uns!

Im Grunde gibt es für uns Christen nur eine einzige sorgenswerte Sorge: was ereignet sich zwischen Gott und mir? Ja, was ereignet sich da? Jesus steht vor uns, das Gnadenjahr ist angebrochen, wir dürfen kommen..., weil

...der Verheissene mitten unter uns ist.

Ja, für uns ist das Jahr des Herrn bereits angebrochen. Dazu ist Jesus gekommen!, dieses kleine Detail ist ungeheuer wichtig: Jesus stand von der Krippe auf und ist auf den staubigen Strassen dieser Welt gewandert. Das Evangelium wird den Armen verkündet!, da hilft keine Ausrede, keine noch so hochtrabende Rechtfertigung..., es ist so!

Und weil das so ist, nimmt uns dieses Wort in die Pflicht.

Jesus hat seine Liebe zu den Menschen gepredigt und gelebt, bis in die letzte Konsequenz. Und es ist genau das, was er von den „Seinen“ auch erwartet. Jesus war kein Diplomat und noch viel weniger ein Kirchenpolitiker, der „hinter den Kulissen“ versucht, „etwas“ zu erreichen. Jesus war konkret, Jesus hat im Jetzt gelebt und gehandelt. Deshalb dürfen wir uns niemals mit der Klage über die ach so dunkle und böse Welt zufriedengeben. Deshalb sollen wir fragen: was können, was müssen wir tun...? Und wenn wir die Augen öffnen, dann werden wir die Antwort sehen.

In unserer Gemeinde im Süden Argentiniens haben die Frauen vor einigen Jahren zwei soziale Projekte in einem Elendsviertel eingerichtet. Sie haben „gesehen“, „mit den Augen Jesu“, wie es mir eine ältere Frau erklärte. Frauen lernen die Kleidung für ihre Familien selbst nähen, sie erhalten psychologische Hilfe, um mit der allgegenwärtigen Gewalt besser umgehen zu können. Ihre Kinder werden bei den Schulaufgaben betreut, sie dürfen richtig spielen, lachen zum ersten Mal in ihrem Leben..., „...zu verkündigen das Evangelium den Armen...“, die Blinden werden sehend, die Gefangenen frei sein.

Es stimmt schon: wenn wir es wagen dieses Wort ernst zu nehmen, wenn wir uns von ihm wirklich ansprechen lassen, wenn es vom Papier auf uns überspringt, wie ein Funke, dann entsteht Widerstand in uns, dann suchen wir nach irgend einem Ausweg.

Wir spazieren durch die Stadt und kreuzen plötzlich die Strasse, weil auf unserer Seite ein Bettler sitzt, den unser Gewissen am liebsten ignorieren möchte. Und wenn der Bettler Jesus ist?

Aber ich habe es selbst gesehen und erlebt: unsere Frauen „opfern“ ihre Zeit und ihr Geld, ihre Phantasie und ihre Gaben, mit grosser Freude. Jede von ihnen hätte ohne Probleme mehrere Ausreden parat..., aber sie nutzen das Jetzt, um das zu tun, was Gott von ihnen erwartet: am Bau des Reiches mitzuarbeiten. Sie sind mit einer Begeisterung dabei, die für mich fast unerklärlich ist, sie stecken Rückschritte und frustrierende Erfahrungen einfach weg, schauen nach vorne und machen weiter.

Wenn wir den Abschnitt bei Lukas weiterlesen, dann werden wir erfahren, dass die Nazarener das „Jetzt“ nicht erkannten, sie sahen sich nicht im „Gnadenjahr“, sie liessen die Gelegenheit verstreichen (wieder eine!) und jagten ihn aus der Stadt.

Es wäre eine wundervolle Herausforderung für unsere Gemeinde, für jeden von uns, dieses neue Jahr als Gnadenjahr zu erkennen, in dem sich die Verheissungen erfüllen, eben weil der Verheissene bereits unter uns ist.

Amen.

 

Perikope
01.01.2015
4,16-21

Das bedeutsame Familienfest

Das bedeutsame Familienfest
2,1-21

Liebe Gemeinde,

waren Sie schon mal die Maria? Oder der Josef? In der Schule oder in der Kirche beim Krippenspiel? Ich erinnere mich, dass die Rollen der Maria und des Josef immer leicht zu besetzen waren. Aber wenn die Proben dann losgingen, gab es regelmäßig ein Problem für die beiden: Wie macht man das eigentlich, ein Paar spielen? So wie zuhause? Oder lieber anders? Eines war schon klar: Es durfte nicht gestritten werden! Man war ja schließlich die Heilige Familie!  Da musste es ordentlich und friedlich zugehen.

Die heilige Familie gab lange Zeit gleichsam das Vorbild für bürgerliche Familien ab. Dann musste die heilige Familie herhalten als Vorbild für die heile Familie. Vater, Mutter, Kind. Alles einträchtig beieinander, in wohlgeordneten Verhältnissen.

Und wenn man dann mit einem Weihnachtslied singt „ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen“, dann ist das, als wollte man dieses Heil-Sein der heiligen Familie in höchsten Tönen loben.

Ich glaube, dass sich tatsächlich viele Menschen nicht satt sehen können am Heiligen-Schein, am Heil-Sein dieser Familie. Das ist der Traum von Weihnachten: Wenigstens einmal im Jahr ahnen, wie es auch sein könnte. Heil. Friedlich. Geborgen.

Denn das Leben ist nicht immer heil. Auch unsere Familienverhältnisse nicht. Aber was an 364 Tagen im Jahr nicht oder nicht immer glückt in der Heiligen Nacht soll es doch gelingen. Denn diese Nacht ist eine besondere Nacht. Heilig und still.

„Nur das traute, hoch heilige Paar“ wacht einsam in dieser besonderen Nacht. Die Mutter, Maria, und Josef, der Vater.

Vor allem Maria ist im Blick: Die schöne junge Mutter, die fast jedes Mädchen gerne spielen will. Leise lächelnd. Mit fast schon überirdischem Leuchten im Gesicht.

Die Spur des Josef hingegen verliert sich. Dabei ist er so wichtig für das Jesuskind! Durch Josef bekommt es eine Reihe berühmter Vorfahren. Die Erzväter des Gottesvolkes sind dabei: Abraham, Isaak und Jakob, dazu die Könige David und Salomo – eine prominente Ahnengalerie, mit der Josef da aufwarten kann. Er bürgt für die königliche Abstammung des Jesuskindes. Nicht Maria.

Doch seine Rolle in der Heiligen Familie wurde lange übersehen. Eine Erfahrung, die er mit manchen Familienvätern heute teilt.

Christiane Schaaf-Saulin, Statement: Weihnachten, da geht es auch um eine Familiengründung. Eine Mutter und um ein Vater, die sich auf ein Kind freuen. Ein Vater, der nicht der leibliche Vater des Kindes ist, übernimmt Verantwortung, steht an der Seite seiner Frau, verdrückt sich nicht, haut nicht ab.

Superintendent Andreas Lange: Das macht mir diesen biblischen Joseph sympathisch, für mich ist er ein wunderbares Vorbild.

Und dann dieses Weihnachtsbild hier in unserer Kirche. Wenn ich es genauer betrachte, bin ich irritiert, verstört - ja, auch betroffen. Wir sehen keine Familienidylle.

Es zeigt eine jubelnde Mutter - Maria, die ihr Kind in den Händen trägt und einen ins Abseits gestellten Vater - Joseph unters Bett geschoben.

Das ist nah dran, wie es Menschen auch heute oft geht.

Ja, manche Männer heute fühlen sich in ihrer Familie als Verlierer. Wie Josef damals? Stand der etwa auch in Marias Schatten?

Oder wie soll man das Bild hier in der Kirche deuten mit dem Josef, klein mit Hut unterm Bett? Wir haben uns in der Vorbereitung lange mit diesem Bild beschäftigt. Wir wollten verstehen, wie dieses Bild eigentlich gemeint ist. Dann haben wir es abfotografiert und vergrößert. Wir haben entdeckt:

Es geht in diesem Bild nicht darum, den Josef klein zu machen. Sondern es geht darum, das Kind groß zu machen. So wie Maria es auf dem Bett liegend in die Höhe hält, soll gesagt werden: Schaut hin. Dieses Kind ist etwas ganz Besonderes. Es ist Gott und Mensch zugleich. Es ist geboren wie jedes Menschenkind von einer Frau, doch es kommt von woanders her. Es ist von göttlicher Herkunft.

Gott bleibt nicht fern im Himmel, sondern er kommt zur Welt. Er verbindet sich ganz und gar mit uns Menschen.

Lange Zeit hat Josef in der Kunst daher überhaupt keine Rolle gespielt. Maria als Mutter Gottes und das Kind saßen das ganze Mittelalter hindurch im Zentrum vieler Weihnachtsbilder. Josef war höchstens schmückendes Beiwerk. Ochs und Esel standen dem Christuskind näher als ausgerechnet er.

Später änderte sich das. Die Künstler malten auf einmal auch den Vater dazu. Aus der Zweisamkeit von Maria mit dem Jesuskind wurde die Heilige Familie. Mit Josef als einer Art „Hausmann“: er macht Feuer, er kocht Suppe, er wäscht die Windeln. Ganz schön fortschrittlich.

Damit wird er zum Vorbild für alle Väter, die ihre Rolle erst finden müssen. Und vielleicht manches in ihrem Familienleben schmerzlich ungereimt finden.

Arne Heger, Statement: Ich selbst bin ein Scheidungskind. Und ich bin über diesen Josef da unten überhaupt nicht verstört. Ich habe nämlich meine eigene Geschichte mit Weihnachten.Schon als Jugendlicher habe ich Weihnachten immer unter zwei Tannenbäumen feiern müssen. Beide Eltern unter einem Baum, das gab es für mich nicht mehr.

Vor fünf Jahren bin ich Vater geworden. Familie? Leider Fehlanzeige. Seit rund vier Jahren fahre ich jeden Monat 2.500 Kilometer Auto, um meinen Sohn zu sehen.

Als das erste Weihnachtsfest ohne ihn anstand, war ich furchtbar wütend. Wütend  darüber, dass ich generell daran gehindert wurde, Vater sein zu dürfen. Darüber habe ich viel nachgedacht und aus Gesprächen mit Freunden wuchs ein Gedanke: Ich bin Vater und das kann mir niemand nehmen.

Als mein Sohn und ich unser erstes Weihnachtsfest bei mir zuhause gefeiert haben, habe ich durch ihn Weihnachten neu entdeckt: seine leuchtenden Augen, seine Ungeduld, sein Lachen… das hat mich mit Weihnachten versöhnt.

Es ist auch für mich zum Fest der Familie geworden. Nicht im klassischen Sinne: Vater, Mutter, Kind unter dem Weihnachtsbaum. Eher unterteilt in viele kleine Augenblicke, mit mir lieben Menschen.

Superintendent Andreas Lange: Vater, Mutter, Kind, alles in geordneten Verhältnissen − so kann es sein. Das wünscht sich auch weiterhin ein großer Teil unserer Gesellschaft. Und es ist schön, wenn es so ist. Aber es kann auch anders kommen.

Gott hätte es ja auch ganz anders machen können: Vater, Mutter, Kind, mit Ehering und Einbauküche. - So hätte es sein können, so war es aber nicht. - Doch genau deswegen wächst mir diese Heilige Familie ans Herz.

„Macht denn nur das Blut den Vater?“, fragt Lessing in „Nathan der Weise“. Vater-Sein, Mutter-Sein und Familie-Sein ist auch und vielleicht vor allem: Dass Menschen finden, was sie leben lässt und worauf es wirklich ankommt. Niemand soll daran zerbrechen, dass er oder sie die Idealbilder einer ach so Heiligen Familie nicht erfüllen kann.

Gott überlässt die kleine und große Welt nicht uns selbst. Er kommt uns nahe und macht unser Leben leicht, legt gleichsam sein Gold über unsere Brüche. Damit Wunden heilen und Friede wird.

Familie ist dort, wo Menschen spüren: Wir nehmen einander an wie Gott es auch tut. Wir brauchen nicht Maria oder Josef zu „spielen“. Wir gehören in die Weihnachtsgeschichte hinein. Und mit uns geht sie weiter.

Amen.


 

Perikope
24.12.2014
2,1-21

Innehalten - Predigt zu Lukas 2,1–20 von Jan Hermelink

Innehalten - Predigt zu Lukas 2,1–20 von Jan Hermelink
2,1-20

„Innehalten“

Lesungen: Jes 9, 1–6; Luk 2, 1–20

Lied vor der Predigt: EG 37, 1–4 [Ich steh an deiner Krippen hier]

Liebe Gemeinde,

eine große Kraft geht von dieser Geschichte aus,
die wir gerade wieder gehört haben.
Jedes Wort ist uns vertraut,
jeder Satz weckt Erinnerungen –
Szenen aus ganz anderen Zeiten steigen auf,
Töne und Bilder, Gerüche, Hoffnungsfetzen.[1]

Mit dieser Geschichte werden wir zurück versetzt –
in frühere Jahre, in die Räume der Kindheit,
zu Menschen, die längst nicht mehr da sind.

Diese Geschichte bringt uns zur Besinnung,
sie konzentriert uns; sie strahlt Ruhe aus.

Eigentlich ist das erstaunlich – denn diese Geschichte,
die Geschichte von der Geburt Jesu, wie sie der Evangelist Lukas erzählt,
sie ist ja eine Geschichte voller Unruhe, voller Bewegung,
mitunter freiwillig, oft auch unfreiwillig.

Das Gebot des Kaisers Augustus, der Erlass zur allgemeinen, weltweiten Steuerschätzung setzt „jedermann“ in Bewegung –
ich habe mir das immer wie eine Art Völkerwanderung vorgestellt:
ein gewaltiges Hin und Her auf den Fernstraßen,
alle Gefährte überfüllt, alle Gasthöfe ausgebucht.
Und mittendrin ein junges Paar, die Frau hochschwanger,
der Mann besorgt und verwirrt.

Auch in der nächsten Szene ist viel Bewegung:
der Engel, der urplötzlich bei den Hirten steht,
die himmlischen Geschwader, die herabkommen und wieder hinauffahren „gen Himmel“.

Und dann die Hirten selbst – „eilends“ brechen sie auf,
nach kurzer Beratung,
sie suchen und finden das Kind – und laufen alsbald wieder los,
werden zu Botschaftern der großen Freude – die ersten Evangelisten,
enorm ruhelos wie alle ihre Nachfolger.

Und dennoch, trotz aller Unruhe,
trotz des großen Aufgebots an Menschen und Engeln,
trotz gewaltiger Worte – „Heiland“, „Christus, der Herr“,
Frieden „in der Stadt Davids“ und „auf der ganzen Erde“ –
dennoch wird diese Geschichte – bis heute – zum Ruhepunkt.

Ich stelle mir vor, dass Sie jedenfalls auch deswegen heute hier sind,
in diesem Gottesdienst am Heiligen Abend:
um Ruhe zu finden – nach all den Tagen , die viel zu kurz sind
für die vielen Pläne und Erledigungen,
nach all’ der Organisation, wer wohin fährt und wer mit wem kommt
(oder nicht kommt).

Gewiss, es gab und gibt – das wünsche ich Ihnen jedenfalls –
auch andere Ruhepunkte,
Erfahrungen von Stille in dieser Vorweihnachtszeit:
Andachten, gemeinsame Feiern mit Freunden und Kollegen,
unerwarteter Besuch, oder ein lang geplantes Wiedersehen.

Aber heute, hier in der Kirche,
müssen Sie – müssen wir – nichts organisieren:
kein Essensvorbereitungen, keine Geschenke, kein Programm.
Der Baum ist geschmückt; die Lieder sind (einigermaßen) vertraut –
und erst recht diese Geschichte:
Sie ist uns vorgegeben, sie ist immer schon da –
wir hören sie, und es kann still werden.

Wo kommt diese Geschichte eigentlich selbst zur Ruhe,
habe ich mich gefragt; wo kommen die Bewegungen –
für einen Moment jedenfalls – zum Stillstand?[2]

„Und als sie dort waren“, in Bethlehem, „da kam die Zeit ihres Gebärens,
und sie gebar ihren Sohn, den ersten,
und sie wickelte ihn und legte ihn in eine Krippe –
denn sie hatten sonst keinen Ort in der Herberge.“

Nach der langen Reise, in aller Unruhe kommen die Wehen –
und mit einer großen, schmerzhaften Anstrengung wird das Kind geboren; das erste für Maria. Sie umsorgt und bettet es, so gut das geht –
und dann ist es – in der Geschichte jedenfalls – für einen Moment still.

Und einige Zeit später ist dies noch einmal der gleiche Ruhepunkt:
das Kind in der Krippe.
Die Hirten brechen auf, suchen nach dem angekündigten Zeichen, fragen sich durch, eilen sich – und „sie fanden beide, Maria und Josef, dazu“ –
wie nebenbei hört sich das an – „das Kind, in der Krippe liegend“.

Nur ein kurzer Moment ist das, bevor die Hirten aufgeregt erzählen,
was sie draußen, in der Nacht gehört haben,
und bevor sie – wiederum eilend (so scheint es mir) – wieder aufbrechen.

Nur Maria bleibt an der Krippe; sie wendet die Worte hin und her,
wie sie ihr weitergesagt wurden, wie sie sie selbst gehört hat.

„Ich steh’ an deiner Krippe hier“ – das ist der einzige Moment der Ruhe,
ein kurzer Augenblick des Friedens –
bevor das Kind zu schreien beginnt,
bevor sich die Stimmen überschlagen, aufgeregt und voller Freude,
bevor die Verheißungen zitiert werden –

„denn es ist uns ein Kind geboren, und ein Sohn ist uns gegeben,
und die Herrschaft ruht (ruht!) auf seiner Schulter“ (Jes 9,5).

Eine kurze Zeit des Friedens, ein knappes Innehalten
mitten im Durcheinander von Menschen und Engeln.
Selbst dem Evangelisten fällt es offenbar schwer,
diesen Moment zu würdigen.

Wie schwierig ist es, an der Krippe innezuhalten,
sich zu besinnen angesichts dieses Kindes –
so ganz alltäglich, so ganz besonders.

Wie zerbrechlich sind diese Momente des Friedens,
wie sehr ist die Ruhe bedroht –
durch Gebote von oben und Verbote von innen,
durch die Angst vor dem Morgen – oder durch die Erinnerung an das,
was man doch alles versäumt hat.

Je mehr mich diese Geschichte zur Ruhe bringt,
desto mehr spüre ich meine eigene Unruhe,
meine Sorge, auch meine Müdigkeit nach vielen Wochen des Semesters:
mit immer kürzeren Tagen, immer drängenderen Terminen.

Versuche auch ich, stehen zu bleiben vor der Krippe,
versuche ich die Erzählung des Lukas genau zu hören, nachzuspüren –
dann kommen alsbald die Einwände,
ja sie stürzen auf mich ein:

Wo ist denn der Frieden, den dieses Kind bringen sollte?
Wo ist die Erlösung, die mit Christus beginnen sollte –
für das Volk Davids, das – bis heute – immer neu im Finstern wandelt,
und für alle Völker, die sich ebenso sehnen nach Gerechtigkeit und Frieden?

Ich merke, angesichts der großen Worte,
die dieses Kind umgeben wie einen Strahlenkranz:
Gegenüber solchen großen Worten bin ich misstrauisch geworden:
„Arabischer Frühling“ – „Orangene Revolution“ –
ein Neuanfang in Brüssel, in Berlin
oder zwischen Washington und Havanna –
ich kann das alles nicht mehr so recht glauben.

Zu verschlissen scheinen die großen Ankündigungen;
zu rasch ist die Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden wieder zerstoben,
immer und immer wieder.

Und dieses Misstrauen, dieses Gefühl einer tiefen Erschöpfung,
durchzieht ja auch das persönliche Leben,
ebenso unfassbar wie allgegenwärtig,
und besonders vielleicht in diesen Wochen.

Wo immer etwas geschafft ist, allein oder mit anderen zusammen,
wo immer sich Konflikte – wenn nicht zu lösen, doch – zu entspannen scheinen, wo eine gemeinsame Basis (wieder) sichtbar wird –

da bleibe ich dennoch immer mehr misstrauisch
gegenüber der nächsten Wendung,
ängstlich vor dem nächsten falschen, unbedachten Wort,
auf der Hut vor einer Kränkung, die niemand wollte – und die doch da ist.

Es gibt kurze Momente der Ruhe inmitten allen Durcheinanders;
für eine Weile, für Stunden oder Tage herrscht Frieden.
Aber „Friede auf Erden“? Lauter Jubel? Grenzenloses Vertrauen?

Noch einmal höre ich auf die Weihnachtsgeschichte.
Der Moment der Ruhe nach der Geburt,
das konzentrierte Innehalten an der Krippe,
erwartungsvoll, gespannt.

Es sind unscheinbare, rasch verflogene Momente –
und doch sind sie voller Erinnerung – und voller Hoffnung.

Die kleine Stadt Bethlehem – aber aus ihr, so steht es geschrieben,
aus ihr soll der Fürst, der große Hirte Israels kommen.
Das Haus Davids – verblasste, verlorene Herrlichkeit,
und doch glänzt dieser Name bis heute: kraftvoll, verheißungsvoll.
Und schließlich, aber nicht zuletzt: Die Geburt des Gesalbten, des Christus, des Messias – am Rande zwar, mitten im Gedränge –
und doch ein großes Hoffnungszeichen, lange ersehnt:
so wie jede Geburt ein Zeichen der Hoffnung ist,
ein Moment des Neubeginns.

Dieser Augenblick, an der Krippe, vor dem Kind –
er führt zurück in die Anfänge;
er konzentriert unendlich viel Erwartung –
und er öffnet den Blick für das Kommende.

„Frieden auf Erden“ – das ist dann keine unwirkliche Behauptung,
auch kein leeres Versprechen –
sondern das ist ein einziger, ein verheißungsvoller Moment,
ein Augenblick der Konzentration, der uns das Neue sehen lässt.

So einen Moment haben wir, so denke ich, vor wenigen Tagen erlebt:
das Ende der Eiszeit zwischen Kuba und den USA,
den Moment, als die jahrzehntelange Erstarrung sich löste,
als das große, das gewaltsame Schweigen plötzlich gebrochen wurde.

Man kann angesichts dieser Wendung vorsichtig sein, auch misstrauisch,
vielleicht mit guten Gründen –
oder man lässt sich anstecken von der großen Freude,
von der Erleichterung nach so langer Zeit, die man aus Havanna hörte.
In diesen Tagen geschieht etwas Neues – 
und im Licht der Weihnachtsgeschichte ist dieser Moment,
diese kleine große Wendung ein Zeichen der Hoffnung.

Auf der Suche nach solchen Momenten der Hoffnung,
nach Erfahrungen einer verheißungsvollen Ruhe können wir nun
noch einmal zurückblicken auf die vergangenen Wochen und Monate,
auf den langen Herbst, auf das Wintersemester.

Auch da hat es – für die meisten von uns, denke ich –
solche Augenblicke des Innehaltens gegeben,
solche Momente, in denen sich Erinnerung und Zukunft verbanden.

Das mag der Abschluss einer Seminararbeit oder eines ganzen Buches sein,
eine Prüfung oder die Bewilligung eines Projekts.
Ein Vertrag ist endlich abgeschlossen; eine Stelle neu eingerichtet.

An der Universität, in der Neues gelernt, und Neues erforscht werden soll,
hier sind solche Momente vielleicht besonders häufig –
Momente, in denen sich das Warten erfüllt,
und die zugleich einen Ausblick eröffnen auf künftige Einsichten,
auf neue Entwicklungen, auch künftige Karrieren.
An der Universität kann man – so gesehen – einüben, was das heißt:
„Ich steh’ an deiner Krippe hier“ –
staunend, erleichtert, erwartungsvoll.

Auch an der Universität allerdings sind solche Momente
des Innehaltens, der Erleichterung und des Ausblicks flüchtig,
auch, ja gerade hier geht es meistens rasch weiter:
die frohe Kunde wird verbreitet; die nächste Station angepeilt.    

Umso wichtiger scheint es mir, auch im Umfeld der Universität
eben diese Geschichte zu hören –
mit ihrer Unruhe, ihrem Durcheinander im Himmel und auf Erden –
und mit den Momenten einer großen Ruhe,
in der alles und alle an dem Ort sind, an den sie gehören.

Ein letzter Gedanke, etwas bescheidener vielleicht,
auch etwas handlicher:

Mir hat sich im Nachdenken über jenen weihnachtlichen Moment des Innehaltens auch der Sinn des Schenkens neu eröffnet, oder besser:
der Sinn des Beschenktwerdens.

Auch das sind – leider – oft sehr flüchtige Momente;
eingeklemmt zwischen dichten Gesprächen und dem gemeinsamen Essen, auch zwischen dem vorigen und dem nächsten Päckchen.
Und doch geschieht hier eben das,
was den Kern des Weihnachtsfestes ausmacht:
Meine diffuse, vielleicht ganz vorsichtige, skeptische Erwartung
gegenüber dem Nächsten erfüllt sich doch –
ich bekomme etwas von Dir, was ich nicht voraussehen konnte –
und damit verbindet sich ein großes Versprechen:
Zwischen uns wird es weitergehen.

Beschenktwerden – das ist ein Signal, ein Ausblick auf die Zukunft.
„Und das habt zum Zeichen“: Wir werden in Verbindung bleiben;
wir bleiben – auf die eine oder andere Weise – beieinander.

Ich wünsche Ihnen in den kommenden Stunden und Tagen
solche Momente des Beschenktwerdens,
solche Augenblicke des Innehaltens und der Verheißung.

Denn uns ist heute der Heiland geboren,
das Kind, in Windeln gewickelt, in der Krippe.
Es wartet auf uns.

Amen.
 

Lied nach der Predigt:  EG 55 [O Bethlehem, du kleine Stadt]
 

[1] Einige Formulierungen aus diesem und den folgenden Abschnitten verdanke ich der Predigtstudie von Thorsten Moos, in: PrSt 2014/15, Bd. I, Freiburg i.Br. 2014, S, 42–45.

[2] Diese Überlegung ist angestoßen durch die Predigtmeditation von Thorsten Latzel, Sieben erste Worte, in: GPM 69 (2014), S. 36f.

 

Perikope
24.12.2014
2,1-20

Predigt zu Lukas 2,(1)15-20 von Martina Janßen

Predigt zu Lukas 2,(1)15-20 von Martina Janßen
2,1-20

I. Weihnachten war immer zauberhaft. Zu gern erinnere ich mich daran, wie unsere Familienkrippe unter den Tannenbaum gestellt wurde. Dunkel war es in der guten Stube, nur ein paar Kerzen flackerten und tauchten alles in ein warmes Licht. Ganz still war es und irgendwie geheimnisvoll. Bis die schneidende Stimme meiner Oma ertönte. „Der Jesus stört!“ Unwillig beäugte sie die Familienkrippe. Die war zweifelsohne ein besonders prächtiges Exemplar, mit sorgfältig geschnitzten Figuren aus edlem Holz, die Kleider aus Samt mit Boraktrand und glitzernden Perlen. Besonders Maria mit ihrem zarten Lächeln, entrückt und voller Anmut, berührte das Herz. Alles wirkte edel und königlich, auch die kleine, mit einem Samtkissen ausstaffierte Wiege. Nur das Jesuskind wollte sich da nicht einfügen. Es hatte zwar ein Strahlenkrönchen auf dem Kopf, doch im Lauf der Zeit auch einen Arm eingebüßt. Das störte die heile Krippenwelt meiner Oma. Ein vollkommenes Kunstwerk war diese Jesusfigur wahrlich nicht mehr. „Der Jesus stört, wir brauchen einen neuen, eine Schande ist das, so ein kaputter Heiland!“ In der Stimme meiner Oma lag heilige Empörung. Lauthals habe ich damals als kleines Kind dagegengehalten. Der kaputte Jesus gehörte für mich dazu, ihn hatte ich ehrlich gesagt am liebsten, gerade weil er nicht vollkommen war – ein bisschen wie ich selbst damals mit meinen vom Toben aufgeschlagenen Knien und meiner Zahnlücke. Auch noch heute schlägt mein Herz für das kaputte Jesuskind. Es passt zur Weihnachtsgeschichte besser als Perlen, Samt und Edelholz. Denn es war nicht gerade eine Royal-Geburt, die sich da vor über 2000 Jahren in Bethlehem ereignete. Ganz im Gegenteil! „Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die der Herr uns kundgetan hat (Lk 2,15).

II. „Kalt war die Nacht ihrer ersten Geburt.“ Mit diesen Worten bringt Bert Brecht in einem Mariengedicht die Umstände von Jesu Geburt auf den Punkt. In bescheidenen Verhältnissen kam Gottes Sohn auf die Welt. Alles erinnert eher an die Geschichte eines Flüchtlingskindes als an die eines Königskindes. Maria und Josef waren nicht William und Kate. Die Geburt ihres Kindes wurde nicht sehnsuchtsvoll erwartet. Als Maria und Josef Herberge suchten, wurden sie abgewiesen. Erschöpft wird Maria ausgesehen haben, müde und ohne Kraft, nicht gerade wie eine erhabene Himmelskönigin oder eine anmutige Prinzessin. Vor ihrer Schwangerschaft haben die meisten die Augen verschlossen und nicht gerade bereitwillig Türen und Herzen geöffnet. Kein Blitzlichtgewitter, sondern das stille Leuchten eines Sternes. In einem Stall hat Maria Jesus geboren. „Denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge (Lk 2,7).“ Kein Palast, sondern eine Hütte. Wie ein Prinz war Jesus nicht gebettet. Keine Samtkissen, sondern Heu und Stroh. So war’s als Jesus geboren wurde. Keine geöffneten Türen und Herzen, sondern ein zugiger Stall. So und nicht anders wurde Gottes Sohn geboren – verwundbar und arm, abgewiesen und schwach. Das mag verstören. Göttersöhne sollten eigentlich anders geboren werden. Das schwache Gotteskind in der Krippe und seine erschöpfte Mutter durchbrechen die Logik unserer Welt. Da kann ich meine Oma schon verstehen. Ein königliches Christkind sollte auf Samtkissen gebettet und vollkommen sein, lieblich anzusehen, holder Knabe mit lockigem Haar, gekrönt mit Macht, mit süßen Tönen himmlischer Chöre in den Schlaf gesungen, geehrt mit Anbetung und Festlichkeit. Wie es sich eben für einen göttlichen Sohn gehört. Doch die Geschichte von Bethlehem geht anders. Jesus kommt als schutzloses, abgewiesenes und verwundbares Kind. Das hatte schon damals etwas Verstörendes. „Als die Hirten es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten (Lk 2,17f).“ Wie die Geschichte beginnt, so geht sie weiter. Immer wieder wird man sich über diesen Gottessohn wundern. Jesus bessert sich auch im Lauf seines Lebens nicht. Er geht zu Gebrochenen, macht sich mit den Sündern gemein und wird zum Bruder der Ärmsten. Jesus stört immer. Anstatt sich von Heiligen, Königen und Makellosen in die Paläste einladen zu lassen, speist er in den Hütten. Er stirbt am Kreuz – das war der schändlichste Tod in der Antike, ein Skandal wie der Apostel Paulus es ausdrückt. So elendig Jesu Leben endet, so beginnt es auch – in einem ärmlichen Stall.

III. Liebe Gemeinde! Eine glatte Geschichte ist unsere Weihnachtsgeschichte nicht. Doch gerade in dem Verstörenden liegt der Kern der Weihnachtsbotschaft. Das arme abgewiesene Gotteskind in der Hütte ist kein Erzählmotiv, das die Geschichte irgendwie rührseliger macht. Jesus ist nicht Aschenputtel. In dieser Geschichte geht um mehr als um einen flüchtigen Zauber für’s Gemüt. Der russische Schriftsteller Leo Tolstoi erzählt die Geschichte neu - ganz ohne Stall, Krippe und Kind. Ein König wollte wissen, was Gott macht. Als seine Berater ihm nicht weiterhelfen konnten, fragte er einen armen Hirten. Der Hirte sagte. „König, ich bitte dich - lass uns unsere Kleider tauschen.“ So gab der König alle Zeichen seiner Königswürde und alle prächtigen Gewänder ab und kleidete damit den Hirten. Er selbst zog dessen zerschlissene Kleidung an. So verändert standen sie einander gegenüber. Da sagte der Hirte. „Siehst du – genau das macht Gott. Er verzichtet auf alle Pracht, Erhabenheit und Macht und wird einer von uns. Er nimmt an, was wir haben und sind. Und er gibt uns, was er hat.“ Eine seltsame Geschichte. Einen verstörenden Anblick mögen die beiden geboten haben: Der König, würdevoll in Haltung und Blick, aber in zerschlissenen Kleidern, und der Hirte in königlicher Pracht, aber mit zerzaustem Haar, Stallgeruch und rauen Händen. Nicht gerade ein stimmiges Bild. Doch hätten zwei Könige ihre Kleider getauscht, so wäre die Geschichte zwar glatt, aber es wäre auch nicht wirklich etwas passiert. Wäre Gottes Sohn als königlicher Prinz geboren, auf Samtkissen gebettet und mit süßen Tönen himmlischer Chöre in den Schlaf gesungen, so hätte das meiner Oma sicher gefallen und wäre auch passend für einen Gottessohn, aber es wäre doch nur eine schöne Geschichte für schöne Menschen in einem schönen Palast. Für die Elenden wäre nichts passiert, in den Hütten hätte man sich nichts zu erzählen gehabt. Doch die Geschichte, die da Bethlehem geschehen ist, geht anders. Sie geht für alle gut aus. Weil Gottes Sohn als abgewiesenes, schwaches Kind in einem Stall zu uns auf die Welt kommt, liegt auf allem Menschlichen – so niedrig, so schmerzhaft, so elend es auch sein mag - Gottes Glanz. Weihnachten kommt Gott in unsere gebrochenen Träume und Leben und in unsere zerrüttete Welt, er nimmt Wohnung in unseren verlassenen Herzen und verletzten Seelen. Wir müssen unsere Wohnzimmer nicht wie Paläste schmücken und müssen uns nicht in Heilige verwandeln. Gott nimmt an, was wir haben und sind. Keine Hütte ist zu klein, kein Leben zu zerstört, kein Ort dieser Welt zu dunkel. Und er gibt uns, was er hat. Und das, liebe Gemeinde, ist nichts weniger als unveräußerliche Würde des Gotteskindes! Heute wird sie uns geschenkt. Dir und mir – egal wie arm, traurig, verbittert, verletzt oder schuldig wir auch sein mögen. Das feiern wir Weihnachten, davon erzählt unsere Weihnachtsgeschichte. „Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die der Herr uns kundgetan hat (Lk 2,15).

IV. Unsere Familienkrippe hat all die Umzüge nicht überlebt. Dafür aber dieser Engel mit seinem zerzaustem Haar, seinen zerknickten Flügeln, seiner fehlenden Wachshand. Wenn Sie in diesen Tagen an unserem erleuchteten Fenster vorbeigehen, werden Sie ihn ganz oben auf der Baumspitze sehen. Sicher, wir könnten mal eine heile Baumspitze kaufen und weiter unten am Baum hängen auch kostbare Kugeln. Aber kein Weihnachtsschmuck ist Gott so nahe wie dieser kaputte Engel. Er versinnbildlicht die Geschichte, die da in Bethlehem geschehen ist und die seit jener Nacht immer wieder geschieht auf der Welt. Ein bisschen so wie damals jenes Holzjesuskind aus unserer Familienkrippe, das nur noch einen Arm hatte, aber dessen Haupt dennoch mit einer Krone gekrönt war und auf dessen Lippen ein feines, verschmitztes Lächeln lag – fast als trüge es ein Geheimnis offen zur Schau und wolle sagen: „Wir mögen nicht perfekt und heil sein, aber wir tragen Gottes Würde in uns. Gottes Glanz liegt auf unserem Haupt – unverrückbar und auf ewig!“

Amen

Kanzelsegen

„Gott segne uns und behüte uns. Das Licht von Bethlehem scheine in unseren Herzen und dringe vor aus dem Elendsstall bis in die Paläste. Wir sind das Licht der Welt. Gehet hin Frieden zu schaffen.“ (D. Sölle)

 

Perikope
25.12.2014
2,1-20