Predigt zu Römer 14,10-13 von Rainer Kopisch
10 Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.
11 Denn es steht geschrieben (Jesaja 45,23): »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.«
12 So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.
13 Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.
Liebe Gemeinde, liebe Christinnen und Christen,
wann haben Sie sich das letzte Mal über jemand geärgert?
Vielleicht erinnern Sie sich noch an die Worte, die Ihnen zu dem Anlass einfielen, und an die Energie, die dabei an die Oberfläche kam?
Bekannte Beschreibungen sind: Die Galle läuft über. Der Stehkragen platzt.
Es sind Streitigkeiten zwischen Menschen und Rechthabern, die jede Gemeinschaft zerstören können.
Die Gemeinde in Rom ist auf dem besten Weg, sich zu zerlegen, weil ihre Mitglieder über Essensvorschriften bei ihren gemeinsamen Mahlzeiten in Streit geraten sind. Das ist menschlich verständlich, aber für eine Gemeinde von Christen nicht hinnehmbar. Der Apostel Paulus hat zwar die Gemeinde in Rom nicht gegründet, er hat aber Kenntnis von den Zuständen dort durch Christen aus seinen Gemeinden, die nach Rom gekommen sind.
So ist es also nicht verwunderlich, dass Paulus im 14. Kapitel seines Briefes an die Gemeinde in Rom diese Sätze schreibt. Das erklärt auch die Kraft und Deutlichkeit seiner Worte.
Es geht Paulus um die Bedrohung des Glaubens, wenn Christen verschiedener Meinung einander beurteilen und streiten. Es geht darum, dass Menschen in eine eigene Welt ohne Gott zurückfallen, wenn sie ihren Glauben verlieren. Dass Menschen durch das Verhalten von anderen Menschen von ihrem Glauben abfallen können, ist ein lange bekanntes Geschehen. Der sprachliche Ausdruck selbst ist mit der Verwendung des Wortes „glauben“ auf neue Zusammenhänge übertragen worden.
Diese neuen Zusammenhänge entstehen, wenn jemand etwas zur Kenntnis bekommt, was seinen Vorstellungen oder Erwartungen nicht entspricht. Man sagt „das ist unglaublich“, wenn das Verhalten eines anderen Menschen beobachtet und beurteilt wird. Je näher einem dieser Mensch steht, desto heftiger wird die innere Erregung.
Die Redensart „da fällt man doch vom Glauben ab“ spiegelt die innere Erregung. Sie verweist natürlich auch auf den ursprünglichen Vorgang, der existentielle Bedeutung hat.
Paulus kannte die Gefahr.
Ein sinnerfülltes Leben zu finden, bestimmt das Suchen und Sehnen vieler Menschen.
Wir als Christen und Christinnen habe dabei eine große Verantwortung für unser eigenes Suchen und für das der Menschen, die uns auf unserem Lebensweg begegnen. Dabei ist es eine große Hilfe, dass wir viel von Gottes Liebe wissen und ein Gespür dafür entwickeln können, wo wir sie ins Fließen bringen können.
So können wir lernen, Widerstände und Blockaden gegen die göttliche Liebe zur Seite zu räumen, wo wir sie erkennen können.
Paulus sieht seine Aufgabe in der Verkündigung der Botschaft von der Versöhnung Gottes mit den Menschen durch Jesus Christus. Wenn er als Zitat der Schrift eine Überlieferung eines Wortes des Propheten Jesaja verwendet, will er ausdrücken, dass Gott seit alters her als Herrscher über alle Menschen gewürdigt wird. Diese Würdigung Gottes hält Paulus auch in seinen Zeiten für angebracht und wichtig. Wir preisen im Vaterunser Gottes Reich, seine Kraft und seine Herrlichkeit. Das ist unser innerer Kniefall vor Gott. Das wirkliche Knien kann diesen inneren Vorgang natürlich körperlich verstärken.
Wir dürfen im Gebet mit Gott davon sprechen, wie wir die Kraft der Liebe Gottes in unserem Leben umsetzen. Gott weiß das zwar, aber es ist wichtig, dass wir ihm über unser Denken und Handeln Rechenschaft geben. Erinnern Sie sich auch an das Gleichnis Jesu vom Herrn, der außer Landes geht und seinen Knechten unterschiedlich viel Geld anvertraut, mit dem sie wirtschaften sollen? Bei seiner Rückkehr verlangt er von ihnen Rechenschaft über ihr Wirtschaften.
In dem Horizont dessen, was Paulus den Römern schreibt, können wir dieses Gleichnis Jesu so deuten: Wenn Jesus Christus am Ende der Tage zu Gericht sitzt, wird er uns fragen: „Was hast du in deinem Leben mit der Liebe Gottes gemacht, die ich dir gegeben habe? Hast du sie für dich allein behalten oder hast du sie vermehrt, indem du sie an andere weitergegeben hast?“
Paulus stellt die Grundforderung, nicht lieblos mit den anderen Menschen umzugehen, sie zu beurteilen und zu richten und ihnen keinen Anlass zu geben, sich von uns bedroht zu fühlen.
„Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.“ (V 13)
Diese Grundforderung stellt Paulus an die Mitglieder der Gemeinde in Rom, um den dort herrschenden Streit über die Reinheit von Speisen zu beenden.
An der Behandlung der alttestamentlichen Gebote im kleinen Katechismus Doktor Martin Luthers haben wir gelernt, dass eine Erklärung und ein weiteres Verständnis erreicht werden kann, wenn wir die Liebe Gottes in solch einem Zusammenhang zur Entfaltung bringen.
Betrachten wir noch einmal den letzten Vers unseres Predigttextes:
„Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.“
Wenn wir genau hinsehen, stellen wir fest, das Paulus eine solche Zweigliedrigkeit unter der Verwendung des Wortes „sondern“ bereits benutzt. Luther ist das sicher auch aufgefallen.
Wenn wir aus der Forderung des Paulus ein Gebot mit Erklärung machen; wie könnte es dann aussehen?
Du sollst andere Menschen nicht richten, sie herausfordern oder ärgern. Was ist das?
Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unseren Nächsten nicht richten, herausfordern oder ihm Anlass zum Ärger geben, sondern sollen ihn anerkennen und ihm helfen, die Kraft der Liebe Gottes in seinem Herzen zu spüren und aus dieser Kraft zu leben.
Mose hat Gott nach seinem Namen gefragt. Was soll ich sagen, wer mich geschickt hat?
Gott antwortet: Ich bin, der ich sein werde. (Ex 3,14)
Wenn wir diese Antwort mit der nötigen Ruhe und Klarheit bedenken, werden wir mit Erstaunen feststellen, dass Gott Mose etwas grundlegend Wichtiges mit auf den Weg gegeben hat.
Wir Menschen übersehen es gern, weil es unserem inneren Sicherheitsbedürfnis zuwiderläuft.
Wir können Gott keinen Namen geben, wir können ihn nicht beschreiben, wir können ihn auch nicht beurteilen
‚Ich bin, der ich sein werde’ ereignet sich. Jesus hat seinen Jüngern gesagt: „Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Mt 18,20) Unsere christliche Theologie bringt uns in die Gefahr aller bewusst religiösen Menschen, zu denken, dass wir Gott beschreiben und über ihn Auskünfte geben können.
Menschen, die Gott gar beurteilen, stehen in der Gefahr, vom Glauben abzufallen.
Wir Christen wissen, dass Jesus Christus uns den Zugang zu Gottes Liebe erschlossen hat. Was wollen wir denn noch mehr?
Wenn wir dabei sein wollen, wenn Gott sich ereignet, lasst uns in den Alltag der Welt aufbrechen. Es gibt genug zu tun. Packen wir es an!
Amen
Pfarrer i. R. Rainer Kopisch
Roonstr. 6
38102 Braunschweig
rainer.kopisch@gmx.de
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Schranken überwinden – Predigt zu Römer 14,10-13 von Ralph Hochschild
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde,
wir kennen das: Plötzlich schaudert uns. Es läuft uns kalt der Rücken hinunter. Wir entdecken bei jemandem ein Tattoo. Oder vielleicht ein Piercing an einer uns unangenehmen Stelle. Wir treffen einen jungen Menschen und wir finden: „Der ist ein bisschen zu gut gekleidet. Ein Schnösel”. Uns nimmt jemand im Auto mit. Wir steigen auf die Rückbank und auf dem Fond, da steht sie, jene umhäkelte Rolle. „Was für ein schlichtes Gemüt, wie peinlich, weiß der nicht, dass…?”
Wir begegnen Menschen. Wir kommen ihnen einen Schritt näher - und plötzlich fällt in unserem Kopf, in unserem Empfinden eine Schranke. Es schaudert uns. Es läuft uns kalt den Rücken herunter. Der andere wird uns plötzlich fremd oder sogar ein wenig unheimlich. Wir denken: „So bin ich nicht.” „Mit dem oder der habe ich nichts gemein.” Zwischen uns steht eine Schranke.
Von solchen Schranken spricht der Apostel Paulus in unserem heutigen Predigttext. Er steht im 14. Kapitel des Römerbriefes in den Versen 10 bis 13.
10 Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.
11 Denn es steht geschrieben (Jesaja 45,23): »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.«
12 So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.
13 Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.
Herr segne unser Reden und Hören. Amen.
Liebe Gemeinde,
es sind nicht nur die Schlagbäume, die längst – nach einem kurzen Sommer – wieder gefallen sind, die Menschen voneinander trennen. Es sind genauso unsere inneren Schranken. Wenn sie sich senken, so hindern sie uns, aufeinander zu zugehen, uns zu begegnen, uns kennenzulernen, uns schätzen zu lernen. Wir wissen das. Doch wir senken sie immer wieder. So stehen sie zwischen Völkern und Nationen, zwischen Religionen, zwischen gesellschaftlichen Gruppen und ihren Lebensstilen, zwischen Menschen, denen wir in unserem Alltag begegnen, zwischen Menschen, die zu unserer Kirche gehören. Es ist wie ein natürlicher Reflex. Als könnten jene Schranken deutlich machen, wer wir sind und was uns einzigartig macht. Als könnten wir durch die Abgrenzung von anderen unsere Identität gewinnen. Aber zu welchem Preis?
Wir sagen ja nicht nur: „So wie der andere bin ich nicht.” Wir fügen halblaut dann dazu: „sondern besser”. Wir denken: „Mit dem oder der habe ich nichts gemein.” Und setzen hinzu: „Denn ich bin Besseres gewohnt.” Wir ziehen nicht nur eine Grenzlinie, wir sprechen dazu ein Urteil. “Nicht vornehm genug, zu schlicht, überkandidelt, armer Schlucker, ein Angeber.”
Es gibt so viele Möglichkeiten, seine Identität auf Kosten eines anderen Menschen, eines anderen Volkes, einer anderen Religion, einer anderen Gruppe zu definieren, aber allen diesen Versuchen ist eines gemeinsam: Paulus hält sie für keine tragfähigen Identitäten. Er glaubt nicht, dass sie belastbar sind. Er ist überzeugt, dass sie in Konflikten nicht dem Frieden dienen. Er weiß, dass diese inneren Blockaden Verständnis und Gemeinschaft untereinander beschränken, statt sie wachsen zu lassen – zumindest in der christlichen Gemeinde.
Deshalb: „Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.”
Paulus zeigt: Es ist eine Illusion, sich durch innere Schlagbäume eine Identität zu konstruieren. Denn letztlich zählen diese Schranken nichts, wenn wir vor den Schranken des Gerichtes Gottes stehen. Dort sind wir alle gleich. Dort sind alle unsere Abgrenzungen und Urteile egal. Alle werden ihre Knie beugen, alle werden auf das gleiche Niveau gebracht.Aaber nicht, um gedemütigt, verurteilt und niedergedrückt zu werden, sondern um ihre Stimmen zu erheben, um Gott zu bekennen, wie es Paulus mit einem Zitat aus dem Jesajabuch sagt: »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.« Und ich füge den nun folgenden Satz bei Jesaja noch an: „Im Herrn habe ich Gerechtigkeit und Stärke.”
„Im Herrn habe ich Gerechtigkeit”. Nicht durch selbstgerechte Urteile, nicht durch Stolz auf meinen Glauben, nicht durch mein Handeln habe ich eine besondere Qualität. Durch Gottes Liebe bin ich gerecht geworden. Gott macht mich durch seine Gerechtigkeit zu einem liebenswerten Menschen. Ich muss weder mir noch einem anderen etwas beweisen. Deshalb bin ich frei, den anderen anzuerkennen, seine Besonderheit wahrzunehmen, ihn ernst zu nehmen, ihm die Hand zu reichen, ihn liebenswürdig zu finden. Denn ich weiß: Mein Selbstbild, meine Identität ist nicht bedroht. Sie ist mir vom lebendigen Gott geschenkt.
„Im Herrn habe ich Gerechtigkeit und Stärke.” Nicht durch Abgrenzungen und Schranken und Schlagbäume werde ich stark, gewinne ich meine Identität, sondern im Herrn habe ich Stärke. Durch meinen Glauben, durch mein Vertrauen, gewinne ich eine innere Stärke, die mir hilft, mein Leben zu bestehen. In Glück und Segen, in meinen Niederlagen und Misserfolgen. Meine Taufe erinnert mich daran, mich bestärkt die Feier des Abendmahls immer neu, wenn wir Brot und Wein miteinander teilen.
Paulus hat an der Feier des Abendmahls erkannt, wie destruktiv es sein kann, wenn sich Menschen gegeneinander abgrenzen. So schön es war, dass es schon in den ersten Gemeinden selbstbewusste Christen gab, die ohne Angst ihren neuen Glauben lebten und all die Götter und Dämonen ihres alten Glaubens hinter sich gelassen hatten. Ihre Selbstgewissheit hatte eine hässliche Hürde für die aufgerichtet, die das nicht konnten. Die sich fragten: Darf man wirklich Speisen essen, die gestern noch als unrein galten? Darf man wirklich heute unbefangen von dem Fleisch essen, das gestern zur Ehre der heidnischen Gottheiten geopfert wurde. Oder ist es mit den alten Dämonen verseucht? Ist es nicht besser, darauf zu verzichten?
Paulus selbst glaubt das nicht. Aber er widersteht der Versuchung, diejenigen, die sich fürchten, zu verachten. Er sagt nicht: „Was für schlichte Gemüter!” Nicht: „Wie altbacken glauben denn die?” Nicht: „Wie peinlich sind die für unsere Gemeinde!” Denn er spürt, wie die Gemeinschaft leidet, wie die unterschiedliche Glaubenspraxis die Gemeinde spaltet, wie die unterschiedliche Lebenspraxis Zugänge zur Gemeinde versperrt.
Paulus sucht deshalb den Weg des Respektes. Denn wenn vor Gottes Gericht alle Gottes Gerechtigkeit erfahren, so können sie alle einander gerecht werden. Niemand muss sich abgrenzen, keiner muss den anderen verurteilen.
Paulus geht den Weg des Verstehens. Verstehen ist vielleicht die machtloseste Form der Kommunikation. Sie verzichtet auf die Kraft der Überzeugung und die Macht der Argumente, aber sie ist es, die Menschen Anerkennung spüren lässt, die auch eine tiefe Kluft schließen kann, die Gemeinschaft stiftet. Wer sich auf den Weg des Verstehens macht, der wird aber auch sensibel für die Gewissensnöte des anderen, und kann seinen Sinn darauf richten, dass kein Anstoß, keine Hürde, keine Schranke den Weg zueinander versperrt.
Zum Verstehen gehört für Paulus aber auch, die Freiheit des anderen zu achten. Paulus beschreitet deshalb den Weg der Rücksichtnahme. Nicht die eigenen Maßstäbe und Gewohnheiten, sondern die Rücksicht auf das Gewissen und die Überzeugungen des anderen sind es, die die Schranken und Türen offen halten.
Vielleicht müssen wir das als Kirche und Gemeinde heute genauso lernen wie damals die ersten Christen der paulinischen Gemeinden. Sensibel zu werden für die vielfältigen Haltungen und die Bedürfnisse in unserer Gemeinde. Auch für die der Gemeindeglieder, die nicht regelmäßig an unserem Gottesdienst teilnehmen möchten. Denen anderes an Kirche und Glauben wichtig ist. Die ihren Glauben anders als wir zu leben wünschen.
Ob wir in Respekt, Verständnis, Rücksicht miteinander leben können, in den Unterschieden, die es heute bei uns gibt? Paulus hat mit seinem Modell für ein friedliches und respektvolles Miteinander wohl nicht über die Grenzen seiner Gemeinde hinaus gedacht. Heute wünsche ich mir, wir könnten es so überzeugend leben, dass es über die Grenzen von Kirche und Gemeinde hinaus anziehend wirkt. Ich glaube, wir bräuchten das. Amen.
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„Wat haste jemacht mit dein Leben?“ – Predigt zu Römer 14,10-13 von Walter Meyer-Roscher
Liebe Gemeinde,
„Nehmt sie und richtet über sie. Sie sollen den Preis, welchen auch immer, bezahlen.“ So hat vor kurzem ein Staatspräsident sich der parlamentarischen Opposition seiner Regierung zu entledigen versucht. Eine große Menschenmenge hat begeistert diese Aufforderung bejubelt.
Wir haben es mit Fassungslosigkeit gesehen und gehört. Das kann doch eigentlich keine Gesellschaft hinnehmen, in der alle ein Recht auf Gleichbehandlung haben. Da beginnt ein gefährlicher Weg der Ausgrenzung, der jede Gesellschaft spaltet und ein solidarisches Zusammenleben unmöglich macht.
Politische Verurteilungen und Ausgrenzungen Andersdenkender kennen wir durchaus auch bei uns. Sie finden sogar Eingang in Parteiprogramme und werden auf Parteitagen schonungslos ausgesprochen. Das macht uns Angst.
„Nehmt sie und richtet über sie!“ Der Nährboden für solche Aufforderungen, für ihre oft begeisterte Aufnahme und ein entsprechendes kompromissloses Denken und Handeln ist groß. Er findet sich in vielen Bereichen unseres Lebens und unseres privaten, auch gesellschaftlichen Zusammenlebens.
So neu ist das offenbar ja nicht. „Warum richtest du deinen Bruder?“, fragt schon Paulus in seinem Brief an die junge christliche Gemeinde in Rom.
„Nehmt sie und richtet über sie!“ Ein breites Fernsehpublikum wartet darauf. In meiner Tageszeitung las ich vor kurzem auf der Medienseite, dass die sogenannten Reality Shows, deren Menge auf allen Fernsehkanälen zunimmt, nach folgendem Grundprinzip funktionieren: „schlichter Kandidat dient als Lästeropfer, über das sich die Zuschauer erheben können“. Die Sender sind sich einer hohen Einschaltquote sicher.
Gleichzeitig twittert sich eine heranwachsende Generation durch die sogenannten sozialen Medien. Und da nimmt das gegenseitige Richten und Abqualifizieren beängstigend zu. Man verfolgt Andersdenkende, aber auch Versager, Menschen, deren Fehler man in der medialen Öffentlichkeit anprangern kann und die sich nicht wehren können gegen Häme und verletzenden Beleidigungen.
Wieder fragt Paulus: „Und du, was verachtest du deinen Bruder?“
Sich über andere erhaben zu fühlen und sie auf vielerlei Weise herabsetzen zu können, hat schon immer Menschen angezogen. Warum tut ihr das, fragt schon damals Paulus. Warum richtet und verachtet ihr eure Mitmenschen? Er legt den Finger auf eine schon immer brennende Wunde: Das ist doch nichts weiter als der ständige Versuch, euch selbst zu rechtfertigen, indem ihr euren wachsamen, kritischen Blick zuerst auf die Menschen neben euch richtet. Verschließt doch nicht die Augen vor der Tatsache, dass jeder Mensch über sein eigenes Denken und Handeln Rechenschaft ablegen muss. Warum denkt ihr nicht zuerst an Gott, euren Gott und den aller eurer Mitmenschen? Vor seinem Richterstuhl werden wir alle stehen, ruft Paulus in Erinnerung. „So wird nun jeder von uns für sich selbst Rechenschaft geben.“
In Carl Zuckmayers Theaterstück „Der Hauptmann von Köpenick“ erinnert sich der Berliner Schuster Wilhelm Voigt, dass auch er als von der Gesellschaft immer wieder Abgeschobener und Ausgegrenzter einer letzten Instanz gegenüber Rechenschaft schuldig ist. In seiner Berliner Mundart drückt er das so aus: „Denn stehste vor Gott, dem Vater, der allens jeweckt hat, vor dem stehste denn, und der fragt dir ins Jesichte: Willem Voigt, wat haste jemacht mit dein Leben?“ Die Antwort wird so unbefriedigend ausfallen, weiß Voigt, dass Gott sagt: „Dafür ha ick dir det Leben nich jeschenkt […] wo is et? Was haste mit jemacht?“
Sagt Gott nun auch, wie wir es in unserem politischen und sozialen Umfeld immer wieder hören: Abschiebung, Ausgrenzung?
Wilhelm Voigt will Gottes Frage nicht als höchstinstanzliche Aburteilung verstehen. Er will sie vielmehr als eine eindringliche Mahnung hören. „Ick wer noch was machen mit mein Leben“, nimmt er sich vor. Ob es ihm gelingt, haben dann – Gott sei Dank – nicht Menschen zu beurteilen. Gott richtet. Er richtet uns auf ihn hin aus. Darin liegt doch eine große Hoffnung, dass wir den Blick auf Gott lenken und daher den Willen und die Kraft nehmen können, unser Leben verantwortungsvoll zu gestalten.
In meinem griechischen Neuen Testament lese ich, dass einige alte Handschriften den Hinweis des Paulus auf den Richterstuhl Gottes durch das Bild vom Richterstuhl Christi ersetzen. Aus seinem Mund kommt in vielen mittelalterlichen Bildern zwar das Schwert, aber auch die Lilie als Zeichen von Gnade und Vergebung. Sicher, das Schwert deutet auf eine letzte Verantwortung hin, die wir alle für unser eigenes Leben, aber auch für eine mitmenschliche Ordnung des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft haben. Das Bild von der Lilie dagegen will Mut machen, die Menschenwürde, die Gott uns allen verliehen, und die Freiheit, die er uns allen mitgegeben hat, zu wahren und zu nutzen. Wilhelm Voigt hatte das verstanden, als er sich vornahm, noch etwas aus seinem Leben zu machen, das Geschenk des Lebens mit den Möglichkeiten zum Guten zu nutzen. Dann kann er sich auch an die Hoffnung halten: Gott will nicht ausschließen und ausgrenzen. Sein Urteil soll vor allem ein Aufruf zur Verantwortung für das eigene Leben und das unserer Mitmenschen sein.
Das bleibt unsere Hoffnung in allen Verwerfungen unseres Zusammenlebens: Gott nimmt seine Verheißungen nicht zurück. Im Leben seines Sohnes und unseres Menschenbruders Jesus Christus sind sie lebendig geworden.
Nein, keine Aburteilung durch einen ewig strafenden Richter. Eher ein nachdrücklicher Hinweis auf eine Ordnung von Leben und Zusammenleben, in der ein Dank für die Gaben, die jeder Mensch von Gott mitbekommen hat, ebenso seinen Platz hat wie die Achtung vor der Menschenwürde aller anderen, für Barmherzigkeit und Bereitschaft zur Verständigung statt Richten, Aburteilen und Ausgrenzen. Jesus hat diese Ordnung gelebt, für uns sichtbar und erfahrbar gemacht. Und so hat Paulus sie auch das „Gesetz Christi“ genannt, ein Gesetz der Mitverantwortung und Mithilfe gerade da, wo Menschen Hilfe brauchen, um ihre Lebenslast zu tragen.
Im biblischen Leitwort für die kommenden Woche lässt Paulus seine Gedanken in die Mahnung münden: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ (Galater 6,2).
Amen.
Walter Meyer-Roscher
Landessuperintendent i.R.
e-mail: meyro-hi@arcor.de
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Lobpreis der Wunderwege Gottes - Predigt zu Römer 11,33-36 von Heiko Naß
Lobpreis der Wunderwege Gottes
O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!
Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? (Jesaja 40,13)
Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste«? (Hiob 41,3)
Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.
Liebe Gemeinde,
zufällig war die junge Frau an einem Abend im Juni mit einer Freundin auf Rollerblades unterwegs auf der Promenade, als die Kräfte nach einiger Zeit langsam sie verließen. Zufällig war ein junger Mann an diesem Abend mit seinem Fahrrad unterwegs und zufällig gerade an dieser Stelle angelangt, als die Frau mit Ihrer Freundin Ausschau hielt nach jemand, der sie für eine Strecke zurückziehen würde. Zufällig hatte er an diesem Abend etwas Zeit und nichts dagegen, den beiden Damen auf der schwierigsten Strecke etwas behilflich zu sein. Zurück am Ausgangspunkte bedankte man sich und ging auseinander. Zufällig nahm er am folgenden Tag sein Mittag nicht wie gewohnt in der alten sondern der neuen Mensa der Universität ein. Zufällig hatte sie an diesem Tag ein wenig früher Schluss und war bereits um 12:00 statt wie gewohnt um 13:30 in der Mensa. Man kann sich denken, wie der Zufall diese Geschichte weiter geschrieben hat. Jedenfalls saßen beide ein gutes Jahr später vor mir auf den Traustühlen in der Kirche.
Zufälle – haben Sie mitgezählt, es waren sieben Zufälle in dieser Begegnungsgeschichte, sieben, eine vollkommene Zahl. Was wir Zufälle nennen, nennt die Sprache des Glaubens anders. Sie nennt es ein Wunder, und sie erzählt von dem, der solche Wunder zu wirken vermag. Im Buch des Propheten Jesaja heißt es: „Meine Gedanken sind nicht Eure Gedanken und meine Wege nicht eure Wege“, spricht der Herr. „Denn so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege, und meine Gedanken höher als eure Gedanken...“
Die Begegnung zweier Menschen, die einander zum Schicksal werden, rührt an die Grunddimensionen unseres Lebens. Ist alles wirklich so zufällig? Oder gibt es nicht doch einen heimlichen Autor in der Geschichte unseres Lebens. Einen Autor, der für die Geschöpfe seines Wirkens nur den Wunsch kennt, dass sie ihr Glück machen, in Freuden aus ziehen und im Frieden geleitet werden. Auch wenn seine Gedanken höher sind als unsere Gedanken und seine Wege höher sind als unsere Wege, so heißt das doch ganz und gar nicht, dass seine Wege entfernt seien von unseren Wegen. Vielmehr erzählen die Geschichten der Bibel von Gott so, dass er sich mit auf den Weg macht und dabei das eine, wesentliche, Elementare vermitteln will: Segen.
Wer vom Geheimnis Gottes redet, redet zugleich auch vom Geheimnis des Lebens. Davon schreibt der Apostel Paulus in seinem Text, über den wir heute für einen Augenblick nachdenken wollen.
„O, welch eine Tiefe des Reichtums…“, so beginnt der Text, holt uns ab und führt und in die Tiefe.
Wer schon einmal im Meer getaucht ist, weiß, was für eine Faszination von diesem Weg in die Tiefe ausgeht. Hinab zu tauchen aus der Unruhe der Oberfläche, die Bewegungen der Wellen hinter sich lassen und die Ruhe spüren, die einen umgibt.
Von der Tiefe schreibt der Apostel Paulus. Von der Tiefe, in der die Wahrheit liegt. Von der Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes. Wer diese Tiefe entdeckt hat, der hat auch Gott entdeckt. Der hat seinen Ort gefunden, weg von der Oberfläche, dem Schein und Auf und Ab und ist hinabgedrungen, um die Töne aus der Tiefe zu hören.
Was wir erfahren, entzieht sich unserem Begreifen. Wir erleben Tiefe in den Momenten des Glücks, das Staunen, dass wir in der anscheinenden Unendlichkeit des Universums wirklich gemeint sind vom Guten. Dass unter den zahlreichen Möglichkeiten die eine sich für uns ergeben hat, in der wir wirkliche Einheit spüren mit uns selbst, mit unserem Hier und Jetzt, mit Gott.
Alle gute Gabe, schreibt Matthias Claudius, in seinem Erntelied, kommt her von Gott, dem Herrn.
Alle gute Gabe, ja – aber was ist mit den Schlägen, die uns genauso treffen. Mit einem Unglück, das uns einen geliebten Menschen aus der Mitte reißt, mit Krankheit, mit Verlust von Arbeit. Gerade die Erfahrungen des Leidens stoßen uns doch hinab in die Abgründe, in die Schluchten der Tiefe, in deren Finsternis kein Licht zu scheinen scheint.
Es gibt Dinge auf dieser Erde, die wir niemals verstehen werden. Warum für das fröhliche Mädchen ihr Leben nach elf Jahren zu Ende sein musste, warum für sie die Hälfte ihres Lebens von einer Krankheit gezeichnet war, werden wir nicht ergründen können. Wir sind bis aufs Mark getroffen. Dann erleben wir, dass die Antworten, die einmal Halt hatten, ihre Klarheit verlieren. Dass sich der Abgrund auftut und wir erschrecken, weil auch wir verloren gehen könnten, weil uns nichts mehr trägt und birgt. „Wer hat den Sinn des Herrn erkannt oder wer ist sein Ratgeber gewesen“, fragt Paulus, als wüsste er genau, welche Beklemmungen im Leben uns verfolgen können.
Die Größe Gottes misst der Apostel Paulus aus, wenn er von der Tiefe der Gottheit schreibt. Unbegreiflich und unerforschlich sind seine Wege. Kein Rätsel ist gemeint, sondern ein Geheimnis. Ein Rätsel verlangt nach Lösung. Es rechnet damit, dass es auf Fragen eine Antwort gibt. Ein Geheimnis aber gibt keine Antwort, es entzieht sich einer Berechnung. Ein Geheimnis ist darauf angelegt, dass man zu ihm hervordringt, dass nicht wir es lösen, sondern es sich uns erschließt.
Was das Geheimnis des Lebens von uns verlangt, ist, dass wir uns zum ihm verhalten. Dass wir es nicht abtun und beiseite tun, sondern uns zu ihm aufmachen.
Genau dahin möchte uns der Apostel führen, dass wir von diesem Geheimnis angezogen, in dieses Geheimnis hineingezogen werden. Indem wir uns zu unserem Geheimnis des Lebens verhalten, nähern wir uns auch dem Geheimnis Gottes an. Denn zwischen uns und Gott besteht eine Schnittmenge, eine Übereinstimmung, sie besteht darin, dass Gott in seinem Sohn Jesus Christus unseren Weg auf der Ergründung unseres Geheimnisses mit geht bis in die Tiefen der Abgründe hinein. „Ich bin das Licht der Welt“, sagt Jesus. Wo von ihm erzählt wird, da soll diese Erde und alle Geschöpfe auf ihr belebt werden.
Aber sein Licht scheint auch in die Finsternis. Über die Finsternis macht die Bibel sich keine Illusion. Es gibt diese schweren Schatten der Last, Dunkelheiten wie Krankheit, wie Leid, wie Tod. In diese Dunkelheiten ist Jesus hineingegangen, Leid und Sterben hat er auf sich genommen im Kreuzestod, damit es keinen Ort gibt, in dem sein Licht nicht auch gewesen ist. „Ihn hat Gott auferweckt und hat aufgelöst die Schmerzen des Todes, wie es denn unmöglich war, dass er vom Tode festgehalten werden konnte“, das ist die Urbotschaft des Evangeliums, das erste Mal so verkündigt in der Predigt des Petrus zu Pfingsten vor gut 2.000 Jahren (Apg 2,24). Weil es bei Gott immer um alles geht, ist darum das Leben in Jesus durch den Tod hindurchgegangen, damit wirklich alles durch ihn geschehen ist. Gott zieht uns in sein Geheimnis, er zieht uns in das Leben hinein.
Wenn nun von ihm und durch ihn alle Dinge sind, wie werden dann alle Dinge zu ihm sein? Was ist damit gesagt? Mit dieser Frage setzen wir einen Schritt in die Zukunft. Diese Zukunft liegt nicht nur jenseits aller Dinge, also jenseits unserer Welt. Diese Zukunft beginnt in jedem Augenblick, sie ist schon nachher oder sie ist morgen. Sie kann uns verändern.
Für Menschen mit der Diagnose Demenz oder Alzheimer ist die Unsicherheit, wer wir in der Zukunft sein werden, eine der großen Ängste, die ihnen in dieser Krankheit begegnen.
Wie wird es sein, wenn ich mich meiner Liebsten nicht mehr erinnern, wenn ich mich vielleicht einmal nicht mehr meiner selbst erinnern kann. Wer bin ich dann, bin ich dann noch derselbe oder ein anderer oder ein Fremder in meinem Körper?
Von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge, schreibt Paulus. Wenn Gott uns in sein Geheimnis und in das Leben hineinzieht, dann werden wir uns nicht verlieren. Wir haben unser Leben nicht von uns selbst. In allem, was sich ändert und wie wir uns verändern, bleibt Gott derselbe. Er bleibt uns zugewandt. Seine Beziehung bleibt, sie ist die Quelle des Lebens und sie wird sein, wo immer wir sind. Sie wird auch sein, wenn unser Geist sich verdunkelt, und sie wird auch sein, wenn Nacht um uns ist. „Bei ihm ist die Quelle des Lebens und in seinem Lichte sehen wir das Licht“ (Ps 36,10). Das ist der Schritt auf ihn zu, denn nicht nur von ihm und durch ihn, sondern auch zu ihm sind alle Dinge.
Paulus hat kein Klagelied angesichts der unerforschten Wege Gottes geschrieben. Er schrieb einen Lobgesang, dessen Finale aus der Tiefe in die Höhe klingt: Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit.
Amen.
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Ein Geheimnis, das jeder versteht und niemand erklären kann - Predigt zu Römer 11,32–36 von Helmut Dopffel
„Ein Geheimnis, das jeder versteht und niemand erklären kann“
Liebe Gemeinde,
es gibt Situationen, in denen es mir die Sprache verschlägt – vor Erstaunen oder Entsetzen, vor lauter Glück oder weil mich der Schmerz überwältigt. Und wenn es mir nicht die Sprache verschlägt, oder wenn ich Worte wiederfinde, dann sind es oft zuerst die Worte anderer, ein Lied, ein Gedicht, ein Zitat, ein Vers, der mir die Worte gibt, die mir selbst gerade fehlen: What a wonderful day! Let it be! Oder es bleibt nur ein Buchstabe: O! O wie schön! O wie schrecklich! So ähnlich muss es Paulus gegangen sein. Er schreibt einen Brief an die christliche Gemeinde in Rom, und beim Schreiben klären sich seine Gedanken. Er denkt nach über eine Frage, die ihn sehr beschäftigt, nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen, und die ihn im Grunde sein ganzes Leben lang seit seiner Berufung vor zwei Jahrzehnten umgetrieben hat. Paulus ist Jude, und er denkt darüber nach, warum die allermeisten Juden die Botschaft von Jesus Christus ablehnen, ihn nicht als Messias anerkennen, und deshalb auch nicht anerkennen, dass zum Gottesvolk nun viele Menschen gehören, die keine Juden sind. Unter dieser Ablehnung hat Paulus furchtbar gelitten, äußerlich und innerlich. Es sind doch seine Schwestern und Brüder, seine Familie, sein Volk, das Volk Israel! Und Israel ist von Gott erwählt, ist Gottes große Liebe. Kann Gott diese große Liebe einfach fallen lassen? Ist er nicht treu und verläßlich? Welcher Sinn liegt dann aber in dieser Verweigerung? Dieses Thema ist für die Kirche bis heute nicht erledigt. Und damit verbindet sich eine andere Frage, die uns ebenfalls auch heute noch beschäftigt und zu hitzigen Diskussionen führt: Wie ist es denn mit den Menschen anderer Religionen, Muslimen, Aleviten und Sikhs und Bahai und Buddhisten und Hindus und anderen, mit denen wir heute nicht nur auf dieser Erde, sondern in unserem Land zusammenleben und deren religiöse Überzeugungen wir zu respektieren haben? Sind sie nicht alle von Gott geschaffen und gewollt und seine Kinder? Was hat Gott mit all diesen Menschen denn vor?
Paulus, so sagt er, ist hier einem göttlichen Geheimnis auf der Spur. Ihm ist, beim Schreiben und beim Nachdenken über die Worte des Alten Testaments und die Worte Jesu und über seine eigenen Erfahrungen, ein Licht aufgegangen. Er hat etwas von diesem Geheimnis verstanden, auch wenn er es nicht erklären kann und es deshalb ein Geheimnis bleibt. Ihm ist etwas – eingefallen. Ein göttlicher Einfall! Er fasst ihn so zusammen: „Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.“ Und mit alle meint er alle, Juden und Heiden, in seiner Ausdrucksweise, heute würden wir sagen: Alle Völker, alleMenschen. Ausnahmslos alle!
Diese Erkenntnis überwältigt ihn. Und deshalb schreibt er, mitten in seinem Brief, ein Lied nieder, einen Hymnus. Wir wissen nicht, ob er das Lied selbst gedichtet hat oder ob er es zitiert, wir wissen aber, dass das Lied aus Zitaten besteht, und zwar aus jüdischen und heidnischen Zitaten. Und es beginnt mit O:
O welch eine Tiefe des Reichtums,
beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!
Wie unbegreiflich sind seine Gerichte
Und unerforschlich seine Wege!
Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt
Oder wer ist sein Ratgeber gewesen?
Oder wer hat ihm etwas zuvor gegeben,
dass Gott es ihm vergelten müsste?
Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.
Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen
Ich bin davon überzeugt, dass diese Verse allen Menschen etwas sagen, nicht nur denen, die wir heute „religiös musikalisch“ nennen. Die unbegreiflichen Gerichte, die unerforschlichen Wege: Das sind doch ganz reale Lebenserfahrungen. Dramatisch erzählt werden sie zum Beispiel im Buch Hiob, das nicht ohne Grund bis heute populär ist. Hiobs Leben wird durch eine unerklärliche, schreckliche Folge von Unglücksfällen zerstört, sein Wohlstand vernichtet, seine Kinder getötet, er selbst krank, es bleibt ihm nichts als das nackte elende Leben und auch das ist gefährdet. Und das alles, obwohl er ein frommer und gerechter Mann ist, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen. Warum? Warum ist ihm all das widerfahren? Warum war das sein Weg? Darüber grübelt er nach, darüber grübeln seine Freunde nach, darüber grübeln Menschen aller Zeiten nach. Da wird dieser Satz des Paulus zu einem Vehikel für Resignation, Zynismus und Zorn: Unbegreiflich und unerforschlich sind Gottes Wege. Was ist das für ein Gott! Dafür kann man Gott doch nicht loben! Nein, dafür kann man Gott nicht loben, und dafür dürfen wir ihn auch nicht loben. Das wäre doch nur heroisch und unwahrhaftig. Das will Gott nicht.
Die unbegreiflichen Gerichte, die unerforschlichen Wege können aber auch in eine ganz andere Richtung führen. Manchmal sehen wir lange keinen Weg, und dann entsteht er doch unter unseren Füßen. Die Dinge fügen sich, unerwartet und unvorhersehbar und wunderbar. Wir begegnen einem Menschen, der uns schon immer Angst gemacht hat, an unbekanntem Ort, und zucken zusammen und denken O je, muss das sein? Doch diesmal ist es anders, wir kommen ins Gespräch, ein Faden spinnt sich wo nie einer war, das erste Lächeln, und die Angst macht sich davon als wäre sie nie gewesen. Ja, es musste sein, diese Begegnung. - Eine Erinnerung, die uns bedrückt, eine Schuld die wie eine schwere Last auf uns liegt löst sich auf, weil jemand das richtige Wort gefunden hat, das unser Herz erreicht und leicht und hell macht. - Oder wir blicken zurück auf unseren Lebensweg und sehen: Wäre damals meine erste heftige Liebe erhört worden, wäre ich meiner großen Liebe nie begegnet. Hätte ich mich damals nicht erfolglos beworben, hätte ich die neue Stelle nie bekommen. Und wir erahnen, im Rückblick, im Nachhinein: Gottes Wege sind verborgen und führen doch zum Ziel. Er schreibt auf krummen Linien gerade. Er fügt. Natürlich waren wir selbst es, die diesen Weg gegangen sind. Natürlich waren es andere Menschen, die uns den richtigen Rat gegeben, das lösende Lächeln geschenkt haben. Und doch: Das allein war es nicht. Alles hat sich merkwürdig gefügt.
Es sind die Geheimnisse des eigenen Lebens, und darüber hinaus die Geheimnisse des Lebens überhaupt und vielleicht auch die Geheimnisse der Geschichte und des Universums, an die uns dieses Lied des Paulus von der Tiefe Gottes und seinen unergründlichen Wegen denken lässt. Und vieles bleibt rätselhaft, und manches schmerzlich rätselhaft. Das Lied des Paulus löst diese Rätsel nicht, und nur manchmal blitzt im Leben eine Ahnung auf, wie es sein könnte, diese Auflösung. Aber wenn wir wissen, dass es nicht ein dumpfes und zufälliges Geschick ist, das unser Leben bestimmt, sondern dass es die unerklärlichen und unerforschlichen Wege Gottes sind, auf denen wir gehen oder geführt werden, dann sind wir nicht verlassen, sondern geborgen in einer unbegreiflichen Weise. Wenn wir wissen, dass wir es nicht mit den Rätseln des Schicksals, sondern mit einem Geheimnis Gottes zu tun haben, dann hat sich schon viel verändert.
Für Paulus hat das Geheimnis aber noch einen ganz anderen und präziseren Sinn. Ihm geht es nicht um die Rätsel des eigenen Lebens oder des Universums. Seine Frage heißt ja: Was hat Gott mit den Menschen vor, die nicht an Jesus Christus glauben? Und da hat er einen Blick auf das Geheimnis erhascht, der sich mit vier Punkten umschreiben lässt:
- Gott ist nicht exklusiv. Glauben heißt, zu vertrauen: ich bin sein. Glauben heißt nicht: Gott gehört mir, und nur mir. Oder uns, und nur uns. Gott ist für alle da, denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.
- Gott hat für jeden und jede den eigenen Weg, und er findet ihn. Für die Juden so, für die Heiden anders. Für dich so und für mich so. Gott findet jeden Menschen und führt ihn zu sich. Für alle gibt es einen Weg. Es geht immer um alle und alles, denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.
- Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Wir Menschen leben im Ungehorsam. Das ist mir sofort plausibel, wenn ich auf mich selbst blicke. Und es ist mir sofort plausibel, wenn ich auf unsere Welt heute schaue, oder auf die die Geschichte der Menschheit. Ungehorsam bedeutet ganz schlicht: Wir tun nicht, was für uns, für andere Menschen, für diese Welt, für die Zukunft gut wäre und notwendig ist. Ungehorsam heißt: Wir wollen nicht lieben. Doch Gott ist viel größer als unser Ungehorsam, und seine Liebe stärker als unsere Lebensfeindlichkeit. Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.
- Und schließlich: Dass Gott für alle da ist, dass er für jeden seinen Weg findet, dass seine Liebe stärker ist als unser Ungehorsam: All das haben wir nicht verdient. Wir haben es nicht verdient, können es nicht verdienen, müssen es nicht verdienen. Wir haben es auch nicht gemacht. Wir haben auch keinen Anspruch darauf, sowenig wie es einen Anspruch auf ein gutes Leben, auf ungestörten Wohlstand und Wellness und Gesundheit gibt. Gottes Handeln an uns zerstört alle Machbarkeitsphantasien und jedes Anspruchsdenken. Es ist allein Gottes Tiefe und Reichtum und Weisheit und Erkenntnis, von der wir leben, der wir unser Leben und Weiterleben verdanken. Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.
Gottes Größe und Reichtum ist – das Heil für alle. Das ist das Geheimnis, das Paulus plötzlich versteht, das auch wir verstehen können. Und doch bleibt es ein Geheimnis, denn: Warum ist das so? Warum tut Gott das? Darüber staunt Paulus. Deshalb schreibt er dieses Lied.
Die Tiefe Gottes ist also nicht einfach schwarz und dunkel und bedrohlich. Diese Tiefe der Gottheit ist voller Reichtum und voller Licht und Liebe. Sie ist ein Geheimnis, denn sie ist unerschöpfbar, und keiner kann auf den Grund schauen oder gar auf den Grund kommen. Aber das Geheimnis ist nicht stumm. Es ist voller Musik. Es hat eine Botschaft: Dass er sich aller erbarme. Es ist ein Geheimnis, weil es jeder verstehen, aber niemand erklären kann. Kein Kalkül, keine Vernunft, keine Moral, keine Philosophie kann das erklären. Aber wir alle verstehen, was es bedeutet. Er erkennt uns, bevor wir ihn erkennen. Er hält uns, auch wenn wir ihn loslassen und loswerden wollen. Wir haben unsere Geschichte mit Gott, und die ist brüchig und voller Fragen und Zweifel und Ungehorsam. Aber Gott hat seine Geschichte mit uns, und die ist treu und verlässlich und voller Liebe und Kraft. Wir sind geliebter, als wir es uns vorstellen können.
Können wir noch mehr sagen über dieses Geheimnis? Die Kirche hat das in ihren Glaubensbekenntnissen gewagt. Der eine Gott ist Gott als Vater, Sohn und Geist, ist also in sich selbst Beziehung, Gemeinschaft, Liebe. Gott ist Vater, Sohn und Geist, und der Geist ist das Band der Liebe zwischen Vater und Sohn. So etwa, ganz grob zusammengefasst, erklärt das die christliche Theologie, und sie hat das mit großem geistigen Aufwand und Raffinesse entwickelt. Wir glauben nicht an diese Feinheiten der Theologie. Wir glauben aber, dass der eine Gott Liebe ist, in sich selbst zuerst, und dass dann diese Liebe ausstrahlt nach außen und uns und alle umfasst, damit er sich aller erbarme.
Das ist das Geheimnis, das wir erblicken, wenn Gott uns in sein Herz schauen lässt. Aber warum dieses Herz Gottes ist, wie es ist und was es ist, das bleibt ein Geheimnis, bis ans Ende der Zeiten und vielleicht sogar in alle Ewigkeit.
Deshalb sind auch mit dem Lied des Paulus nicht alle Fragen beantwortet, alle Rätsel gelöst, alle Geheimnisse gelüftet. Im Gegenteil: Jedes Geheimnis schafft neues Staunen und neue Fragen und neues Suchen, und dieses erst recht. Wir bleiben unterwegs. Amen.
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Predigt zu Römer 11,32-36 von Rainer Stahl
Liebe Leserin und lieber Leser!
Liebe Schwestern und Brüder!
Es gibt die Sage um Augustinus von Hippo, nach der er am Meer spazieren gegangen sei und einen Jungen am Strand beobachtet habe, wie dieser versuchte, das Meer mit Hilfe einer Muschel in eine Mulde im Sand des Strandes zu schöpfen. „Aber, das ist doch unmöglich“, meinte Augustinus zu ihm. Worauf der Junge antwortete: „Genauso unmöglich ist es, die Trinität, die Dreieinigkeit Gottes, zu verstehen.“
Als hätte Paulus diese Erkenntnis schon vorweggenommen, schreibt er in unserem Teil seines Briefes an die christliche Gemeinde in Rom nur – aber, was heißt hier: „nur“? – in Sätzen des Staunens, der Feier, der Verherrlichung: „Welch’ Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unnahbar sind seine Zuweisungen, und wie unverstehbar sind seine Wege!“ (Vers 33).
Er kann nicht anders, als Aussagen seiner eigenen Bibel aufzunehmen, aber Aussagen, mit deren Hilfe er nur zum Ausdruck bringen kann, dass wir Menschen – auch die geistlichen Menschen, ja: gerade die geistlichen Menschen – die Distanz zu Gott nicht überbrücken können. Eine dieser Aussagen lautet: „Wer hat den Geist Gottes erfasst? Und welcher Mensch ist in der Lage, ihm Rat zu erteilen?“ – aus Jesaja 40,13.
Und er schließt mit einem Bekenntnis, das Seinesgleichen sucht: „Denn aus ihm und durch ihn und zu ihm hin ist alles. Ihm ist Ehre in Ewigkeit. Amen!“ (Vers 36).
Nur in einer Hinsicht wäre diese Sprachgewalt noch zu verbessern. Wer immer wieder einmal Luther liest, kann eine interessante Beobachtung machen: Luther verändert an entscheidenden Stellen seine Sprachform. Er wechselt von der Rede über Gott in die Anrede zu Gott hin: 1523 stellte er in einer Predigt zum Petrusbekenntnis fest, dass es ein unzureichendes Verstehen Christi gibt, nämlich das Verstehen als Vorbild:
„Wo also nur Vernunft ist und »Fleisch und Blut«, die können nicht weiter Christum begreifen als allein für einen heiligen, frommen Mann, der von sich ein fein Exempel gebe, dem nachzufolgen sei.“
Und er unterstreicht: „Nun, wer ihn so annimmt, allein für ein Exempel eines guten Lebens, dem ist der Himmel noch verschlossen und er hat Christum noch nicht ergriffen, noch erkannt.“ Eine solche Frau, ein solcher Mann, die Christus als ein Vorbild für ihr Leben nehmen, tun gewiss viel, aber eigentlich haben sie noch gar nichts verstanden.
Deshalb endet Luther mit dem Bekenntnis: „Das andere Verständnis von Christus ist das […]: »nicht einer, der anderen vorangeht. Es ist noch viel höher mit dir: du bist Christus, der heilige Gottessohn«“ – und wechselt dabei in die Anredeform, wie sie Petrus im Gespräch mit Jesus (Matthäus 16,16) natürlich verwendet hat.
Genauso müsste das in unserer Stelle aus dem Römerbrief sein. Paulus sollte nicht etwas über Gott sagen, als könnten wir Menschen uns neben Gott stellen und über ihn scheinbar neutral überprüfbare Aussagen machen. Paulus sollte Gott anreden – dann würden seine Worte Wirklichkeit werden, uns wirklich verändern: „Welch’ Tiefe deines Reichtums und deiner Weisheit und deiner Erkenntnis, o Gott! Wie unnahbar sind deine Zuweisungen, und wie unverstehbar sind deine Wege! [...] Denn aus dir und durch dich und zu dir hin ist alles. Dir ist Ehre in Ewigkeit. Amen!“
Das ist keine Spielerei. Ich bin zutiefst überzeugt, dass alle Aussagen über Gott in der dritten Person eigentlich unangemessen sind. Wenn es stimmt – und ich denke, es stimmt –, dass niemand Gottes Geist erfasst hat und niemand in der Lage ist, ihm Ratschläge zu erteilen, dann müssen wir aufhören, so zu tun, als hätten wir „Gottesgelehrtheit“ und könnten Aussagen über Gott machen wie über einen Versuchsgegenstand. Das können wir nicht! Und weil wir das nicht können, bleibt nur die Möglichkeit, Gott anzureden: ihn groß zu machen – oder ihn mit unseren Zweifeln und Enttäuschungen zu konfrontieren.
Der christliche Glaube an den dreieinen Gott ist nichts anderes, als die Erkenntnis, dass wir das dürfen. Denn der Glaube, dass uns in Jesus Christus Gott entgegentritt, heißt, dass er unseren menschlichen Unzulänglichkeiten nicht fern ist, sondern sich ganz in sie hinein begeben hat. Und der Glaube, dass Gott als Geist in uns wirkt, bedeutet, dass unser Beten – unser Klagen und unser Bitten, unser Loben und unser Danken – Worte finden kann, die bei ihm ankommen, die Gott erreichen, weil sie von Gott selbst bewirkt sind.
Nun wollen wir ein „Trinitatis-Lied“ miteinander singen, auf dessen „Trinitatis-Charakter“ Ihr vielleicht noch nie gekommen seid: die zweite Strophe von „Ein feste Burg ist unser Gott“. Martin Luther hat gedichtet:
„Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren
es streit’ für uns der rechte Mann, den Gott hat selbst erkoren.
Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ,
der Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott,
das Feld muss er behalten.“
Habt Ihr Euch die Unlogik und zugleich theologische Richtigkeit dieser Zeilen schon einmal vergegenwärtigt?
Zuerst: Der „rechte Mann“, von „Gott selbst erkoren“ – also einer aus uns Menschen, den Gott für sein Vorhaben ausgewählt und in Dienst genommen hat.
Dann aber derselbe: Der „Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott“ – also Gott selbst, kein Mensch!
Jesus aus Nazareth, der Christus, und Gott ganz eng zusammengerückt, so dass kein Blatt Papier zwischen sie passt, ja: sie in eins gesetzt! Das ist zu erkennen, besser: zu ahnen und zu glauben. Das ist das Wesen des Christlichen!
Ihr werdet fragen: Aber, wo ist der Geist, die dritte Person Gottes, der Trinität, die wir heute doch auch bekennen und feiern? Dieser Geist ist genau dabei. Denn ohne ihn könnten wir diese tiefe Wahrheit nicht erkennen, besser: nicht ahnen, nicht glauben. Den Geist dürfen wir nicht als weitere Gestalt dazu malen, sondern der Geist ist die Kraft, die überhaupt zu diesen Glaubenseinsichten verhilft. Und die entscheidende Glaubenseinsicht, zu der er verhilft, ist die Einsicht darin, dass uns in Christus Gott entgegentritt, dass Christus das „Bild Gottes“ ist!
Je älter ich werde, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass wir uns Gott weder vorstellen noch ihn uns malen können. Alle Bilder unseres Denkens und alle Bilder unserer Maltraditionen, die ihn als menschengestaltige Person ins Bild setzen, als „alten Mann“ darstellen, sind falsch. Hier gilt ungebrochen das Zweite Gebot, das wir leider meisthin vergessen haben, weil es Luther entsprechend der alten kirchlichen Tradition bei den Zehn Geboten im Katechismus übergangen hat. Deshalb bringe ich es bewusst entsprechend der Übersetzung des biblischen Textes durch Luther selbst jetzt zu Gehör:
„Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen. [...] Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott“ – so in 2. Mose 20 und in 5. Mose 5.
Wenn wir ein Bild von Gott haben wollen, dann können wir das nur auf einem Wege bekommen: Wir müssen Christinnen und Christen werden. Denn, wenn wir das werden, lehrt uns der Geist, dass dieser Jesus aus Nazareth der Christus und das heißt, das einzige Bild Gott ist. An ihn haben wir uns zu halten: „Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ, der Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott.“
Amen.
„Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre Eure Herzen und Sinne bei Christus Jesus, unserem Herrn!“
Predigtlied: EG 362,2.
Literaturhinweis:
Martin Luther: Sermon von der Gewalt Sankt Peters, 29.6.1522, WA 10, III, 208ff.
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Predigt aus dem ZDF-Fernsehgottesdienst in Menden vom 28.02.2016
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da war, der da ist und der da kommen wird. Amen.
Teil I
Liebe Gemeinde,
alles wird anders. Mit den Flüchtlingen kommen immer mehr Muslime zu uns, die hier in Deutschland bleiben wollen. Das macht vielen Einheimischen Angst und sie ziehen sich zurück in ihre eigene Welt, in der sie sich gut auskennen. Denn vertraute Lieder, Rituale- und Bräuche - geben Sicherheit.
Aber Rückzug tut nicht gut. Weder Einheimischen noch Einwanderern. Parallelgesellschaften spalten, grenzen ab und grenzen aus. Oft sind sie Nährboden für gegenseitige Anschuldigungen. Im Extremfall sogar für Übergriffe und Brandbomben. Deshalb müssen wir über Religion reden. Miteinander.
Wo?
Zum Beispiel in der Schule.
Ich habe gute Erfahrungen damit. Seit vielen Jahren arbeite ich als evangelische Schulpfarrerin am Berufskolleg und unterrichte im Religionsunterricht auch muslimische Schülerinnen und Schüler. Sie kommen aus den verschiedensten Herkunftsfamilien und –ländern, sind zusammen groß geworden und miteinander befreundet. Und lernen zusammen für’s Abitur oder Fachabi.
Im Religionsunterricht begegnen wir uns als Gläubige aus verschiedenen Religionen. Besuchen uns in Kirche und Moschee und diskutieren viel miteinander. Manchmal hitzig, mit gegensätzlichen Ansichten. Denn wir kommen ja nicht nur als Lehrerin und als Lernende miteinander ins Gespräch und reden über irgendeinen Unterrichtsstoff. Wir sind Menschen, denen der Glaube am Herzen liegt, manchmal sogar unter den Nägeln brennt.
Dabei lerne auch ich dazu. Zum Beispiel, dass für Muslime das Wasser ein Zeichen für Gottes Güte ist. Besonders seine reinigende Kraft hat für sie eine große Bedeutung. Darum sind die Waschungen für sie so wichtig. Wir haben eben davon gehört.
Wir Christen haben auch ein Ritual der Reinigung. Wie viele Muslime spüren wir die Sehnsucht, ein reines Herz zu haben. Darum begießen wir in der Taufe ein Menschenkind mit Wasser, sprechen ein Bekenntnis und segnen es.
Viele halten dies dies für eine niedliche Tradition, die man in den ersten Lebensmonaten so mitnimmt. Doch die Taufe weit ist mehr. Der Apostel Paulus sieht darin einen Machtkampf um Leben und Tod. Es geht hier um‘s Ganze! Aber hören Sie selbst aus - seinem Brief an die Gemeinde in Rom:
Lesung:
Röm 6,3-8
Teil II
Ganz normales Wasser wie in unserem Krug wird in der Taufe zu einem heiligen Zeichen. Denn das Wasser verbindet die Täuflinge mit Jesus Christus. Mit seinem Leben, seinem Tod und seiner Auferstehung.
Alle, die „in Jesus Christus hinein getauft“ wurden - so sagt es der Apostel – werden mit ihrer Taufe auch in seinen Tod hineingetauft. Darum wurden die Täuflinge früher komplett untergetaucht, so wie Jesus im Jordan. Mit der Überzeugung: Jetzt wird meine Sünde abgewaschen. Ja mehr noch: Sie wird „ersäuft“. Ein für alle Mal. So erlöst uns Jesus Christus von der Macht des Bösen.
Zugegeben: Dass winzige Säuglinge reingewaschen werden sollen, ist für viele schwer nachvollziehbar. Aber dass in uns allen – in jedem Menschenkind - die Möglichkeit zum Bösen steckt, wird niemand bestreiten. Welche Macht das Böse und die „Sünde“ haben, sehen wir ja täglich bei einem Blick in die Nachrichten. Bekannte und Unbekannte, Vorbilder und Durchschnittsmenschen wie Sie und ich – niemand ist davor gefeit. Und niemand kann sagen, wann sie von uns Besitz nimmt.
Darum taufen wir Christen bereits unsere kleinen Kinder. Und sagen ihnen damit: Ihr seid Töchter und Söhne Gottes. Ihr gehört in Gottes neue Welt. Dort haben weder die Sünde noch der Tod das letzte Wort. Sondern die Liebe und das Leben. So wie Christus gestorben und ins Leben auferstanden ist, sollt auch Ihr leben. Rein und unschuldig. Mit reinem Herzen.
Die schönen weißen Taufkleider sind ein Zeichen dafür. Oft sind sie jedoch viel zu lang. Das ist Absicht. Denn die Täuflinge müssen ja erst noch in ihre neue Rolle als Christ oder als Christin hineinwachsen.
Davon in der Taufe zu hören, als Eltern und Paten oder als Täufling selbst, ist das Eine. Es will aber auch verinnerlicht werden, jeden Tag auf’s Neue. In der Familie, in der Gemeinde und in der Schule.
Hier können wir voneinander lernen, wie wir als Söhne und Töchter Gottes leben können. Wir alle können einander von Gottes neuer Welt erzählen und uns gemeinsam für sie stark machen. Gottes Welt, in der es keine Furcht und keine Vertreibung mehr gibt, keine Not, kein Leid, keinen Hass. Gottes neue Welt, in der das Wasser des Lebens fließt und die Völker geheilt werden.
Diese Zeit steht noch aus. Noch haben wir nicht den Himmel auf Erden. Unsere Welt ist noch nicht erlöst. Aber Gott sieht uns schon als neue Menschen im Licht der Ewigkeit und deshalb sollen wir uns auch so sehen. Und etwas aus der neuen Welt, in unsere „alte“ Welt hineinbringen. Uns mit Sanftmut statt Gewalt begegnen, mit Freundschaft statt Hass und Respekt statt Verachtung.
Denn Gottes Liebe gilt allen seinen Geschöpfen. Bedingungslos. Egal wo sie herkommen und unabhängig davon, woran sie glauben.
Solch eine Haltung schließt klare Standpunkte nicht aus. „Wie stehen Sie denn eigentlich dazu?“ werde ich z.B. oft im Religionsunterricht gefragt. Beide, christliche und muslimische Schülerinnen und Schüler wollen Bescheid wissen. Dann kann ich nicht Drumherum reden, dann muss ich Rede und Antwort stehen, Farbe bekennen und oftmals auch christliche Glaubenssätze verteidigen.
Dann ist mir mein Taufbekenntnis ein Anker . Etwas, das mich festhält, das mir Halt gibt und mich auch mal gegen den Strom schwimmen und - wenn es nötig ist – vielleicht sogar unbequeme Ansichten vertreten lässt.
In solchen Momenten unterrichte ich besonders gerne, die Getauften und die Ungetauften. Denn gerade unsere Vielfalt trägt zu lebhaftem Unterricht bei.
Unser Gespräch schult die Auseinandersetzung, fördert das Argumentieren und schafft ganz oft auch Verständnis füreinander.
Unsere Begegnung als Gläubige verschiedener Religionen hat auch meinen eigenen Glauben bereichert. Vor allem habe ich Respekt gewonnen vor dem, was anderen heilig ist.
Und: Im Dialog wird mir mein eigener, mein christlicher Standpunkt viel klarer. Ich erfahre, worin wir uns einig sind und was uns trennt.
Deshalb finde ich es gut, wenn Christinnen und Muslime zusammen Religionsunterricht haben. Denn hier können wir uns - respektvoll und friedlich über unseren Glauben austauschen.
Aber er sollte nicht der einzige Ort sein. Das Gespräch zwischen den Religionen ist so wichtig für unser Zusammenleben und wird darum schon so lange mit guten Erfahrungen bei uns gepflegt. Es sollte überall stattfinden. In Kirchen- und Moscheegemeinden. Auf Bürgerversammlungen und Festen. In Parteien und Vereinen….
Wer sich dem entzieht, dem entgeht etwas.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle - Vernunft, der bewahre – eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
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Reminiscere – Gedenke
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geists sei mit euch allen. Amen.
I.
„Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit!“ so heißt es in Psalm 25 im sechsten Vers. Von diesem Vers leitet sich der Name des zweiten Sonntags in der Passionszeit ab. Nach dem lateinischen Wort Reminiscere – Gedenke ist der heutige Sonntag benannt.
Wenn ich das Wort gedenke höre, entsteht das Bild des Regenbogens vor meinem inneren Auge. Nach der Sintflut hat Gott ihn über der Erde ausgespannt, mit den Worten:
„Darum soll mein Bogen in den Wolken sein, dass ich ihn ansehe und gedenke an den ewigen Bund zwischen Gott und allem, was lebt.“
Der Regenbogen – Ein Zeichen der Barmherzigkeit Gottes: Er lässt den Himmel wieder aufgehen nach den Stürmen und den Leiden der Zeit.
Reminiscere. Denkt daran und bewahrt es im Herzen: Der Himmel voll neuer Hoffnung geht auf – über allen Menschen. Ein Regenbogen kennt keine Grenzen. Der Bogen am Himmel ist Gottes Zeichen der Hoffnung, des Friedens und der Liebe für die ganze Welt. Ein Regenbogen leuchtet nicht nur für einzelne Menschen und er macht nicht Halt an Grenzbefestigungen oder Zäunen, die hochgezogen werden.
II.
An diese weltumspannende Dimension der Liebe Gottes wollen wir heute besonders erinnern, wenn wir in diesem Gottesdienst für und mit bedrängten und verfolgten Christinnen und Christen beten. Wir spannen einen Bogen von uns selbst – den eigenen Herausforderungen in unseren Gemeinden und in unserem Land – hin zu den Christinnen und Christen und zu allen bedrängten Menschen in der Welt. Ihr Schicksal ist uns nicht egal.
Ja, wir müssen unserer Verantwortung hier vor Ort gerecht werden, wenn Menschen bei uns Zuflucht suchen, weil sie vor Krieg und Gewalt fliehen mussten. Aber zugleich erheben wir unsere Stimme für diejenigen, die in ihren Ländern verfolgt und bedrängt werden. Wir verschließen die Augen nicht. Schon zum siebten Mal nehmen wir hier in St. Marien diesen zweiten Sonntag in der Passionszeit zum Anlass, um an das Leiden unserer bedrängten und verfolgten Glaubensgeschwister zu erinnern und für sie zu beten.
Wir dürfen es nicht hinnehmen, wenn Menschen aufgrund ihres Glaubens verfolgt werden. Es ist wichtig, klar zu benennen, wo Länder und politische Systeme Menschen aufgrund ihrer Religion bedrängen. Und wir müssen auch hier bei uns für diese Fragen sensibel sein. Wir beobachten mit Sorge, dass es auch in Flüchtlingsunterkünften bei uns Vorfälle gibt, wo Christen bedrängt werden. Wir weisen darauf hin, sorgen dort, wo wir können, dafür, dass Konflikte beigelegt werden, wie etwa in den Unterkünften der Stadtmission. Aber wissen auch, dass es Menschen gibt, die diese Vorfälle dazu benutzen wollen, Misstrauen zu schüren, weil sie eben nicht das Ziel des friedlichen Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Religion und Kultur vor Augen haben, sondern bewusst Stimmung machen wollen gegen Flüchtlinge und besonders gegen die Muslime unter den Flüchtlinge. – Wer sich aber an Gottes Verheißungen ausrichtet, der hat den Regenbogen vor Augen: Der Bogen am Himmel ist Zeichen der allumspannenden Barmherzigkeit Gottes, die jedem Menschen gilt. Und das Ziel ist deshalb der Friede, der jedem Menschen gilt, gleich welcher Religion er oder sie angehört. Und deshalb ist es ein gefährliches Unterfangen, wenn gefordert wird, Menschen, die nach Deutschland kommen, nach ihrer Religion zu trennen. Wir müssen vielmehr von Anfang an klar machen, dass das Zusammenleben nur friedlich und in Anerkennung der anderen Person möglich ist. Wo Menschen bedrängt werden, müssen wir sie schützen; aber wir dürfen das nicht zum Anlass nehmen, um die Religionen gegeneinander auszuspielen. Denn wir sind in dieser globalisierten Welt mehr denn je darauf angewiesen, unter dem einen Himmel zu leben.
III.
Wir spannen einen Bogen, hinein in die Welt. Ich freue mich besonders, dass wir diesen Gottesdienst heute mit Geschwistern aus der eritreisch-orthodoxen Gemeinde von Berlin feiern. Den Chor der Gemeinde haben wir schon gehört. Und ich bin dankbar, dass auch Almaz Haile und Priester Msgun Tamzgi diesen Gottesdienst mitgestalten. Wir sind verbunden im Gebet. Etwa 400 Mitglieder umfasst ihre Gemeinde in Berlin derzeit. Und ich bin sicher, Sie schauen mit großer Sorge auf Eritrea. Sieben Prozent der Bevölkerung sind auf der Flucht. Ungefähr 11.000 Menschen sind im vergangenen Jahr aus Eritrea nach Deutschland geflohen, circa 1.000 davon sind nach Berlin gekommen. Oft sind es junge Männer, die sich dem totalitären Regime und dem zeitlich unbegrenzten militärischen Pflichtdienst entziehen, zu dem alle gezwungen werden. Das Land ist stark abgeschirmt und mittlerweile international isoliert. So ist es oftmals schwierig, überhaupt an verlässliche Informationen zu kommen. Die Menschenrechte sind stark eingeschränkt und auch die Religionsfreiheit ist davon betroffen. Es sind oftmals die Angehörigen religiöser Minderheiten, darunter viele christliche Glaubensgeschwister, die unter dem Regime leiden. Etwa zwei- bis dreitausend Menschen sind um ihres Glaubens willen in Haft.
Reminiscere – Betend gedenken und erinnern wir miteinander, was noch aussteht in Eritrea und in der gesamten, globalen krisengeschüttelten Welt. Der Regenbogen erinnert uns dabei daran, dass die Welt ein Ziel hat, sie lebt auf die Barmherzigkeit und Liebe Gottes zu. So spannen wir betend einen Bogen zu Gott, der unser Herz schon jetzt mit Hoffnung füllt.
IV.
Auch Paulus spannt im Predigttext für den heutigen Sonntag einen großen Bogen zu dem Frieden, der durch die Barmherzigkeit Gottes kommt. Dort heißt es:
„Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus; durch ihn haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben wird.“
So wie der Regenbogen, so kennt auch Gottes Gerechtigkeit keine Begrenzungen. Das macht Paulus in den ersten vier Kapiteln des Römerbriefes deutlich. Paulus betont, dass Gottes Rechtfertigung unabhängig von der religiösen Praxis der Tora gelte und auch die Völker einbeziehe. Denn Abraham ist auch der Vater der nicht-jüdischen Gläubigen. Und mit der Auferstehung Jesu Christi beginnt eine neue Weltzeit, eine neue Schöpfung Gottes. Die Auferstehung Jesu von den Toten, das ist der Anbruch einer neuen Welt, in der neue Maßstäbe gelten. Frieden mit Gott zu haben bedeutet, mitten in der alten gewalttätigen Welt, bereits in der neuen Welt des Friedens zu leben und das Leben nach neuen Maßstäben auszurichten. Frieden mit Gott ist das wichtigste Merkmal der kommenden Zeit. Wir Christinnen und Christen können aus dieser Perspektive leben und auch in den aktuellen, bedrängenden Erfahrungen die Hoffnung bewahren.
V.
Als die Menschen in der Gemeinde in Rom das Wort „Frieden“ hörten, hatten sie sicherlich die Propaganda des römischen Imperiums in Ohr. Der Kaiser versprach Frieden und Sicherheit: „Pax et securitas“, das war der Kern der römischen Staatsideologie. Hochaktuell ist das, denn die Pax Romana war auf Kosten von Abschottung und Krieg an den Außengrenzen erkauft. Diesem abgründigen Frieden stellt Paulus in seinem Brief nun eine Gegenrealität gegenüber. Leben aus Rechtfertigung. Ein anderer Friede kommt da zum Vorschein. Einer, der aus der Zuversicht des Glaubens lebt. „Shalom“ – ein umfassender Friede, der die Beziehung zu sich selbst, zur Welt und den Mitmenschen und zu Gott umfasst. Paulus bekennt diesen Frieden, obgleich er ihn in seinem äußeren Leben wohl kaum jemals erfahren hat. Erst hatte er selbst die Minderheit der Christen verfolgt, getrieben von der fanatischen Überzeugung, er müsse diese neue Denkungsart ausrotten. Dann fand er seinen Frieden in Christus und wurde zum Prediger des Shalom, allerdings, nun selbst ohne Ruhe, verfolgt von Andersdenkenden, Andersglaubenden. Aber in seinem getriebenen, gehetzten Leben hält er daran fest: In der Gnade stehe ich schon jetzt gegründet in diesem umfassenden Frieden. – Paulus hat ein Bild vor Augen, das die Juden seiner Zeit, die in der griechischen Kultur gebildet waren, gerne benutzten: Ein Mensch gewinnt Halt und Kraft, wenn er in Gott seinen Standpunkt gefunden hat. Er ist wie ein Fels in der Brandung, der trotz der Stürme und Wellen fest bleibt. In Christus hat Paulus diesen Fels gefunden.
VI.
Auch wir brauchen diese Standfestigkeit, um in einer offensichtlich unversöhnten Welt weiter an den Frieden zu glauben, für ihn zu beten und zu arbeiten. Wir haben es heute bei uns zwar nicht wie die ersten Christen mit einer Staatspropaganda zu tun, aber mit der Propaganda einer rechtspopulistischen Bewegung. Sie versucht sich christlich zu geben, aber säet doch nur Unfriede mit ihren Parolen. Inzwischen beschimpfen die führenden Köpfe dieser Bewegung in aller Offenheit die Kirchen. Verlogen seien wir. Für bedrängte Christen würden wir uns zu wenig einsetzen. Wir würden die Ängste der eigenen Bevölkerung nicht ernst nehmen. Alle diese Parolen zeigen nur, dass hier Menschen das Wort ergreifen, die weder Ahnung haben von dem, was die Kirchen in unserem Lande und weltweit leisten, noch von der Botschaft Jesu Christi. Was wir für die christlichen Flüchtlinge tun, geschieht schon seit Jahren in enger Abstimmung mit den Bischöfen der Heimatländer. Wir erheben unsere Stimme für die Menschen, wie wir es heute in diesem Gottesdienst tun. Wir helfen mit der Diakoniekatastrophenhilfe in den Flüchtlingslagern weltweit. Wir unterstützen die Gemeinden fremder Sprache in Deutschland, die sich für die Flüchtlinge aus ihren Heimatländern einsetzen. Rechtspopulisten geben vor, sich für das Christentum und für die Christen einzusetzen, und verkehren dabei das Evangelium Jesu in sein Gegenteil: Denn das Besondere des Christentums ist es gerade, den anderen, den Fremden, denen, die in existentieller Not Hilfe brauchen, zu helfen. Natürlich müssen wir auch die Belastungen für unser Land im Blick behalten, die nicht übermäßig werden dürfen. Natürlich brauchen wir geregelte Zugangswege für Asylsuchende und Migranten. Und natürlich brauchen wir europäische Lösungen. Alle verantwortlichen Politiker arbeiten an diesen Lösungen. Nicht aber die Rechtspopulisten. Sie machen Stimmung, und säen Hass. Wer die Ängste der Menschen in unserem Land ernst nehmen will, muss deshalb vor den Rechtspopulisten warnen: Denn sie nehmen die Ängste gerade nicht ernst, sondern spielen mit der Angst, ohne Lösungen anzubieten. Weil die Kirchen die Ängste der Menschen ernst nehmen, warnen sie klar und mit einer Stimme vor den unverantwortlichen Parolen der Rechtspopulisten!
VII.
Sonntag Reminiscere. In dieser Welt der Bedrängnisse und der gefährlichen Stimmungsmacher suchen wir aus unserem christlichen Glauben heraus nach Wegen des Friedens.
„Erinnert euch an den Regenbogen“ – so heißt ein Buch mit Gedichten und Texten von Dorothee Sölle. Darin schreibt sie:
„Man kann das Geheimnis des Glaubens nicht verstehen, wenn man nichts von den Schmerzen der Welt weiß […] Das Lamm Gottes trägt die Sünde der Welt ja nicht, damit wir sie übersehen könnten oder aufhören könnten, an ihr zu leiden, sondern es will uns in den gleichen Prozess des Tragens, des Für-andere-Daseins hineinziehen.“
Sonntag Reminiscere – Gedenktag für die bedrängten Christen. In der Passionszeit lassen wir uns mit hineinnehmen in den Leidensweg Jesu. Und zugleich gedenken wir an den Bogen der Hoffnung und der Barmherzigkeit, den Gott über den Himmel spannt. Auf ihn hin sind wir unterwegs mit Jesus Christus. Er ist der Spannungsbogen unseres Lebens und der bleibende Grund unserer Hoffnung.
Amen.
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Predigt zu Römer 5,1-5 von Stephan Lorenz
„Wegen unseres Glaubens nimmt Gott uns als Gleichwertige an. Jesus Christus hat zwischen uns und Gott vermittelt. Frieden mit Gott. Jesus hat uns einen Zugang zu Gottes Thron vermittelt, wir stehen in der Gunst Gottes, des Königs, bekennen voller Stolz unsere Hoffnung: wir werden an Gottes Glanz und Herrlichkeit teilhaben.
Aber wir sind auch stolz darauf, jetzt noch Trübsal erdulden zu müssen. Da lernt man Geduld. Wer weiß, was Geduld ist, besteht auch jede Bewährungsprobe. Das ist wieder Grund zur Hoffnung. Wir wissen: mit unserer Hoffnung sind wir nicht auf dem Holzweg. Gott hat uns mit seinem Heiligen Geist auch seine herzliche Liebe zugewandt.“
Paulus schreibt diese Zeilen an die römischen Christen, aus dem Gefängnis. Er ist zum Tode verurteilt und wartet auf seine Revision, die in Rom stattfindet. Er kennt die Christen in Rom nicht. Will sich Ihnen mit diesem Brief vorstellen. Seht her: so glaube ich, so denke ich über mein Leben vor Gott.
Gott hat uns durch Christus gleichwertig gemacht. Ihm gleichwertig. Wir haben Frieden mit Gott. Haben Anteil an Gottes Herrlichkeit. Unsere Hoffnung ist (1) tragfähig. Wir haben Gottes Geist empfangen. Er hat sich uns liebevoll zugewandt.
So schreibt einer, der zum Tode verurteil worden ist. Erstaunlich! Er blendet die schlimmen Seiten seines Lebens nicht aus. Wir müssen Trübsal erdulden und Geduld lernen, Hoffnung finden.
Ich weiß ja nicht, wie Sie ihre augenblickliche Situation hier im Krankenhaus erleben. Aber ich könnte mir vorstellen:
Wenn sie ihre Situation anschauen, könnten sie zu dem Schluss kommen: Gott hat uns vergessen! Wir sitzen im Elend. ER auf seinem Thron. Was immer ER da macht. Uns erblickt ER jedenfalls nicht. So fühlt es sich an. Wir abgeschnitten. Nicht einen Blick wert. Verlassen. Aus der Welt gefallen. So ist Trennung. Trennung von der Familie, von zu Hause, Freunden, allem, was einem lieb und wert war. Trennung von Gott.
Trennungen ertragen ist schwer. Das weiß jeder aus eigener Erfahrung. Trennung tut weh. Das wird im Text Trübsal genannt.
Trübsal, dieses Wort kennen wir. Eine Flüssigkeit ist trübe, das Wetter oder die Stimmung. Was trübe ist, ist unklar. Wer unklar ist, ist verwirrt. Im Herzen und im Kopf. Trübsal bezeichnet im Ursprung den Vorgang, wenn der Bodensatz einer Flüssigkeit aufgerührt wird. (2)
In unserer Seele hier ist vom Bodensatz her aufgerührt. Vieles ist unklar. Die Stimmung oft trübe. Wir erleben uns getrennt. Wir leiden. Nicht nur an unserer Krankheit, die uns hierher gebracht hat, sondern viel mehr in unserer Seele.
Wie kann man solche Trennung aushalten?
Luther sagt in seinem Kommentar zu diesen Zeilen: Trübsal ist ein Indikator. Daran wird die seelische Verfassung deutlich: wer vorher ungeduldig war, wird noch ungeduldiger. Trübsal verstärkt Ungeduld, sogar bis zur Verzweiflung. Und wenn man erstmal auf dieser Schiene ist, dann wird man auch auf den Gedanken kommen: Gott ist an „allem“ Schuld: an dem, was mir passiert ist, an dem was ich erleiden muss.
Gott kann nicht allmächtig sein, weil mein Ohnmächtig-Sein unerträglich ist. Trennung erleiden und nichts dagegen tun können, ohnmächtig sein, macht unsere Seele, unsere Gedanken, unser Herz trübe.
Luther war auch Seelsorger. Er macht darauf aufmerksam: in Zeiten der Trübsal erkennt man sich selbst. Erkennt, wer man ist. Wie man in schwierigen Situationen reagiert. Was man vom Leben hält. Von seinen Beziehungen. Von sich selbst.
Luther sagt: Paulus beschreibt einen seelischen Lern- und Erfahrungsprozess. Denn in der Trübsal nicht (3)
zu versinken, kann dazu verhelfen, dass sich Geduld einstellt. Nicht alles lässt sich sofort erreichen. Geduld ist eine Haltung, von der man hier sehr viel braucht. Die Rehabilitation des Gehirns ist etwas anderes als
das Ausheilen einer Erkältung. Wer Geduld aufbringen kann, der „bewährt sich“.
Darin steckt das Wort Bewahrung. Wer Geduld lernt bewahrt sich vor schnellen, manchmal falschen Schlüssen und Entscheidungen. Bewahrt sich vor Gefühlen, die einen herunterziehen. Wer Geduld hat, hält sich die Zukunft offen. Und deshalb, so Paulus, führt dieser Lernprozess letztlich zur Hoffnung Gott zu vertrauen. Keine Hoffnung, die ein Hirngespinst ist. Keine Illusion. Tragfähige Hoffnung.
Wir wissen, schreibt Paulus: mit unserer Hoffnung auf Gott sind wir nicht auf dem Holzweg. ER hat seinem Heiligen Geist in unser Herz gegossen, sich uns in herzlicher Liebe zugewandt.
Wie kann man solche Trennung aushalten? Antwort: wenn man sich geliebt, getragen fühlt.
Das leuchtet einem sofort ein: wer sich geliebt und getragen fühlt von seiner Familie, seinen Angehörigen, Mann, Frau, Kindern, kann eher Geduld aufbringen, bewahrt sich vor unklugen Schlussfolgerungen und hat Hoffnung.
Wir alle wissen aber auch, dass unsere menschliche Liebe manchmal überfordert ist. Unsere Geduld (4)
miteinander hat Grenzen. Unsere Hoffnungen sind brüchig.
Dann ist es gut, sich vor Augen zu halten: Gottes Liebe zu uns kennt kein Ende. Sein Herz ist größer als unseres. Seine Hoffnung für uns trägt. Wir sind Abrahams. Das alte Land haben wir verlassen müssen. Es nährt uns nicht mehr. Wir gehen, ohne zu wissen wohin. Gehen in dem Glauben, dass Gott einen Weg weiß, wo wir keinen sehen.
Gottes Heiliger Geist leitet uns, seine herzliche Liebe ist uns zugewandt. Das können wir getrost glauben, gerade dann, wenn uns unsere Geduld strapaziert wird, wir uns schwerlich bewahren können, unsere Hoffnung uns zu verlassen scheint.
Vertrauen wir Gott, werden wir an Gottes Glanz und Herrlichkeit teilhaben.
Gottes Heiliger Geist befestige diese Wort in euren Herzen, damit ihr das nicht nur gehört, sondern auch im Alltag erfahrt, auf daß euer Glaube zunehme und ihr endlich selig werdet, durch Jesum Christum unseren Herrn. Amen
Anmerkung zum Hintergrund: Die Andacht wird gehalten in einer neruologischen Akut- und Rehabiltationsklinik. Schaganfälle, Verletzungen des Gehirns, operierte Tumore, gut- und bösartige. Überlebte Aneyrismen sind einige Krankeheitsbilder. Mit oft langwiergen bleibenden Schädigungen. Lebenspläne sind zerstört. Zukunft fraglich. Berziehungen auf äußerte beansprucht.
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Predigt zu Römer 5,1-5 von Thomas Bautz
Liebe Gemeinde!
Es kann vorkommen, dass Sie mit bestem Wissen und Gewissen eine bestimmte Entscheidung getroffen haben und Ihnen dann vorgeworfen wird, Sie hätten verantwortungslos gehandelt. Jemand, der die Situation überblickt und Sie als Menschen gut genug kennt und Ihnen vertraut, könnte aber sagen: „Sie müssen sich nicht rechtfertigen! Ich glaube an Ihre Rechtschaffenheit und Redlichkeit.“
Es geschieht auch öfter, dass jemand eines Fehlers beschuldigt wird oder einer Unterlassung bezichtigt, ohne das eine oder das andere überhaupt begangen zu haben. Unvermittelt gerät ein Mensch auf die Anklagebank, obwohl er im Allgemeinen als unbescholten gilt. Aber dann springt jemand mit Autorität (Ansehen, auctoritas) für ihn in die Bresche, hält der geifernden Meute entgegen: „Ihr seid im Unrecht! Diese Person ist vertrauenswürdig, zuverlässig und war stets absolut integer“, und zum Betroffenen: „Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen.“
Wenn wir uns nicht rechtfertigen müssen, weil uns jemand gut genug kennt und selbst so viel Rückgrat und Zivilcourage hat, dass er Gerechtigkeit widerfahren lässt oder uns zum Recht verhilft, dann haben wir allen Grund dankbar zu sein. Wir dürfen uns glücklich schätzen, wenn wir in diesem Sinne Rechtfertigung erleben. Ich weiß nicht, wie oft das geschieht!
Freilich kommt es auch öfter vor, dass sich jemand zu Unrecht selbst rechtfertigt, eine Person, die genau weiß, dass sie sich schuldig gemacht hat, nun aber versucht, mit fadenscheinigen Argumenten, mit Lügen und mit Schuldverweisen auf andere, sich rauszureden. Dieser Person halten wir völlig zu Recht entgegen: „Sie wollen sich ja nur reinwaschen!“ In solchen Fällen müssen Umstände und Motive geprüft, eventuelle Zeugen befragt, die Schuld nachgewiesen und schließlich von einem neutralen Richter Recht gesprochen werden.
Rechtfertigung in menschlichen, nachvollziehbaren und vor allem erfahrbaren Kontexten - positiv und negativ: Sich nicht rechtfertigen müssen, oder der Versuch, sich zu rechtfertigen. In Familie, im Kindergarten, beim Spielen auf Straßen und Plätzen, in Schulen, in Ausbildung, am Arbeitsplatz - in der Gesellschaft - erleben und praktizieren Menschen als soziale Wesen Rechtfertigung auf die eine oder die andere Weise.
Wenn wir in einem Schutzraum aufwachsen, erfahren wir schon früh, wie unser Verhalten - meist durch die nächsten Bezugspersonen - natürlich nicht immer gut geheißen wird, aber wie man uns selbst in jedem Fall ernst nimmt, uns mit Vertrauen, nicht mit Vorurteilen begegnet. Kinder und Jugendliche, die in einer solchen Atmosphäre der unverbrüchlichen Zuwendung aufgewachsen sind, werden es in der Regel im weiteren Leben als Erwachsene leichter haben und es auch weniger nötig haben, sich für dieses oder jenes zu rechtfertigen. Sie halten sich nicht für perfekt, aber sie sind bemüht, sich in die Gemeinschaft einzubringen, ohne freilich dabei selbst zu kurz zu kommen. - Zugegeben, ich beschreibe hier den Idealfall!
Wem das Privileg einer beschützten Kindheit und Jugend nur sehr begrenzt oder gar nicht beschert worden ist, dieser Mensch hat ganz andere Voraussetzungen. Häufig muss er viel körperliches und seelisches Leid durchstehen: er fühlt sich emotional einsam, er sucht nach Geborgenheit, nach geistiger Heimat; er ist anfällig für verschiedene Surrogate wie Nikotin, Alkohol, Drogen. Bei günstiger Veranlagung wird ihn sein Verstand vor dem Schlimmsten bewahren. Da er aber geistig und vor allem seelisch noch nicht verwurzelt ist, besteht eine größere Verführbarkeit und die Gefahr, sich in zweifelhafte religiöse Anschauungen zu verlieren und zu verstricken. Dann funktionieren religiöse Inhalte wie eine Droge.
Wer als Kind und Jugendlicher wesentliche Zuwendung und Geborgenheit entbehren muss, könnte unterschwellig oder bereits offenkundig Aggressionen nach Außen oder nach Innen (Depressionen) entwickeln. Er könnte zum Egozentriker oder Philanthropen heranwachsen. Den Menschenfreund wird man ihm allerdings nicht abnehmen, weil er diese Rolle spielen, aber nicht glaubhaft verkörpern kann. Er muss sie aber nach außen vertreten, weshalb diese Menschen oft einen helfenden Beruf ergreifen. Das ältere, aber faktisch noch aktuelle Buch von Wolfgang Schmidbauer: „Die hilflosen Helfer“ ist bahnbrechend und hilfreich!
Im Beruf und in Beziehungen suchen Menschen aus einer defizitären Kindheit Anerkennung und Bestätigung; einige gehen viel zu früh und unreif eine partnerschaftliche Bindung ein. Die Sehnsucht nach Anerkennung mag in den geschilderten Fällen übertrieben erscheinen, das ist es aber für die Betroffenen keineswegs. Für ein besseres Verständnis brauchen wir uns nur vor Augen zu führen, dass wir alle, auch wenn wir mit relativ optimalen Voraussetzungen haben aufwachsen dürfen, auf Achtung und Wertschätzung angewiesen sind:
„Anerkannt und gerechtfertigt zu werden, sich rechtfertigen zu lassen, oder durch Gedanken, Gesinnungen, Worte und Taten sich selbst zu rechtfertigen, sein Dasein rechtfertigen zu müssen, oder einfach dasein zu dürfen und sich dafür nicht rechtfertigen zu müssen, das macht unser Glück oder Unglück aus und gehört unaufhebbar zu unserem Menschsein. (…) Darin sind wir schon immer soziale Wesen.“ (O. Bayer: Aus Glauben leben, 14)
Wir haben einiges über Rechtfertigung aus den Niederungen menschlicher Existenz gehört; mögen wir uns nun in die geistigen Höhen paulinischer Rechtfertigungslehre begeben, wobei ich Ihnen frei bekenne, dass ich kein besonders geeigneter Bergführer bin. Ob Paulus diese Anschauung ins Zentrum seines Denkens und Glaubens gestellt hat, oder ob sie nur einen Teil im Rahmen seiner theologischen Themen ausmacht, darüber sind sich die Ausleger nicht einig. Gravierender ist die Tatsache, dass sich seit der Reformation die Rechtfertigungslehre zum Kern christlicher, genauer: protestantischer Theologie entwickeln und etablieren konnte.
Lässt sich „das paulinisch-lutherische Begriffsmassiv predigen“, oder bleibt es „nur den theologischen Hochgebirgssteigern zugänglich“? - Rechtfertigung heute: Rechtfertigung heute predigen (V. Drehsen), 46. Paulus schreibt an die Gemeinde zu Rom (Röm 5,1-5; Übersetzung, W. Schmithals, 149):
„Weil wir nun gerechtfertigt sind aus Glauben, laßt uns Frieden mit Gott halten durch unseren Herrn Jesus Christus, durch den wir ja auch im Glauben den Zugang zu dieser Gnadengabe bekommen haben, in der wir stehen, und uns der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes rühmen. Aber nicht nur das, sondern wir rühmen uns auch der Bedrängnisse; denn wir wissen: Die Bedrängnis bewirkt Standhaftigkeit, die Standhaftigkeit aber Bewährung, die Bewährung aber Hoffnung, die Hoffnung aber wird nicht enttäuscht werden; denn die Liebe Gottes ist in unsere Herzen ausgegossen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben wurde.“
Wenn wir uns nun schon nicht (mehr) rechtfertigen müssen, weil wir trotz unserer ererbten, unausweichlichen Verderbtheit angenommen sind; weil wir so akzeptiert werden, wie wir sind und auch vorläufig bleiben werden, wollen wir Frieden halten mit „Gott“ (cf. O. Kuss: Römerbrief, 200f).
Wir dürfen darauf vertrauen, dass wir im Glauben an Jesus als den Christus, der das Neue Sein ermöglicht (Paul Tillich), Zugang haben zu dieser Gnadengabe (Schmithals, 153,157). Paulus identifiziert diese Gnadengabe als höchste unter den Charismen (1 Kor): „Gott hat die Liebe als vornehmste Gabe seines Geistes in die Herzen der Glaubenden ausgegossen.“ Das „Herz“ ist eine Instanz „des Wollens und des Entscheidens“ (Schmithals, 158). Natürlich zielt Paulus hier auf die Liebe zu den Brüdern und Schwestern in der Gemeinde; daran sind alle Inhalte des christlichen Glaubens zu messen: Rechtfertigung, Glaube, Gnade, Herrlichkeit („Gottes“), Hoffnung.
Vermutlich lässt sich die Nächstenliebe nicht erwerben oder erlernen; sie wird als Charisma geschenkt, bildhaft gesprochen: „eingegossen“. Für Martin Luther verhält es sich ebenso mit dem Glauben: „Der erworbene Glaube ohne den eingegossenen ist nichts, der eingegossene ohne den erworbenen ist alles.“ Der erworbene Glaube ist nur Schmuck, „der eingegossene aber ist der Geist des Lebens.“ „Auch ist allein der eingegossene Glaube hinreichend für die Rechtfertigung des Gottlosen.“ - M. Luther: Propositiones de fide infusa et acquisita (1520)
Im gleichen Zusammenhang stellt Luther auch klar: „Die Werke folgen der Rechtfertigung aus Glauben unfehlbar, da dieser nicht müßig ist.“ Denn: „‘Der Glaube ohne Werke ist tot‘, ja, er ist gar nicht Glaube.“ (Luther: op.cit.) Das Verhältnis aber zwischen Glauben, Werken und Rechtfertigung stellt sich bei Luther als ambivalent dar, erschwert durch sein Verständnis von „Sünde“ und „Unglauben“ - s. Quaestio, utrum opera faciant ad iustificationem; Frage, ob die Werke etwas zur Rechtfertigung beitragen (1520).
„Wie ausschließlich der Glaube rechtfertigt, so sündigt ausschließlich der Unglaube“ (op.cit.). „Der Glaube macht nur gerecht“, wenn und insofern er sich auf keinerlei Werke stützen kann, ansonsten wäre es kein Glaube. Doch ist es unmöglich, dass der Glaube nicht ständig „viele und große Werke“ hervorbringt. Luther konstatiert aber (op.cit.):
„Weder machen die nach der Rechtfertigung getanen Werke gerecht“, selbst wenn in der Schrift eine Tat als Gerechtigkeit angerechnet wird, „noch machen die vor der Rechtfertigung getanen Werke schuldig, auch wenn sie in der Schrift ‚Sünden‘ heißen.“ Wer im Unglauben befangen und deshalb „gottlos“ ist, gilt als verderbt; sein Tun oder Lassen ändert nichts an seiner prinzipiellen, den ganzen Menschen bestimmenden Sündhaftigkeit.
„Der aus Gott geborene (aber) sündigt nicht und kann auch nicht sündigen.“ Problematischer kann man es kaum formulieren; vor allem, weil Luther anfügt: „Wer sagen wollte, er sündige nicht, ist ein Lügner, und die Wahrheit ist nicht in ihm“ (op.cit.). Die Gedanken findet Luther im 1. Brief des Johannes (3,6a.9; 1,8).
Zu Recht gibt es Einwände gegenüber den Grundgedanken der Rechtfertigungslehre. Da ist zunächst das negative Menschenbild anzusprechen, das wiederum auf einer Voraussetzung beruht, die nur allzu selbstverständlich erscheint: der Mensch als Gegenüber zu „Gott“; cf. Rechtfertigung heute: Rechtfertigung heute (W. Härle), 69 und 71. Ich weiß nicht, wer oder was „Gott“ ist, aber ich betrachte mir kritisch die konstruierten Gottesbilder und frage nach ihren Funktionen. Es handelt sich um übersteigerte, überhöhte Ängste, Ideale, Wünsche - um Projektionen dessen, was uns Menschen ausmacht.
Es hat nahezu seit Menschengedenken funktioniert, sich eine Gottheit vorzustellen, die mit Strenge, Zorn, Gerechtigkeit, aber auch mit Milde, Liebe, Treue das Leben eines Volkes zu lenken versucht. Angesichts verschiedener Gottheiten und Religionen gestaltet sich das Miteinander der Völker ungleich schwieriger und realisiert sich oft als ein Gegeneinander.
„Gott“ als Herrscher, Richter und Vater (selten als Mutter) bildet menschliche Erfahrungen ab, nur in übermächtiger Form, die den Menschen klein, unbedarft, minderwertig erscheinen lässt, weil er von vornherein niemals an das Ideal der „Gottheit“, des Übervaters, heranreichen wird. Der „sündige“, sein Ziel („Gott“) verfehlende Mensch bedarf einer von „Gott“ ausgehenden (Er-)Lösung, damit eine für „Gott“ akzeptable Beziehung zustande kommt: ein „Sühneopfer“, was dann durch den gekreuzigten und gleichermaßen erhöhten „Christus“ erbracht wird. Eine Vorstellung, die in der ev. Theologie, bes. in der Praktischen, sehr hinterfragt wird und bereits zu alternativen Entwürfen, auch für die Abendmahlliturgie geführt hat.
Brauchen wir wirklich solche Gottesbilder und Bilder vom Menschen? Warum müssen wir gerechtfertigt werden? Warum muss ein Gott zu seinem Recht kommen? Wir wissen doch, dass wir unvollkommen und widersprüchlich sind. Zum Teil haben wir erforschen können, warum wir so sind wie wir sind; zum Teil bleibt das vielleicht ein Geheimnis. Jedenfalls haben kein Gottesbild, kein Glaube den Menschen bislang verbessert. Man zeige mir, worin sich ein Frommer menschlich wesentlich von einem Unfrommen unterscheidet; weist das Leben eines Christen eindeutig andere, hilfreichere, überzeugendere Qualitäten auf, als man sie im Leben eines Nichtglaubenden vorfinden kann?
Seit langem fällt mir immer wieder auf, dass sich die Unterschiede zwischen Nichtchristen und Christen einzig und allein im Denken und im Sprachgebrauch zeigen. Deshalb versuche ich häufig, die „Kirchensprache“ in allgemein verständliche Sprache zu übersetzen, wenn ich mit Menschen zu tun habe, die sich an den Rändern kirchlicher Gemeinschaft bewegen. Das Ansinnen für eine Gottesdienstgemeinde am Sonntag durchzusetzen, wird unterschiedlich aufgenommen, meist sogar höchst widersprüchlich. Viele aus der Kerngemeinde hängen am gewohnten Sprachgebrauch, vor allem was die liturgischen Stücke betrifft.
Ich vermute, dass traditionelle Gottesbilder für manche Christen eine Entlastungsfunktion haben: ein „Gott“, der den Menschen mit sich versöhnt; der den Menschen rechtfertigt; ein Christus, der für den Menschen gestorben ist; ein „Gott“, der Liebe ist, usw. Ich gebe nur zu bedenken: dies alles setzt voraus, dass Menschen „sündig“, verderbt sind; dass es notwendig ist, dass sich eine Gottheit mit ihnen versöhnt, sie rechtfertigt, dass „Christus“ für sie stirbt, dass „Gott“ sie liebt. Längst ist vielen Menschen klar, wie fragwürdig und widersprüchlich diese Gottesvorstellungen sind. Die Gottesbilder sind zum Teil auch völlig überfrachtet, weil sich ihre Inhalte und Konsequenzen im Leben der Menschen nicht spürbar auswirken.
Wo Menschen es wagen, überlieferte Gottesbilder infrage zu stellen, weil sie merken, dass sie mit der erlebten Wirklichkeit kollidieren, wird ihnen manchmal bewusst, dass Vorstellungen von „Gott“, von seinen Eigenschaften oder gar von seinem Wesen nichts Verbindliches oder Wahres oder Zuverlässiges erklären. Ich bin längst davon überzeugt, dass die Gottesbilder aber sehr viel über diejenigen aussagen, denen wir diese Bilder verdanken.
Man bedenke, wie oft Herrschaftsstrukturen durch kirchlich vermittelten „Glauben“ bis in die Erziehung und Familie, bis in die Gestaltung von Bildung und Wissen, bis in die Organisation von Staat und Gesellschaft hinein bestimmend waren und es in abgeschwächter Form immer noch sind. Bei sensiblen Menschen kann diese Bevormundung zur „Gottesvergiftung“ führen (Tilman Moser). Es ist schrecklich und belastend, etwas quasi glauben zu müssen, was man im Grunde gar nicht glauben kann. Es kann einen Menschen zerreißen, wenn niemand seine Zweifel am herkömmlichen „Glauben“ wirklich ernst nimmt und sich seinen Fragen stellt.
„Du musst dich nicht rechtfertigen!“ - Es sind doch häufig gerade die Menschen, die alles versuchen, für sich und für die ihnen anvertrauten Menschen und ebenfalls noch für andere das Notwendige und Beste herauszuholen, sofern möglich -, die dabei bescheiden genug sind. Sie verspüren dann oft den Drang, im guten Sinn ihre Defizite zu „rechtfertigen“, wenn sie einfach nicht alles schaffen. Ihnen täte es gut, wenn jemand sagte: „Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen!“ - „Ich weiß doch, wir wissen es, dass Sie sich alle Mühe geben!“
Es bedarf keines religiösen Überbaues, damit sich Menschen angenommen fühlen. Ich finde es lebenswichtig, einem Menschen den Eindruck zu vermitteln, dass sein Leben einen Sinn hat, dass er gebraucht wird, dass ich etwas von ihm lernen kann. Das setzt allerdings voraus, dass ich ihn oder sie kennenlerne, dass ich bereit bin zu hören, was mir mein Gegenüber zu sagen hat. Vielleicht will mir mein Gesprächspartner etwas anvertrauen oder ein schlimmes, ihm widerfahrenes Leid klagen. Womöglich darf ich aber auch an einem freudigen Ereignis teilhaben und kann mich sogar mitfreuen. So oder so - Menschen begegnen einander auf Augenhöhe, im Idealfall in einem „herrschaftsfreien Dialog“ (Jürgen Habermas).
Ich wünsche mir, dass Menschen, die den Mut aufbringen, traditionelle Gottesbilder und überlieferte Lehren zu hinterfragen und ihren Sinn zu bezweifeln, in den Kirchen deswegen nicht (mehr) in Bedrängnis geraten ausgegrenzt werden. Sie sind oder wären m.E. durchaus eine Bereicherung, weil sie zum Nachdenken anregen und aus falschen Sicherheiten führen. Ein lebendiger, „eingegossener Glaube“ muss und wird es verkraften, wenn er erschüttert wird; ein lediglich „erworbener Glaube“ wird jegliche Erschütterung gar nicht erst zulassen. Außerdem, liebe Gemeinde: Worauf sollte ich hoffen, wenn ich schon alles im Glauben wüsste?
Amen.
Literatur
Walter Schmithals: Der Römerbrief (1988); Ulrich Wilckens: Der Brief an die Römer, EKK VI/1 (1978); Otto Kuss: Der Römerbrief (1957); Martin Luther. Lateinisch-Deutsche Studienausgabe. Band 2: Christusglaube und Rechtfertigung, hg. u. eingel. v. Johannes Schilling (2006); Rechtfertigung heute. Warum die zentrale Einsicht Martin Luthers zeitlos aktuell ist, hg.v. Friedrich Hauschildt/ Udo Hahn (2., verb. u. erw. Aufl. 2008); Wilfried Härle/ Eilert Herms: Rechtfertigung. Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens (1979); Oswald Bayer: Aus Glauben leben. Über Rechtfertigung und Heiligung (2., überarb. Aufl. 1990); Elsa Tamez: Gegen die Verurteilung zum Tod. Paulus oder die Rechtfertigung durch den Glauben aus der Perspektive der Unterdrückten und Ausgeschlossenen (1998).