Predigt zu Römer 8,1-2.10-11 von Johannes Block
Pfingsten ist ein herrlich entspanntes Fest! Pfingsten wird wie Weihnachten und Ostern an zwei Festtagen gefeiert, doch ohne den Aufwand und Trubel des Weihnachts- oder des Osterfestes. Plätzchenbacken und Bescheren – das gehört für viele mit zum Weihnachtsfest; Eierfärben und Ostereiersuchen – das verbinden viele mit dem Osterfest. Demgegenüber ist Pfingsten ein herrlich entspanntes Fest ohne größeren Aufwand und Trubel.
Um das Gefühl der Entspannung, um das Pfingstgefühl, geht es dem Apostel Paulus, als er den Brief an seine Freunde in die Hauptstadt Rom sendet. „Entspannt euch“, schreibt Paulus, „denn es gibt nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind. Das Gesetz des Geistes, des Pfingstgeistes, macht euch frei und macht euch lebendig.“ Pfingsten ist ein entspanntes, ein beflügelndes Fest, weil es an den Geisteswind erinnert, der unter die Arme greift und wie auf Flügeln trägt. (vgl. Jes 40,31) Dann kommt man aus dem Staunen und Wundern nicht heraus (Apg 2,1-2):
Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle an "einem" Ort beieinander. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen.
So beflügelnd der Pfingstgeist wirkt, so geheimnisvoll ist er zugleich. Der Geist ist unsichtbar wie die Luft zum Atmen. Der Geist, das himmlische Kind, weht, wo er will. Nikodemus, ein Schriftgelehrter und Mitglied des Hohen Rates, „kam zu Jesus bei Nacht“ (Joh 3,2). Nikodemus sucht nach einem neuen Anfang, nach einem Neugeborenwerden, nach einem beflügelnden Geist. Jesus führt in die unberechenbare Sphäre des Geistes und antwortet (Joh 3,8):
Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.
Wie gesagt: So beflügelnd der Pfingstgeist wirkt, so geheimnisvoll ist er zugleich. Ich frage mich und ich frage uns: Wie lässt sich darstellen, was unberechenbar ist? Wie lässt sich das fassen, was weht, wo es will? Wie lässt sich vor Augen führen, was unsichtbar ist?
Am Pfingstsonntag brauchen wir so etwas wie ein Transparent, auf dem sichtbar werden kann, was eigentlich unsichtbar ist. Farbige Fenster, Buntglasfenster, können so etwas wie ein Transparent sein. Im Buntglasfenster bricht sich das unsichtbare Licht in viele sichtbare Farben: sei es Blau, Rot, Gelb, Grün oder Violett. Das Buntglasfenster mit seinem Farbenspiel wird zum Transparent des unsichtbaren Lichtes.
Das Tranparent des Pfingstgeistes sind die Sakramente, die in diesem Gottesdienst gefeiert werden: Taufe und Abendmahl. In beiden Sakramenten, in Taufe und Abendmahl, läßt sich das Wirken des Heiligen Geistes fassen und erleben. Genau dort, sagen die Wittenberger Reformatoren, findet man das Wesen der Kirche, wo „das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden“ (EG 808: Das Augsburger Bekenntnis, Artikel 7). Nicht weniger, aber auch nicht mehr braucht es, um Kirche zu sein: Es bedarf der Predigt des Wortes und der Predigt der Musik; es bedarf der Taufe und des Abendmahls.
Alles ist also heute am Pfingstsonntag bereitet, um das Geburtstagsfest der Kirche zu feiern – das Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes. Der Pfingstgeist führt Menschen mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Berufen zusammen und schenkt der kirchlichen Gemeinschaft immer wieder neuen Atem und problemlösende Kraft. Im Sakrament der Taufe wird sichtbar, dass der Pfingstgeist „frei macht“. Im Sakrament des Abendmahls wird sichtbar, dass der Pfingstgeist „lebendig macht“. Blicken wir nacheinander auf den befreienden Geist der Taufe und auf den lebendig machenden Geist des Abendmahls.
1. Der Geist, der frei macht
In, mit und unter dem Sakrament der Taufe weht der Geist, der „frei macht“. Es ist keine billige Freiheit, die der Geist schenkt. Es ist eine Freiheit, die unter Schmerzen geboren wird. Jede Geburt in das Leben ist mit Schmerzen verbunden – für die Mutter und für das neugeborene Kind. Der Weg in die Freiheit, der Weg aus der Enge des Mutterbauches, ist ein schmerzvoller, ein manchmal auch lebensbedrohlicher Weg. Wie schön, dass wir heute am Pfingstsonntag ein gesundes Kind taufen konnten mit einer wohlbehaltenen Mutter!
Das Durchtrennen der Nabelschnur bei einer Geburt ist allerdings nur der Anfang vieler weiterer Trennungs- und Ablösungsprozesse. Der Weg eines heranwachsenden Menschen in die Freiheit und Eigenständigkeit ist mit vielen Abnabelungsprozessen verbunden. Freiheit und Eigenständigkeit werden unter Schmerzen geboren. Das haben auch die Eltern des zwölfjährigen Jesus erfahren. Beim Aufbruch aus Jerusalem war der Junge auf einmal verschwunden. Wo war er nur wieder, dieser eigensinnige, dieser besondere Sohn? Auf den ersten Ärger der Eltern folgten die Sorge und schließlich die Suche nach dem Jungen. Endlich fanden sie ihn (Lk 2,46-49)
im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: „Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“ Und er sprach zu ihnen: „Warum habt ihr mich gesucht? Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“
Wer getauft wird, wer einen himmlischen Vater gewinnt, wird frei von alten Verbindungen und Fesseln. Wer getauft wird, ist niemandes Besitz. Wer getauft wird, ist frei geworden vom Besitzstandsdenken, das Menschen über Menschen haben: Staatsführer meinen, ihr Volk zu besitzen; Vorgesetzte meinen, ihre Mitarbeiter zu besitzen; Ehe- und Lebenspartner meinen, sich gegenseitig zu besitzen; Eltern meinen, ihre Kinder zu besitzen. “Eure Kinder sind nicht eure Kinder”, sagt demgegenüber der Dichter Khalil Gibran (1883-1931). Khalil Gibran wendet sich gegen das Besitzstandsdenken. Hören wir seine Worte:
“Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie kommen durch euch, aber nicht von euch. Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht. Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken, denn sie haben ihre eigenen Gedanken. Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen.”
Die Worte des Dichters Khalil Gibran erinnern an die Freiheit, die jeder gewinnen muss, um ein eigenständiger Mensch zu werden. Jedes Mal, wenn ein Kind getauft wird, werden wir an den himmlischen Vater erinnert, der frei macht von den Bindungen und Fesseln, in die sich Menschen gegenseitig verstricken. Aber warum geschieht das? Warum verstricken wir uns in einem Besitzstandsdenken? Warum wollen wir andere besitzen und über andere bestimmen?
Die Freiheit, die der Geist schenkt, wird nicht ohne Schmerzen geboren. Auch die Freiheit vom Besitzstandsdenken, liebe Freunde, muss unter Schmerzen gewonnen werden. Und dieser Schmerz gründet in uns selbst. Er besteht in der Selbsterkenntnis, dass wir über andere verfügen und herrschen wollen, weil wir selbst noch nicht frei geworden sind. Wer für sich selbst noch keine Freiheit gewonnen hat, wird auch anderen die Freiheit nicht gönnen. So etwas wie ein Gesetz der Unfreiheit schlägt im menschlichen Herzen. In seinem Brief an seine Freunde in Rom schreibt Paulus von einem „Gesetz der Sünde und des Todes“.
Das „Gesetz der Sünde und des Todes“ steht in keiner Rechtssammlung – weder im Bürgerlichen noch im Öffentlichen Recht. Im Amtsgericht würde man den Kopf ratlos schütteln, wenn man sich dort nach einem „Gesetz der Sünde und des Todes“ erkundigen wollte. Das „Gesetz der Sünde und des Todes“, von dem der Apostel Paulus schreibt, steht in keinem Paragraphen, sondern im Herzen geschrieben. Es ist der Größenwahnsinn im Herzen, der zum Turmbau zu Babel führt (1. Mose 11). Es ist die Selbstgerechtigkeit im Herzen, mit der König David seine Affäre mit Batseba zu verschleiern versucht (2. Sam 11). Es ist die Gier im Herzen, die den reichen Kornbauern auf immer größere Gewinne hoffen lässt (Lk 12).
Es ist die verborgene Sündenmacht im Herzen, die die Bibel wie einen Spiegel vorhält. „Erkenne dich selbst“, steht auf diesem biblischen Spiegel. Vor der Sündenmacht im Herzen ist nicht einmal das frömmste Leben gefeit. Der Sündenfall ist bekanntlich im Paradies geschehen, dort also, wo jeder Mann und jede Frau erfüllt, versorgt und zufrieden sein könnte (1. Mose 3). Doch niemand kann sich die Sündemacht aus dem Herzen reißen – nicht einmal im Paradies. Das „Gesetz der Sünde und des Todes“, wie Paulus formuliert, sitzt fest verwurzelt in Leib und Seele.
Gegen dieses Gesetz schützen kein Anwalt und keine Rechtsschutzversicherung. Gegen das „Gesetz der Sünde und des Todes“ hilft allein die Taufe. Denn die Taufe führt in den Machtbereich des Christus, des Sohnes Gottes. Paulus schreibt an seine Freunde in Rom:
So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind. Denn das Gesetz des Geistes hat dich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.
Wer getauft ist, hat das „Gesetz des Geistes“ auf seiner Seite. Das „Gesetz des Geistes“ ist der beste Rechtsschutz gegen das im Menschen tief verwurzelte „Gesetz der Sünde und des Todes“.
Gesetze und Paragraphen können vieles ordnen und regeln. Doch den Menschen frei machen im Tiefsten seines Herzens, das vermag allein das „Gesetz des Geistes“. Denn es befreit die Herzen von sich selbst. Und das ist die größte Revolution auf Erden!
In der Menschheitsgeschichte hat es viele Revolutionen und Reformationen gegeben. Doch die größte Revolution und Reformation, liebe Freunde, ist die Befreiung von sich selbst! Häufig ist man ja sich selbst der größte Feind. Das liegt an einem ewig brennenden Kampf im Herzen. Es ist der Kampf, verzweifelt man selbst oder verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen (Sören Kierkegaard). Zwischen der verzweifelten Suche nach sich selbst und dem verzweifelten Weglaufen vor sich selbst wird das menschliche Herz hin- und hergezogen wie zwischen zwei großen Magneten. Aus diesem Magnetfeld befreit das „Gesetz des Geistes“, weil es uns immer wieder an die Freiheit erinnert, die Christus, der Sohn Gottes, in die Welt gebracht hat.
Das „Gesetz des Geistes“ steht nicht in Paragraphen und Gesetzestexten. Das „Gesetz des Geistes“ finden wir in den Taten und Worten des Jesus von Nazareth. Der wehende, himmlische Geist Jesu, der Pfingstgeist, erinnert an die Kräfte und Mächte, die uns heilsam von uns selbst befreien. „Entspanne dich!“, sagt dieser Geist, „Gott sorgt für dich! Gott kennt dich und deinen Weg.“
Ich weiß von einem Menschen, dem sich das „Gesetz des Geistes“ immer wieder neu eröffnete unter den gemalten Lettern auf dem Toreingang des Lutherhauses:
„Niemand lasse den Glauben daran fahren, dass Gott an ihm eine große Tat will.“
Das „Gesetz des Geistes“ befreit von der Sorge um sich selbst und öffnet die Sinne für die Sorge Gottes, die er für uns trägt. Das „Gesetz des Geistes“ wird im Sakrament der Taufe wirksam.
Blicken wir nun weiter auf das Sakrament des Abendmahls. Das Abendmahl ist das zweite Transparent, in dem sich der wehende Geist, der Pfingstgeist, fängt.
2. Der Geist, der lebendig macht
In, mit und unter dem Sakrament des Abendmahls weht der Geist, der „lebendig macht“. Das Abendmahl ist so etwas wie eine Rast und Pause mit Brot und Wein auf dem langen Weg, der mit der Taufe begonnen hat. Mit der Taufe beginnt ein großartiger Weg in die Freiheit des eigenen Herzens. Große Worte und große Lebensthemen verbinden sich mit der Taufe: Erlösung, Freiheit, Neugeborenwerden, ewiges Leben, Ausgießung des Heiligen Geistes.
Doch große Worte und große Lebensthemen sind manchmal zu groß für den Alltag. Immer wieder spürt man, wie klein und kleinkariert es im Leben zugehen kann. Schnell verliert man sich in der Routine des Berufs, in der Hektik des Familienlebens, in der Sackgasse eines Konfliktes oder in der Depression der Seele. Der große Weg, der mit der Taufe begonnen hat, wird zu einem täglichen Kampf im Kleinklein. Deshalb braucht es auf langen Wegen immer wieder Zeiten der Rast und der Pause – am besten mit einer guten Wegzehrung an einer gedeckten Tafel. Essen und Trinken halten Leib und Seele zusammen. Man kommt zu neuen Kräften. Oscar Wilde, der Meister der spitzen Bemerkung, sagt:
„Nach einem guten Essen könnte man jedem vergeben,
selbst seinen eigenen Verwandten.“
Beim Sakrament des Abendmahls mit Brot und Wein geht es um Vergebung. Vergebung heißt: Neu anfangen können, Neugeborenwerden, den beflügelnden Geist spüren. Vergebung ist die Kraft, sich von alten Geschichten und Wunden nicht mehr beherrschen zu lassen. Alte Geschichten und Wunden werden nicht einfach vergessen, aber sie verlieren ihre Macht. Dann weht ein neuer, ein befügelnder Geist in, mit und unter Brot und Wein. Dann weht im Sakrament des Abendmahls der Geist, der lebendig macht. Dann werden Leib und Seele gestärkt auf dem langen Weg, der mit der Taufe begonnen hat.
„Christus in uns“, so umschreibt Paulus die Wirkung des Abendmahls für seine Freunde in Rom. „Christus in uns“ – das geschieht mit Brot und Wein. Wir nehmen Christus in uns auf wie ein wahrhaftiges Lebensmittel. Dann lebt und strahlt der Geist in uns, der das Alte vergessen lässt und den neuen Geist in uns lebendig macht. Dann leuchtet durch unsere alten, sterblichen Leiber ein lebendig machender Geist hindurch. Paulus weiß um den Alltag im Kleinklein und weiß um unsere sterblichen Leiber. Aber in, mit und unter Brot und Wein kommt ein heiliger Geist in uns hinein. Paulus malt es mit folgenden Worten aus:
Wenn nun der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt.
So entspannt euch, liebe Freunde! Denn Pfingsten ist ein herrlich entspanntes Fest. Ohne unser Zutun kommt und braust ein wehender, ein himmlischer Geist. Im Sakrament der Taufe und im Sakrament der Abendmahls bekommen wir Anteil an dem Geist, der „frei“ und „lebendig macht“.
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Pfingstliche Lebenskraft - Predigt zu Röm 8,1-2.10-11 von Stefan Knobloch
Pfingstliche Lebenskraft
Vielleicht verbinden wir mit dem Pfingstfest eher das lärmende Ereignis des Kommens des Heiligen Geistes in Sturm und Feuerzungen, von dem die Apostelgeschichte spricht. Es erfasst die Menschen, nicht nur die Apostel. Die Menschen verstehen mit einem Mal in ihren ganz unterschiedlichen religiös-kulturellen Lebenskontexten die Botschaft der Apostel von der Auferstehung des Herrn. Und sie wundern sich, dass sie sie verstehen, dass sie überhaupt bis zu ihnen vorbringt und nicht unverstanden abprallt.
Diese Erfahrung stellt das eigentliche Wunder von Pfingsten dar! Wir hätten das Wunder in seiner Bedeutung nur halb erkannt, würden wir es lediglich als Sprachenwunder deuten. Nein, es handelte sich um ein vom Geist Gottes geschenktes sozusagen „hermeneutisches“ Verstehenswunder. Die Menschen verstehen die Botschaft der Apostel, sie konnten sie dem eigenen Leben, den eigenen Lebensfragen und Lebenserfahrungen zuordnen. Dieses Ereignis war, wie wir verkürzt, aber durchaus mit einer gewissen Berechtigung sagen können, die Geburtsstunde der Kirche.
Wie gesagt, vielleicht verbinden wir Pfingsten vor allem mit dem Sturm und den Feuerzungen, eine Sichtweise, die wir in ihrer Berechtigung in keiner Weise abschwächen wollen. Daneben aber können wir Pfingsten auch unter einem anderen, ruhigeren Horizont sehen, an den uns die Lesung aus Röm 8,1-2;10-11 heranführt. Das, wovon diese Lesung spricht, hat es gleichwohl schwer, bei uns anzukommen, ja, in seinem pfingstlichen Charakter erkannt zu werden. Ihre theologisch-theoretisch anmutende Gedankenführung erschließt sich nicht gleich auf den ersten Blick. Aber zuletzt könnte sie uns möglicherweise mehr bringen als Sturm und Feuerzungen.
Unmittelbar vor unserer Lesung bündelt Paulus seine Gedanken in einem Satz, an dem wir anknüpfen müssen, um das Folgende zu verstehen. In dem Satz dankt Paulus Gott dafür, dass er – und er spricht nicht nur für seine eigene Person, sondern für die Erfahrung des Christen generell -, dass er mit seiner Urteilskraft, mit Verstand und Wille dem Gesetz Gottes diene. In einer spannungsreichen Paradoxie aber mache er gleichzeitig die Erfahrung, dass er auch dem Gesetz der Sünde zu diene. Dabei sind das für Paulus – und das ist ganz entscheidend – keine gleichgewichtigen, gleichwertigen Größen. Paulus sieht es so: Von Gott her ist die Situation so, dass Gott uns gewissermaßen zuruft: Macht euch keine Sorgen! Über eurem Leben hängt kein Damoklesschwert göttlicher Verurteilung!
Wollten wir bei Paulus hier den Unterton heraushören, ein solches Damoklesschwert sei erst durch das Erlösungswerk Christi aus der Welt geschafft worden, dann wäre es an der Zeit, hier eine deutliche Korrektur vorzunehmen. Denn von Gott her hing, um dieses Bild noch einmal zu bemühen, wohl zu keiner Zeit das Damoklesschwert der Verurteilung über der Menschheit. Gottes Absichten waren von Grund auf und von Anfang an andere. Es war die Gottesblindheit der Menschheit, die auf den Gedanken einer Verurteilung durch Gott kam. Paulus seinerseits schränkt übrigens den Ausschluss der Verurteilung nicht auf die ein, „welche in Christus Jesus sind“. Als betreffe das nur eine kleine Gruppe. Man könnte das bei ihm heraushören. Tatsächlich spricht alles dafür, dass sich für Paulus in Christus Jesus nur in letzter Deutlichkeit Bahn bricht, was bereits aus der Tat der Schöpfung durch Gott hervorgeht: die freie Selbstmitteilung Gottes an Schöpfung und Menschheit. Bei Gott spielen andere Dimensionen eine Rolle als das Szenario einer Verurteilung.
Ganz im Sinn dieser Gedankenrichtung sagt Paulus: Das Gesetz des Geistes des Lebens hat dich in Jesus Christus freigemacht. Er sagt das wie in einem Dialoggespräch mit jedermann. Gott hat dich freigemacht vom Gesetz der Sünde und des Todes. In Jesus Christus kam damit etwas zur Vollendung, trat es in letzter Klarheit in Erscheinung – nicht unähnlich der Verklärung auf dem Berg Tabor, die die Jünger freilich verwirrt und sprachlos zurückließ -, das die Menschen im Glauben aufgreifen, bejahen und zur Grundlage ihres Lebens machen. Sie leben aus der Glaubensgewissheit, dass ihr Leben in Jesus Christus und in seinem Geiste gründet.
In dieser Orientierung am Gesetz des Lebens, am Gesetz der Freiheit werden wir im Prinzip das Bleigewicht der Sünde und des Todes los. Sünde und Tod sind noch da, ja sie sind unübersehbar da, wie wir in unseren Tagen allenthalben wahrnehmen in Gestalt von Gewaltexzessen, Unterdrückung, Menschenverachtung, Missbrauch und Hass. Aber sie haben, bei aller drückenden Last, ihr Bleigewicht verloren. Wobei wir natürlich sagen müssen, was Paulus offenbar anders sah, dass der Tod, der natürliche Tod des Menschen nicht der Lohn der Sünde ist, sondern zum natürlichen Leben gehört.
Vom Gesetz des Geistes des Lebens in Jesus Christus spricht Paulus. Nur, wo hat es seinen Ort? Wo wird es in der Realität greifbar? Wo begegnet man ihm? In der Beantwortung dieser Frage zieht Paulus den Kreis enger, er rückt uns gewissermaßen auf den Leib: Der Geist, das Leben in Christus ist in uns! „Wenn Christus in euch ist,“ so bringt Paulus seinen Gedanken auf den Punkt, dann leidet ihr zwar weiter an den tödlichen Strukturen der Sünde, aber in euch ist eine andere Lebenskraft, die pfingstliche Lebenskraft des Geistes am Werk. In euch wohnt das Leben, der Atem Gottes, der Jesus von den Toten auferweckt hat. Er schafft beiseite, er überwindet die Todeszonen, die tödlichen Strukturen unseres Lebens. Und dies sowohl in unserem privaten, beruflichen, gesellschaftlichen Bereich wie im Bereich der globalen Herausforderungen unserer Zeit. Und zu guter Letzt im Bereich unseres natürlichen Todes. Unsere gesamte Existenz steht unter dem Gesetz des Lebens, es ist das Leben, das wir Gott nennen.
Inwiefern aber sind diese Gedanken des Paulus pfingstliche Gedanken? Womöglich gar Gedanken, die uns zuletzt mehr berühren als das pfingstliche Brausen und die pfingstlichen Feuerzungen? Ohne Frage verlangt uns Paulus einiges ab. Er zeigt uns nämlich einen Weg auf, der uns mit dem Gedanken konfrontiert, dass Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist in uns selber wohnen. Christus wohnt in euch (Röm 8,10). Der Heilige Geist in euch wohnt (Röm 8,11). Der Geist dessen, der Jesus von den Toten erweckt hat, also Gott, der Vater (Röm 8,11), wohnt in euch!
Wie berührt uns das? Empfinden wir Gott als ungebetenen Untermieter? Dem wir am liebsten kündigen wollen? Und zwar mit der Begründung: Wir wollen ungestört leben? Wir wollen aus unserem Leben etwas machen? Wir wollen von unserem Leben etwas haben? In unserer Lebensroutine will uns Paulus ins Stolpern bringen. Er will uns nachdenklich machen. Ob wir nicht in der Tat aus der Orientierung unseres Lebens an Gott, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist mitten in unserem Leben die Tür aufstoßen zu einem Leben in Fülle (Joh 10,10)? Nehmen wir es als pfingstlichen Denk- und Lebensanstoß.
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Predigt zu Römer 8,26-30 von Michael Rambow
Liebe Gemeinde!
„Wir wissen nicht, was wir beten sollen.“ Was für ein Satz!
Zu müde, um die Gedanken zu ordnen; zu enttäuscht, als dass das Herz noch Kraft hätte; zu beschäftigt, um noch Zeit für ein Gebet frei zu machen; zu knapp dran heute Morgen, um noch Zeit zu verlieren.
Kennen Sie das auch?
In solchen Lagen denkt man gern: Echte Glaubensgrößen plagen solche banalen Probleme nicht. Denen flutscht alles nur so vom Herzen und der Seele.
Ausgerechnet Paulus aber bezeugt uns heute aus eigener Erfahrung: Wir sind zu schwach, um etwas zustande zu kriegen. Wir sind hilflos zum Heil. Wir sind angewiesen auf Gottes Geist. Er hilft unserer Schwachheit auf. Gott steht gerade nicht bei denen, die in Münchhausen-Manier sich am eigenen Schopf packen und mit positivem Denken oder sonstigen Anstrengungen aus dem alltäglichen Lebenssumpf herausziehen.
Paulus redet von der erstaunlichen Kraft des Geistes Gottes. Der eigene Geist ist leer, verwirrt vom vielen Drumherum, voll Wut über die Blödheiten der Welt und ängstlich angesichts der Folgen für die Zukunft.
Was sollen wir denken? Wie sollen wir handeln? Wir wissen es nicht. Der Geist hilft unserer Schwachheit auf. Gott sei Dank!
Jemand hat eine Erfahrung mitgeteilt, die viele genauso kennen:
„Ich bat Gott um Stärke, aber er machte mich schwach, damit ich Bescheidenheit und Demut lernte. Ich bat um seine Hilfe, um große Taten zu vollbringen, aber er machte mich kleinmütig, damit ich gute Taten vollbrächte. Ich bat um Reichtum, um glücklich zu werden. Er machte mich arm, damit ich weise würde. Ich bat um alle Dinge, damit ich das Leben genießen könne. Ich erhielt nichts von dem, was ich erbat – aber alles, was gut war für mich. Gegen mich selbst wurde mein Gebet erhört. Ich bin unter allen Menschen ein gesegneter Mensch“ (Heinz Gerlach in: Gottesdienst praxis A, Reihe III, Bd. 2, 1993, 95)
Haben Sie sich noch nie an die Stirn geschlagen und gedacht: Mensch, was du mal alles für lebensnötig hieltest! Geld, Zeit, vielleicht sogar ein Stück Familie hast du geopfert für die Karriere oder für Projekte oder für Ideale und Ideen! Was angestrengt verfolgt wurde, entpuppt sich gelegentlich als nutzloser Aufwand. Worin das Heil zu liegen scheint, erweist sich als leere Hülse.
Der Zeitgeist ist nicht der Heilige Geist Gottes. Da muss man gehörig aufpassen, die beiden nicht zu verwechseln.
Der Zeitgeist ist zwar mindestens genauso aktiv und lauert überall. Er flüstert: Macht das! Das ist „in“ An der nächsten Ecke ist er auch schon wieder zur Stelle und warnt: Vorsicht! Lass das mal lieber. Das ist mittlerweile „Megaout“.
Der Zeitgeist beschäftigt seine Zukunfts-, Markt- und Meinungsforscher. Die sagen, was wir gerade wollen, was wir denken, wofür die Herzen sich erwärmen sollen. Der Zeitgeist will weismachen und dazu anstacheln: Lauft dem nach. Dann erreicht ihr mit ein bisschen Tempo und Aufwand die Menschen. Legt eure Prägungen ab. Dann wissen die Leute nicht, um wen es sich handelt und kommen auf ihrer Suche nach dem Lebenssinn ein Stück mit euch mit. Der Zeitgeist erfindet ständig neue Projekte. Der Zeitgeist macht, dass schon mal Gottesdienste mit Mega-Events verwechselt werden und Kirchenleute finden sich modern, wenn sie alles gut finden. Geht einfach mal sonntags in die Kirche! Die simple Empfehlung fehlt oft im Sprachschatz des Zeitgeistes.
Mehr als andere theologische und Glaubensfragen haben die Christen stattdessen in den letzten Jahrzehnten bewegt, wie die Welt verbessert werden soll. Da hat der Zeitgeist leichtes Spiel.
Wir wissen nicht, was wir beten, reden, handeln oder unterlassen sollen. Paulus bringt Unpopuläres ins Spiel. Das ganze Kapitel 8 seines Briefes an die Christen von Rom handelt vom Geist Gottes, der das Heil für uns schafft. Wer auf Gott hört stottert, stammelt, stöhnt, schweigt ratlos und legt am Ende schwach und selbstkritisch die Hände in den Schoß in der Stille einer Kirche.
Im Angesicht Gottes sind wir mit unserer Schwachheit und Ratlosigkeit an der richtigen Stelle, um dann wieder hinaus zu gehen in die Zeit. Schuld wird eingestanden. Hoffnung wird benannt. Verzweiflung wird heraus gestöhnt. Angst wird eingestanden. Wir beten für Opfer und Täter, Schuldige und Unschuldige, für Vorstandsetagen mit glitzernden Büros und schwitzende Arbeiter in dröhnenden Produktionshallen, für Mächtige und Unterdrückte.
Wir tun das nicht aus Solidarität, wie das gerne heute gesagt wird. Ich halte das für problematisch, dass wir uns andauernd solidarisieren sollen.
Wir tun das, weil wir um unsere Schwäche wissen, alles aus eigener Kraft zu bewältigen. Und Gottes Geist hilft, uns darüber nicht zu täuschen.
Da zeigt sich, was Paulus meint mit dem Hinweis der Geist hilft unserer Schwäche auf. Gottes Geist will ganz anderes durch uns und für uns als eine von Fall zu Fall unterschiedene Weltanalyse. Er sucht unser Heil. Gottes Geist hilft auf zum Leben ohne Lamentiererei oder Aktionismus. Gottes Geist bleibt gebunden an die Schwäche. Das gefällt wenigen in einer Zeit der Stärke und des Tempos. Er nimmt uns als Menschen ernst und sagt: Nimm dich auch als Mensch an. Er gönnt der Seele Ruhe indem er Fehler zulässt. Er hilft dem Körper zur inneren Stärkung, indem er Leiden und Angst nicht verdrängt. Er tröstet in der Sehnsucht nach Recht und Heilung. Gegen alle Erfahrung ist er so da und wirkt, dass in allem, was mir widerfährt auf einen guten Ausgang gehofft werden kann.
„Denen, die Gott lieben muss auch ihr Betrüben lauter Freude sein“ dichtete Johann Franck in dem Lied „Jesu, meine Freude“ (EG 396, 6). Im Bild seines Sohnes Jesus Christus zeigt Gott praktisch, was Paulus trocken und theoretisch formuliert. „Unter deinem Schirmen bin ich vor den Stürmen aller Feinde frei…Trotz dem Todesrachen, trotz der Furcht dazu!“
Und die letzte Strophe nennt das Ziel aller christlichen Hoffnung: „Weicht, ihr Trauergeister, denn mein Freudenmeister, Jesus tritt herein. Denen die Gott lieben muss auch ihr Betrüben lauter Freude sein.“
Christus der Schwache ist stark zum Heil. Christus, der Ängstliche geht mutig und zuversichtlich ans Kreuz. Christus, der leidenschaftliche meidet den Zeitgeist. Christus gibt in grenzenlosem Gottvertrauen Leib und Seele hin und ist bei Gott im Himmel geborgen.
„Wir wissen nicht, was wir beten sollen“. Manche tun so, als wüssten sie immer alles und seien obendrein auf die bessere Welt und moralische Qualitäten abonniert.
Alles Lebensvertrauen sollten wir bündeln in dem Satz:
„Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben alle Dinge zum besten dienen.“ Mehr muss man sich für die Zukunft nicht merken.
Amen
Liedvorschlag: Jesu, meine Freude (EG 396)
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Predigt zu Römer 8,26-31 von Lucie Panzer
Manchmal verschlägt das Leben einem die Sprache. Dann weiß man nicht, was man sagen soll. Was gerade passiert ist, macht einen sprachlos. Man kann sich einfach nicht erklären, wie es dazu kommen konnte, was passiert ist. Warum habe ich das getan? Warum hat der andere das gemacht? Das passt doch eigentlich gar nicht zu ihm. Und wie soll es jetzt weiter gehen?
Ich weiß nicht, was ich jetzt sagen soll. Ich kann es nicht erklären, mir nicht und den anderen erst recht nicht. Ich bin auch ratlos. Wie soll es jetzt weiter gehen? Welches ist der richtige Weg. Und wie soll ich das sagen, was ich für richtig halte: Ohne mich selber zu gefährden? Manchmal ist es ja gefährlich, die eigene Meinung zu sagen. Wie soll ich es sagen, ohne die anderen zu verletzen?
Wenn das Leben einem die Sprache verschlägt, dann sagt man gar nichts. Aber nicht immer ist Schweigen das Beste. Nicht immer ist Schweigen Gold. Manchmal wäre reden auch eine Erlösung. Wenn man bloß reden könnte!
Ich erzähle Ihnen das, weil ich meine: Genauso ist das mit dem Reden mit Gott. Mit dem Beten. Auch da fehlen einem manchmal die Worte.
Und das kann ganz verschiedene Gründe haben. Erich Kästner hat in seinem wunderbaren Kinderbuch vom Doppelten Lottchen erzählt, wie das ist. Da stehen die Zwillinge Lotte und Luise vor der Tür, hinter der ihre geschiedenen Eltern sich zu versöhnen versuchen. Auf einmal, erzählt Kästner, bewegt Lotte die Lippen. „Betest Du?“ fragt Luise. Ja, sagt Lotte da und betet laut: „Komm Herr Jesus sei Du unser Gast…“ Dann bricht sie ab. „Es passt nicht“ sagt sie verzweifelt. „Aber mir fällt nichts anderes ein.“
Manchmal weiß man nicht, was man sagen soll und wie. Auch beim Beten. Ich würde gern beten, hat mir mal eine sehr kranke Frau gesagt: Aber ich habe das so lange nicht mehr getan. Da kann ich doch jetzt nicht damit anfangen.
Und auch die, die das Beten gewohnt sind, wissen manchmal nicht, wie sie beten sollen: Manch einer schämt sich vor Gott: Darf ich ihm wirklich kommen mit diesem Problem, dass ich doch selber verschuldet habe? Und wenn ich selber keine Lösung weiß, vielleicht gar nicht weiß, wo eigentlich genau das Problem liegt? Was soll ich da beten?
Der Apostel Paulus kannte das anscheinend auch, dass Menschen gern beten würden und nicht wissen wie. Für die hat er einen Rat:
Predigttext Ro 8, 26-31
Was rät Paulus denen, die nicht wissen, wie sie beten sollen? Ich höre dreierlei:
Gottes Geist hilft, wo wir Menschen zu schwach sind zum Beten
Mir sagt das: Auch wenn da nur diese Sehnsucht ist: Eigentlich würde ich gern beten. Auch wenn da nur dieser Schrei nach Hilfe ist und ich keine Worte dafür finde. Gott hört es. Er sieht mich und meinen Kummer. Und er schickt keinen weg. Gott ist nicht wie eine beleidigte Freundin, die sagt: So lange hast Du dich nicht gemeldet – dann brauchst Du jetzt auch nicht kommen, wo du Hilfe brauchst. Gottes Geist ist auch bei denen, die ihn brauchen, nicht bloß bei denen, die vorbildliche Christen sind. Gerade den Schwachen hilft er auf. Nicht bloß denen, die immer alles richtig gemacht haben. Denen, die keinen Rat wissen. Die meinen, sie seien von Gott und der Welt verlassen. Bei denen steht Gott mit seinem Geist. Martin Luther hat das in seine sehr direkten Sprache mal so gesagt: „Viele…sind der Meinung, Gott höre jemand nicht, der in Sünden liegt… So blind sind wir. Mit leiblicher Krankheit und Not laufen wir zu Gott; mit der Seelen Krankheit laufen wir von ihm weg und wollen nicht wieder kommen, wir seien vorher gesund“
Der Geist Gottes, der hilft denen auf, die zu schwach sind zum Beten.
Manchmal wächst da eine innerliche Ruhe und Kraft in einem Menschen, die man selbst gar nicht für möglich gehalten hat. Christoph Schlingensief, der an Krebs erkrankte Regisseur, der sich selber sicher nicht als standfesten Christen bezeichnet hätte, der hat in seinem „Tagebuch einer Krebserkrankung“ folgendes aufgeschrieben: Vor ein paar Tagen war ich in der Kapelle. „Da habe ich geredet, ganz leise vor mich hin geredet, obwohl niemand anderes da war. Habe gefragt, wie ich wieder Kontakt herstellen kann und wie ich begreifen kann, dass das jetzt Bestandteil vom Leben ist. … Nach einer Zeit hat mir jemand einfach die Stimme abgeschaltet. Ich bin ganz still geworden und habe hoch geguckt, da hing das Kreuz und in dem Moment hatte ich ein warmes, wunderbares, wohliges Gefühl. Ich war plötzlich jemand, der sagt: Halt einfach die Klappe, sei still, es ist gut, es ist gut.“
So ungefähr stelle ich mir das vor, wenn wir nicht wissen, was wir beten sollen und der Geist unserer Schwachheit aufhilft. Manchmal geht das vielleicht so, ganz direkt gewissermaßen und auf einmal kann ich still sein und vertrauensvoll abwarten, was kommt. Manchmal braucht Gottes Geist dazu aber auch andere Menschen, glaube ich. Jemanden, der mir Mut macht und mich erinnert: Warum solltest du nicht beten können? Gott ist keine beleidigte Freundin. Er ist für die da, die ihn brauchen. Und manchmal braucht Gottes Geist die, die sagen: Ich bete für dich. Ich habe noch nie gehört, dass jemand das nicht haben will. Im Gegenteil – schon öfter hat mir jemand gesagt: „Ich bete nicht. Ich glaube auch nicht an Gott – aber wenn Sie beten: Ja, das ist gut.“ Vielleicht ist auch das ein Weg, wie der Geist Gottes denen aufhilft, die nicht beten können. Manchmal braucht er Menschen dazu, damit ihn die auch wirklich sehen und hören und spüren können, die ihn brauchen.
Paulus erinnert die, die zu schwach zum Beten sind, an Jesus Christus.
Das ist das zweite, was mir aufgefallen ist an seinen Ratschlägen für die, die nicht beten können. Denen geht es, schreibt er, ja eigentlich so ähnlich wie Jesus. Wie das? Mir ist eingefallen, wie Jesus gebetet hat, als schon gar keine Kraft mehr hatte. Den Tod vor Augen hat er gebetet: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“. Anscheinend konnte auch Jesus in dieser Situation nicht glauben, dass Gott für ihn da ist. Schon gar nicht, dass er ihm hilft. Und das schreit er ihm entgegen! Nicht immer ist Schweigen Gold. Manchmal hilft es, auch die Enttäuschung heraus zu schreien. Manchmal hilft es, Gott Vorwürfe zu machen. Reden ist manchmal eine Erlösung. Dann ist es raus. Dann quält es nicht mehr. Jesus damals hat nicht mal mehr eigene Worte gefunden für seine Enttäuschung. Er hat Worte aus einem alten Gebet verwendet, das die Menschen damals gekannt haben. Warum hast Du mich verlassen, Gott. Das ist aus dem 22. Psalm. So haben anscheinend auch damals viele gebetet. So viele, dass man diese Worte in einer Gebetssammlung aufgeschrieben hat. Und jetzt benutzt Jesus diese Worte. Vielleicht ist ihm nichts anderes mehr eingefallen, so wie dem Lottchen vor der Wohnzimmertür, als sie die Anspannung nicht mehr aushalten konnte. Vielleicht war Jesus damals zu schwach für eigene Worte. Aber da war noch dieses Gebet, dass er auswendig kannte. Das ist ihm eingefallen. Der Geist hilft unserer Schwachheit auf! Mir fallen auch manchmal solche Worte ein, die ich irgendwann mal gelernt habe. Vielleicht kennen Sie das. Und sie trösten mich, wenn es eigentlich keinen Trost gibt. Oder sie befreien wenigstens und die Angst ist nicht mehr so bedrückend. So ähnlich ist das, wie das Erlebnis, das Christof Schlingensief aus der Zeit seiner Krankheit erzählt hat.
Die Erinnerung an Jesus übrigens und an seine verzweifeltes: Warum hast du mich verlassen, Gott – die sagt mir auch: Er hat es damals anscheinend nicht spüren können. Aber Gott hatte ihn eben doch nicht verlassen. Wir Christen jedenfalls glauben, dass er Jesus auferweckt hat. Gott war bei ihm und ist bei ihm geblieben, als alle meinten, nun sei dieser jämmerlich schreiende am Ende. Gott ist nicht nur bei den Gesunden und Starken und bei denen, die immer die richtigen Worte wissen. Er ist auch und gerade bei denen, die schwach sind und keine Hoffnung mehr haben.
Denen, die Gott lieben, werden alle Dinge zum Besten dienen
Das ist das Dritte, das Paulus denen sagt, die nicht wissen, wie sie beten sollen.
Ich glaube: Das ist wahrhaftig kein Satz, den man Menschen weitergeben kann, die verzweifelt sind. Wie sollte ich so jemandem sagen: Es ist bestimmt gut für dich. Oder jedenfalls: Es wird schon für irgendwas gut sein. So einen Satz kann man immer nur für sich selber sagen. So einen Satz kann man wahrscheinlich auch immer erst hinterher sagen. Wenn es überstanden ist. Wenn sich - vielleicht erst nach langer Zeit – zeigt, wozu es gut war. Bei manchen Sachen, scheint mir, kann man es nie sagen. Ich habe ehrlich gesagt, schon eine ganze Liste von Dingen, die ich nicht verstehe und schon gar nicht weiß, wofür die gut gewesen sein sollen. Und ich hoffe darauf, dass ich Gott irgendwann einmal in seiner neuen Welt danach fragen kann.
Aber hier und jetzt und heute – da kann man nicht für einen anderen sagen: „Denen, die Gott lieben, werden alle Dinge zum Besten dienen.“ Aber vielleicht kann ich ihm davon erzählen, wie ich das jedenfalls schon erlebt habe. Und dass ich deshalb davon ausgehe, dass Gott es gut mit mir meint. Mit mir und auch mit allen seinen Geschöpfen – auch, wenn ich jetzt nicht verstehe, warum es so ist, wie es ist. Vielleicht kann man dann anders beten. So, wie Jesus es getan hat. Als er Verhaftung und Verurteilung auf sich zukommen sah, da hat er gebetet: „Gott, erspar mir das“. Und nach einer Weile dann: „Dein Wille geschehe, Gott“. Ich glaube, da war das passiert, wovon auch Schlingensief in seinem Tagebuch schreibt: „Ich bin ganz still geworden … und hatte ein warmes, gutes Gefühl … es ist gut. Es ist gut.“ Ich hoffe und glaube: Dieses Vertrauen - obwohl die Gegenwart ganz anders aussieht - dieses Vertrauen gibt Gottes Geist. Er hilft uns auf aus unserer Schwachheit. Er kann mir helfen, darauf zu vertrauen, dass Gott es gut mit mir meint. Er kann mir helfen, wenn ich nicht genug Kraft habe zum Beten, weil im Augenblick vieles dagegen spricht.
Das waren nun, liebe Gemeinde, die drei Ratschläge, die ich bei Paulus gefunden habe für mich und alle, denen manchmal die Kraft zum Beten fehlt. Der Geist Gottes, sagt er, der wird dir helfen, wenn du zu schwach bist.
Kann ich also nur darauf warten und hoffen, dass er das tut, dieser Geist?
Ich habe inzwischen gemerkt, dass man in der Zwischenzeit noch etwas anderes tun kann: Beten. Einfach beten, wie Jesus uns das gelehrt hat. Das Vater unser. Fertige Worte. Worte, in denen alles drinsteckt. Auch wenn manchmal nur die Lippen beten, aber nicht der Kopf und schon gar nicht das Herz. Beten. So wie Lottchen gebetet hat: „Komm Herr Jesus, sei Du unser Gast.“ So wie Jesus Worte aus dem 22. Psalm gebetet hat. Regelmäßig das Vaterunser beten. So bleibt man im Gespräch. So reißt die Beziehung nicht ab. Den Rest macht dann, auch in schlimmen Zeiten, Gottes Heiliger Geist. Und meine Erfahrung ist: Irgendwann kommen auch die anderen Worte wieder. Die, die eine Erlösung sind.
Amen.
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Konfi-Impuls zu Römer 8,1-11 von Steffen Kaltenbach
Konfi-Impuls für den Pfingstsonntag, Römer 8,1-11
Auf Leben und Tod – Gottes Geist befreit zum Leben
Die Kirchentagslosung 1991 aus dem Ruhrgebiet lenkt meinen Blick auf die lebendig machende Kraft der Geistesgegenwart Gottes.
Was in der Schöpfungsgeschichte mit dem Lebensodem gemeint sein kann (Gen 2,7), erleben Konfis bei der Reanimation im Kontext erster Hilfe. Ein totgeglaubter Körper zeigt Lebenszeichen, sobald sich sein Brustkorb hebt und senkt. Atmung markiert Lebendigkeit. Wenn der Schöpfer mit dem identisch ist, der Jesus von den Toten auferweckt hat, so ist die Belebung auch unserer toten Körper durch Gottes Geist nicht weniger als ein schöpferischer Akt des Heraushebens aus dem Staub toter Materie.
Im Unterschied zur geistgewirkten Lebendigkeit ist das, was Paulus und ähnlich Johannes mit Fleisch bezeichnen, der „Norm-alfall“: Das unter den Gesetzmäßigkeiten/Normen der Welt verhaftete Leben, das den Namen Leben nicht wirklich verdient. Scheintot – scheinbar lebendig.
Vergangene Woche hatten wir in unserem Distrikt zum dritten Mal einen Themennachmittag unter dem Titel „Alles Party? – Zur ernsten Seite des Lebens“ mit allen Konfis und den Firmbewerbern aus Murrhardt und Umgebung veranstaltet. In meiner Gesprächsrunde zum Thema „sucidale Gedanken – Suicid“ sammelten wir Motive (vgl. φρόνημα), die Selbstmordgedanken zu Tage fördern. Mobbing, Elternkonflikte, Liebeskummer, Missbrauchserfahrungen, Trennung der Eltern, Schulversagen und Prüfungsangst waren dabei angeklungen.
Besonders die Frage der Wertschätzung der Jugendlichen stand im Mittelpunkt unseres Gesprächs: Mehrere Schülerinnen und Schüler beklagten die Gleichgültigkeit von Lehrkräften ihrer Person gegenüber. Die Übergabe einer schlechten Note erfolge oft kommentarlos. Aufbauendes, persönlichkeitsstärkendes Interesse am Leben außerhalb der Schule oder jenseits der Zensuren sei selten erfahrbar.
Dazu zu wenig Freizeit (Röm 8,2: Freiheit). Ein Leben, das den Namen Leben nicht wirklich verdient: Leben unter der Prämisse (der Norm/dem Gesetz), dass sich alles der schulischen Leistung unterzuordnen habe. Für Berufstätige ist diese Norm der berufliche Erfolg; Scheitern und Arbeitslosigkeit und die damit verbundene Entwertungserfahrung gehören in meiner Wahrnehmung ebenfalls zu den ernst zu nehmenden suicidalen Motiven.
Paulus legt seine Reflexion auf die Gegenwart bzw. Abwesenheit des Lebensgeistes Gottes dualistisch an. In meiner handkolorierten Ausgabe des NT Graece wechseln die Farben zwischen lila (κατὰ σάρκα) und gelb (κατὰ πνεῦμα). Für mich eine Einladung, mit den Konfis tatsächlich zunächst schwarz/weiß in zwei Tabellenspalten Bedingungen für ein Leben, das den Namen nicht wirklich verdient, zu sammeln, in der zweiten Spalte Bedingungen für ein erstrebenswertes Leben.
Lassen sich die Inhalte der zweiten Spalte mit Gottes lebendig machendem Geist in Verbindung bringen? Gibt es sogar die Chance, mittels Gottes lebendig machendem Geist von der linken zur rechten Seite des Lebens hinüberzugelangen?
Welche Geschichten mit Jesus fallen uns dazu ein (V.3)? Ich denke an Erzählungen, in denen Menschen auf(er)stehen zum Leben (Schriftlesung in Rollen aufbereitet für Konfis).
Ideen für die Gottesdienstgestaltung und die Vor- oder Weiterarbeit:
· Lesung in Sprechrollen: Z. B. Mk 5,21-24.35-43; Lk 7,11-17
· Geist als Stoff und Geist als Energie: Wenn auch sehr oberflächlich, so lädt der große aufgeblasene Luftballon, der losgelassen von der Kanzel in die Kirche flattert, zum Weiterdenken ein. Geist bewegt, Geist zeugt von Lebendigkeit.
· „Ein Licht geht uns auf“ EG 555.
· „Kommt, atmet auf, ihr sollt leben“, EG 639
· Bernd und Heidi Umbreit: Hallo Jule, ich lebe noch (Film 2009)
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Ihr, die Ihr eintretet, lasst Euch die Hoffnung schenken - Predigt zu Römer 8,26–30 von Sven Evers
Ihr, die Ihr eintretet, lasst Euch die Hoffnung schenken
„Lasst, die Ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“ Dieser Satz steht am Eingang der Hölle in Dantes Göttlicher Komödie, die bei genauerem Hineinlesen alles andere ist als eine Komödie. Die Überschrift über einem Ort der Täuschungen und Verwirrungen, der Qualen und des unsagbaren, weil so oft gänzlich unverstanden Leids.
„Lasst, die Ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“ – Für den einen oder die andere unter uns vielleicht ein Satz, der manchmal über einem neuen Tag steht. Wenn große Lasten auf einem liegen, schwere Aufgaben bevorstehen oder Leid, Not, Zweifel, Unsicherheit und Nicht-mehr-weiter-Wissen den Tag verdunkeln, noch ehe die Sonne überhaupt aufgegangen ist.
„Lasst, die Ihr eintretet, alle Hoffnug fahren!“ – Ein Satz vielleicht auch für den ein oder die andere Glaubende. Wenn nämlich dort Zweifel aufkommen und Fragen, die keine Antwort finden, wo doch Gewißheit, letzte Gewißheit, eine Gewißheit, die Tod und Leben überdauert und umfaßt, sein sollte.
Was tun, wenn das, was Trost sein soll im Leben und im Sterben, ins Wanken gerät?
Was tun, wenn der Gott, dessen Nähe so vertraut war, auf einmal unendlich weit entfernt erscheint?
Was tun, wenn der Glaube, der Halt geben soll und Zuversicht, ins Wanken gerät, der Himmel aus den Fugen und das Fundament des eigenen Lebens ins Wanken?
Und manchmal braucht es ja nicht einmal das. Allein schon die Frage, wie denn lebendig werden kann, was mir mit „Glauben“ meinen, kann ja Kopfzerbrechen bereiten.
Müßte nicht, so fragen ja nicht nur die Menschen um uns herum, die kritisch beäugen, was Kirche tut und was Menschen in der Kirche tun, sondern so fragen wir doch auch immer wieder selber einmal – müßte nicht unser Glaube sichtbar werden in unserem Leben? Oder vielleicht: Sichtbarer?
Müßte nicht, wenn denn der Gott, zu dem wir beten, dem wir singen, auf den wir vertrauen, unser Leben mitten in unserem Alltag viel mehr prägen als er das tut?
Kennst Du das Gefühl, der Glaube fände manchmal nur am Sonntag Vormittag statt und abgesehen davon gelten so viele andere Gesetze, die das Leben (oder das, was dafür gehalten wird) vorschreibt?
Das Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. schreibt Paulus. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.
Mir sind diese Gedanken des Paulus nicht ganz fremd – und wer weiß, vielleicht bin ich damit heute Morgen ja gar nicht ganz alleine.
Paulus und ganz offensichtlich jenen, die er im Sinn hatte, als er den Brief an die Gemeinde in Rom schrieb, waren die Gedanken, die Fragen, die Zweifel, die ich eingangs geschildert habe, nicht fremd. Das ganze achte Kapitel des Briefes kreist um genau die Frage, wie wir denn – ich drücke es mal ein wenig „fromm“ aus, unseres Heils wirklich gewiß sein können.
Woran mache ich mit anderen Worten fest, daß die Liebe Gottes, auf die ich vertraue, wirklich mir gilt, wirklich mich meint, wirklich mich hält und zwar eben gerade nicht nur dann, wenn ich mir sicher bin, sondern auch und gerade in Zeiten des Zweifelns und Fragens?
Ich möchte vertrauen – aber das Leben um mich herum, stellt so vieles in Frage.
Ich möchte mich vom Geist Gottes treiben lassen – aber ich kann diesen Geist manchmal kaum erkennen und mir erscheint fern und unkonkret, was doch mein Leben im Innersten zusammenhalten sollte.
Ich möchte beten – aber ich weiß gar nicht, wie.
Der Geist hilft unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; sondern der Geist selber vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen.
Ich muß nicht auf mich selber bauen. Genau das heißt „An Gott glauben“ ja schließlich. Gut, leichter gesagt als getan, denn alles, was ich nicht selber in der Hand habe, kann ja auch Angst machen. Aber Paulus ist sich sicher: Wenn wir auf uns schauen und auf das, was wir vermögen, dann kommen wir nicht weit.
Wenn wir in die Welt schauen und ihre Unerlöstheit sehen, das sinnlose Leid, das Menschen einander zufügen, die Zerstörung dessen, was doch Gottes gute Schöpfung ist; wenn wir sehen, wie um uns herum die Dinge vergehen oder ins Verderben gestürzt werden, wenn wir – noch einmal und schon wieder Paulus – das Seufzen und ängstliche Harren der gesamten Schöpfung, die sich nach Erlösung sehnt, erahnen, dann hilft kein Verweis auf menschliche Macht und Möglichkeit; dann hilft es nichts, die Ärmel hochzukrempeln und Dinge anzupacken, weil zu groß ist und zu mächtig, was angepackt und verändert werden müßte, sollte wirklich Erlösung das Ergebnis sein. Dann hilft nur: Gott.
Darauf immer wieder und immer wieder neu und immer wieder gegen den Augenschein zu vertrauen, das ist nicht leicht, das weiß auch Paulus. Umso wichtiger ist ihm: Mit unsrer Macht ist nichts getan, da muss schon Gott selber ran!
Der die Herzen erforscht, der weiß, worauf der Sinn des Geistes gerichtet ist; denn er vertritt die Heiligen, wie es Gott gefällt. Wir wissen aber, daß denen, die Gott dienen, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluß berufen sind. Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, daß sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.
Was wir ein Unheil ist mit der sogenannten Prädestinationslehre getrieben worden, die sich unter anderem auf die hier von Paulus geschrieben Verse beruft! Prädestinationslehre, das heißt: die Lehre von der Vorherbestimmung der Menschen zum Heil und später in der Theologiegeschichte dann auch zum Unheil.
Der Hintergrund dieser Lehre gar nicht weit von den Fragen, die uns hier und heute gerade beschäftigen. Wie kann ich mir meines Heils gewiß sein? Wie kann ich wirklich wissen, daß ich eingehen darf ins Himmelreich, daß ich – ich drücke es mal ein wenig moderner aus – von Gott wirklich gehalten werde im Leben und im Sterben und über das Sterben hinaus?
Antwort: Ich weiß es, was ich mich als von Gott schon lange vor meiner Geburt, ja vor Grundlegung der Welt auserwählt wissen darf. Mein Heil hängt nicht an mir. Weder an meinem Tun, noch an meinem Verstand, noch an meinen Gefühlen. Ob ich mich „gerettet“ fühle oder nicht, spielt keine Rolle. Gott ist es, der mich hält, wenn ich selber mich nicht halten kann (und übrigens auch wenn ich das Gefühl habe, mich selber durchaus halten zu können).
Aus dem Versuch einer Antwort auf die Unsicherheit und die Zweifel, die sich im Vertrauen auf Gott immer wieder einstellen ist im Laufe der Jahrhunderte der Versuch geworden, nicht nur eine Vorherbestimmung zum Heil, sondern auch zum Unheil zu denken; ist im Laufe der Jahrhunderte der Versuch geworden, die eigene Vorherbestimmtheit an weltlichem Wohlergehen oder anderem festmachen zu können; ist im Laufe der Jahrhunderte das genaue Gegenteil geworden von dem, was Paulus hier im Sinn hat: Eine theologisch sanktionierte Angstmacherei und nicht mehr eine Untermauerung der Gewißheit, die eben nicht auf eigenen Mauern stehen kann.
Mein Leben gründet nicht auf meinem Tun.
Meine Rechtfertigung, also die Antwort auf die Frage, ob ich gut genug bin für Gott, gründet nicht auf meinem Tun.
Mein Wohl- oder Nicht-Wohlergehen in meinem Leben ist kein Kriterium für die Frage, ob ich bei Gott einen guten Stand habe oder nicht.
Die Unsichtbarkeit der erhofften Erlösung (übrigens: nicht nur meiner, sondern auch die meiner Mitmenschen und die meiner und unserer Welt insgesamt) ist kein Widerpruch gegen Gottes feste Zusage.
Meine Zweifel, meine Fragen, mein meinen eigenen Maßstäben so oft widersprechendes Handeln, meine Unfähigkeit zu beten, zur Besinnung zu kommen und mich überhaupt ab und an einmal auf das zu fokussieren, worauf es im Leben wirklich ankommt – all das ist kein Kriterium für Gott mir gegenüber.
Ganz eindrücklich ist mir immer wieder das, was von Martin Luther erzählt wird. Er habe in Zeiten des Zweifels und der Ungewissheit und Unsicherheit – und davon gar er nun wahrlich mehr als genug durchlebt – sich groß vor die Augen den Satz gemalt: Ich bin getauft. Ich bin getauft. Gott steht zu mir – und genauso, wie die Taufe nicht an mir hing, wie ich in der Taufe nichts an eigenem Verdienst eingebracht habe, sondern ganz und gar angewiesen war auf Gottes Ja, so bleibt es ein Leben und ein Sterben lang. Ich bin getauft. Das kann durch nichts, was ich tue, durch nichts, was ich unterlasse, durch nichts, was geschieht oder nicht geschieht, zunichte gemacht werden.
In Anlehung an unseren Einstieg möchte im Sinne des Paulus schließen und eine große Überschrift der Hoffnung über Dich und Dein Leben, über uns alle und unser aller Leben, über unseren manchmal festen, manchmal wankenden, manchmal überheblichen, manchmal kaum wahrnehmbaren Glauben an den Gott Jesu Christi malen; eine Überschrift, die gut an den Eingängen und den Ausgängen unserer Kirchen stehen könnte, damit wir sie hier und im Alltag nicht vergessen, sondern sie uns immer wieder vor Augen und vor die Herzen malen: Ihr, die Ihr eintretet, lasst Euch die Hoffnung schenken – die Hoffnung auf den Gott, der Jesus Christus im Tod nicht allein gelassen hat und der im Leben und im Sterben bei Euch sein und bleiben wird.
Und weil diese Hoffnung so groß und so hoch und so tief und so weit ist, müssen wir das achte Kapitel des Römerbriefes nun auch noch zu Ende lesen. Es gibt in der Bibel kaum schönere Worte, diese Hoffnung, diese große Überschrift über unser Leben im Vertrauen auf Gott, auszudrücken:
Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt. Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
Amen.
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Predigt zu Römer 9,14-24 von Claudia Trauthig
I
Etwas mulmig
scheint es dem Mann jetzt doch zu sein.
Am Telefon haben wir uns verabredet:
„Eintreten“ will er – evangelisch werden.
Als die Papiere vor ihm liegen, nur noch die Unterschrift fehlt,
holt er aber noch einmal aus,
umreißt seine Geschichte:
„Gefühlsmäßig bin ich schon immer evangelisch. Das mit dem Papst hat mir nie eingeleuchtet. Meine Mutter war auch nicht katholisch. Aber meine Oma - und wie! Das hat uns alle geprägt…
Als ich meine erste Freundin hatte, hieß es sofort: „Die ist doch hoffentlich katholisch?“
Jetzt ist sie schon acht Jahre tot - doch bis letzte Woche war ich immer noch katholisch…
Sollt man nicht glauben“, lacht er verlegen, „aber so war das einfach bei uns.“ (…)
Liebe Gemeinde - ich glaube das.
Oder besser: Ich kann es mir vorstellen. Übrigens nicht nur in die eine Richtung. In meiner norddeutsch protestantischen Heimat war es „völlig seltsam“, wenn einer katholisch war. Oder gar „methodistisch“. Das klang irgendwie nach Sekte; wie ein Makel.
Gott sei Dank - haben wir dazu gelernt. Die ökumenische Bewegung der letzten 50 Jahre hat uns nach vorne gebracht: Wir wissen, dass Methodisten keine Sekte sind und erkennen, dass es weit mehr gibt, was uns Christen verbindet als was uns trennt. Immer mehr üben wir, uns stärker zu vernetzen, um gemeinsam „der Stadt Bestes zu suchen“, „Licht für die Welt“ zu sein. So kommen wir auch ins Gespräch mit jenen, die einen ganz anderen Glauben haben und leben.
Dennoch -
kennen auch wir diese Sehnsucht, dass Menschen, die wir schätzen, lieben oder hoch achten, auch Christen, Christinnen sind – am besten doch gleich evangelisch. Dass viele gar nicht glauben oder das Evangelium verneinen, belastet und trennt.
Dies war zurzeit des Entstehens der Kirche weit schmerzlicher als heute. Trennungen belasteten nicht nur persönlich, sondern erschütterten existentiell. Leid und Verfolgung kennzeichnen die Trennungsprozesse zwischen dem alten Glauben des Volkes Israel und dem neuen Bekenntnis zu Jesus Christus.
II
Mitten hinein in diese schmerzliche Zeit der Ab-, aber auch Ausgrenzung führt uns der Predigttext für den ersten Sonntag der Vorfastenzeit, aus dem Römerbrief – Kapitel 9, 14-24:
Was sollen wir nun hierzu sagen?
Ist denn Gott ungerecht?
Das sei ferne!
Denn er spricht zu Mose: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“
So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.
Denn die Schrift sagt zum Pharao:
„Eben dazu habe ich dich erweckt, damit ich an dir meine Macht erweise und damit mein Name auf der ganzen Erde verkündigt werde.“
So erbarmt er sich nun, wessen er will, und verstockt, wen er will.
Nun sagst du zu mir:
„Warum beschuldigt er uns dann noch? Wer kann seinem Willen widerstehen?“
Ja, lieber Mensch, wer bist du denn,
dass du mit Gott rechten willst?
Spricht auch ein Werk zu seinem Meister:
„Warum machst du mich so?“
Hat nicht ein Töpfer Macht über den Ton,
aus dem demselben Klumpen ein Gefäß zu ehrenvollem und ein anderes zu nicht ehrenvollen Gebrauch zu machen?
Da Gott seinen Zorn erzeigen und seine Macht kundtun wollte, hat er mit großer Geduld ertragen die Gefäße des Zorns, die zum Verderben bestimmt waren, damit er den Reichtum seiner Herrlichkeit kundtue an den Gefäßen der Barmherzigkeit, die er zuvor bereitet hatte zur Herrlichkeit.
Dazu hat er uns berufen, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden.
Liebe Gemeinde,
ich weiß nicht, ob Sie da noch mitkommen…, oder gerade auf „Durchzug“ geschaltet haben… Vielleicht ein weiteres Mal bei Paulus, über den ja schon Zeitgenossen seufzten: „Einiges in seinen Briefen ist allerdings schwer zu verstehen…“ (2. Petr 3, 15).
Wieder einmal
schreibt der Unermüdliche einen Brief. Seit Jahren hat er sich der Sache des Auferstandenen verschrieben. Schon zwei Jahrzehnte hetzt der Apostel von Station zu Station, um das Evangelium weiter zu sagen.
Mit diesem schonungslosen Mann befinden wir uns nun Mitte der 50er Jahre (des 1. Jahrhunderts) in Korinth. Dort verbringt Paulus den Winter. Absehbar plant er, endlich selbst in die Welthauptstadt Rom zu reisen. Aber noch steht nicht fest, wann er das schafft.
Die christlichen Gemeinden Roms sind nicht durch ihn entstanden. Doch Paulus weiß von aktiven, zahlreicher werdenden Hausgemeinden in Rom. Er hört auch, dass es schwere Zeiten für die junge Christenheit dort sind. Kaiser Claudius ordnet ihre Vertreibung an. Bei einem Zeitgenossen können wir die Begründung bis heute nachlesen: „…weil sie durch Chrestos zur Unruhe angestiftet wurden.“ (Sueton)
Die Juden Roms reagieren besorgt, wollen nicht mit den „Chrestoi“ in einen Topf geworfen werden. Denn viele Christen kommen aus jüdischen Familien. Abgrenzungen werden zur Ausgrenzung.
Die Türen der Synagoge werden geschlossen. Der Riss geht durch Familien und Freundeskreise… Er bedeutet eine unsichere Zukunft für die betroffenen Christen. So bleiben die Rechte der Synagoge bestehen…, aber in der Gemeinde wachsen die Zweifel:
Warum glauben immer mehr Heiden an Jesus - und nicht unsere jüdischen Verwandten? Warum erkennen sie nicht, dass dies doch ist, was Mose und die Propheten verheißen? Warum sind sie wie „verstockt“?
Wie kein anderer versteht Paulus die Not dieser Fragen. Er lässt den Schreiber Tertius zu sich rufen, beginnt zu diktieren… Diakonin Phöbe wird den Brief mit nach Rom mitnehmen.
Was sollen wir nun hierzu sagen?
Ist denn Gott ungerecht?
Das sei ferne!
Denn er spricht zu Mose: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“
So erbarmt er sich nun, wessen er will, und verstockt, wen er will.
Glaube ist Gnade – der eine bekommt sie, die andere nicht.
Liebe Gemeinde,
fast in der Mitte, im Herzen des Römerbriefes, steht dieser Abschnitt. Wenn ich die Worte losgelöst betrachte, empfinde ich Ratlosigkeit. Sogar Luther spricht von „schwerem Wein“, „anspruchsvoller Kost“. Am Ende des langen Gedankengangs wird Paulus selbst seufzen:
„Oh, welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!“
Paulus macht offensichtlich „Schluss mit lustig“: Schluss mit einem Gott, der letztlich nur ein aufgeblasener Mensch wäre, weil unsere „Spielregeln für ihn gelten“.
Schluss mit einem Gott, der völlig erwartbar handelt, immer und überall begreiflich ist, sich im „lieben Gott“ erschöpft.
Schluss mit einem Gott - der nicht auch ganz anders und ganz frei uns Menschen immer wieder auch verborgen ist.
Gott ist und Gott bleibt Gott. Schöpfung und Vollendung sind sein Werk. Er ist die Autorität allen Lebens. Er lenkt Zeiten und Menschen. Fremd und unbegreiflich wird uns manches scheinen, besorgniserregend und schmerzlich… Deswegen können und werden wir klagen und fragen, nach ihm suchen und beten, um ihn ringen und immer wieder Grenzen aushalten:
Ja, lieber Mensch, wer bist du denn,
dass du mit Gott rechten willst?
Spricht auch ein Werk zu seinem Meister:
„Warum machst du mich so?“
Hat nicht ein Töpfer Macht über den Ton,
aus dem demselben Klumpen ein Gefäß zu ehrenvollem und ein anderes zu nicht ehrenvollen Gebrauch zu machen?
III
Liebe Gemeinde,
vielleicht ärgern Sie sich über dieses Bild.
Auch mir ist nicht leicht gefallen, es an mich heranzulassen. Vor allem, wenn ich an die wirklich schweren Momente im Leben denke. Wenn ich ein Kind begraben muss, jemand, den ich liebe, eine schwere Krankheit, einen schweren Weg vor sich hat oder die Nachrichten mich wieder erschüttern.
Natürlich könnte ich sagen, die Probleme des Paulus, die Situation zwischen Juden und Christen in Rom, belastet mich wenig. Doch die theologische Botschaft muss ich ernstnehmen, aushalten. Nicht zuletzt in dem ich sie (wie hier in unserer Kirche) unter den segnenden Händen Christi höre:
Hat nicht ein Töpfer Macht über den Ton?
(…)
Mir fällt meine Freundin ein, die wunderschön töpfern kann. Ein paar Mal habe ich ihr bei ihrer Arbeit zugesehen. Ich habe gestaunt, wie aus einem Bollen Matsch etwas so Ansehnliches, Nützliches entstehen kann.
Beim Töpfern macht sie sich die Hände schmutzig - und lächelt dazu. Zunächst muss sie den Ton eine Weile schlagen – kraftvoll und konzentriert, keineswegs aggressiv oder gewalttätig.
Dann beginnt die eigentliche Arbeit an der Scheibe. Zärtlich zieht, formt und dehnt sie den Ton. Immer wieder ist es wie Streicheln.
Es fühlt sich gar nicht schlecht an –
mir Gott als Töpferin vorzustellen, Künstlerin an der Scheibe. Die wurde schon vor 7000 Jahren erfunden.
…damit er den Reichtum seiner Herrlichkeit kundtue an den Gefäßen der Barmherzigkeit, die er zuvor bereitet hatte zur Herrlichkeit.
Ob Gott aus mir ein Gefäß der Barmherzigkeit macht?
Barmherzigkeit ist eine Tugend in allen Weltreligionen. Thomas von Aquin nennt sie „die größte aller Tugenden“. Auch Papst Franziskus widmet ihr viele Gedanken in seinem ersten apostolischen Schreiben Gaudium Evangelii.
Ökumenisch könnten wir uns an die Werke der Barmherzigkeit erinnern, leiblich und geistig:
Die Hungrigen speisen.
Den Dürstenden zu trinken geben.
Die Nackten bekleiden.
Die Fremden aufnehmen.
Die Kranken besuchen.
Die Gefangenen besuchen.
Die Toten begraben.
Die Unwissenden lehren.
Den Zweifelnden recht raten.
Die Betrübten trösten.
Die Sünder zurechtweisen.
Die Lästigen geduldig ertragen.
Denen, die uns beleidigen, gerne verzeihen.
Für die Lebenden und die Toten beten.
Auf dieser Grundlage können wir Gott neu bitten: Erfülle uns mit Deinem Geist der Barmherzigkeit!
Ja-
liebe Gemeinde:
Gefäß der Barmherzigkeit sein –
bewahren wir diese Sehnsucht unserer Berufung.
Amen
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Geschenkt? Der zerbrochene Krug oder Freispruch im Scherbengericht - Predigt zu Römer 9,13-24 von Markus Kreis
Geschenkt? Der zerbrochene Krug oder Freispruch im Scherbengericht
Liebe Gemeinde,
Walt Disney hat eines besser gesehen und ausgedrückt als Jesaja, Jeremia und Paulus zusammen:
Wenn Gott wie ein Töpfer ist, dann sind die Menschen als seine Geschöpfe nicht nur bloße Gefäße, Produkte, Objekte. Dann sind sie wie tanzende Tassen, singende und steppende Saucieren, wie marschierende Marmorterrinen oder kommunizierende Kerzenhalter, wie Krüge, die aus und mit sich Kolossalbauten konstruieren. Ein Porzellanservice aus lauter wertvollen Einzelstücken, das eine Art Revue aufführt. Wie zu sehen im Disney Zeichentrickfilm „Die Schöne und das Biest.“
Ein anderes sieht die Bibel jedoch besser als Walt Disney: Jedes noch so lebendige, tatkräftige Gefäß bekommt irgendwann einen Sprung, mehr noch, entkommt nicht einem Bruch, ja, endet in einem Scherbengericht.
Der Mensch - ein zerbrochener Krug - das hat auch Heinrich von Kleist erkannt und in seiner gleichnamigen Dramödie dargestellt. Nicht zufällig spielt eine Hauptrolle darin ein Richter namens Adam. Der überzeugte übrigens schon bei Paulus mit einem gewichtigen Part. Doch zurück zu Kleists Bühnenstück:
Ein zerbrochener Krug ist Anlass zu einem Gerichtsverfahren, in dem Richter Adam Recht sprechen soll. Und zwar zu einem Vergehen, das er selbst begangen hat.
Er hat eine junge Frau in ihrem Gemach sexuell bedrängt, er hat sie erpresst. Gedroht, ihren Verlobten zum Soldatendienst in den Kolonien zwingen zu können. Und hat damit ihren Widerstand zum Schweigen gebracht. Weil der Verlobte unversehens Einlass begehrte und die abgeschlossene Kammertür aufbrach – die entgegen sonstiger Gepflogenheit verschlossen – musste Richter Adam die Flucht ergreifen. Das gelang ihm unerkannt, jedoch nicht unverletzt. Der Verlobte zieht ihm einen im Zimmer stehenden Tonkrug von hinten über den Schädel.
Der Richter setzt im Prozessverlauf alle möglichen Tricks ein. Er will verhindern, dass sein Unrecht offenbar wird. Umso mehr, als ein Gerichtsrat den Prozess beaufsichtigt. Am Ende jedoch wird Adam entlarvt.
Richter Adam, das sind wir. Diese Rolle ist einem jeden von uns auf den Leib geschrieben. Wir müssen urteilen, aber wir können nicht urteilen. Der Mensch, das ist der durch sein eigenes Urteil schlecht beratene Richter. Uns mangelt es in gewisser Weise am Urteilsvermögen. Und zwar egal, ob wir über uns selbst zu Gericht sitzen oder über andere.
Vielleicht wenden sie ein, und das mit Recht: kein Wunder, dass Adams Urteilsvermögen stiften gegangen ist. Schließlich hatte der Kerl doch ordentlich Dreck am Stecken und Richtstab. Mit einem guten Gewissen kann einem so etwas nicht passieren: dieser unglaubliche Verlust von Urteilsfähigkeit.
Und hier bekommen sie von der Bibel nicht unbedingt Recht. Esau z.B.: er war guter Dinge, hatte auch ein gutes Gewissen und schließlich nur ein Linsengericht. Jakob hingegen gewann das Erbe, wenn auch mit nicht ganz reinem Gewissen.
Vielleicht sind wir uns keiner Schuld bewusst. Oder wie ein Pharao nur sehr Macht bewusst - das heißt jedoch noch längst nicht, dass wir nichts auf uns geladen haben. Blinder Fleck, schuldlose Schuld, Stoff unzähliger Dramen. Von den Griechen über Shakespeare bis zu den Prozessen um Kachelmann und Christian Wulff.
Auch wenn unsere Lebenserfahrung uns das Gegenteil zu lehren scheint: Uns mangelt es am Urteilsvermögen. Egal ob wir meinen, dass wir uns im Leben etwas zu Schulden haben kommen lassen. Egal, ob wir glauben, dass wir unschuldig sind. Zwar hat Gott uns ein reines Urteilsvermögen als Schöpfungsgabe mitgegeben. Aber irgendetwas damit läuft schief.
Daran können wir nichts ändern. Wir haben vom Baum der Erkenntnis gegessen. Wir müssen urteilen, ob im Stande eigener Unschuld oder Schuld, ob über uns selbst oder über andere. Und wir wissen: wir können nicht urteilen. Denn uns mangelt es in gewisser Weise am Urteilsvermögen. Dass wir das erkennen - das ertragen wir nicht. Und deshalb tun wir so als ob. Deshalb urteilen wir so, also ob wir es könnten. Dazu schieben wir unser Wissen um unser Unvermögen ab. Hinweg. Fort. Fertig. Aus.
Eine nette kleine Erpressung oder auch nur Drohung, Gefälligkeiten unter Geschäftsfreunden, frisierte Empfehlungen, gefälschte Berichte, da wird schon nichts schief gehen. Uns mangelt es an Voraussicht - oder schlicht an Phantasie.
Wir übersehen wie Richter Adam, dass ein Dritter, der plötzlich hinzukommt, uns einen Strich durch die Rechnung machen kann. Dass wir von einem vierten genau beobachtet und beurteilt werden. Dass fünftens unsere Opfer wider Erwarten wagen, sich zu wehren. Und zum guten Schluss vergessen wir: An die eigene Urteilsunfähigkeit erinnert man sich genau dann, wenn man es vor lauter Rechtfertigungsstress gerade überhaupt nicht brauchen kann. So stehen wir da wie Richter Adam: blamiert, entlarvt, barhäuptig.
Im Internet kursiert ein in dieser Hinsicht illustratives Video: Zwei Hochseeangler haben einen Schwertfisch an Haken und Leine geködert. Sie zwingen ihn damit in Richtung ihres Luxusfischerboots. Plötzlich springt die geköderte Beute an Bord, mitten in den Angelstand hinein. Der Fisch wehrt sich und sticht mit seinem Schwertstachel nach den zwei Herren - und die springen flugs über die Reling ins Meer. Jonas Riesenfisch, nur umgekehrt - statt Mann über Bord zu Wasser und in Fisch, Fisch an Bord und Mann ins Wasser. S.O.S.!
Wir leben in einer Wissensgesellschaft. Fast alle Berufe haben mit Beratung zu tun, also mit Wissen, urteilen, Beurteilung, weniger die von Produkten, mehr die von Personen. Der Rat suchende Klient sollte vom Experten in seiner Persönlichkeit beurteilt werden. Und ebenso das, was der Klient sich aneignen will. Und nicht zuletzt sollte auch der Experte mit sich zu Rate gehen.
Jeder hier kann von Experten erzählen, die falsch gelegen oder daneben gegriffen haben. Mancher wohl auch von sich selbst: bei Versicherungs- oder Erziehungsfragen, bei Bauplanungen oder Berufswahl, bei Autokauf oder Aktieninvestition, bei Partnerwahl oder als Personaler bei einer Einstellung.
Zugeben will das keiner, da tut sich jeder schwer: der enttäuschte Klient, weil er nicht als leichtgläubiger Depp dastehen will. Und der gescheiterte Experte, weil er nicht als inkompetent oder Glücksritter gelten will.
So gesehen gilt: Manches gelungene Urteil ist eine Gnade für den Richter Adam. Sogar dann, wenn der Richter sein Urteil nicht liebt. So wie im Kachelmannprozess der Mannheimer Richter! Aber immer noch gilt: im Zweifel für den Angeklagten, erst recht, wenn an der Wahrheit der Anklage zu zweifeln ist.
Viele gelungene Beratungen sind eine Gnade für den Experten, auch wenn der gegebene Rat Unannehmlichkeiten bereitet und eventuell weniger Geld einbringt.
Manches gelungene Urteil ist eine Gnade für den Richter. Auch wenn es für den Angeklagten dabei nicht ohne Strafe abgeht. Kriminelle müssen verurteilt werden. Ohne das geht es nicht, auch wenn es leider nicht so oft gut geht mit Abschreckung oder Resozialisierung.
Manches gelungene Urteil ist eine Gnade für den Richter Adam. Das gilt gerade auch dann, wenn ein Mensch über sich selbst urteilt, ohne Beurteiler von Beruf zu sein, also ohne Jurist, Lehrer oder Psychologe zu sein. Eingesehene Schuld bringt tätige Reue. Und tätige Reue bringt neues Leben, neue Energie!
Wie viele gelungene Urteile, die wir über uns selbst sprechen, beruhen auf Gnade? Und um nicht nur nach der Anzahl zu fragen, sondern nach den Inhalten, den Urteilsaussagen: Welche gelungenen Urteile, die wir über uns sprechen, beruhen auf Gnade? Sind sie erfreulich? Sind sie niederschmetternd?
Unsere Urteile über Mitmenschen sind genauso wichtig wie die über uns selbst. Hier kann man ebenfalls nach Anzahl und Aussageinhalt fragen. Wie viele gelungene Urteile, die wir über Mitmenschen fällen, beruhen auf Gnade? Welche gelungenen Urteile, die wir über Mitmenschen fällen, beruhen auf Gnade?
Und nur der Vollständigkeit halber: Wie unsere Mitmenschen über sich selbst und über uns urteilen, das bestimmt gleichfalls gehörig unser Leben. Wie viele gelungene Urteile, die Mitmenschen über uns fällen, beruhen auf Gnade? Welche gelungenen die Urteile, die Mitmenschen über uns sprechen, beruhen auf Gnade?
Wie viele gelungene Urteile unserer Mitmenschen, die sie selbst betreffen, beruhen auf Gnade? Welche gelungenen Urteile unserer Mitmenschen, die sie selbst betreffen, verdanken sich einer Gnade?
Wer sein Urteile mit und unter Gottes Augen ansieht, der kann nur erschauern. Ein Meer an Ungewissheit wogt vor ihm, mal dümpelnd, mal brandend. Wie gut, dass Gottes Urteil unser Urteilsvermögen vorherbestimmt.
Gott hat mit Tod und Auferstehung Jesu sein Bestes in unser Urteilsvermögen investiert. Hier wird unser Vertrauen in das eigene Urteilsvermögen durchkreuzt. Hier ist neues Vertrauen zu Gottes Urteil zu gewinnen. Und das heißt: neues Vertrauen in Gottes gnadenvolle Vorherbestimmung unserer Urteilskraft.
Welcher Startup - Firmenchef, der Risikokapital braucht, beschwert sich bei einem Geldgeber: Warum habe ich nichts bekommen? Oder: Warum habe ich nur so viel bekommen? Würde er das tun, müsste er etwas befürchten: nämlich sich selbst zu enthaupten, sich eigenhändig jeder Chance für eine neue Kapitalspritze zu berauben. Des Risikokapitals bedürftige Chefs wissen: bei aller guten eigenen Vorarbeit und Vorleistung – ich bin gänzlich abhängig vom Urteil des Geldgebers.
Mit unserem gebrochenen Urteilsvermögen sind wir für Gott selten eine sichere Bank und gute Konsorten. Und doch hat er in Jesus in uns investiert, stattet uns immer wieder mit Startkapital aus. Das heißt: er gibt uns Knowhow, Kontakte und Kohle, auch wenn wir unser Leben nur erforschen und erdenken. Er wartet nicht ab, ob bei der Entwicklung überhaupt etwas rechtes heraus springt. Er wartet auch nicht ab, um erst bei den Produkttests einzusteigen. Oder springt gar erst bei einem absehbaren Erfolg auf den bereits fahrenden Zug auf. Im Gegensatz zu den irdischen Risikokapitalgeschäften läuft das himmlische erfolgreich. Es verbreitet sich. Es verdrängt zusehends reine Kosten-Nutzen-Rechnungen.
Gott bringt sich immer wieder von Anfang an in unser Urteil ein. Vertrauen wir darauf. Recht besehen bleibt uns nichts anderes übrig. Denn Gottes Gerechtigkeit ist unergründlich. Jesus spricht unsere Urteile frei im Scherbengericht. So wie Gott den Auferstandenen trotz des Jerusalemer Scherbengerichts im Kreuz frei gesprochen hat. Amen.
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Geistliche Eierspeise - Predigt zu Römer 9,14-24 von Thomas Ammermann
GEISTLICHE EIERSPEISE
Liebe Gemeinde!
Es gibt Menschen, die haben alles, was man sich nur wünschen kann. Und es gibt andere, denen fehlt es an allem. Menschen, die sich vorkommen müssen, als seien sie nur versehentlich am Leben, als Treibgut an den Stränden der Uferlosigkeit, sinnlos über Bord gegangen, verworfen von einem längst über alle Meere entschwundenen – oder gesunkenen – Schiff. Manchmal leben sie auf demselben Stückchen Erde wie wir. Und wo großes Leid der einen neben großem Glück der anderen wächst – manchmal im selben Beet – da kann natürlich auch das Böse seine Wurzeln ausbreiten.
Es gibt Menschen, die werden 90 Jahre alt ohne ein einziges Mal ernstlich krank gewesen zu sein. Und es gibt Kinder mit Krebs. Manchmal in einer Familie.
Wo Menschen großes Leid erfahren, da erleben sie zugleich auch eine große Sinnlosigkeit. Wer leidet fragt nach dem Sinn. Das Gegenteil der Sinnlosigkeit wäre eine verstehbare Ordnung der Dinge dieser Welt. Doch wer kennt die schon?
Es gibt soviel Leid in der Welt. Warum?
Menschen wollen verstehen. Bedeutet Verstehen das Ende des Leidens?
Warum gibt es das Böse auf dieser Welt? Warum existieren Leid und Trauer neben Glück und Lebensentfaltung? Warum lässt Gott das zu?
In unserem heutigen Predigttext aus Römer 9 (Verse 14-24) versucht Paulus, so scheint es, eine Antwort auf diese so genannte „Theodizee-Frage“, auf die seit jeher drängendste aller Menschheitsfragen, zu geben. Hören Sie die Textstelle aus dem Römerbrief:
Predigttext: Römer 9, 14-24
14) Was sollen wir nun hierzu sagen? Ist denn Gott ungerecht? Das sei ferne! 15) Denn er spricht zu Mose: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“
16) So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen. 17) Denn die Schrift sagt zum Pharao: „Eben dazu habe ich dich erweckt, damit ich an dir meine Macht erweise und damit mein Name auf der ganzen Welt verkündigt werde.“
18) So erbarmt er sich nun, wessen er will und verstockt, wen er will.
19) Nun sagst du zu mir: Warum beschuldigt er uns dann noch? Wer kann seinem Willen widerstehen? 20) Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so? 21) Hat nicht ein Töpfer Macht über den Ton, aus demselben Klumpen ein Gefäß zu ehrenvollem und ein anders Gefäß zu nicht ehrenvollem Gebrauch zu machen? 22) Da Gott seinen Zorn erzeigen und seine Macht kundtun wollte, hat er mit großer Geduld ertragen die Gefäße des Zorns, die zum Verderben bestimmt waren, 23) damit er den Reichtum seiner Herrlichkeit kundtue an den Gefäßen der Barmherzigkeit, die er zuvor bereitet hatte zur Herrlichkeit.
24) Dazu hat er uns berufen, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden.
Liebe Gemeinde,
Im Blick auf Paulus Argumentation in unserem Predigttext fühle ich mich kurzzeitig geneigt, seine eigene Formulierung vom Anfang auf ihn anzuwenden: „Was sollen wir hierzu sagen? - Ist denn der Apostel noch zu retten?!“ Da wird uns doch ein unsägliches frommes Geeier serviert von Erwählung und Verwerfung, von Verstockung der einen und Erbarmen gegenüber den anderen, vom Zorn und von der Geduld des zornigen Gottes. Da wird uns gesagt, dass es hinsichtlich der Frage, wie wir – im doppelten Sinn des Wortes – „bei Gott ankommen“ können, nicht „an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen“ liege. Aber wo von Gottes Erbarmen als der nicht selbstverständlichen Ausnahme die Rede ist, da muss man logischerweise auch an seine Unbarmherzigkeit als dem Regelzustand denken. Wo Gnade im Spiel ist, da muss es Verwerfung geben...
Es gibt halt „solche und selle“, wie der Schwabe sagt – „Gefäße zum ehrenvollen und solche zu nicht ehrenvollem Gebrauch“ und Paulus will uns weiß machen, das sei auch alles in Ordnung so...
Aber wehe, wenn einer die persönliche Schlussfolgerung aus all dem ziehen und sich moralisch verteidigen wollte: „Warum beschuldigt Gott uns dann noch? Wer kann seinem Willen widerstehen?“, dann heißt es plötzlich: „Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so?...“
Hand auf´s Herz, liebe Gemeinde, es ist schon ein abenteuerliches Omelette, was uns der Speisenmeister aus der Gerüchteküche Gottes da zum Schlucken auf den sonntäglichen Frühstücksteller gehauen hat. Und auch wenn uns am Schluss mit der Zusage, dass Gott gerade uns erwählt habe, um seine Herrlichkeit an uns kundzutun, gewissermaßen noch ein versöhnlicher Schuss Tomatenketchup über alles gegossen wird, so kann das doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese ganze geistliche Eierspeise zum Himmel stinkt! Denn wer von uns die Freude über seine eigene Heilsberufung nicht mit Schadenfreude angesichts des Scheiterns der Vielen verwechselt, der muss ja bei diesem moralischen „Welt-Gericht“ den Appetit auf das Reich der Gerechtigkeit Gottes verlieren, stimmt´s?
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir die paulinische Frage: „Ist Gott (etwa) ungerecht?“ schlicht mit „Ja“ beantworten. So gesehen. Denn als sportsmännisch gesinnte Mitteleuropäer gilt für uns die Devise: Jeder soll seine (gerechte) Chance haben! Und davon kann hier ja wohl nicht die Rede sein...
Nein, liebe Gemeinde, Paulus löst unser Problem, die große Lebensfrage der zivilisierten Menschheit auch nicht. Die immer wieder neu anbrandende Frage: warum gibt es das Unheil auf dieser Welt, warum gibt es Menschen, die (ungestraft) Böses tun und solche, die (unschuldig) Böses erleiden müssen?... – XY ungelöst!
Das ist indes nicht verwunderlich, denn die Frage nach dem Warum des Leides und der Ungerechtigkeit in der Welt ist per se nicht beantwortbar, weil sie nach einer logischen Erklärung für etwas verlangt, was mit der Frage bereits als unlogisch gekennzeichnet wurde, indem sie nach dem Sinn des Sinnlosen und dem Guten an der Existenz des Bösen fragt.
Paulus war ein extrem kluger Kopf. Er wusste natürlich um das Paradox der Theodizeefrage. Wenn er uns jetzt mit dieser faulen Eierspeise einer „doppelten Erwählung“ kommt – die einen ins Töpfchen, die andern ins Kröpfchen – dann sicher nicht in der Annahme, dass damit all unsere Fragen beantwortet und alle Zweifel beseitigt wären. Die paulinische Erwählungs-Theologie ist kein weltanschauliches Pauschalangebot für den Gewissensurlaub der Gesunden und Erfolgreichen. Vielmehr gibt uns der Apostel damit den einen entscheidenden Hinweis. Er sagt: Der Töpfer hat Macht, aus demselben Klumpen Ton einen Abendmahlskrug und einen Nachttopf zu machen, ein Gefäß zu ehrenvollem und eines zu unehrenvollem Gebrauch. In seiner Hand liegt es - aber auch in SEINER Verantwortung!
Mit Blick auf unsere Frage nach dem Sinn des Leides und des Bösen in der Welt heißt das: Es ist dies überhaupt nicht unsere Frage, kein Problem, zu dem wir die Lösung finden könnten oder gar müssten. Mit anderen Worten: „Das Leid der Welt“ geht uns nichts an. Es ist Gottes Sache. Sache seines Erbarmens!
Das ist nun allerdings ein entlastender Gedanke, denn unter der Einsicht, dass es nicht unsere Aufgabe als Menschen ist, die Welt als solche in den Status der Gerechtigkeit und des allgemeinen Glücks zu bringen, finden wir uns befreit von der Gefahr, alles zu vermasseln. Wir müssen nicht Gott sein! Uns nicht seinen Kopf zerbrechen!
Oder mit Paulus gesagt: Das Werk darf Werk bleiben, sein Recht als dasjenige, zu dem es bestimmt wurde, ist nicht zu diskutieren. „...Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so?“
Der Mensch, der da nicht mit Gott rechten soll, ist zugleich auch befreit von der Notwendigkeit, immer Recht kriegen zu müssen. Denn das Recht ist Gottes Sache. Sache seines Erbarmens! „...Denn er spricht zu Mose:“, sagt Paulus, „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen. ... So erbarmt er sich nun, wessen er will und verstockt, wen er will.“
Liebe Gemeinde, wir müssen das festhalten: Die Frage von Recht und Unrecht, Glück und Leid auf dieser Welt ist letztlich nicht in unsere Verantwortung gestellt, sondern in Gottes Erbarmen. Wir dürfen sie daher vertrauensvoll aus der Hand geben. - Andererseits stockt uns noch immer der Atem bei dem Gedanken, dass Gott tatsächlich eigenhändig Menschen verstocken soll, um sie anschließend zu verwerfen...(?)
Unsere Empörung ist normal und keineswegs verwerflich. Dennoch sollten wir uns auch vergewissern, was es bedeutet, wenn Paulus das Erbarmen Gottes als Maßstab seiner richterlichen Entscheidungsgewalt nennt.
Im Lichte des göttlichen Erbarmens bedeutet „Verwerfung“ nämlich nicht wie bei uns Menschen, dass einer einfach auf den Müll oder wie überflüssiger Ballast über Bord geworfen, dem Untergang in einem Meer der Sinnlosigkeit preisgegeben wird, sondern tatsächlich das genaue Gegenteil: einen Spezialfall der Erwählung. – Sie erinnern sich: Selbst zu dem verstockten Pharao, zitiert Paulus, sagt die Schrift: „Eben dazu habe ich dich erweckt, damit ich an dir meine Macht erweise und damit mein Name auf der ganzen Welt verkündigt werde.“
Nicht nur die „Gefäße zu ehrenvollem Gebrauch“ hat der Töpfer erwählt, sondern auch jene zu „unehrenvollem Gebrauch“. Im Ganzen des göttlichen Haushaltes haben auch sie ihren Platz. Was Paulus „Verwerfung“ nennt, ist ein Spezialfall der Erwählung Gottes.
Lassen Sie uns uns also nicht verstockter gebärden als der Pharao... Unsere Aufgabe ist es ja nicht, die Welt von ihren Widersprüchen zu erlösen, sondern sie in ihrer Widersprüchlichkeit zu ertragen! - Keine Widerrede!
Damit rühren wir noch ein letztes Mal an die so genannte Theodizee-Frage. Allerdings in anderer Form. Unser typisch menschliches Problem mit der grundsätzlichen Existenz des Bösen und des Leides in der Welt zeigte sich – wenngleich nicht lösbar, so doch - ab-lösbar von uns: Es ist nicht unser, sondern Gottes Problem. Unsere Aufgabe ist es nicht, die Welt von Unrecht und Leid zu erlösen, sondern sie so wie sie eben ist zu ertragen. Und wohl auch: sie erträglicher zu gestalten! Jeder für sich. Und das ist weiß Gott hart genug. In dieser Welt trägt jeder von uns sein eigenes Lebensbündel. Der eine mehr, der andere weniger.
Erinnern Sie sich: Es gibt Menschen, die haben scheinbar alles, was man sich nur wünschen kann. Und es gibt andere, denen fehlt es an allem. Hungernde Menschen, Unterdrückte, Kriegsgeschädigte, Trauernde, an Leib oder Seele erkrankte Menschen und und und. Manchmal auf dem selben Stückchen Erde. Und sicher auch auf diesem kleinen Stück Kirchenboden.
Jeder dieser Menschen – jeder und jede von Ihnen – stellte sich schon oder stellt sich gerade die Hiobsfrage: „Warum muss Gott gerade mir das antun...?“
So oder ähnlich fragt tatsächlich zunächst jeder von uns, wenn er mit persönlichem Leid konfrontiert wird: „Warum?!“, „Warum mir?...“ Das ist menschlich und legitim. Dennoch ist diese Frage prinzipiell nicht beantwortbar. Weil sie nämlich eigentlich keine Frage ist, sondern eine Anklage. Unser hilfloser Protest gegen die Ungerechtigkeit des Schicksals: „Erkläre Dich, Gott“, wütet unsereiner wie einst Hiob in der Asche, „womit habe ich verdient, was du mir da angetan hast?“ – Und natürlich antwortet Gott nicht.
„Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so?“- feixt im Hintergrund der Apostel...
Es gibt keine Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ unseres eigenen oder überhaupt des Leides. Gleichzeitig können wir sie aber auch nicht so einfach delegieren an die Theologen oder gar an Gott selbst, welcher ja für uns zuständig ist. Außer vielleicht im Gebet um Erbarmen!
Nein, diese Frage kann nur gelöst werden, indem sie überwunden wird. Und da es eine Frage ist, die aus den Tiefen unserer Seele kommt, heißt das: Wir müssen uns selbst überwinden. Überwinden beispielsweise dazu, die Wut unserer Klage umzuformen in Kraft eben zu einem Gebet um Gottes Erbarmen und unser Ertragen. Dadurch geben wir die Frage – unser fragwürdig gewordenes Leben – an Gott zurück. In seine Hände. Denn für´s Erbarmen ist Gott zuständig.
Aber für´s Ertragen wir selbst! Und das ist schwer...
Manche Menschen, die schweres Leid erlebt haben oder noch erleben, überwinden sich selbst auch dadurch, dass sie sich anderen Menschen in deren Leid zu-wenden. Das scheint mir eine besonders edle Form der Antwort auf die Herausforderungen einer zutiefst ungerechten Welt und unseres widerspruchsvollen Daseins darin zu sein. – Nicht nur ethisch gesehen, sondern auch theologisch und sogar vom philosophischen Standpunkt aus betrachtet.
„Leben heißt Problemlösen“, so lautet der Titel eines Buches von Karl Popper. In diesem Titel wird der Tatsache Rechnung getragen, dass es auf der Welt, wie sie nun einmal ist, kein unproblematisches Dasein gibt.
Ja, liebe Gemeinde, wir alle teilen das Schicksal einer gemeinsamen „Erwählung zur Unvollkommenheit“ und die heißt: Menschliches Leben!
Die Mangelhaftigkeit unseres irdischen Daseins, sie ist so etwas wie eine übermenschliche Grundvoraussetzung dafür, dass wir Techniken zur Überwindung des Mangels entwickeln, Strategien der Liebe und der Zuwendung zueinander in unserem jeweiligen Leid usw... Keine kulturelle Entwicklung der Menschheit ohne Leid und Schmerzen! – Und auch: Keine religiöse Entwicklung der Menschen im Geiste der Liebe Gottes ohne die Erfahrung der eigenen Mangelhaftigkeit und des Leides um uns herum...
Die Überwindung der Unvollkommenheit unseres eigenen Lebens besteht nämlich in der Vervollkommnung unserer Mitmenschlichkeit! „...Dazu“, meint Paulus, „hat Er uns berufen, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden!“
Was sollen wir nun hierzu sagen? - Ob da am Ende doch noch so etwas wie eine Antwort auf die alles bewegende Frage - die einzig wahre Hoffnung auf einen „Sinn des Leidens“ – heraufzieht? ...Der Duft einer feinen Eierspeise von apostolischer Hand (?): Als Einzelne schwach und leidend, aber mit- und füreinander stark IM ERBARMEN!
... Zu einem guten Omelette jedenfalls müssen viele Eier zusammenkommen!
Ach, wenn wir unseren Paulus nicht hätten – wie armselig wäre doch der Speisezettel der christlichen Theologie...!
AMEN
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Predigt zu Römer 9, 13-23 von Thomas Oesterle
Liebe Gemeinde,
EINSTIEGSGESCHICHTE
ein Pfarrer hat zu dem heutigen Predigttext einmal folgende Geschichte erzählt:
"In meiner Gemeinde lebte ein frommer Mann und treuer Bibelleser. Abend für Abend las er ein Kapitel aus seiner Bibel und er tat das Jahr für Jahr. Auf diese Weise hatte er schon mehrere Male die Bibel von vorne nach hinten durchgelesen. Und nun erzählte er eines Tages bei einem Besuch dem Pfarrer folgendes: "Es gibt da ein Kapitel Herr Pfarrer, das habe ich erst einmal gelesen." Und welches ist das, fragte der Pfarrer ihn interessiert? "Es ist das 9. Kapitel des Römerbrief. Ich habe es einmal gelesen und seither überschlage ich es grundsätzlich. Was da steht ist mir zu anstößig ich will nichts davon wissen."
Wenn ich nun den Predigttext lese, werden wir vielleicht verstehen, warum dieser Mann zu seiner Haltung kam: Ich lese Römer 9, 13-23
"Es steht von Gott geschrieben: Jakob habe ich geliebt, Esau aber gehaßt.
Was wollen wir nun hierzu sagen? Ist Gott ungerecht?
Das sei ferne. Denn er spricht zu Mose: "Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. So liegt es nun nicht an jemandes wollen oder laufen, sondern an Gottes Erbarmen. Denn die Schrift sagt zum Pharao: Eben dazu habe ich dich erweckt, damit ich an dir meine Macht erweise und damit mein Name auf der ganzen Erde verkündigt werde. So erbarmt Gott sich nun wessen er will und verstockt wen er will.
Nun sagst du zu mir: Warum beschuldigt Gott uns dann noch? Wer kann schon seinem Willen widerstehen?
Ja lieber Mensch, wer bist du denn, daß du mit Gott rechten willst. Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so? Hat nicht zum Beispiel ein Töpfer die Macht über den Ton, um aus demselben Klumpen ein Gefäß zum Schmuck und ein anderes zum unansehlichen Gebrauch zu machen?
Gottes gutes Recht ist es also, seinen Zorn zu erzeigen und seine Macht kund zu tun. Deshalb hat er mit großer Geduld die Gefäße des Zorns ertragen, die zum Verderben bestimmt waren, damit er den Reichtum seiner Souveränität kundtue an den Gefäßen der Barmherzigkeit, die er zuvor bereitet hatte zur Herrlichkeit[1].
PROBLEMANZEIGE
Verstehen sie, liebe Gemeinde, was dem treuen Bibelleser so aufgestoßen war, daß er diese Sätze bei seiner Bibellektüre immer überschlug? Es war ein Wort wie: "Gott erbarmt sich wessen er will, und Gott verstockt wen er will".
Gott ist wie ein Töpfer, dem es frei steht aus demselben Material Gutes und Schlechtes zu machen. Paulus macht das an Beispielgeschichten aus dem Alten Testament deutlich:
So erweist Gott an Mose Gnade über Gnade, während er zugleich den Pharao uneinsichtig macht, als Plagen über sein Volk kommen. Der Pharao wird nur dazu benutzt, um an ihm zu demonstrieren, wie mächtig Gott in seinem Zorn sein kann.
Oder das Beispiel gleich zu Beginn des Predigttextes wo es um Esau und Jakob geht. Da sind zwei Brüder, sogar Zwillinge. Sie haben denselben Vater und dieselbe Mutter und gehören zum selben Volksstamm. Sie sind unter den gleichen klimatischen und geographischen Bedingungen zur Welt gekommen. Und sie sind doch voneinander geschieden. Es ist dabei nicht wesentlich, daß der Esau vielleicht begabter und selbstständiger war als der andere, der eher ein Muttersöhnchen ist. Es ist nicht wesentlich, daß Esau charakterlich besser, einliniger und sympathischer ist, als der andere. Es ist nicht wesentlich, daß Esau ein echter und ehrlicher MENSCH ist, während der andere fragwürdig ist und fragwürdige Methoden benutzt z.B. als er sich den Vatersegen mit einem Linsengericht erschleicht.
Für Paulus sind diese menschlichen Unterschiede alle unwichtig. Wichtig aber - und das ist anstößig, verletzend und ärgerlich - wichtig ist Paulus, dass es heißt: Gott hat zwischen den Beiden, und zwar noch vor der Geburt - einen grundlegenden Unterschied gemacht: "Den Jakob habe ich geliebt, und den Esau habe ich gehaßt."[2] Das was Eltern, die mehrere Kinder haben tunlichst vermeiden sollten, nämlich Unterschiede zu machen, das eine Kind zu lieben und das Andere als Kind 2. Klasse zu behandeln, genau das wird von Gott im heutigen Predigtext gesagt.
Ich denke, ich habe nun hinreichend deutlich gemacht, wo dieser Bibeltext uns Probleme bereitet. Paulus hat diese Worte aber nicht niedergeschrieben, damit wir uns darüber aufregen oder sie ablehnen können, sondern er hat einen ganz bestimmten Hintergrund vor Augen und wenn man diesen Hintergrund versteht, kann man vielleicht auch den Text besser verstehen.
JÜDISCHER HINTERGRUND
In unserem Zusammenhang geht es bei der Unterscheidung von Gottes "Erbarmen" und Gottes "verwerfen" vor allem um die Frage, wer zum Glauben an Christus findet und wer nicht. Paulus verhandelt in den Kapiteln 9-11 des Römerbriefes diese brennende Frage.
Er tut das vor dem Hintergrund, daß er selbst Jude war, und also lange geprägt davon, zu dem von Gott auserwählten Volk zu gehören. Und nun, nachdem er selbst Christ geworden ist, stellt er schmerzlich fest, daß die große Mehrzahl der Juden sich dem Evangelium verschließen. Sie glauben eben nicht, daß in Jesus Christus der Retter der Welt auf Erden gekommen ist, obwohl sie das Evangelium sehr wohl gehört haben. Christus hat mitten unter dem jüdischen Volk gelebt, ihm vorrangig verkündigt, aber er ist anscheinend auf taube Ohren gestoßen. Dagegen hat die Botschaft und das Leben Jesu unter den anderen Völkern, die um die Juden herum leben, unter Griechen und Römern, viel offene Herzen gefunden und Glauben ist gewachsen. Die Frage die sich Paulus nun stellt lautet: "Warum ist das so - warum verschließt sich das auserwählte Volk, das doch das Alte Testament und die Verheißung des Messias kennt, der Versöhnung mit Gott durch Christus?" Paulus ist diese Frage überhaupt nicht nebensächlich er kann schreiben: "Ich habe große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlaß in meinem Herzen, ich selbst wünschte verflucht und von Christus getrennt zu sein, zugunsten meiner Brüder der Israeliten." (Röm. 9, 2-4) Trotzdem bleibt es bei der Ablehnung Christi unter dem jüdischen Volk.
DIE ANTWORT DES PAULUS
Und nun - in unserem Predigttext - gibt Paulus eine schwierige und schwer verstehbare, eine anstößige und ärgerliche Antwort auf die Frage, warum das auserwählte Volk nicht an den Gottessohn glauben kann, der auf Erden gekommen ist. Er sagt: Es ist Gottes Wille und Gottes Tun, daß das jüdische Volk den Glauben an Christus nicht findet. Glaube und Unglaube sind nicht die Folge von Gehorsam oder Ungehorsam gegenüber Gott, sondern eine Lebensform die zum Ausdruck bringt, daß Gott selbst Menschen für das Heil geöffnet oder verschlossen hat.[3] Nun können wir uns gut vorstellen, daß ein Mensch nur mit Gottes Hilfe zum Glauben kommt, daß es Gott selbst ist der einen Menschen für das Heil seiner Seele öffnet. Wenn wir über den Heiligen Geist nachdenken, wird uns das einsichtig.
Aber das problematische an der Aussage des Paulus ist, dass es auch Gottes freie Entscheidung sein kann, Menschen das Heil zu verschließen, dass Gott Menschen vom Glauben abhalten kann. Gott schenkt also nicht nur den Glauben, sondern er macht ihn auch unmöglich. Paulus erreicht mit diesem Gedanken zwar, das von ihm geliebte jüdische Volk zu entlasten - denn es ist nicht seine selbstgemachte Schuld, daß sie nicht an Christus zu glauben vermögen, sondern eine Vorherbestimmung Gottes - aber Paulus belastet mit diesem Gedanken auch das Gottesbild. Deshalb kommt es im Text auch zu den entscheidenden Gegenfragen.
DIE DIATRIBE
Unter formalen, äußerlichen Gesichtspunkten ist der Predigttext aufgebaut wie ein Streitgespräch. So etwas war zur Zeit des Paulus besonders unter den stoischen Philosophen üblich zur Wahrheitsfindung.[4] Zweimal muß sich Paulus mit beißenden Gegenfragen auseinandersetzen.
Gleich zu Beginn, nach dieser Sache mit Esau und Jakob, tritt die erste Frage auf: "Ist Gott dann nicht ungerecht"? Und dann - nachdem Paulus deutlich gemacht hat, daß Gott sich erbarmen kann wessen er will, oder verstocken kann wen er will, kommt natürlich die zweite Frage: "Wenn alles eh' an Gott liegt, warum werden wir dann noch beschuldigt, daß wir nicht glauben können?" Wir merken beim hören sofort: Paulus ist bei seinen harten Behauptungen zumindest so fair, die zentralen Gegenfragen zu nennen und in seinem Brief auch weiterzugeben.
Und wir merken, dass diese Gegenfragen unsere Fragen sind. Von dem der da kritisch die Gottesvorstellung des Paulus hinterfragt, fühlen wir uns eher verstanden, als von Paulus selbst. Das sind die Fragen die uns bewegen: Da sehe ich in die Welt und erkenne, daß der eine immer Glück hat und in seinem Leben so vieles gelingt und daneben einer lebt, der ein ums andere Mal vom Schicksal hart geschlagen wird und ich frage mich: "Ist Gott nicht ungerecht?" Und gleich kommt mir die zweite Frage in den Sinn: "Ist es nicht egal wie ich lebe, auf Gottes Entscheidungen scheint das eh' keinen Einfluß zu nehmen, es liegt nicht an mir ob ich Glück habe oder ein hartes Schicksal."
Diese Fragen sind gut und richtig, denn sie sind Ausdruck unserer Suche nach Sicherheit. Wir wollen sicher sein, daß man das Heil des Leibes und der Seele erhält von Gott, zum Beispiel dadurch sicher, daß wir ein tadelloses Leben führt und aufgrund dessen, eigentlich auch ein gutes Schicksal verdient hätte.
GOTTES SOUVERÄNITÄT
Aber Paulus sagt an dieser Stelle sehr deutlich: "Es liegt nicht an jemandes wollen oder laufen, sondern an Gottes Erbarmen". Paulus sagt damit natürlich auch seinen jüdischen Volksgenossen: "Die Zugehörigkeit zu einer Nation begründet nicht, daß wir von Gott angenommen werden, sondern das entscheidet sich durch Gottes freien und souveränen Willen. Und jedem anderen Menschen sagt er: Gnade kannst du dir nicht verdienen oder erarbeiten, sie wird dir immer und immer wieder geschenkt. Das gibt uns dann selbst die Freiheit in unserem Glauben tolerant zu sein, weil wir ihn als unverdientes Geschenk empfangen. Paulus stellt Gottes Größe und Souveränität heraus, seine Unabhängigkeit von unserem Tun und Wollen. Vielleicht ist das gut, daß wir immer mal wieder auf solche harten Texte hören, weil wir Gott zu lieb, zu niedlich, zu nett gemacht haben und seine Größe und Macht - vor der frühere Generationen noch Ehrfurcht empfanden - immer mehr unterschlagen in unserem heutigen Denken. Und die Souveränität Gottes hat auch einen Vorteil: Bei all dem, was uns treffen kann in unserem menschlichen Leben ist Gott dann derjenige, dem wir danken können und loben dafür, daß er vieles gut gemacht hat, aber er ist auch der, vor dem wir klagen und fragen können, mit dem sich hadern läßt, den man kritisieren kann, wenn er harter Schicksalsschlag uns schier den Boden unter den Füßen nimmt. Ich muß nur bei all' dem auf ihn bezogen bleibt. Es kann entlastend sein, sich nicht selbstquälerisch fragen zu müssen, was habe i c h falschgemacht, sondern mit Gott zu streiten und zu rechten.
HEILSGESCHICHTE
Ein letztes Wort noch zu der Rolle des jüdischen Volkes in Römer 9-11. Wir haben vorher gesagt, daß Paulus denkt, es ist Gott selbst, der dieses Volk davor verschließt an Christus zu glauben. Er wird im weiteren Verlauf des Römerbriefes diese harte Aussage so abmildern, daß er sagen kann: Diese Verstockung Israels hat den Sinn, daß alle Völker dieser Erde von der Botschaft Jesu ergriffen werden. Es kommt dadurch zu einer Entgrenzung des guten Handelns Jesu, daß es nicht auf ein Volk bezogen bleibt, sondern nun zu allen Völkern eilt.[5] Und zugleich ist die Verstockung Israels zeitlich begrenzt. Am Ende der Geschichte kommt es zur Wiederaufrichtung und Annahme des ganzen Volkes Israel durch Christus.[6]
Ich will diese schwierigen heilsgeschichtlichen Gedanken[7] nun am Ende mit einer Erzählung verdeutlichen.
In meiner Vikariatsgemeinde kam in eine Jugendgruppe, die ich dort leitete, ein etwa 14 jähriges Mädchen, die durch die Konfirmandenzeit zur Kirchengemeinde Zugang gefunden hatte. Sie hatte einen rebellischen Kopf und in der Pubertät wehrte sie sich so gegen ziemlich alles, was die Eltern ihr vorgaben und vorlebten. Nun waren ihre Eltern sehr offensiv gleichgültig gegenüber dem christlichen Glauben. Abwertende Äußerungen über das Christentum gehörten am Mittagstisch oft zum Gespräch. Das trieb aber nun dieses rebellische Mädchen gerade in eine christliche Jugendgruppe, eben weil sie anders sein wollte als ihre Eltern. Sie ist über die Jahre zu einer engagierten und überzeugt-glaubenden Mitarbeiterin in der Gemeinde geworden. Inzwischen hat sie einen Mann geheiratet, der auch nichts mit dem Christentum anfangen kann, aber ich vermute einmal, das wird nicht lange so bleiben.
Daß das auserwählte Volk Gottes, die Juden, Christus nicht anerkannte, hat vielleicht dazu geführt, daß barbarische Germanen mit dem Christentum in Verbindung kamen. Die Souveränität Gottes geht manchmal seltsame Wege, aber sie findet zuletzt ihr Ziel. AMEN
[1] Übersetzung angelehnt an E. Käsemann, An die Römer, S.257
[2] vgl. Anm. 1
[3] vgl. O. Hofius, ZTHK 1986, S. 302-304
[4] E. Käsemann, An die Römer, sieht im Predigttext eine Diatribe vorliegen. S.257
[5] vgl. Hofius, a.a.O. S. 307-308 (Zweiter Argumentationsgang)
[6] ebd. 308
[7] Verhältnis von Rechtfertigung und Heilsgeschichte ist die Grundfrage heutiger Exegese von Rm. 9-11 Käsemann a.a.O. S. 245 f