Plädoyer für ein tragfähiges Miteinander - Predigt zu Römer 11,25-32 von Thomas Volk

Plädoyer für ein tragfähiges Miteinander - Predigt zu Römer 11,25-32 von Thomas Volk
11,25-32

Liebe Gemeinde!

Menschen, die so ganz anders sind als wir, lösen nicht selten bei uns ein Kopfschütteln aus.

Wie kann man sich immer noch so jugendlich kleiden. In dem Alter. Aber der 60jährige fühlt sich darin wohl und will nicht immer die alten Sachen auftragen. Und die Witwe geht nicht mehr jeden Tag auf den Friedhof, weil sie mit ihrer Trauer jetzt einfach anders umgehen möchte. Schließlich noch die junge Familie von nebenan, die beschlossen hat, dass der Mann den Haushalt führt, die Kinder täglich zur Kindertagesstätte bringt und sie ihren Beruf beibehält. Da können andere sagen, was sie wollen.

Manchmal können wir uns auch einfach nicht vorstellen, dass andere Menschen einen anderen Lebensentwurf haben oder eine andere Sicht der Dinge, dass andere den Garten nicht so hegen und pflegen, wie wir es tun oder dass Ihnen vieles von dem, was uns wichtig ist, völlig belanglos bleibt.

Und so geben uns solche Menschen sehr gerne die Gelegenheit, über sie zu reden, zu mutmaßen und vielleicht auch zu urteilen. „Wie stellt die sich das denn vor? Wie soll das nur weitergehen? Wie kann man überhaupt nur so leben!“ So lauten nur ein paar der Redensarten, mit denen wir uns allzu gerne über andere auslassen.

Auch in Bereichen, die unseren Glauben und unsere Religion betreffen, gibt es dieses Kopfschütteln. „Also ich könnte kein Buddhist sein“, habe ich neulich an der Haltestelle aufgeschnappt und ich hätte zu gerne gefragt, ob diese Person überhaupt schon einmal einen kennengelernt und nachgefragt hat, was ihm bei dieser Religion wichtig ist und was ihm dabei Halt gibt.

Der heutige Sonntag erinnert uns daran, dass es auch im Verhältnis zu den jüdischen Glaubensgeschwistern immer wieder zu einem Kopfschütteln gekommen ist. Und die 2000 Jahre Christentumsgeschichte haben gezeigt, dass es nicht nur bei abfälligen Gesten geblieben ist.

Dieser 10. Sonntag nach Trinitatis steht übrigens bewusst in zeitlicher Nähe zu zwei Ereignissen, die das Judentum bis in ihre Grundfesten erschüttert haben.

Am Vorabend des 9.Aw - das ist im jüdischen Kalender der 11. Monat des Kirchenjahres und fällt meistens in die Zeit von Juli oder August - im Jahre 586 vor Christus ist der erste Tempel in Jerusalem von den Babyloniern zerstört worden.

Am 9.Aw des Jahres 70 brannten römische Truppen den zweiten Tempel nieder.

Außerdem wurden genau an diesem 9.Aw des Jahres 1290 sämtliche Juden für nahezu vier Jahrhunderte aus England vertrieben, die erste vollständige Ausweisung einer jüdischen Gemeinde aus einem europäischen Land.

Das Schriftwort des heutigen Sonntags nimmt daher auch die jüdischen Glaubensbrüder in den Blick. Es führt uns zurück in die Anfänge, in der sich beide Glaubensrichtungen zum ersten Mal bewusst wahrgenommen haben.

Und bereits zurzeit des Apostels Paulus hat das Kopfschütteln auf Seiten der Christen begonnen. „Wie kann man nur den Glauben an Jesus, als den Christus, ablehnen? Wie kann man immer noch an dem alten Bündnis festhalten? Und wie kann man die Worte der Apostel einfach so ignorieren?“

Paulus hat, ohne es vielleicht zu wollen, auch selbst dazu beigetragen, dass die Gräben zwischen Juden und Christen größer und tiefer geworden sind. Als sich die christliche Botschaft über Israel hinaus verbreitet hat, sind auch immer mehr Nichtjuden - in der Sprache der Bibel „Heiden“ - Christen geworden. Die Frage ist aufgekommen, ob sie, wenn sie den christlichen Glauben annehmen, zuvor - sozusagen als Zwischenschritt - Juden werden müssen? Paulus hat diese Frage mit einem großen „Nein!“ beantwortet. Sie können sich ohne Umweg gleich taufen lassen. Und die jüdischen Vorschriften sind für sie nicht mehr bindend.

Nachdem Paulus diese Festlegung getroffen hat, will er nach Rom. Dort leben Juden und Christen zusammen. In einer Gemeinde. Die Juden in Rom kennen ihn nicht. Und die Christen, die es dort wohl schon gegeben hat, auch nicht. Mit diesem Brief will er sich nicht nur selbst vorstellen, sondern vorab auch darlegen, wie er die Sache mit den jüdischen Glaubensgeschwistern sieht. Auch wenn beide Seiten sich immer mehr voneinander entfernen, möchte er vermeiden, dass die einen über die anderen nur den Kopf schütteln oder sie gar missbilligen. Und er hat sich abschließend Gedanken gemacht, wie das Verhältnis von Juden und Christen zu denken ist. Das Ergebnis findet sich im Römerbrief, im 11. Kapitel, in den Versen 25-32:

25 Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist;

26 und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): „Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob.

27 Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.“

28 Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen.

29 Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.

30 Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams,

31 so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen.

32 Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

Diese Zeilen sind der Abschluss eines dreikapitellangen Ringens des Apostels um das Schicksal Israels. Und sie beginnen gleich mit einem Einwand: „Damit ihr euch nicht selbst für klug haltet …“ (V.25).

Das hat es ganz bald gegeben, dass sich Christen für klüger gehalten haben, auf ihre Glaubensgeschwister herabgeschaut und den Kopf geschüttelt haben. Wie kann man nur an all den Geboten, die der jüdische Talmud mit 613 beziffert, festhalten? Unsere Grundlage ist alleine der Glaube an Jesus, den Sohn Gottes und erhofften Messias.

All denen, die schon damals auf das Judentum herabgeschaut haben, sagt Paulus ganz deutlich: Gott ist und bleibt seinem einst erwählten Volk treu. Er hält seine Zusagen, die er vor langer Zeit Abraham, Isaak und Jakob gegeben hat. Der alte Bund ist nicht aufgelöst. Und Israel wird einmal ebenso gerettet werden wie die anderen, die zum Glauben an Jesus Christus gekommen sind. Das ist der Dämpfer für die, die sich für so klug halten und über die jüdischen Glaubensgeschwister nur ein Kopfschütteln übrig haben.

Paulus geht sogar noch einen Schritt weiter: Er macht beiden klar, dass die Rettung der einen an der Rettung der anderen hängt. Das Schicksal der Juden ist mit denen der Christen eng verbunden. Ohne den anderen käme niemand zum Ziel. Juden und Christen sind für Paulus wie zwei unterschiedliche Pilger auf einem Weg.

Er stellt klar: Ohne Juden würde es Christen gar nicht geben. Wenn also die Verheißungen an Abraham niemals ergangen wären, würde es logischerweise auch keine Christen geben.

Und ohne Christen wiederum würden Juden wohl ewig „einschlossen“ sein (V.32). Weil sie das Evangelium an Jesus Christus abgelehnt haben und so - wie Paulus mit der Sprache seiner Zeit formuliert - „ungehorsam“ geworden sind (V.31), ist überhaupt erst der Weg dafür offen, dass andere Völker es annehmen können und somit auch Heiden zum Glauben an Gott kommen, die vorher von Gott nichts gewusst haben und auch gar nichts wissen konnten.

Das sind, liebe Gemeinde, schwere und komplizierte Gedankenwege an einem Augustsonntag. Und ich merke bei mir selbst: So wichtig diese Klärungen in dieser Anfangszeit vor 2000 Jahren gewesen sein mögen, so sehr haben sie aber auch ihre Zeit gehabt.

Paulus damals hat den Blick auf das Ende gerichtet. Auf die damals brennende Frage, wer Gewissheit haben kann, auf Ewigkeit mit Gott verbunden zu sein, in dessen ewigem Reich es übrigens keine Religionen, keine Konfessionen und auch kein Kopfschütteln mehr geben wird.

Wir heute können es uns einfach nicht mehr leisten mit einem uns zufriedenstellenden Erlösungsplan in der Tasche auf den großen Tag X zu warten, aber die aktuellen und brennenden Fragen unserer Zeit außen vor zu lassen.

Eine dieser Fragen ist die, wie so viele Andersdenkende, Anderslebende und Andersglaubende miteinander in einem erträglichen Frieden leben können, in dem man sich abends sicher schlafen legen und gewiss sein kann, dass den Kindern eine gute, weil sichere Zukunft bereitsteht.

Wir müssen uns heute auch nicht mehr damit beschäftigen, wie es leider bis in unsere Zeit immer noch geschieht, wie wir Juden und andere Glaubensgemeinschaften davon überzeugen können, dass der christliche Glaube doch viel besser sei und alle anderen das doch endlich einsehen müssten. Das Schicksal einiger Jesiden, einer kurdisch sprachigen religiösen Minderheit, die in diesen Tagen vor die Wahl gestellt wurde, sich entweder zum Islam zu bekehren oder getötet zu werden, hat auf drastische Weise deutlich gemacht, wie verfehlt alle Versuche sind, anderen ihren Glauben abzusprechen. Was immer Gott mit Christen, Juden und Muslimen, mit Menschen aus ganz unterschiedlichsten religiösen und kulturellen Ausprägungen vorhat, können wir getrost ihm überlassen.

Zu der großen Aufgabe, wie wir es schaffen können, dass von uns und unserem Glauben Frieden ausgeht, gehört für mich als erstes die Frage, warum wir eigentlich so oft damit beschäftigt sind uns mit anderen und ihrem Anderssein zu befassen. Anstelle sich darüber Gedanken zu machen, wie andere leben und was andere glauben, ist es gut sich selbst zu fragen:

Wie geht es eigentlich mir? Bin ich unzufrieden? Mit meinem Leben? Mit meinem Glauben? Welche Mosaiksteine von meinem Lebensbild gehören vielleicht ausgetauscht oder anders gelegt?

Wovon will ich bei mir ablenken, wenn ich immer auf andere schaue und ihre Sicht der Dinge schlecht reden muss?

Und wie sehr trägt mein Glaube mich? Ist vielleicht manches zur Routine erstarrt oder zur bloßen Gewohnheit geworden? Können andere an mir ablesen, welche Kraft mich trägt und welcher Schwung mich beflügelt?

Überhaupt, wie sehr sehe ich immer nur den Splitter bei den anderen und die dicken Balken bei mir schon längst nicht mehr.

Ich finde, dass diese Fragen, die jede und jeder für sich selbst durchbuchstabieren kann, eine sinnvolle Alternative zu allem Kopfschütteln sind, damit wir nicht überheblich werden oder viel zu kurzsichtig in unseren Gedankengängen bleiben. Und - egal zu welcher Zeit - Überheblichkeit ist immer eine Gefahr, eine Gefahr die zur Bedrohung, auch lebensbedrohlich werden kann. Die Geschichte zwischen Christen und Juden hat es beschämend gezeigt.

Ich lese aus dem umfassenden Römerbrief immer wieder heraus, dass alle Menschen unfähig sind, so zu leben, wie Gott es sich gedacht hat. Aber alle Menschen können dem unbedingten Willen Gottes sicher sein, dass er ihnen immer wieder einen neuen Anfang geben und einen frischen Morgen schenken möchte. Denn Gott möchte nicht nur uns selbst immer wieder aufmuntern, das eigene Leben mit viel Aufbruchfreude anzugehen, sondern darüber hinaus auch den Blick schärfen, dass durch uns das Netz der Verbundenheit fest wird und tragfähig bleibt.

Und der Friede Gottes, der umfassender ist als jede Enge und alles zu kurze Sehen, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Perikope
24.08.2014
11,25-32

Predigt zu Römer 11,25-32 von Axel Denecke

Predigt zu Römer 11,25-32 von Axel Denecke
11,25-32

I

Wie merkwürdig! Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich in meiner Jugend (so in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, ich fing gerade an Theologie zu studieren)  am sog. „Israelsonntag“ (den gibt es am 10.n.Trin. seit Jahrhunderten schon) immer davon gehört habe, wir Christen müssten „Israel“ zum rechten Glauben bekehren, wir müssten sie missionieren, damit sei endlich auch den „Herrn Jesus“ finden. Denn sie sind „Feinde“ und „Verächter“ des christlichen Glaubens. So habe ich damals gehört. Das war gang in gäbe in jeder Predigt, ob der Pastor (Pastorinnen gab es damals noch kaum) nun konservativ oder liberal war. Egal, so sagte es jeder, hatte es auf der Uni so gelernt. Wir merkwürdig! Es kommt mir heute so vor, als wäre das wie aus einer andren Welt! So redet doch heute keiner mehr! Oder? Vielleicht heute nicht, noch nicht, aber was ist morgen oder übermorgen? Wer weiß, wie in 100 Jahren von „den Juden“ am Israelsonntag wieder geredet wird. Daher ist es gut und notwendig, heute –gerade heute, ich hab in Gedanken den realpolitischen Gaza-Konflikt durchaus mit im Sinn- an die untrennbare Verbindung von allen Menschen, uns Christen insbesondere, mit den Juden und mit Israel zu erinnern. Ja, immer neu erinnern müssen wir daran, damit es nie in Vergessenheit gerät.

Heute am Israel-Sonntag werden wir Christen daran erinnert, dass wir in unserem Glauben untrennbar verbunden sind mit dem jüdischen Volk und mit dem jüdischen Glauben. Untrennbar! Denn es gäbe gar kein Christentum, wenn es das Judentum nicht gäbe. Lange Zeit haben wir das vergessen oder auch nicht wahrhaben wollen. Erst seit den furchtbaren Ereignissen des Holocaust (Auschwitz, Treblinka, Bergen-Belsen, Theresienstadt) ist uns das bewusst geworden. Erst seitdem haben wir Christen uns neu darauf besonnen, dass unser Glaube aus dem jüdischen Glauben gewachsen ist, obwohl man es  –wenn man nur ein bisschen in die Bibel hineinschaut- eigentlich wissen müsste, so wie es der Klosterbruder in Lessings Schauspiel „Nathan der Weise“ in schmerzlicher Trauer sagt: “Es hat mich Tränen genug gekostet, wie Christen so sehr vergessen konnten, dass unser Herr ja selbst ein Jude war“. Unser Herr, also „unser Herr Jesus“, er war Jude und kein Christ. Er ist als Jude geboren, Sohn der Jüdin Miriam und des Juden Joseph, er hat als Jude gelebt, mitten in seinem jüdischen Volk, er ist als Jude gestorben „INRI – Jesus von Nazareth, König  der Juden“ – er ist in Galiläa und Jerusalem, im heutigen Israel/Palästina seinen Jüngerinnen und Jüngern als Auferstandener erschienen, seine erste Gemeinde bestand nur aus Juden, der große Volkerapostel Saulus/Paulus – er war Jude und blieb auch als Jesus-Gläubiger Jude bis zu seinem Tode. So ist es, ist es einfach. All dies ist in der Bibel nachzulesen. Wie sonderbar, dass wir es über lange Jahrhunderte überlesen oder vergessen oder verdrängt oder als unwichtig erachtet haben. Grund genug, uns heute, am Israel-Sonntag, mit aller Deutlichkeit daran zu erinnern.

II

Paulus selbst, der jesus-gläubige Jude, erinnert uns im heutigen Predigttext ganz entschieden daran. In drei Kapiteln des Römerbriefes (Kap 9-11) beschäftigt sich Paulus ausführlich mit dem Verhältnis zwischen Juden und Christen, zwischen Israel und Kirche. Er selbst leidet darunter schmerzlich, dass nicht alle seine Schwestern und Brüder an Jesus glauben. „Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe. Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammesgenossen sind nach dem Fleische, die Juden sind, von denen Christus herkommt nach dem Fleisch, („wenn ich sie doch für den Herrn gewinnen könnte)“ (Röm 9,1-5) – so beginnt er sein drei Kapitel langes Ringen um die Liebe seines Volkes. Wer das ganze in einem Zug liest, der wird merken, wie Paulus hier an sich selbst leidet, wie es ihm im Innersten trifft, dass Juden und Christen unterschiedliche Wege gehen. Und es trifft ihn vor allem auch, dass die Christen (in Rom und anderswo) jetzt überheblich sagen. „Wir haben die Wahrheit! Gott ist mit uns! Gott hat Israel verlassen, weil sie Jesus als ihren Herrn nicht anerkennen. Das Heil ist von den Juden auf uns Christen übergegangen, die Kirche hat die Synagoge abgelöst und bewerbt.“ NEIN – möchte Paulus aufschreien. So ist es nicht, ganz im Gegenteil. “Kindschaft“ und „Herrlichkeit“ und „Bund“ und „Gesetz“ und „Gottesdienst“ und „Verheißungen“ bleiben bei den Juden (Röm 9,4) – sie werden durch Jesus nicht ausradiert, sie bleiben. Und es besteht für uns Christen absolut kein Grund, überheblich zu meinen, mit uns finge nun alles neu an, erst richtig an (so wie ja ganz äußerlich unsere allgemeine Zeitrechung mit ‚Christus’ –vor und nach Christus- beginnt). Nein, es hat schon  1000, ja fast 2000 Jahre früher angefangen, mit Mose und den Propheten, in deren Tradition auch Jesus steht. Paulus führt das in den weiteren Kapiteln mit vielfältigen Beispielen aus. Direkt vor unserem heutigen Predigttext steht  am Ende seines langen Gedankenweges das berühmte Ölbaumgleichnis: „Nicht du (Christ) trägst die Wurzel, sondern die Wurzel (Israel) trägt dich“ (Röm 11,18). Dabei macht Paulus unüberhörbar deutlich macht, wie Judentum und Christentum, Israel und Kirche untrennbar miteinander verbunden sind und dass dabei Israel die Priorität zukommt.

Hören wir auf diesem Hintergrund (noch einmal?)  den Predigttext,  (Röm 11,25-32  vorlesen, vielleicht in einer neueren Übersetzung; bei einer traditionellen Übersetzung empfehle ich die „Zürcher Bibel“).

III

Von einem „Geheimnis“ spricht Paulus ganz bewusst. Ja, es ist ein Geheimnis, das Juden und Christen –ob ihnen das lieb ist oder nicht, ob sie es leugnen oder bejahen- untrennbar miteinander verbunden sind. Lange Zeit haben wir Christen dieses „Geheimnis“ vergessen oder gering geachtet. Leider hat Martin Luther am Ende seines Lebens mit seinen Wutausfällen gegen die Juden ordentlich dazu beigetragen (in seiner Jugend hatte er noch davon gesprochen, „dass unser Herr Jesus ja ein geborner Jude war“ und die Juden die natürlichen Brüder Jesu sind, wir nur die später dazu gekommenen) Die „gnadenlosen Folgen so eines fehlgeleiteten christlichen Glaubens“ sind uns ja mit all den Judenverfolgungen während der letzten 2000 Jahre bis hin zu ihrem Höhepunkt im Dritten Reich nur allzu bewusst. Hoffentlich noch bewusst! Ja, es ist in der Tat ein „Geheimnis“, dass Juden und Christen untrennbar zusammengehören, dass es ohne das Judentum kein Christentum gäbe. Doch: Ist es wirklich ein Geheimnis? Es ist nicht ganz offensichtlich, dass es so ist?

Wenn Paulus hier von einem „Geheimnis“ spricht, so eben deswegen, weil er vom „Geheimnis“ Gottes spricht, der allen Menschen, wirklich allen, Christen und Juden, und sicher auch allen anderen, gnädig gesonnen ist, dass er alle Menschen „ohne Ansehen der Person“ (Röm 2,11) in gleicher Weise achtet und schätzt, ja einfach liebt. Alle! Und es gibt keinen Grund, das sich dabei einer über den anderen erhebt, in Paulus Worten: „… damit ihr euch nicht für klug haltet… Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen“. Mag also sein, ja natürlich, dass „Israel“ (Paulus gebraucht ganz bewusst diesen Ausdruck) „im Blick auf das Evangelium (nicht im Blick auf uns Christen!) zwar Feind“ ist, mag also sein, dass „einem Teil Israels… Verstockung widerfahren“ ist, dass „Israel“ also den richtigen Glaubensweg zu Gott zum Teil verlassen hat, mag alles sein, das ändert aber nichts daran, dass sie „im Blick auf die Erwählung Geliebte um der Väter willen sind“. Geliebte sind sie, ja Geliebte Gottes, auch wegen aller Gräueltaten, die wir an ihnen geübt haben – und trotz aller Gräueltaten, die heute von einem Teil Israels in der Realpolitik geübt werden. Unverzichtbar und unwiderrufbar Geliebte Gottes.  Das ist das „Geheimnis“ Gottes, an das Paulus erinnert und dass uns Christen eigentlich –eigentlich!- ganz offenbar sein sollte.

Was das konkret bedeutet, habe ich bei einem Israelkenner gelesen. Er sagt von sich: „Als ich darauf aufmerksam wurde, wie selbstverständlich wir Christen uns an Israels Stelle gesetzt haben und uns als Volk Gottes fühlten, fragte ich mich: Wenn Gott Israel verstoßen haben sollte, weil es den Glauben verweigert, wie wird es wohl uns Christen ergehen, wenn wir dasselbe tun? Warum sollte  Gott ausgerechnet an uns festhalten, wenn er seinen ‚erste Liebe’ aufgegeben haben sollte?  Würde er uns nicht geradeso fahren lassen? Es konnte einem angst werden bei diesem Gedanken! Darum war es eine befreiende Entdeckung für mich, als ich bei Paulus lernten, dass Gottes Treue größer ist als Israels Nein zu Jesus als dem Christus. Denn dadurch dürfen wir hoffen und glauben, dass Gottes Treue auch größer ist als unser, der Christengemeinde, Ungehorsam und Untreue“.

Ja, dem kann ich nur voll zustimmen. Und so mit dem letzten Vers unseres Predigttextes, das wahre „Geheimnis“ Gottes und unseres Glaubens an ihn, schließen: „Denn Gott hat alle (alle! auch uns Christen, auch alle Nicht-Christen, alle!) eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller (aller!, der Juden, der Christen, der Nicht-Christen, eben aller!) erbarme“. Dass wir das endlich im Umgang miteinander begreifen, in Herz und Seele aufnehmen und danach handeln, das ist das „Geheimnis gelungenen Lebens“, das Geheimnis des Glaubens und das Geheimnis des Friedens miteinander.

 

Perikope
24.08.2014
11,25-32

Die christliche Unterscheidung - Predigt zu Römer 6,19-23 von Matthias Wolfes

Die christliche Unterscheidung - Predigt zu Römer 6,19-23 von Matthias Wolfes
6,19-23

Die christliche Unterscheidung

„Ich muß menschlich davon reden um der Schwachheit willen eures Fleisches. Gleichwie ihr eure Glieder begeben habet zum Dienst der Unreinigkeit und von einer Ungerechtigkeit zur andern, also begebet auch nun eure Glieder zum Dienst der Gerechtigkeit, daß sie heilig werden. Denn da ihr der Sünde Knechte wart, da wart ihr frei von der Gerechtigkeit. Was hattet ihr nun zu der Zeit für Frucht? Welcher ihr euch jetzt schämet; denn ihr Ende ist der Tod. Nun ihr aber seid von der Sünde frei und Gottes Knechte geworden, habt ihr eure Frucht, daß ihr heilig werdet, das Ende aber ist das ewige Leben. Denn der Tod ist der Sünde Sold; aber die Gabe Gottes ist das ewige Leben in Christo Jesu, unserm HERRN.“ (Jubiläumsbibel 1912)

Liebe Gemeinde,

es ist dem Apostel bitterer Ernst; sein Ton läßt daran keinen Zweifel. Und das entspricht auch dem, was er zu sagen hat: Es geht um „die letzten Dinge“ des religiösen Lebens, um die Grundunterscheidung schlechthin, um das „Entweder – Oder“ des Glaubens.
Scharf fährt Paulus die römischen Christen an: Um der „Schwachheit eures Fleisches willen“ muß er „menschlich“ reden. „Menschlich reden“ heißt hier: Sie damit konfrontieren, daß sie den „Dienst der Unreinigkeit“ versehen und darin „von einer Ungerechtigkeit zur anderen“ schreiten.

I.

Nun kann man sich fragen, wie der Apostel dazu kommt, den Christen der römischen Gemeinde solche Vorwürfe zu machen. Er schreibt von Korinth aus, und was er von den Glaubensgeschwistern der Kapitale wissen kann, dürfte wenig genug gewesen sein. Es empfiehlt sich daher, ruhig an die Sache heranzugehen. Worum es Paulus wirklich geht, ist nicht die Analyse eines faktisch verfehlten Lebens. Er will vielmehr der Mahnung, die er an diesen finsteren Auftakt anschließt, um so größeren Nachdruck verleihen. Und hier ist denn nun von der großen Unterscheidung die Rede. Es ist die Unterscheidung zwischen einem Leben, das aus sich selbst heraus geführt wird, und einem solchen, das sich der Bindung an Gott unterwirft. Im ersten Fall ist der Selbstverlust die unausweichliche Folge, im anderen aber gewinnt man sich selbst in Gestalt des „Ewigen Lebens in Christo Jesu“.
Diese Schlußfolgerung – Tod oder Ewiges Leben als Konsequenz des geführten Lebens – mag uns nun erscheinen wie eine rhetorisch etwas aufgeblähte Interpretation klassischer Weisheit. Es ist ja klar, daß es sich um Chiffren handelt, und von hier aus stünde der Weg offen, den ganzen Komplex „Tod“ als Inbegriff eines sinnlosen, irregeleiteten Lebens zu verstehen, während sich der Gegenbegriff auf eine sinnvolle, erfüllte, bedeutsame Existenz richtet, zu der die Kraft aus dem Vertrauen auf Gott erwächst.

II.

Mir kommt es aber heute auf etwas anderes an. Ich möchte das Gewicht auf die rednerische Ausführung legen, in der Paulus seinen Gedanken ausdrückt. Er demonstriert, daß wir die Wirklichkeit in Gegensätzen deuten. Was „Gerechtigkeit“ ist, verstehen wir aus dem Gegensatz von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. „Heilig“ bekommt seinen Sinn aus dem Gegensatz von Heilig und Unrein. „Sünde“ erwächst aus orientierungsloser Ungebundenheit; als „Knecht Gottes“ aber ist man von ihr frei. Doch nicht an dieser dualistisch anmutenden Konstruktion ist Paulus interessiert. Er trägt seine Gegensätze vor, um die Gegensätzlichkeit als solche in ihrer daseinsbestimmenden Endgültigkeit offenzulegen. Er spricht von definitiven Bestimmungen des menschlichen Daseins, und diese Bestimmungen lauten „Tod“ und „Ewiges Leben“.
Der Ungerechtigkeit, der „Unreinigkeit“ der Sünde (im Sinne von Verlorenheit an das Bedeutungslose), entspricht als endgültige Daseinsbestimmung der Tod. Im Gegensatz dazu ist das „Ewige Leben“ der Gerechtigkeit, der Heiligkeit (im Sinne eines verantwortlich und sittlich anspruchsvoll geführten Lebens) und der Bindung an Gottes Herrschaft zugeordnet.

III.

In „Christo Jesu“ ist das Ewige Leben aber deshalb, weil Christus das Urbild, der Inbegriff aller moralischen und göttlichen Vollkommenheiten und also der Begriff der Menschheit schlechthin ist. Er ist der reine, sündlose Mensch, angeschaut unmittelbar als eine Person, als Individuum.
Die radikale und in gewisser Weise geradezu dramatische Szenerie, die Paulus entwirft, setzt eine eigentümliche Sicht auf die Welt voraus. Nicht nur lebt der Christ in ihr wie ein Gast, wie ein kurzfristiger Besucher; sondern das Ende, also die überschaubare Befristung des weltlichen Wesens, ist überhaupt die Grundlage. Wie stehen in dieser Hinsicht dem Ganzen der Wirklichkeit anders gegenüber. Doch scheint es mir bedeutsam und wichtig zu sein, daß wir uns die Unbedingtheit immer wieder vor Augen stellen, mit der der christliche Glaube in seinen Anfangszeiten und dann noch sehr lange unlösbar verknüpft gewesen ist.
Das Wissen vom nahen Weltende bildet den Ausgangspunkt. Es gibt auch den Rahmen für die Deutung Christi vor: Gott ist als Mensch erschienen und damit der Anfang vom Ende der Welt eingeleitet. In dieser Stunde geht es nur noch – das heißt: in aller Ausschließlichkeit – darum, sich dem Urbild möglichst gleichförmig zu machen. Alle weltlichen Bezüge werden gleichgültig; das Streben des Christen ist allein auf Gott und die Realität seines himmlischen Reiches gerichtet.

IV.

Wo das himmlische Leben eine Wahrheit ist, versinkt das irdische Leben in Bedeutungslosigkeit. Das himmlische Leben kann aber nicht Gegenstand meines Glaubens sein, ohne zugleich auch meine Handlungen zu bestimmen. Mein Leben stimmt nur dann mit meinem Glauben überein, wenn ich mich nicht an die vergänglichen, an sich nichtigen und wertlosen Dinge dieser Erde knüpfe.
Das ist der Grundappell des Paulus und einer Vielzahl altkirchlicher und mittelalterlicher Prediger; es ist ein elementarer Zug der klassischen christlichen Predigt. „Auf nichts kommt es so sehr an in diesem Leben wie darauf, es so schnell wie möglich zu überschreiten“ (Tertullian). „Wer das Himmlische begehrt, dem schmeckt nicht das Irdische. Wer nach dem Ewigen verlangt, dem ist das Vergängliche zum Ekel“ (Bernhard von Clairvaux). 
Das ist der Sinn jener Worte über den Gegensatz von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Für Paulus und das klassische Christentum ist ganz klar: Die moralische Beschaffenheit des christlichen Lebens ist bestimmt durch den Glauben an das Ewige Leben. Natürlich ergibt sich hieraus das Modell eines asketisches Lebens, mehr noch aber handelt es sich um die Abkehr von der Welt als solcher.

V.

Paulus ruft auf zu einer bestimmten Form von Askese. Bestimmt ist sie durch die negative Haltung zu allem Weltlichen. Es geht nicht (wie bei Max Webers „Innerweltlicher Askese“) darum, sich im Beruf zu bewähren, sondern entscheidend ist die Ablösung aus den Bindungen der Weltlichkeit an und für sich. Die Welt ist die Antistätte, der Un-Ort christlichen Daseins; sein wahrer Ort ist die himmlische Wirklichkeit, die Gott dem Gläubigen eröffnet. „Der ist vollkommen, der geistig und leiblich von der Welt geschieden ist“ (Bernhard). Nicht nur bei Luther wird dieser Gedanke konsequenterweise bis zu einer wahren Todessehnsucht gesteigert: „Darum sollte man lieber einem Christenmenschen raten, daß sie die Krankheit mit Geduld tragen, ja auch begehren, daß der Tod komme, je eher, je lieber. Denn es ist nichts Nützlicheres einem Christen denn bald sterben.“
Man kann über diese Unbedingtheit der Glaubensauslegung erschrecken, und vielleicht darf man auch nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Aber es ist dennoch dies die Sicht, die sich auch in den Worten des Apostels Paulus an die römischen Christen ausspricht.
Das himmlische Leben und nur das himmlische Leben ist das wahre, das beständige, das ewige Leben des Christen. Ihm gilt es entgegenzustreben, und zwar mit aller Kraft. „Nicht vollkommen sein wollen, heißt sündigen“ (Hieronymus). Die Loslösung muß vollständig sein. „Die in das Paradies aufgenommen werden wollen, müssen davon ablassen, wovon das Paradies frei ist“ (Tertullian).

VI.

Nun hat es keinen Sinn, Maximen dieser Art einzuschärfen, wenn man an einem Konzept verantwortlicher Lebensgestaltung interessiert ist. Und das sind wir; darin unterscheidet sich wohl auch das neuere Christentum in der Tat von dem alten. Wir wollen Christen sein nicht gegen die Welt, sondern in ihr. Wir betrachten sie als die Welt Gottes, wir sehen uns als von Gott in sie hineingestellt, und unsere Aufgaben liegen innerhalb ihrer, nicht in der esoterischen oder sonstwie mystisch angehauchten Erwartung eines himmlischen Lebens. Die Rede vom Paradies erscheint uns verdächtig, wenn sie dazu dienen soll, unsere Stellung innerhalb dieser realen Lebenswirklichkeit zu untergraben und zu vergleichgültigen.
Und dennoch: Das christliche Ethos geht in seinen Wurzeln auf ein Entweder – Oder zurück. Dessen sollen wir uns bewußt sein. Es wirkt sich bis auf uns aus; es ist dies unsere Tradition. Auch das Leben des heutigen, modernen, weltzugewandten Christen verlangt Entscheidungen. Entscheidungen aber setzen Gegensätze voraus, und aus diesen Gegensätzen ist der von Gerecht und Ungerecht gewiß nicht der unbedeutendste. In diesem Sinne ist „Heiligkeit“, „heilig“ zu sein, wie Paulus es sagt, das zeitlose, uns mit den Christen aller Zeiten verbindende Ziel der gläubigen Existenz.

Amen.


Verwendete Medien:
Ulrich Wilckens: Der Brief an die Römer. Teilband 2: Röm 6 – 11) (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament. Band VI / 2), Zürich / Einsiedeln / Köln und Neukirchen-Vluyn 1980.
Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums. Herausgegeben von Werner Schuffenhauer und Wolfgang Harich. Zweite, durchgesehene Auflage (Gesammelte Werke. Band 5), Berlin 1984. Die im Text angeführten Zitate stammen aus Kapitel XVIII der Ausgabe von 1843.


 

Perikope
10.08.2014
6,19-23

Predigt zu Römer 6,19-23 von Karoline Läger-Reinbold

Predigt zu Römer 6,19-23 von Karoline Läger-Reinbold
6,19-23

Liebe Gemeinde,

das ist „Theologie für Liebhaber. Beim Verlesen des Textes ist mit einer hohen Abschaltquote zu rechnen“, seufzt ein Kollege nach der Lektüre dieser Verse. Und: ja, er hat Recht.  Paulus und sein Römerbrief, das ist schwere Kost, manchmal auch für diejenigen,  die das studiert haben. Dabei ist die Lösung des rätselhaften Textes gar nicht so schwer. Mein Vorschlag  lautet so: wir lesen einfach nicht den Paulus selbst, wir lesen einen anderen, einen verwandten Brief. Wann genau er entstand, wissen wir nicht, aber er gehört irgendwie in dieselbe Epoche. Es ist der Brief, den eine junge Frau mit dem Namen Renata an ihre Freundin, eine gewisse Johanne, schreibt. Nehmen wir also an, sie lebte irgendwo in einer kleinen Stadt in Kleinasien. Aber vielleicht ist das auch gar nicht so wichtig.

Renata schreibt:

Liebe Johanne,

nun ist es passiert, die große Verwandlung. Du weißt, ich hatte den Moment schon lange herbei gesehnt, und trotzdem waren da am Ende sehr gemischte Gefühle, vielleicht sogar auch ein bisschen Angst. Es ist so schwer, das alles mit Worten zu beschreiben. Es ist ja das erste und ganz gewiss auch das einzige Mal in meinem Leben, dass sich etwas so radikal ändert. Oder richtiger gesagt: nicht etwas ändert sich, sondern ich bin es, die sich ändert, die diesen großen Schritt geht. Es ist mein größter Wunsch gewesen, und gestern war es dann so weit.

Du weißt, ich habe mich vorbereitet. Es ist mir auch nicht leicht gefallen, ich habe einige Zeit gebraucht, um zu erkennen, was es bedeutet. Alle haben versucht, mir zu helfen und mir zu erklären, was da mit mir passiert. Jede hat aber ihre eigenen Worte gebraucht, und das hat mich verwirrt.

Es ist ein bisschen wie Sterben, hat Dorothea gesagt, einen Teil von dir gibst du auf. Aber das, was da stirbt, was da in dir zu Ende geht, das wirst du niemals vermissen, weil es die dunklen Seiten deines Lebens sind. Es ist das, was du an dir gehasst hast, deine bösen Gedanken, deine negativen Seiten. Es wird abgewaschen wie im Bad, wenn du dich reinigst. Du siehst dem Schmutz hinterher und fühlst dich sauber und neu.

Es ist ein bisschen wie geboren werden, sagte Christiane. Du erblickst das Licht der Welt und du siehst alles ganz neu. Du verlässt den dunklen Raum, der dein Zuhause war, und du kommst in eine unbekannte Sphäre, in der alles klar ist und leuchtet. Du fühlst dich frei und leicht, ganz verändert. Wunderschön.

Und es ist, so sagt Felicitas, als würdest du aus einer Quelle schöpfen, die du vorher nie gesehen hast. Du warst leer und vertrocknet, du warst staubig und müde, und dann hast du das Wasser gesehen, das dich von außen und von innen erfrischt hat. Du hast es gesehen und du hast es an deinen Händen gespürt, du hast seine Kühle gefühlt und geschmeckt. Du vergisst alle Not, die davor war, du bist innen und außen erfrischt. Fühlst dich klar und gereinigt, ja, so wie die anderen es auch schon gesagt haben, du fühlst dich wie neu.

Ach Johanne, so viele Bilder, so viele Erklärungen, das war schon irgendwie verrückt.  

Für mich war dann das, was Mariam gesagt hat, ganz besonders wertvoll und wichtig. Es ist, so sagt Mariam, als würdest du dich einmal komplett umziehen und deinen Kleidungsstil wechseln. Raus aus den Alltagssachen, hinein in das Festkleid. Und du wirst merken: auf einmal fühlst du dich komplett verändert. Du willst am liebsten nie mehr in die alten Sachen zurück. Und du gibst dir alle Mühe, damit die neue Kleidung auf keinen Fall schmutzig wird oder irgendwie zerreißt. Ganz von selbst geht das so, du passt einfach auf.  

So haben sie auf mich eingeredet und mir noch viel mehr erzählt, aber dann war alles in mir plötzlich ganz hell und klar. Ja, ich will, habe ich laut gesagt. Ich will, dass ich getauft werde und dass auch ich dazu gehöre: zu diesem Christus-Leib, von dem ihr immer sprecht, zu diesem Körper, der davon lebt, dass wir alle miteinander seine Organe sind. Ich will dem Machtbereich des Negativen ein für alle Mal entkommen, ich will dem Guten Raum geben in meinem Leben. Und dafür soll meine Taufe ein Zeichen sein: dass ich dem widerstehe, was das Leben mies macht, und dass ich mich mit ganzer Kraft dafür einsetzen will, was Gott uns versprochen hat: dass wir zu ihm gehören.

Ja, so habe ich es dann selbst vor den anderen gesagt, es war ein komisches Gefühl, so ernst und feierlich auf einmal. Aber tief in mir dir drin, da habe ich zum ersten Mal in meinem Leben eine ganz große Klarheit gespürt, so, als wäre der Christus mir so nahe wie nie, verstehst du, wie ich das meine? Da haben die anderen Frauen gelacht und mich in den Arm genommen und haben gesagt: ja, du bist eine von uns, und jetzt spürst du es auch: wir sind heilig. Wir gehören zu Gott.

Das war letzte Woche, und gestern war es dann so weit. Jetzt bin ich getauft. Die große Verwandlung. Ein wichtiges Datum ist das für mich. Und als ich heute Morgen aufgewacht bin, da war es gleich mein erster Gedanke: Ich gehöre zu Gott. „Du bist heilig“, so haben es die anderen gesagt. Daran muss ich mich erst noch gewöhnen, glaube ich. Aber „heilig“ – das klingt doch gut.

So, nun mache ich mich wieder an die Arbeit. Auf den Markt muss ich gehen, vielleicht kann ich heute ein bisschen mehr verkaufen von meinen Stoffen. Die Geschäfte gehen im Moment nicht gut. Aber so ist das ja immer, es läuft mal besser und mal schlechter.  Und dann muss ich das Haus wieder versorgen, was soll ich dir erzählen, du kennst es ja selbst. Das alles ist geblieben. Die Arbeit, der Alltag, das alles bleibt dasselbe, ob du getauft bist oder nicht. Und doch ist mein Leben ein anderes jetzt. Ich sehe mich mit Gottes Augen an. Ich fühle mich frei, das Gute zu tun, und ich denke viel positiver. Ich bin begeistert von Gott, im wörtlichen Sinn. Und mein Leben ist schön. Es grüßt dich herzlich: deine Renata.

Liebe Gemeinde,

soweit dieser Brief. Sehr privat und sehr schlicht. Vielleicht nicht auf demselben theologischen Niveau wie unser Paulus, den ich ansonsten sehr verehre. Aber inhaltlich sind sie sich einig. Wer auf Christus getauft ist, der ist tot für die Sünde, so heißt es im Römerbrief. Der lässt alles hinter sich, was mies oder schlecht ist im Leben. Wer getauft ist, der steht mit einem Bein schon im Himmel. Wir, die wir getauft sind, haben Anteil am ewigen Leben. Und das verändert die Lage. Wir sind Heilige in einem ganz bestimmten Sinn, nämlich weil wir zu Gott gehören. Unser Heilig-Sein macht uns nicht etwa besser oder wertvoller als andere, aber es erinnert uns daran, dass unser Leben mehr ist als Essen, Trinken, Arbeiten, Schlafen. Es ist die spirituelle Dimension, um die es hier geht, und sie ist mit Worten nicht ganz einfach auszudrücken. Die Taufe macht diese Dimension sichtbar und sinnlich erfahrbar. Sie macht sichtbar, wie eng wir schon jetzt mit Gottes Welt verbunden sind. Und so können wir leben als Kinder des Lichts. Es gehört gar nicht viel dazu, Papst Franziskus hat vor  wenigen Tagen ein paar Vorschläge gemacht, die gar nicht neu sind. Dafür aber bemerkenswert in ihrer Schlichtheit und Klarheit. Leben und leben lassen, heißt es da, Zeit nehmen für die Familie, den Sonntag ehren. Die Umwelt schützen.

Nichts Kompliziertes also. Nur der Versuch, im Leben einfach etwas anders zu werden, jeden Tag. Ein Versuch, der sich lohnt. Und so erinnert mich der Brief der Renata an ihre Freundin Johanne heute an meine Taufe und daran, dass sie mich heilig gemacht hat. Zu Gottes Kind. Und so darf ich leben. Egal, was da kommt. Amen.

Perikope
10.08.2014
6,19-23

Predigt zu Römer 6,18-23 von Thomas Bautz

Predigt zu Römer 6,18-23 von Thomas Bautz
6,18-23

„Ihr seid vom Sklavendienst der Sünde befreit und als Sklaven in den Dienst der Gerechtigkeit gestellt, das heißt in den Dienst des Guten, das Gott will. Ich rede sehr menschlich vom ‚Sklavendienst‘ der Gerechtigkeit - ich gebrauche dieses Bild, weil euer Verständnis und Begreifen noch schwach ist.

Früher stelltet ihr euch selbst mit all euren Gedanken und Taten in den Dienst der Unreinheit und Ungesetzlichkeit. Ihr führtet ein Leben, das Gott nicht gefallen konnte. So stellt euch jetzt umgekehrt in den Dienst des Guten und führt euer Leben als Menschen, die Gott gehören.

Als Sklaven der Sünde waret ihr dem Guten gegenüber frei; es war euch überlassen, Gutes zu tun oder nicht. Wie hat sich das ausgewirkt? Euer Leben trug faule Früchte. Ihr schämt euch, wenn ihr daran denkt; denn was ihr damals getan habt, führt letztendlich zum Tod.

Aber jetzt seid ihr vom Dienst der Sünde befreit und dient Gott. Und das bewirkt eine Lebensführung, durch die ihr euch als Gottes heiliges Volk erweist; als Endziel erwartet euch ewiges Leben. Der Ertrag der Sünde ist Tod. Gott aber schenkt uns unverdient, aus reiner Gnade, ewiges Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn.“

Liebe Gemeinde!

Die Geschichte der Völker wie auch die Biographien einzelner Menschen oder Familien birgt so viele Ungeheuerlichkeiten, für die es meines Erachtens kein treffendes Wort gibt. Sogar das Wort „Sünde“ erscheint mir dafür zu schwach. Manchen grauenhaften Verbrechen in Vergangenheit und Gegenwart verweigert die Sprache ihre Fähigkeit der Benennung. Gibt man ihnen dennoch einen Namen, wird man schon beim Aussprechen dessen gewahr, wie unangemessen, unzureichend, untauglich und kraftlos er ist. So verhält es sich auch mit dem Wort „Sünde“.

Das Christentum hat - vermutlich ungewollt - bewirkt, dass der Begriff „Sünde“ seiner Kraft beraubt und seine Bedeutung nivelliert worden ist: Wenn alle Menschen „Sünder“ sind, dann ist gewissermaßen niemand „Sünder“. Zwar werden auch einzelne „Sünden“ benannt, aber vor allem geht es um die grundsätzliche „Trennung von Gott“, die jeden Menschen a priori (von vornherein) betrifft. Sie wird mit dem Mythos vom „Sündenfall“ und der „Vertreibung aus dem Paradies“ begründet.

Durch Rückgriff auf das Griechische sollte der im Deutschen schillernde und oftmals moralisierend verwendete Begriff „Sünde“, dessen Ursprung ungeklärt ist, weltanschaulich neutral und unverfänglich als „Zielverfehlung“ übersetzt werden. Homer, Aischylos u.a. benutzen den Ausdruck in der Regel, wenn ein Bogenschütze sein Ziel verfehlt. Dann wird es auch metaphorisch gebraucht: sein Lebensziel, seinen Lebenssinn verfehlen. Im Hebräischen bedeutet der entsprechende Ausdruck allgemein „Verfehlen eines Ziels“. Wesentlich später verengt sich im Christentum die Bedeutung und wird zum religiösen Begriff „Sünde“.

Das Wort „Sünde“ ist zwar etymologisch nicht geklärt; vieles aber verweist auf Bedeutungen wie „Schuld“, „Straffälligkeit“ und auch „Schande“. Im Deutschen wurde „Sünde“ erstmals als christlicher Begriff eingeführt. Eine falsche, volksetymologische Deutung führt es auf das germanische „Sund“ zurück, weil „Sund“ eine Trennung bezeichne; „Sund“ bezeichnet aber im Gegenteil etymologisch „Enge“, also eine Verbindung, z.B. eine „Meerenge“. Neuerdings wird dann „Sund“ wiederum als „Trennung“ gedeutet, was die Ungeklärtheit seiner Herkunft nur unterstreicht. Wer so beharrlich „Sünde“ mit „Trennung“ assoziiert, mag dafür inhaltliche Kriterien ins Feld führen: Zwischenmenschlich führt Schuld zwangsläufig auch zur Trennung.

„Schuld“ und „Zielverfehlung“ sind zunächst rein anthropologische Phänomene und sagen nichts Direktes über eine angebliche Trennung von einer „Gottheit“ aus. Schuld kann man auf sich laden, und es kann auch jeder sein Ziel - grundsätzlich als Lebensziel oder mehrfach im Leben einzelne Ziele - verfehlen; das betrifft „Fromme“ wie „Unfromme“.

Wenn jemand sein Ziel - womöglich sein Lebensziel: das, was ein Mensch aus seinem Leben machen könnte - verfehlt, kann das vielfache Ursachen haben. Es ist erschütternd zu erleben,  wie Menschen oftmals daran gehindert werden, ihre Gaben zu entdecken, geschweige denn ihnen zu entsprechen. Das Unglück beginnt für viele schon in der Kindheit, wenn zerrüttete Familienverhältnisse keine gesunde und stabile Basis für Gegenwart und Zukunft darstellen.

Ich fände es sehr überheblich und lieblos, solchen Menschen später als Erwachsene zu sagen, sie dürften niemanden aus der Vergangenheit für ihr gegenwärtiges Leben verantwortlich machen. Sie allein müssten die Verantwortung tragen. Natürlich kann der Rückblick in die eigene Vergangenheit mehr belasten, als dass er hilft, das Geschehene und Ertragene besser zu verarbeiten, um sich dann - so befreit wie irgend möglich - desto zuversichtlicher wieder der Gegenwart und Zukunft gestärkt zu widmen.

Aus eigener Erfahrung aber muss ich auch darauf hinweisen, dass es sehr befreiend sein kann, wenn man sich peu à peu dessen bewusst wird, wofür man de facto selbst die Schuld trägt, und worin man tatsächlich hineingeworfen wurde oder hineingeraten ist. Bereits ein kurzes Brainstorming offenbart eine Kette von Ursachen und Wirkungen, die keinesfalls zufällig sind.

Es mag so manchen „Beichtvater“ verwundern, wenn er wüsste, dass Menschen auch dadurch „erlöst“ werden - gelöst von unangemessenen, irrigen Schuldgefühlen, indem sie schlicht erkennen: „Es ist nicht meine Schuld!“ Oder: „Ich konnte gar nicht anders handeln!“ Wer dies im Tiefsten seines Denkens und Fühlens erkennt, ist dazu befreit, allmählich Verantwortung  für gegenwärtiges und zukünftiges Handeln schrittweise zu übernehmen. Er kann sein Leben selbst in die Hand nehmen.

So weit, so gut - „Sünde“ und Schuld im Zwischenmenschlichen; aber was soll der Begriff „Sünde“ im Verhältnis des Menschen zu „Gott“ bedeuten?

Dazu möchte ich ein typisches Denkmodell beleuchten, wie es uns bei Paulus begegnet: ein Denken in Gegensätzen, ein Dualismus. Er stellt einfach fest (konstatiert, postuliert), es gäbe eine grundsätzliche Polarität: Entweder lebe ich zwangsläufig im Dienst der „Sünde“, oder ich lebe zwangsläufig im Dienst der Gerechtigkeit zum Gefallen „Gottes“.

Ich sage „zwangsläufig“, „gezwungenermaßen“, weil Paulus das Bild vom Sklavendienst gebraucht. Die Unfreiheit bestünde so nach zwei Seiten; ein zeitgenössischer Kommentator schreibt: Es ginge „um ein wirkliches Sklavenverhältnis“; der Mensch sei „in Wirklichkeit nie autonom, sondern abhängig - sei es von der Sünde, die ihm Freiheit von Gott vorspiegelt“, „sei es aber auch von Gott, der ihn von der Sünde frei gemacht hat“.

„Als Sklave der Sünde leben“ - „als von der Sünde Befreiter für die Gerechtigkeit leben“: „fromm - unfromm“, „gläubig - ungläubig“, „heilig“ - „unheilig“, „Getaufte“ - „Heiden“, „kirchlich - unkirchlich“, „christlich - unchristlich“, solchen Dualismen trete ich vehement entgegen, weil sie künstlich Gegensätze schaffen, Menschen kategorisieren nach Maßstäben, die nur allzu menschlich und fragwürdig sind.

„Kategorisieren“ bedeutet im Griechischen ursprünglich u.a. „anklagen“, „beschuldigen“, „vorwerfen“. Wir sprechen etwas abmildernd vom Schubladendenken; doch ist das sehr viel anders, wenn ich jemanden in eine von mir gefertigte oder gesellschaftlich oder gar kirchlich sanktionierte „Schublade“ stecke, aus der dieser Mensch - „schuldig im Sinne der Anklage“ oder womöglich unschuldig Zeit seines Lebens nicht mehr herauskommt?!

Ich finde das Menschenbild des Paulus fragwürdig, zumal es bis heute christliches Denken geprägt hat. Ein zeitgenössischer Theologe resümiert (2008), indem er völlig korrekt auf die Personifikation der „Sünde“ bei Paulus (in Röm 6,15-23) hinweist: Der personifizierte Akteur „Sünde“ betritt die Weltbühne „von den hinteren Kulissen her“ („from offstage“), um mit ihrem Geschäft der Versklavung, des Betrügens, des Tyrannisierens zu Werke zu gehen. So verursacht sie Chaos und Verwüstung in der Welt und in der Menschheit.

Die Herkunft dieser Personifikation aus dem Mythos vom Paradies ist bekannt. Man gewinnt den Eindruck, dass die „Schlange“, die „Eva“ dazu verführt, vom „Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen“ zu essen, geradezu die „Sünde“ verkörpert. Immerhin vernimmt nach der Austreibung aus dem Paradies der unglückselige „Kain“ „die an der Tür lauernde Sünde“, was ihre Personifikation nochmals unterstreicht.

Für das Leben „jenseits von Eden“ hat Paulus eine scheinbar geniale „Lösung“ anzubieten: Akzeptiere dein „Sündersein“, deinen „sündigen“ Zustand, unterwerfe dich dem „gnädigen Gott“, indem du glaubst (darauf vertraust) und bekennst, dass er sich durch den Tod „seines Sohnes Jesus Christus“ mit jedem Menschen versöhnt hat. Nur kraft dieser wirkmächtigen Gnade bist du gerechtfertigt und gerettet (ansonsten bleibst du der „Sünde“ verschrieben und bist verloren).

Ich vermag an dieser Stelle keinen kurzen Abriss zur Theologie des Paulus und zu seinem Menschenbild zu skizzieren, um sie mit bedeutsamen Inhalten der Verkündigung des Jesus von Nazareth zu vergleichen. Doch scheint mir sein Denken nicht in erster Linie jesuanisch geprägt zu sein, denn „Gott lässt seine Sonne scheinen über Gute und Böse“. Der Kontext spiegelt - innerhalb der Bergpredigt - einen wichtigen Teil der ethischen Forderungen Jesu:

„Ihr habt gehört, dass geboten worden ist (Lev19,18): ‚Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen!‘ Ich dagegen sage euch: Liebet eure Feinde und betet für eure Verfolger,

damit ihr euch als Kinder eures himmlischen Vaters erweist. Denn er lässt seine Sonne über Böse und Gute aufgehen und lässt regnen auf Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,43-45).

Dem Nazarener geht es nicht darum, Menschen in „gut“ und „böse“, „gerecht“ und „ungerecht“ einzuteilen - kein Denken oder Urteilen in Kategorien -, man soll sich vielmehr als „Kind Gottes“ erweisen, indem man zu allererst nach „Gottes Herrschaft“, nach „Gottes Reich“ (oder „Reich der Himmel“) und nach seiner Gerechtigkeit trachtet, dann wird einem auch alles zum Leben Notwendige geschenkt und das Leben insgesamt gelingen (Mt 6,33).

Angenommen „Gottes Liebe“ gilt allen Menschen - wenn ich das schon glaube oder darauf vertraue und selbst von Kind auf ein Leben in liebevoller, vertrauensvoller Umgebung sogar habe erfahren dürfen, bin ich gefordert, wenigstens einen Teil dieser Liebe weiterzugeben. Dann wird „Gottvertrauen“ praktisch, spürbar, vielleicht auch nachvollziehbar.

Angesichts des unsäglichen, selten selbst verschuldeten Leids unter Menschen und Tieren kommen doch Zweifel an „Gottes Liebe“ auf. Es sei denn, ich vertraue wie ein Kind darauf, dass dieser „Gott“ am dauerhaften Desaster und Chaos - an Verwüstung und Zerstörung von Natur- und Menschenwelt selbst mitleidet. Ja, für mich ist „Gott“ das Wesen, das am meisten leidet. In etwa wie Eltern, die irgendwann erleben müssen, dass sie den Lebensweg ihrer geliebten Kinder nicht mehr beeinflussen können.

Wer von „Sünde“ und Schuld im elementarsten Sinne redet, wie Paulus es meint verantworten zu können, der bringt eben auch „Gnade“ ins Spiel - ein Spiel allerdings, in dem es um Tod und Leben geht! „Gnade“ oder Begnadigung setzt eine Verurteilung voraus; verurteilt werden Verbrechen wie Totschlag, Mord, Kapitalverbrechen, Kriegsverbrechen, Massenmord usw. Die Todesstrafe wird juristisch relativ selten vollzogen.

Theologisch, besser: paulinisch allerdings ist der Tod die Konsequenz eines Lebens im Sklavendienst der „Sünde“; natürlich versteht Paulus an dieser Stelle „Tod“ metaphorisch. Ein „Leben in Sünde“ wäre also ein gänzlich fruchtloses Dasein; es sei denn, man unterwirft sich (wiederum als „Sklave“), wie gesagt, einem Leben im Dienst der Gerechtigkeit „Gottes“. Doch lässt sich das eine wirklich vom anderen unterscheiden? Oder: Sind Christen tatsächlich „bessere“ Menschen?  Das wird zwar fast immer verneint, aber wer weiß, wer was denkt …?!

Sehr weise äußert sich Jesus von Nazareth - in einem kurzen, aber denkwürdigen Abschnitt, wiederum aus der Bergpredigt, zur Paradoxie eines Denkens und Urteilens in Polaritäten, die er geradezu entlarvt, andererseits aber auch eine Alternative aufzeigt.

„Hütet euch vor den Trugpropheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, im Inneren aber räuberische Wölfe sind. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Kann man etwa Trauben lesen von Dornbüschen oder Feigen von Disteln? So bringt jeder gute (gesunde) Baum gute Früchte, ein fauler (kernfauler, mit verdorbenen Säften) Baum aber bringt schlechte Früchte; ein guter Baum kann keine schlechten Früchte bringen, und ein fauler Baum kann keine guten Früchte bringen. Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Also: an ihren Früchten erkennt ihr sie genau“ (Mt 7,15-20).

Natürlich lässt sich die florale Metaphorik auf keinen Menschen direkt übertragen, und Obst-bauern mögen dem Bild vom gesunden und faulen Baum grundsätzlich widersprechen, weil Obstbäume verschiedene Zeiten unterschiedlicher Reife durchleben: einmal mehr Früchte, einmal weniger und auch mal gar keine Früchte tragend. Dieser Wechsel von „Fruchtbarkeit“, reichem, magerem oder keinem Ertrag darf eher auf ein Menschenleben übertragen werden.

Gewarnt sei allerdings vor jenen, die meinen, vorwiegend fruchtbare (religiöse) Erkenntnisse und vorbildliches Verhalten vorweisen zu können. Sie betrügen sich selbst und verführen die Leichtgläubigen. Am schlimmsten sind in dieser Hinsicht diejenigen, die ihre eigene Religion und Frömmigkeit als die einzig wahre propagieren; ihnen gilt die Mahnung (Mt 7,21-23):

„Nicht alle, die 'Herr, Herr' zu mir sagen, werden (darum schon) ins Himmelreich eingehen, sondern nur, wer den Willen meines himmlischen Vaters tut. Viele werden an jenem Tage (d.h. am Tage des Gerichts) zu mir sagen: 'Herr, Herr, haben wir nicht kraft deines Namens prophetisch geredet und kraft deines Namens böse Geister ausgetrieben und kraft deines Namens viele Wundertaten vollführt?' Aber dann werde ich ihnen erklären: 'Niemals habe ich euch gekannt; hinweg von mir, ihr Täter der Gesetzlosigkeit!'“

Mit diesen Worten führt der Nazarener m.E. jegliches Urteilsvermögen und Kategorisieren ad absurdum; er entzieht einem beurteilenden religiösen Denken die Kriterien, auf die es sich meint stützen zu können. In den Evangelien wird erzählt, dass die Jesus Nachfolgenden genau  diese Taten vollbracht haben, wie es von ihnen auch erwartet wurde. Doch sind weder die Berufung auf den Kyrios (Herr) noch auf die an sich glaubwürdigen Taten entscheidende Kriterien für eine Teilhabe am Reich der Himmel (Reich „Gottes“). Vielmehr kommt es Jesus darauf an, dass man „nach Gottes Willen“ handelt. Dabei betritt man allerdings ebenfalls ein schwieriges, schwer zu überschauendes Terrain, ja, geradezu eine „terra incognita“, weil sich natürlich nicht allgemein von vornherein sagen lässt, worin „der Wille Gottes“ bestünde.

Andererseits hat der Rabbi Jesus seine Leute nicht „ohne Kompass“ durch die Gegend oder gar in die Wüste geschickt, und auch wir müssen nicht orientierungslos leben. Wenn wir zum Wohl unserer Mitmenschen und auch zur eigenen Befriedigung unseren Gaben entsprechend unser oft widersprüchliches Dasein gestalten und bewirken, dass auch Notleidende und meist Ungeliebte in unserer Mitte dennoch ein würdevolles Leben führen (dürfen), dann wird m.W. „Reich Gottes“ gebaut. Dietrich Bonhoeffer meint (in der Ethik), der „Wille Gottes“ sei nur im gleichzeitigen Hören und Tun (Handeln) erfahrbar.

Ein anschauliches Beispiel ist für mich die Erzählung von Petrus, der an der Tempelpforte einem um Almosen bittenden, von Geburt an Lahmen, spontan entgegnet: „Silber und Gold besitze ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth: Steh auf und geh umher!“ Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest, er sprang auf, konnte gehen und stehen, ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott. (Apg 3,1-11)

Wir müssen keinen „dogmatisch korrekten“ Glauben oder „Glauben“ überhaupt präsentieren, propagieren oder gar darüber streiten. Innerhalb der Jesus-Bewegung und im Mittelalter (z.B. Thomas à Kempis) spricht man gern von der „Nachfolge Jesu“. Für den Nazarener steht eindeutig die Verkündigung der „Herrschaft Gottes“, seines „Reiches der Himmel“ sowie das „Handeln nach dem Willen Gottes“ im Zentrum seines Lebens und Sterbens. Die Gleichnisse, die Berg- und Feldpredigt (Mt, Lk) mit bedeutsamen Kriterien und Wegweisungen, mit dem Vaterunser auch für das Beten und für persönliche Frömmigkeit sind allemal geeignet, dem Beispiel Jesu zu folgen.

Ich muss nicht komplizierten Gedankengebäuden nachdenken - und ich finde Paulus unnötig schwierig -, um mich im Leben zu bewähren und zu versuchen, ein „gerechtes“ Leben zu führen; ob es dann „Gott wohlgefällig“ sein wird, darüber vermag ich nicht zu urteilen, und ich muss es auch nicht! Selbst Paulus schreibt (1 Kor 4,3-4): „Doch was mich betrifft, so ist es mir durchaus gleichgültig, ob ich von euch oder von (sonst) einem menschlichen Gerichtshofe ein Urteil empfange; ja, ich gebe nicht einmal selbst ein Urteil über mich ab. Denn ich bin mir wohl keiner Schuld bewusst, aber dadurch bin ich noch nicht gerechtfertigt; nein, der Herr ist’s, der das Urteil über mich abgibt.“

Amen.

Cf. Liddell & Scott: Greek-English Lexicon (1996), s.v. hamartía, 77.

Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 2 (Nachdruck 1999), s.v. Sünde, 1009-1110.

Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Erarbeitet unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer (2014), s.v. Sünde, 1397f.

„Sund“ wird wieder als „Trennung“ gedeutet bei Hartmut Rosenau: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ (Lk 18,13). Hamartiologische Vorüberlegungen zur Einführung, in: MthSt 105/ MJTh XX: Sünde (2008), 1-14; jedoch wird „Sund“ auch anders abgeleitet und dann im Sinne von „Trennendes“, „Getrenntes“ verstanden; cf. Etymologi-sches Wörterbuch des Deutschen (2014), s.v. Sund, 1397.

Ulrich Wilckens: Der Brief an die Römer (Röm 6-11), EKK VI/2 (1980), 33-42.

Norbert Baumert: Christus - Hochform von ‚Gesetz‘. Übersetzung und Auslegung des Römerbriefes (2012), 112-117.

David J. Southall: Rediscovering Righteousness in Roman, WUNT 240 (2008), 83-112; 113-147.

Jacob Thiessen: Gottes Gerechtigkeit und Evangelium im Römerbrief, EDIS. Edition Israelogie 8 (2014), 191ff.

 

Perikope
10.08.2014
6,18-23

Predigt zu Römer 6,19-23 von Jörg Egbert Vogel

Predigt zu Römer 6,19-23 von Jörg Egbert Vogel
6,19-23

19 Ich muss menschlich davon reden um der Schwachheit eures Fleisches willen: Wie ihr eure Glieder hingegeben hattet an den Dienst der Unreinheit und Ungerechtigkeit zu immer neuer Ungerechtigkeit, so gebt nun eure Glieder hin an den Dienst der Gerechtigkeit, dass sie heilig werden.

20 Denn als ihr Knechte der Sünde wart, da wart ihr frei von der Gerechtigkeit.
21 Was hattet ihr nun damals für Frucht? Solche, deren ihr euch jetzt schämt; denn das Ende derselben ist der  Tod.
22 Nun aber, da ihr von der Sünde frei und Gottes Knechte geworden seid, habt ihr darin eure Frucht, dass ihr heilig werdet; das Ende aber ist das ewige Leben.
23 Denn  der Sünde Sold ist der Tod; die Gabe Gottes aber ist das ewige Leben in Christus Jesus, unserm Herrn.


Liebe Gemeinde,
der Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom ist wohl das bedeutendste Textdokument aus der Frühzeit der Kirche, verfasst in den 50iger Jahren des 1. Jahrhunderts, also nur rund 20 Jahre nach Jesu Tod.
Im Römerbrief bemüht sich Paulus um eine grundlegende Darstellung des christlichen Glaubens aus seiner Sicht in der Sprache und Denkweise der jüdisch-hellenistisch-römischen Antike.
Der eben gehörte Predigttext dokumentiert dies in zweierlei Hinsicht.
Zum einen ist das duale Denken und Argumentieren auffällig:
Wie ihr eure Glieder hingegeben hattet an den Dienst der Unreinheit und Ungerechtigkeit zu immer neuer Ungerechtigkeit, so gebt nun eure Glieder hin an den Dienst der Gerechtigkeit.
Und:
Nun aber, da ihr von der Sünde frei und Gottes Knechte geworden seid, habt ihr darin eure Frucht, dass ihr heilig werdet.
Und:
Der Sünde Sold ist der Tod; die Gabe Gottes aber ist das ewige Leben.

Diese 3 Textabschnitte stellen das Leben vor der Zugehörigkeit zur Gemeinde und danach gegenüber als Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit, als Knechte der Sünde und Knechte Gottes und Tod und Leben.

Zum anderen springt die uns fremde antike Ausdrucksweise ins Auge, stolpern wir leicht beim Lesen und Hören über Begriffe, die uns heute fremd und sinnentleert sind.

So sind Reinheit und Unreinheit, Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit, sowie Sünde und Knecht Gottes Begriffe und Gegensätze, die heute einen anderen Klang haben, als für Paulus und seine Zeit.

Zwar versteht jeder z.B. den Begriff Sünde, umgangssprachlich wird er aber kaum benutzt und wenn dann nur in einer verharmlosenden Weise. Und für jeden ist heute Sünde etwas ganz anderes. Für den Diabetiker schon das Kuchenessen.

In Luthers Zeit war der Begriff Sünde noch ganz klar theologisch, heilsökonomisch besetzt. Die Sünde war das Tun des Menschen, welches aufgrund seiner Gottferne geschah und zum Verlust des himmlischen Heils führte.

Bei Paulus ist der Begriff Sünde auch klar geprägt. Wegen seines jüdischen Hintergrundes ist sein Sündenverständnis auch ein jüdisches: Sünde ist die Übertretung eines der nach inzwischen traditioneller Zählung 613 Gebote aus der Thora. Und für traditionelle Juden ist das heute noch so.

Im Christentum gibt es ein breites Spektrum des Sündenverständnisses.
Für konservativ-fundamentalistische Christen ist schon der Kino- oder Theaterbesuch Sünde, während für die liberaleren, aufgeklärteren Sünde, in diesem auf das Gottesverhältnis bezogenen Sinn, praktisch nicht mehr vorkommt.
Das Verhalten von Menschen wird soziologisch und psychologisch beurteilt und erklärt, jedoch kaum noch mit den Kategorien von Sünde und Heil.

Die Freiheit von der Sünde folgt bei Paulus aus dem neuen Gottesverhältnis, das durch Jesus für alle Menschen ermöglicht wurde. Er nennt das „Knecht-Gottes-sein“.
Das ist für uns aber keine Beschreibungsmöglichkeit mehr für unser Gottesverhältnis. Wir sind keine Knechte, Diener, Sklaven Gottes und wollen das auch nicht sein. Für uns ist Gott der Freund und Partner.
Nicht, weil wir das so wollen, sondern weil er selbst uns zu Freunden, Partner, Töchtern und Söhnen durch Jesus Christus gemacht hat.
So schreibt Paulus im Galaterbrief: So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott.

Dieses familiäre, freundschaftliche verwandtschaftliche Verhältnis ist also nicht mehr mit Knechtschaft und Sklaverei zu umschreiben.

Wir können also die Aussagen der wichtigsten Schrift des Neuen Testament, des Römerbriefes, nicht einfach eins zu eins übernehmen.
Doch das, was für Paulus entscheidend war, die neue Qualität des Lebens aus dem Glauben, der sich auf der Botschaft Jesu Christi gründet, ist heute noch genauso gültig. Wir beschreiben es freilich anders.

Paulus argumentiert hier in unserem Abschnitt gegen diejenigen unter den Christen, die die neue Freiheit des Glaubens falsch verstehen.
So sagt er ein paar Verse vorher: Wie nun? Sollen wir sündigen, weil wir nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind? Das sei ferne!
Denjenigen, die meinen, dass sie, weil sie an Jesus Christus glauben, nun sündigen, also die Gebote beliebig übertreten können, sagt Paulus, dass sie da etwas missverstanden haben.

An anderer Stelle sagt er ja, genau wie Jesus, dass die Gebote durchaus nicht aufgehoben und damit erledigt sind, sondern Jesu rechtverstandene Gesetzesauslegung besagt, dass die Gebote für den Menschen da sind und nicht umgekehrt.

Der Mensch soll nicht sklavisch und lieblos die Einhaltung aller 613 Gebote durchsetzen, sondern aus eigener Überzeugung und verantwortlich vor Gott handeln und sein Leben gestalten.

Nicht die Abschaffung des mosaischen Gesetzes lehrte Jesus und mit ihm hier Paulus, sondern die Selbstverantwortung des Menschen vor Gott und vor dem Nächsten.
Paulus nennt das Knecht-Gottes-Sein um damit zu zeigen, dass es sich nicht um Beliebigkeit handelt, wo jeder machen kann, was er will, sondern um die Letztverantwortung des Menschen in seinem Handeln vor Gott, die sich allerding nicht in eine kleinere oder größere Zahl von Geboten fassen lässt.

Deshalb ist das Gesetzesverständnis nicht der Unterschied zwischen Juden und Christen.
Wie es Juden gab und gibt, die es für wesentlich halten, die Gebote exakt einzuhalten und sich und andere ihrem Gesetzesverständnis sklavisch unterzuordnen, so gab und gibt es genauso Christen, die eine bestimmte Ethik und Moral und tägliche Verhaltensweisen für christlich halten und damit als von Gott gegeben und für alle und für immer gültig, und andere halten sie dann entsprechend für unchristlich.

Diese christlichen Sklaven des Gesetzes machen ihre Wertvorstellungen zum Maßstab für andere, proklamieren diese als göttlich und sind damit genauso lieblos wie die in den Evangelien so viel gescholtenen Pharisäer.

Vielleicht ist es einfacher eine bestimmte Anzahl von Geboten oder Regeln einzuhalten, als in Freiheit immer wieder neu entscheiden zu müssen, wem nütze und wem schade ich mit meinem Verhalten.
Doch genau das ist das Evangelium, so zu handeln, dass niemand Schaden nimmt und so zu leben, dass Leben in Freiheit für andere, auch für nachfolgende Generationen ermöglicht wird.

Dieser christlichen Ethik der Freiheit und der Liebe zum Nächsten gilt die paulinische Verheißung: Gabe Gottes ist das ewige Leben in Christus Jesus, unserm Herrn.

Pf. Jörg Egbert Vogel, Berlin
j.e.vogel@gmx.de
 

Perikope
10.08.2014
6,19-23

Wie wir leben sollen - Predigt zu Römer 12,9-21 von Eberhard Schwarz

Wie wir leben sollen - Predigt zu Römer 12,9-21 von Eberhard Schwarz
12,9-21

Wie wir leben sollen

Liebe Gemeinde,
der zweite große Teil des Römerbriefes ist eine Antwort des Apostels Paulus auf die Frage, wie wir als Christinnen und Christen in dieser Welt leben sollen. Es geht um unseren Lebensstil. Bevor wir seine Antwort und damit den Predigttext aus dem 12. Kapitel des Römerbriefs hören, möchte ich diese Frage dreimal beleuchten.

Wie sollen wir leben?

Zwischen März 1520 und Ende Oktober desselben Jahres hatte Luther drei wichtige Schriften der Reformation verfasst. "An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung ": darin geht es um ein politisches Reformprogramm, um Bildung, die nicht allein dem Klerus zugehören soll, um die Abschaffung des Zölibats, um die Einschränkung des Zinsnehmens, um Armenfürsorge und um anderes mehr. Sehr handfeste, auch aus heutiger Sicht bedeutende Verbesserungsvorschläge für eine Gesellschaft, die Sehnsucht nach Erneuerung hat.

Die zweite Schrift ist "Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche", in der es um ein anderes Sakramentsverständnis geht – und im Hintergrund um eine neue Gestalt von Kirche.

Und schließlich schreibt er "Von der Freiheit eines Christenmenschen" mit den beiden an Paulus anknüpfenden Kernsätzen: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan“ - durch den Glauben. Und gleichermaßen gültig: "Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller und jedermann untertan“ - durch die Liebe. Alle diese Schriften haben ihre Wurzeln in der biblischen Arbeit des Wittenberger Theologieprofessors. In diesen Jahren ist Luther besonders mit seinen Psalmenauslegungen und immer wieder mit Paulus befasst.

Ihn beschäftigt, wie das Evangelium der Befreiung, wie die Botschaft von der Gerechtigkeit Gottes öffentlich, lebendig, konkret werden kann in einer Welt der Angst, der Kleinmut, der Schuldverhaftung. Es sei ein kleines Büchlein, wenn man das Papier ansehe, aber doch die ganze Summe eines christlichen Lebens darin begriffen, wenn der Sinn verstanden würde, schreibt er über die Freiheitsschrift. Den Sinn würden besonders die ‚pauperes‘, die Armen, die erwählten Kinder Gottes verstehen. Warum besonders sie, die aus eigenen Kräften das Leben nicht planen, gestalten, entwickeln können?

Wie sollen wir leben?

Wir wissen: Das 15. und 16. Jahrhundert ist eine Zeit, in der unaufhörlich über neues Leben nachgedacht wird. Theologen suchen nach einer Reform der Scholastischen Theologie und des kanonischen Rechts, das bedrückend und schwer auf den Menschen lastet. Sie warten auf den Engelspapst und auf den Friedenskaiser. Beide bleiben aus. Andere stehen in der Erwartung des Weltendes. Sie stellen sich auf den großen Zusammenbruch der Dinge ein, lassen Welt Welt sein. Luther gehört zu keiner der beiden Seiten wirklich. Er ist keiner, der nur auf Strukturreformen setzt und auch gehört er nicht zu der Sorte  von Apokalyptikern, denen die Welt egal ist.

Für ihn gilt: die Zeit ist im Übergang. Es ist Zwischenzeit. Wir leben im Advent. Gott kommt uns im Evangelium von Jesus Christus entgegen, ruft uns, sucht uns, will unsere Antwort. Wenn wir über das Leben, über unsere Ziele, über das, wofür wir leben wollen, nachdenken, dann nur unter dem Blick der Vorläufigkeit. Und nur so, dass unser weltliches Handeln immer als ein vorläufiges erkennbar wird. Auch die Maßstäbe, nach denen wir urteilen und handeln.  

Es war die Theologie am Beginn des vergangenen Jahrhunderts, die dies noch einmal in aller Deutlichkeit gesehen und gesagt hat: dass uns das Evangelium mit unseren irdischen und weltlichen Handlungen immer wieder vor Gott und vor die Ewigkeit stellt. Sie haben gefragt: Vor welchem Horizont leben wir? Und sie haben erkannt, dass sich davon ausgehend entscheidet, wie wir leben sollen, welches unsere Maßstäbe sind.
 
Wie wir leben sollen? Die Antwort entscheidet sich vor dem Horizont, in dem unser Leben steht. Diese Einsicht teilen Luther, und die dialektische Theologie des 20. Jahrhunderts und der Apostel Paulus. 

Für die frühen Christen ist es der Horizont von Ostern. Ein Leben, das nicht aus der Todesangst, sondern aus der Freude des ankommenden Gottes inspiriert ist. Leben im Horizont des Gottes, der uns gerecht macht, der uns frei spricht und tröstet und Mut macht in einer Welt, die auf seine Ankunft wartet.

Wie sollen wir leben?

Vor einigen Jahren, 2009, reiste der amerikanische Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Joseph Stiglitz um die Welt. Begleitet von Journalisten und einem Fernsehteam, unterwegs von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent, im Gespräch mit ganz unterschiedlichen Menschen: Staatspräsidenten in Südamerika, mit indischen Bauern, mit Ölmagnaten, mit einfachen Leuten in Ostafrika, mit Frauen und Männern hier in Europa. Eine Reise auf der Suche nach den Lebensbedingungen und Lebenschancen in den armen und in den reichen Ländern. Er sucht nach Spuren anderen Lebens. Stiglitz begegnet Menschen in seiner amerikanische Heimatstadt Gary, die ihre Arbeit verloren haben. Wir sehen den Bürgermeister dieser Stadt, der nach China reist, um neue Arbeitsplätze zu verhandeln. Wir sehen, das Zerstörungspotenzial ungezügelter Marktkräfte für die Umwelt, für das Zusammenleben der Menschen. Wir sehen große Gefährdungen von Natur und Gesellschaft. Wir sehen, wie wir Schritt für Schritt hineintaumeln in eine neue Welt, die uns überfordert.

Aber inmitten all dieser Zusammenhänge, die uns, den Einzelnen bei weitem übersteigen, begegnen wir auch Menschen, die sich nicht entmutigen lassen; die sehen, dass neues möglich ist; die spüren und merken, dass im Loslassen von Altvertrautem und Altgewohntem die Chance zur Erneuerung liegt, ebenso wie in der Besinnung auf die Dinge, die gut sind, und die uns Kraft geben und die uns tragen. Sehr viele mutige Menschen zeigt uns diese Reise. Sehr viele freie, kraftvolle Lebensentwürfe. Frauen und Männer, die zueinander stehen. Junge und Alte, deren eindrucksvolle Geschichte in den Katastrophenmeldungen untergehen. Mit Ideen für heute und für die Welt von morgen: Oft sind diese Ideen noch ganz vage; oft müssen sie erst entwickelt werden. Auch hier sehen wir: Zwischenzeit und Adventliches in einem ganz anderen Sinne.

Wir sehen ein Leben nahe beim ursprünglichen Lebensstil von Kirche: diesem Leben aus Hoffnung, aus Erwartung, aus geschenkter Freiheit. Diesem Vertrauen auf den ankommenden Gott, auf den österlichen Christus, das neue Formen von Gemeinschaft, andere Lebensentwürfe freisetzt. Das frühe Christentum ist dahingehend fast eine gesellschaftliche Revolution. Es entstehen neue Wirtschafts- und Wohnformen, es entstehen Vereine, Hospize, es entsteht Kunst und Musik und Architektur.

Die Keimzellen dieses neuen Lebens sind immer wieder Tischgemeinschaften. Sie beginnen mit Jesus selbst. Sie werden gepflegt rund um das Mittelmeer: Es sind Einladungen in den Raum des Daseindürfens, in den Raum der Hoffnung. Das ist nicht nur etwas Gedachtes oder Inszeniertes. Menschen essen und trinken miteinander. Sie stärken sich an seinem Tisch. Da gibt es Segen und den Zuspruch von Vergebung. Trauernde finden Trost. Mutlose finden Freundschaft: Schwestern Brüder, Kinder, Mütter. Da sind die Übergänge in einen neue Zeit konkret und menschlich und phantasievoll und hoffnungsreich und sichtbar.

Da blitzen noch heute faszinierende Antworten auf auf die Frage, wie wir als Christinnen und Christen leben sollen.

Im September 1928 steht Dietrich Bonhoeffer als Deutscher Auslandsvikar in Barcelona auf der Kanzel. Noch weit entfernt von dem, was ihn wenige Jahre später erwarten wird. Noch weit entfernt von den Aufgaben, zu denen er gerufen wird. Er ist gerade 22 Jahre alt. Er Predigt über das 12. Kapitel des Römerbriefes. Des Paulusbriefes, der wie kein anderer entfaltet, was es heißt als Christinnen und als Christ in dieser Zwischenzeit und in der Erwartung des ankommenden Gottes zu leben. Der uns wie kein anderer zeigt, dass wir die Maßstäbe dieser Welt von Christus her immer wieder hinterfragen und infrage stellen müssen. Auch unser eigenes Leben.

Bonhoeffer sucht nach der Rolle der Kirche in der Zeit und in der Welt. In seiner Predigt sagt er: die Gegenwart ist die verantwortungsvolle Stunde Gottes mit uns, jede Gegenwart; heute und morgen, die Gegenwart in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit; es gibt in der ganzen Weltgeschichte immer nur eine wirklich bedeutsame Stunde - die Gegenwart. Die Gegenwart, in der uns Gott entgegenkommt mit seinem großen Horizont, mit dem Geschenk der Vergebung und des Segens und der Freiheit, aus der wir unser Leben gestalten können.

Hören wir aus dem Römerbrief, von dem Leben im Horizont von Gottes Advent (Römer 12,9-21)

9 Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an.
10 Die geschwisterliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor.
11 Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn.
12 Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.
13 Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft.
14 Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht.
15 Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden.
16 Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den geringen. Haltet euch nicht selbst für klug.
17 Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.
18 Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.
19 Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5.Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.«
20 Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22).
21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Perikope
13.07.2014
12,9-21

KONFI-IMPULS zu Römer 12,17-21 von Stefan Nitschke

KONFI-IMPULS zu Römer 12,17-21 von Stefan Nitschke
12,17-21

Konfi-Impuls

Regeln  kennen Jugendliche aus ihrem Alltag zur Genüge. Mittlerweile gibt es kaum ein Klassenzimmer bzw. Konfi-Raum, in dem nicht eine katalogartige Auflistung der wichtigsten Verhaltensregeln hängt. Die Regelns sind gemeinsam erarbeitet worden, meist prangen als Verstärkung die Unterschriften aller Beteiligten darunter. Nachdem die Regeln des Paulus reihum von den Konfirmanden gelesen wurden, lauteten die Fragen wie folgt: Welche seiner Regeln könntet ihr unterschreiben und warum? Welche würdet ihr in unser Regelwerk übernehmen, welche nicht?

Mit Hilfe einer Schreibdiskussion gefragt, fand V. 18 am meisten Anklang. Vor allem die Relativierung „soweit das möglich ist und es an euch liegt“ wurde positiv aufgenommen, da aus Sicht der Konfirmanden aus einer unerfüllbaren Maximalforderung eine einhaltbare Regel zu werden schien: „Man wird nicht gezwungen.“

Die meisten Anfragen gab es in Bezug auf V. 19. „ Gott soll doch nicht der Richter sein, sondern barmherzig“, „Man sagt Gott ist barmherzig, aber wenn er Rache nimmt, dann wird er als böse angesehen“.

Die Konfis erarbeiteten auch Anspiele. Eines der Ergebnisse:

Morgens vor Schulbeginn. Lisa kommt ins Klassenzimmer. „Hallo, Ronja, wie siehst du denn aus? Sind die Klamotten aus der Altkleidersammlung oder was? Ein Deo kannst du dir wohl auch nicht leisten?“ „Lass mich. Ich hab dir nichts gemacht.“ Lisa laut vor der Klasse. „Iiih, Ronja stinkt voll!“ Die ganze Klasse lacht. Zwei Tage später in der großen Pause. Lisa zu einer Mitschülerin. „Pauline, kannst du mir was von deinem Pausenbrot abgeben, ich hab meins vergessen und kein Geld für den Bäcker dabei.“ „Nein, ich hab nur eins für mich.“ Ronja mischt sich ein, leise und vorsichtig. „Willst du von meinem?“ Lisa zögert erstaunt. „Ja, aber … warum?“ Sie nimmt das angebotene Pausenbrot und hat ein schlechtes Gewissen. „Du, Ronja, das ist mir jetzt voll peinlich, dass ich so arschig war und du bist jetzt so nett …“ Ronja grinst sie an und denkt bei sich: „Ist doch ganz gut, dass wir als Konfis immer wieder in die Kirche müssen, sonst hätt ich bestimmt nicht ausprobiert, was unsere Pfarrerin neulich erzählt hat: ‚Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen. Wenn du das tust, ist es, als ob du glühende Kohlen auf seinem Kopf anhäufst.‘ Hat ja prima funktioniert!“

 

Perikope
13.07.2014
12,17-21

Wo kämen wir hin,…?! - Predigt zu Römer 12,17-21 von Claudia Krüger

Wo kämen wir hin,…?! - Predigt zu Römer 12,17-21 von Claudia Krüger
12,17-21

„Wo kämen wir hin,…?!“

Liebe Gemeinde,

vor etwa 3 Wochen berichteten die Medien davon, dass ein 17 Jähriger, aus Rache über die Vergewaltigung seiner Schwester, den mutmaßlichen Täter mit zahllosen Messerstichen getötet hatte. Manche Tageszeitungen erinnerten in diesem Zusammenhang an andere Fälle von Selbstjustiz, die in den letzten Jahren verübt worden waren, bis zurück zu Marianne Bachmeier, die 1981 im Gerichtssaal den Mörder ihrer siebenjährigen Tochter erschossen hatte.

Wo aber kämen wir hin, wenn jeder die Sache der Gerechtigkeit selbst in die Hand nähme!

Niemand hat das Recht, eigenhändig Rache zu üben, auch wenn die Wut noch so berechtigt und das Leid unermesslich ist. Strafe aber ist einzig und allein dem Staat vorbehalten – ist gebunden an Recht, Gesetz und Kontrolle, und das ist gut so. Das letzte Urteil aber über einen Menschen und sein Handeln ist Gott allein vorbehalten.

Auch unser heutiger Predigttext spricht zu diesem Thema so unmissverständliche Worte, dass diese eigentlich gar nicht eigens ausgelegt werden müssten.

Es sind Worte, die nicht weichgespült werden dürfen.

Paulus schreibt in seinem Brief an die Gemeinde in Rom im 12. Kapitel:

Vergelte niemand Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist´s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes. Denn es steht geschrieben: „Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.“ Vielmehr, „wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln. „ Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Paulus scheint seine Gemeinde und deren Gefühle gut zu kennen!

Er kennt die Hitzköpfe, die auch schon beim kleinsten Anlass die Muskeln spielen lassen und Heldenhaftigkeit beweisen wollen. Er kennt aber auch die Gedemütigten, die fast ersticken an stumm erlittenem Unrecht. Unsere Sprichwörter spiegeln wieder, wie sehr auch uns die Fragen nach dem Bösen, nach Recht und Gerechtigkeit, aber auch nach Rache und Vergeltung immer wieder umtreiben. Sprichwörter sprechen dem Volk aus der Seele, und zu diesem Thema gibt es zahlreiche:

„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ „Rache ist süß!“ „Wie du mir, so ich dir!“ Auch nicht besonders bibelfeste Zeitgenossen zitieren gerne den alttestamentlichen Spruch: „ Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Und doch verkennen sie die diesem Spruch innewohnende Begrenzung der Spirale der Gewalt, die bereits anklingt, nämlich: Nicht über das erfahrene Unrecht hinaus sich zu rächen. Auch das Alte Testament kennt bereits das Gebot der Feindesliebe, wenn auch nur auf die eigenen Landsleute bezogen. In den Worten Jesu wird dann die Feindesliebe grenzenlos ausgeweitet.

Freilich, es ist nur zu gut nachvollziehbar, wenn jemand aus tiefstem Schmerz, Wut und Verzweiflung Rache üben will an einem Täter, der unsagbares Unheil über gebracht hat.

Jede und jeder von uns trägt aber auch eigene schmerzliche Erinnerungen in sich an Unrechtserfahrungen – womöglich schon in der Kindheit erlitten, im Elternhaus, in der Schule, Demütigungen oder Schläge, kleine Boshaftigkeiten oder grausam Böses.

Viele haben noch die ganze Härte des menschlichen und auch strukturellen Bösen im Krieg und auf der Flucht erfahren, furchtbare Erlebnisse, die man sein Leben lang mit sich schleppt. Erst 70 Jahre währt der Frieden in unserem Land, und immer noch ragen die Schuld und die Auswirkungen der Kriegserfahrungen in das persönliche Leben und in unsere gesellschaftliche Gegenwart hinein.

Blicken wir noch etwas weiter zurück – vor 100 Jahren, am 28. Juni, wurde ein Krieg begonnen, der an Grausamkeit kaum zu übertreffen ist. 17 Millionen Menschen hat er das Leben gekostet, davon 7 Millionen Zivilisten, 30 Millionen Menschen waren verwundet oder verstümmelt. Man kann und will sich das nicht mehr vorstellen, und doch nimmt bis heute das Morden kein Ende, schauen wir nach Nigeria, in Richtung Ukraine oder Irak, wo nun sogar eine bislang undenkbare Koalition mit den USA versucht, den Terroristen Einhalt zu gebieten.

Was aber ist das Böse, was ist das Gute? Und wo befinde ich mich selbst?

Kinder haben noch ein klares Bild von Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Hexen und Heiligen. Auch wenn ich mit Jugendlichen diskutiere, so fordern sie erschreckend schnell die Todesstrafe, weil unsere Rechtsprechung zu milde sei und Gewaltverbrecher nie wieder frei kommen und neues Unrecht begehen dürften. Manchmal ringe ich in solchen Diskussionen um Argumente und kann ihr Anlegen durchaus nachvollziehen.

Auch Paulus weiß, wie unendlich schwer es mitunter ist, Böses mit Gutem zu überwinden. „Ist´s möglich, soviel an euch liegt, so habt Frieden mit allen Menschen.“ Da klingt ganz deutlich durch, dass es nicht einfach ist, aber wir haben in Wahrheit doch gar keine bessere Alternative!

Wo kämen wir hin, wenn vernünftige Regierungen nicht in mühsamen Verhandlungen und trotz schmerzlicher Rückschritte beharrlich weiter nach friedlichen Lösungen suchten. Wo kämen wir hin ohne Bürgerinnen und Bürger, Nachbarinnen und Nachbarn, Friedensbewegte und scheinbar naive Idealisten, die sich finden in jedem Land? Ohne Menschen, die aufeinander zugehen, wieder und wieder die Hand bieten, um irgendwann doch endlich in Frieden nebeneinander zu wohnen. Ich denke da im Kleinen an die Streitschlichter an unseren Schulen, an Menschen wie Du und Ich, die bereit sind, wieder den ersten Schritt zu tun zum Anderen hin und heraus aus der Endlosspirale eines „Wie du mir, so ich dir!“.

Wo kämen wir hin, wenn es sie nicht gäbe, die wahren Heldinnen und Helden. Sie sind keine blassen Dulder oder Schwächlinge, die vor der Allmacht des Bösen resigniert in die Knie gehen. Sondern sie treten kraftvoll aus Ohnmacht und stummer Wut heraus, benennen das Unrecht, schreien es vielleicht auch heraus. Aber sie nehmen auch das Gespräch und die Verhandlungen aktiv wieder auf.

Und so wird es in unserem Predigttext ja auch gefordert: „Überwinde, besiege das Böse mit Gutem!“ Schon ein paar Verse vorher lesen wir, in der „Bibel in gerechter Sprache“ wunderbar formuliert: „Werft euch dem Guten in die Arme!“ Das ist eine energiegeladene schwungvolle Bewegung hin zum Guten in Person. Denn das Gute ist unauflöslich verbunden mit dem, der das Gute verkörpert hat und dessen Liebe schließlich sogar den Tod besiegt hat.

Wo also kämen wir hin ohne die unbeirrbaren Idealisten, die nicht aufhören, an Frieden und Versöhnung und Liebe zu glauben? Die sich engagieren im Schüleraustausch, in Völkerverständigung, in der Begegnung von einstigen Gegnern, im Sport, bei dem über Nationalitäten hinweg Gemeinschaft und Begeisterung so mitreißend sein können! Dort, wo man mitunter klare Worte gegen Rassismus findet, wo man miteinander wettstreiten und gemeinsam jubeln kann.

Wo kämen wir sonst hin im Großen wie im kleinen Umfeld von Familie, Nachbarschaft, Schule oder Betrieb, oder im großen Umfeld der Nationen?  Ganz gewiss in eine Endlosschlaufe von Unversöhnlichkeit im Kleinen, und in eine Spirale von tödlicher Gewalt, Leid und immer neuer Gewalt im Großen. Schauen wir hinüber nach Israel, so wird auch die Rache an denen, die so grausam drei junge Menschen getötet haben, das Unrecht noch vergrößern und immer rascher anderen Menschen entsetzliches Leid zufügen, wie dem 16-jährigen Palästinenser. Der Onkel eines der israelitischen Jungen aber hat dazu deutlich erklärt: „Es gibt keinen Unterschied zwischen Blut und Blut. Mord ist Mord, egal welche Nationalität oder welches Alter. Mord ist immer unverzeihlich.“

Schon in vorigen Jahrhunderten aber gab es kluge Menschen, die gewusst haben, dass Rache niemals zu innerem oder äußerem Frieden führen kann. So sagt uns Sir Francis Bacon, der Philosoph: „Wer nach Rache strebt, hält seine eigenen Wunden offen.“

Wo aber die alten Wunden offen bleiben, da kann kein innerer Frieden einziehen. Da kann die Liebe keinen Raum mehr gewinnen. Ja, wenn wir es recht betrachten – Rache kann nur für kurze Momente eine Art Genugtuung erfahrbar machen, niemals aber inneren Frieden, Versöhnung, Liebe oder neues Glück hervorbringen.

Ein Wort von Rainer Kunze kam mir wieder in den Sinn:

Schnelle Nachtfahrt
Niemals wird es uns gelingen, die welt
zu enthassen
Nur dass am ende uns nicht reue heimsucht
über nicht geliebte liebe

(Reiner Kunze, Gedichte, S.258, Verlag S. Fischer, Frankfurt, 2001)

Illusionslos betrachtet er die Welt und die Menschen und zieht den klaren Schluss: „niemals wird es uns gelingen, die welt zu enthassen!“ Ja, vertreiben werden wir Hass, Gewalt und das Böse niemals von dieser Welt. Es wird uns begleiten bis ans Ende dieser Tage. Und doch gibt es keinen besseren Weg als diesen, wieder und wieder, soviel an uns liegt, das Böse durch Gutes zu überwinden. Das ist die Haltung des Apostels Paulus und das ist auch im Sinne Jesu Christi.

Nur ihm sind wir verpflichtet, auch wenn wir nicht verstehen, warum es das Böse gibt. Auch wenn wir immer wieder scheitern werden und auch angewiesen sind auf Vergebung und auf Menschen, die wieder auf uns zugehen mit offener Hand. Im Vertrauen auf den, der die Kraft hat uns zu lieben und uns zu vergeben, sollen wir immer wieder den Weg des Friedens einschlagen. Auch wenn wir manchmal so müde werden und resignieren könnten angesichts des Bösen, das sich in immer neuen Bildern zeigt.

Wir müssen nicht jeden Menschen lieben können oder ihn auch nur mögen, aber wir sollen schlicht das Nötige für ihn tun, mehr wird nicht von uns verlangt.
Hier sind wir alle gefordert, immer wieder auch über den eigenen Schatten zu springen. Und wenn es vielleicht auch nicht gelingen kann, zu vergeben oder sich zu versöhnen, so kann es vielleicht doch gelingen, die Rache Gott zu überlassen. Das kann auch wahre Befreiung sein!

Wir sollten immer wieder eine Koalition eingehen mit dem Geist der Liebe und der Gerechtigkeit, um in kleinen Stücken Gottes Plan mit zu verwirklichen, damit uns am Ende nicht Reue heimsucht über nicht geliebte Liebe. Damit wir nicht erst dann, wenn es zu spät und das Leben vorüber ist, die Augen auftun und erkennen: Es wäre vielleicht doch friedlicher, liebevoller, freundlicher zu leben möglich gewesen!

So gilt es nun jeden Tag neu, diese unmissverständlichen Worte in unser Innerstes dringen zu lassen und unsererseits kreativ zu werden. Wenn es uns dann und wann gelingt, dem durstigen und hungrigen Feind zu trinken und zu essen zu geben, wird er vielleicht bereuen, oder womöglich sogar umkehren. „Gib deinen Mitmenschen mehr, als sie erwarten, und mache es mit Freude!“, so hat der Dalai Lama es einmal empfohlen. Ja, Menschen können sich sogar verändern, wenn ihnen überraschend Freundlichkeit, Wertschätzung oder Hilfe zu Teil werden, von einer Seite, von der sie es womöglich am allerwenigsten erwarten. Nur – ob das geschieht oder nicht, das liegt allein in Gottes Hand!

Überlassen wir also all unsere Gefühle und all unsere Rachegedanken dem, dem allein gegeben ist, zu urteilen und Recht zu schaffen, und am Ende aller Tage auch ewige Gerechtigkeit. Wir aber können nichts Besseres tun, als immer wieder das Gute zu suchen mit der Gewissheit, dass wir selbst unendlich geliebt sind. Nur wer spürt, dass er von Gott geliebt ist und dessen tiefste Sehnsucht nach Wertschätzung und Liebe erfüllt wird, der kann auch immer wieder mit der Kraft der Liebe lieben, mit der er selbst geliebt ist. Nur wenn wir wissen, dass Gott uns mit all seiner Liebe liebt und seine Liebe stärker ist als alle Mächte und Gewalten, alle Grausamkeiten und stärker auch als der Tod, dann kann es uns dann und wann und hoffentlich immer wieder gelingen, zu lieben, anstatt in Rache, Gleichgültigkeit oder Hass zu versinken.

Mag es auch illusionär und phantastisch klingen – war die Liebe dessen, der uns geliebt hat, nicht auch eine Torheit in den Augen so vieler?

Der unvergessliche Hanns-Dieter Hüsch hat sich dazu bekannt:

Ich setze auf die Liebe
Wenn Sturm mich in die Knie zwingt
Und Angst in meinen Schläfen buchstabiert
Ein dunkler Abend mir die Sinne trübt
Ein Freund im anderen Lager singt
Ein junger Mensch den Kopf verliert
Ein alter Mensch den Abschied übt

Das ist das Thema
Den Haß aus der Welt zu entfernen
Und wir bereit sind zu lernen
Daß Macht Gewalt Rache und Sieg
Nichts anderes bedeuten als ewiger Krieg
Auf Erden und dann auf den Sternen

Die einen sagen es läge am Geld
Die anderen sagen es wäre die Welt
Sie läg in den falschen Händen
Jeder weiß besser woran es liegt
Doch es hat noch niemand den Haß besiegt
Ohne ihn selbst zu beenden

Er kann mir sagen was er will
Und kann mir singen wie er´s meint
Und mir erklären was er muß
Und mir begründen wie er´s braucht
Ich setzte auf die liebe! Schluß.

 (Hanns Dieter Hüsch, Das Schwere leicht gesagt, S. 157; Herder Verlag, Freiburg, 1994)

Wo also kämen wir hin, liebe Gemeinde, wenn wir auf die Liebe setzten, allem zum Trotz?

Ich bin sicher: ein gutes Stück weiter auf dem Weg des Friedens.

Amen.

 

Perikope
13.07.2014
12,17-21

Der Heilige Geist – oder: Die Kunst, unterscheiden zu können - Predigt zu Römer 8,1-11 von Ruth Conrad

Der Heilige Geist – oder: Die Kunst, unterscheiden zu können - Predigt zu Römer 8,1-11 von Ruth Conrad
8,1-11

Der Heilige Geist – oder: Die Kunst, unterscheiden zu können

An Pfingsten,
liebe Gemeinde,
an Pfingsten geht es um unsere Haltung zum Leben,
um das, was uns innerlich bestimmt und leitet,
welche Gesinnung wir pflegen,
darum, wes Geistes Kind wir sind.
Pfingsten empfiehlt uns eine eine „geistliche“ Lebenshaltung.
Wie aber sieht eine solche „geistliche“ Lebenshaltung konkret aus? Worin äußert sie sich? Woran lässt sie sich erkennen?
Der heutige Predigttext behauptet: Eine „geistliche“ Lebenshaltung erkennt man an der Kunst unterscheiden zu können.  Der Heilige Geist lehrt uns zu unterscheiden. Unterscheiden zu können aber ist eine der wichtigsten Aufgaben im Leben. Ich lese aus dem Römerbrief, Kapitel 8, die Verse 1-11:

So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind. (2) Denn das Gesetz des Geistes, der lebendig macht in Christus Jesus, hat dich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes. (3) Denn was dem Gesetz unmöglich war, weil es durch das Fleisch geschwächt war, das tat Gott: Er sandte seinen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der Sünde willen und verdammte die Sünde im Fleisch, (4) damit die Gerechtigkeit, vom Gesetz gefordert, in uns erfüllt würde, die wir nun nicht nach dem Fleisch leben, sondern nach dem Geist. (5) Denn die da fleischlich sind, die sind fleischlich gesinnt; die aber geistlich sind, die sind geistlich gesinnt. (6) Aber fleischlich gesinnt sein ist der Tod, und geistlich gesinnt sein ist Leben und Friede. (7) Denn fleischlich gesinnt sein ist Feindschaft gegen Gott, weil das Fleisch dem Gesetz Gottes nicht untertan ist; denn es vermag's auch nicht. (8) Die aber fleischlich sind, können Gott nicht gefallen. (9) Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, wenn denn Gottes Geist in euch wohnt. Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein. (10) Wenn aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen, der Geist aber ist Leben um der Gerechtigkeit willen. (11) Wenn nun der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt.

Liebe Gemeinde,
der Heilige Geist lehrt uns zu unterscheiden zwischen dem, was „fleischlich“ ist und dem, was „geistlich“ ist. Und damit lehrt er uns eine lebenswichtige Unterscheidung. Denn die Unterscheidung zwischen „fleischlich“ und „geistlich“, das ist die Unterscheidung zwischen lebenszerstörend und lebensfördernd.
Betrachten wir das für einen Moment genauer und beginnen mit dem, was nach den Worten des Apostels „fleischlich“ ist. ‚Fleischlich“, so der Apostel, fleischlich ist all das, was gegen Gott ist, was also Sünde ist. Gemeint ist: „Fleischlich“ handelt der Mensch dort, wo er völlig auf sich selbst bezogen bleibt. Wo er sich selbst zum Maßstab aller Dinge macht.
Dort, wo der Mensch meint, sein persönliches Wohlergehen sei der einzige Orientierungspunkt im Leben,
dort, wo der Mensch meint, seine eigenen Interessen seien die einzigen auf der Welt und die anderen hätten sich diesen gefälligst anzupassen,
dort, wo der Mensch meint, es gäbe keine Instanz außer ihm selbst, der er Verantwortung schulde,
dort, wo der Mensch nicht mehr von außen ansprechbar ist, außer es winkt ein persönlicher Vorteil,
überall dort, so die Überzeugung der Bibel, denkt und handelt der Mensch „fleischlich“.
Martin Luther hat für diese Lebenshaltung einmal ein schönes Bild gefunden. Ein Mensch, der „fleischlich“ denkt und handelt, sei ein „homo incurvatus in se ipse“, ein „in sich selbst verkrümmter Mensch“. Der aber ist der Ursprung allen Übels. Der in sich selbst verkrümmte und verschlossene Mensch, er ist der Ursprung und die Quelle alles Lebenszerstörerischen.
Und das, liebe Gemeinde, das ist doch eine ziemlich erfahrungsgesättigte Einsicht.
Dort, wo der Mensch sich nur auf sich bezieht,
nur das eigene Selbst kennt,
da geraten die anderen Menschen aus dem Blick.
Ihre Wünsche, ihre Interessen, ihre Fragen und Ideen, die werden überrannt, kaltgestellt, zum Spielball des eigenen Machtwillens.
Der Mensch macht den Menschen zum Material des eigenen Ego-Trips.
Das fängt klein und oft furchtbar banal an. Im familiären Umfeld, unter Partnern und Geschwistern, zwischen den Generationen. Aber wie alles Kleine hat es die Kraft, sich ins Unerträgliche auszuwachsen, am Arbeitsplatz, am Wohnort, im Politischen.
Wenn aber jeder nur mit sich beschäftigt ist, auf sich bezogen bleibt, den anderen benutzt, dann ist ein Zusammenleben im Kleinen wie im Großen schier nicht möglich. So lebensnotwendig der Bezug auf sich selbst ist, so lebenszerstörerisch ist er, wenn er zum alleinigen Prinzip wird. Dort, wo der Mensch nicht mehr von außen und auf andere ansprechbar ist, dort verkommt das Leben zu einer Zerstörungsorgie, privat und öffentlich. Es wird unerträglich destruktiv.
Dort aber, wo der Mensch sich öffnen lässt, für Gott, für den anderen Mensch, für die Welt um sich herum,
dort, wo er anstatt nur auf die eigene Bedürfnisse zu lauschen seine Ohren nach Außen öffnet,
dort wird der Mensch verwandelt. Er wird „geistlich“.
„Geistlich“ gesinnt sein ist das Gegenteil von „fleischlich“: Nicht auf mich bezogen, sondern offen für Gott, den anderen Menschen, die Welt um mich herum.
„Geistlich“ sein, das heißt in Beziehung mit Gott sein. Von ihm her leben, denken und handeln. Gebracht hat dieses geistliche Leben Christus, der Erlöser. Sein Reden und sein Handeln ist gekennzeichnet durch den steten und ungebrochenen Bezug auf Gott. Sein Leben war völlige Gemeinschaft mit Gott. Der ungetrübte Bezug auf einen anderen und nicht auf das eigene Ich. Sein Leben war geistlich. Und die, die in Christus leben, die haben daran Anteil.
Das aber bedeutet Leben und nicht Zerstörung,
Frieden und nicht einseitige Interessensdurchsetzung,
Freiheit und nicht Manipulation und Unterdrückung,
Freude und nicht Intrige oder Gehässigkeit.
„Die aber geistlich sind, die sind geistlich gesinnt. Fleischlich gesinnt sein ist der Tod, und geistlich gesinnt sein ist Leben und Friede.“

Liebe Gemeinde,
so weit so gut. „Fleischlich“ und „geistlich“ scheinen deutlich unterschieden. Wir wissen, was das eine meint und was das andere. Oder genauer gesagt: Wir meinen es zu wissen. Denn wenn wir den Fokus etwas schärfer stellen, dann müssen wir einräumen: So einfach ist es im „echten“ Leben dann eben doch nicht. Im „echten“ Leben lässt sich das „Fleischliche“ vom „Geistlichen“ dann doch nicht so einfach unterscheiden.
Denn unterscheiden meint ja gerade nicht scheiden, trennen oder schlicht Alternativen benennen – entweder das eine oder das andere.
Unterscheiden meint vielmehr: „einen Gegensatz durchstehen [,  der den Charakter der Todfeindschaft hat]“ (Gerhard Ebeling). Unterscheiden heißt: rein ins Getümmel, dorthin, wo die Dinge ineinander verworren sind. Um recht zu unterscheiden, kann man nicht in der Beobachterperspektive bleiben. Rechte Unterscheidung fordert Einsatz, Hingabe. Da kann man sich die Hände schmutzig machen. Irren und schuldig werden.
Und das eben tritt im „echten“ Leben ein,
also überall dort, wo wir Entscheidungen treffen müssen,
wo Fragen zu klären sind,
wo wir uns positionieren und verhalten müssen.
Überall dort erkennen wird: Alle Fragen und Entscheidungen haben zwei Seiten. Wir  können uns immer auch für die Falsche entscheiden. Oft ist von außen nicht eindeutig erkennbar, was denn nun „geistlich“ ist. Zuweilen steckt hinter dem, was wir für „geistlich“ halten, auch nur unser eigener Wille. Und selbst dort, wo wir das „Geistliche“ genau zu erkennen vermeinen, bedeutet das ja noch lange nicht, dass wir auch in der Lage oder willens sind, das zu tun. Und oft können wir, auch bei bestem Willen, nicht anders als „fleischlich“. Weil wir nämlich Menschen sind, also selbst Fleisch. „Fleischlich“ gesinnt zu sein, also an uns selbst zu denken, das gehört zu unserem Menschsein. Als Menschen sind wir „fleischlich“, als Christen wollen wir „geistlich“. Im Leben sind wir also stets beides und eines. Und so können wir zunächst einmal gar nicht anders, als uns auf uns selbst zu beziehen und auch immer uns selbst der Nächste zu sein. Weil wir Menschen sind. Weil wir überleben wollen. Weil es immer besser ist, mir geht es gut als den anderen. Weil es immer besser ist, meine Familie ist gut versorgt als die anderen. Die Bildung der eigenen Kinder ist einem allemal wichtiger als die Zukunftssicherheit des Bildungssystems. Der Wohlstand im eigenen Land liegt einem immer näher als der Weltfrieden. Vorteilsicherung ist eine Überlebensstrategie. Und Vorteilssicherung bedarf des Rückzuges auf sich selbst, der Verkrümmung auf die eigenen Bedürfnisse.
Und das lässt sich ja argumentativ auch immer retten:
Wenn meine Kinder gut ausgebildet sind, dann nützen sie der Gesellschaft.
Meine Interessen haben immer schon das Gemeinwohl im Blick.
Ich will doch nur das Beste für alle.
Wenn ich nicht herrsche, dann tun es die anderen. Und das ist allemal schlimmer.
Im Alltag, dort, wo wir leben, dort vermögen wir zwischen „fleischlich“ und „geistlich“, zwischen lebensförderlich und lebenszerstörend oft nicht zu unterscheiden. Sie sind bis zur Unkenntlichkeit ineinander vermengt. Und deshalb benötigen wir den Heiligen Geist – dass er uns einübt in die Kunst rechter Unterscheidung.

Wie aber sieht das konkret aus?
An welchen Haltungen und Gesinnungen können wir diese Kunst der Unterscheidung erkennen?
Ich denke, an zwei Haltungen: an der Skepsis gegenüber uns selbst und an der Barmherzigkeit gegenüber andere.
Wer unterscheiden kann, hat sich in die hohe Kunst der Skepsis gegenüber sich selbst eingefunden.
Oft sind wir unklar im Blick auf uns selbst. Zu wenig kennen wir uns aus in unseren Motiven, in unseren Beweggründen, in dem, was wir wollen. Um zu unterscheiden, was „fleischlich“ und was „geistlich“ ist, müssen wir uns erst einmal selbst misstrauen lernen. Wir sollten für uns selbst in Anschlag bringen: Es könnte falsch sein, was ich will. Egoistisch, ich-bezogen, selbst-bezüglich, lebenszerstörerisch. Das, was ich möchte – es könnte Beziehungen zerstören, andere Menschen erniedrigen, ihnen den lebensnotwendigen Raum nehmen. Gegenüber sich selbst skeptisch zu sein, das heißt: zu sich selbst, den eigenen Wünschen und Vorstellungen, dem eigenen Lebens- und Durchsetzungswillen auf Distanz gehen zu können. Sich mit selbst auskennen und sich auch der Einsicht stellen: Nicht alle meine Impulse sind gut. Vieles ist auch „fleischlich“ und hat üble Folgen. Nur wer skeptisch auf sich blickt und sich von sich zu unterscheiden vermag, nur der vermag notwenige Änderungen anzugehen.

Der Heilige Geist macht uns aber nicht nur skeptisch im Blick auf uns selbst, sondern auch barmherzig im Blick auf andere.
Es gibt ja das eigenartige Phänomen, dass wir im Blick auf die anderen immer ganz genau wissen, was „fleischlich“ und „geistlich“ ist, was lebensförderlich und lebenszerstörend. Was für die anderen richtig und falsch ist, das vermögen wir meist ohne langes Nachdenken zu benennen. Was der Nachbar, die Politik, die Wirtschaft, die Kirche zu tun oder zu lassen hätte, das wissen wir ganz genau. Da haben wir ein hohes Maß an Klarheit. Aber auch für die anderen Menschen gilt: Sie leben mitten im Getümmel von „Fleischlich“ und „Geistlich“, von Selbstsorge und Fürsorge. Auch sie müssen Unterscheidungen finden dort, wo oft alles bis zur Unkenntlichkeit vermengt ist. Deshalb lehrt uns der Geist Barmherzigkeit gegenüber den Entscheidungen und den Irrtümer unserer Mitmenschen.
Wer sich einübt in die Kunst der Unterscheidung, der übt sich also in Zweierlei: Skepsis gegenüber sich selbst und Barmherzigkeit gegenüber den Anderen. Der Heilige Geist ist ein Lehrmeister für Beides. Und darin lehrt er uns die Kunst des guten Lebens. Weil er uns eben lehrt, dem Lebensförderlichen zu dienen und uns dem Lebenszerstörerischen entgegen zu stellen.

So also geht es an Pfingsten also um uns,
um unsere Haltung zum Leben,
um das, was uns innerlich bestimmt und leitet,
um die Gesinnung, die wir pflegen,
darum, wes Geistes Kind wir sind.
Pfingsten empfiehlt uns eine „geistliche“ Lebenshaltung. Der Heilige Geist lehrt uns die Kunst zu unterscheiden. Darin aber lehrt er uns, wie wir uns mit uns selbst auskennen können. Wie wir skeptisch und barmherzig zugleich werden. Weil wir die Dinge auf ihre Motive befragen. Und genau deshalb ist Pfingsten ein unverzichtbares Fest, zumindest für diejenigen, die sich über das Leben Gedanken machen möchten und die dem Leben dienen wollen.
„So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind. Denn wenn nun der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt.“
Amen
 

Predigtlied: EG 134, 1.2.7 Komm, o komm du Geist des Lebens
Verwendete Literatur: Gerhard Ebeling: Luther. Eine Einführung in sein Denken, 4., durchgesehene Aufl. Tübingen 1981, 126.
 

Perikope
08.06.2014
8,1-11