Passagen – Übergänge und Wandlungen eines Rituals - Predigt zu 1. Korinther 11,23-26 von Peter Haigis
„Passagen“, I:
„Amsterdam, 1646 (nach christlicher Zeitrechnung). ‘Warum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte?’, fragt das Kind im Haus eines jüdischen Kaufmanns. Und der Vater antwortet: ‘Sklaven waren wir dem Pharao im Land Ägypten, aber der Ewige, unser Gott, führte uns heraus mit starker Hand und ausgestrecktem Arm.’ – Jedes Frühjahr wiederholt sich dieses rituelle Gespräch zwischen dem Familienvater und seinem jüngsten Sohn. Jedes Jahr dient es am Vorabend des Pesachfestes dazu, die Geschichte der Befreiung zu erinnern – der Befreiung des von Gott auserwählten jüdischen Volkes aus der Knechtschaft in Ägypten. Und was hier geschieht, geschieht zu allen Zeiten und an allen Orten, wo jüdische Familien wohnen. Der Hausvater erzählt von der Fron, unter der die Kinder Israels im fremden Land zu leiden hatten. Er deutet die Gaben der ‘Sedermahlzeit’, die auf dem Tisch zubereitet liegen: Da sind die dünnen Mazzen aus ungesäuertem Teig, denn der Aufbruch aus Ägypten geschah plötzlich und übereilt. Die Israeliten hatten nicht die Zeit, ihre Brote fertigzubacken. Die Mazzen sind das ‘Brot des Elends’. Da ist ferner das Bitterkraut ‘Moror’, das an die Bitternis erinnert, unter der die jüdischen Urahnen in Ägypten lebten. Und da ist ‘Charosset’, ein Mus aus Äpfeln und Nüssen, das den Mörtel symbolisiert, den die Juden bei ihrer Fronarbeit für den Pharao anrührten. Der Hausvater erzählt auch vom Ringen Moses und Aarons mit dem verstockten Pharao und davon, wie Gott androht, eine schwere Plage über Ägypten zu schicken, um die Freigabe Israels zu erzwingen. Das geschlachtete ‘Passahlamm’ erinnert an diese dunkle Nacht, in der der Würgeengel an den gekennzeichneten Häusern der Israeliten vorüberging ...“
Lesung: 2. Mose 12,1-14
„Passagen“, II:
„Jerusalem, 422 (vor unserer Zeitrechnung). ‘Warum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte?’, fragt Levi, als er das vorbereitete Passahlamm dem Priester Esra bringt. Levi ist Kultdiener am Jerusalemer Tempel. Seine Aufgabe besteht darin, das vom Priester ausgewählte Lamm für das Pesachfest zuzubereiten. Dabei hat er sich streng an die Vorschriften zu halten, wie sie in den Heiligen Schriften dargelegt sind. Esra nimmt Levi die Schale mit dem gebratenen Lammfleisch aus den Händen und stellt sie auf den Altar. Er spricht zu Gott, dem Befreier Israels, ein Dankgebet. Dann erst wendet er sich der versammelten Gemeinde zu: ‘Adonaj, seinem Namen sei ewiglich Ehre und Ruhm und Herrlichkeit, hat sein Volk mehr als einmal gnädig angesehen. Unsere Vorväter hat er aus der Knechtschaft in Ägypten befreit. Uns aber ist er in Gnade erschienen, als wir an den Wassern Babylons saßen und klagten. Wir sind vor ihm schuldig geworden und haben seine Ordnungen vergessen. Darum hat er uns in die Gefangenschaft nach Babylon geführt. Doch als wir uns wieder zu ihm kehrten und ihm unsere Schuld bekannten, da wandte auch er sich uns zu und gedachte des Bundes, den er mit unseren Vätern geschlossen hatte. Wenn wir heute dieses Lamm essen, so bitten wir: ‘Sieh nicht auf unsere Schuld und unsere Verfehlungen, sondern geh in Gnade an unserem Haus vorüber und errette uns durch deine große Barmherzigkeit.’ Und Esra nahm von dem gebratenen Lamm und aß, und er reichte es weiter an Levi und die anderen Kultdiener. Und die gaben es weiter an die versammelte Gemeinde. Jeder aß davon, denn heute ging Gott gnädig vorüber an der Schuld eines jeden.“
Lesung: Markus 14,17-26
Passagen“, III:
„Jerusalem, 33 (nach christlicher Zeitrechnung). ‘Warum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte?’, fragte Philippus seinen Rabbi Jesus, nachdem er sich mit ihm und den anderen Jüngern im Obergemach eines Jerusalemer Hauses niedergelassen hatte. Philippus erwartete, dass Jesus die Geschichte von der Befreiung Israels aus den Händen des Pharaos erzählen würde. Er erwartete, dass Jesus das Passahlamm als Opfer deuten würde, das sie vor Tod und Vernichtung bewahrt, dessen Blut – wie damals an den Türpfosten – sie vor dem Schlag Gottes rettet und sie stattdessen ins Leben führt. Und er erwartete, dass Jesus mit ihnen das ‘Hallel’, das freudige Danklied, anstimmen würde. Doch Jesus nahm einen Brotfladen in die Hand, der auf dem Tisch lag, und sagte: ‘Heute Abend sind wir zum letzten Mal so zusammen, denn in dieser Nacht werden einige mit Stangen und Schwertern kommen, um mich festzunehmen. Sie werden uns zerschlagen und auseinandertreiben.’ Er brach den Brotfladen auseinander und zerteilte ihn in kleine Stücke, dann sprach er weiter und dabei reichte er seinen Jüngern reihum ein Stück Brot: ‘Aber ihr braucht euch nicht zu ängstigen. Dieses Brot büßt nichts von seiner Lebenskraft ein, nur deshalb weil es in Stücke gebrochen ist. Im Gegenteil: nun erst vermag es alle zu nähren und zu stärken. Und nun esst, denn es kommt eine Zeit, da ihr viel Kraft braucht.’ Danach nahm Jesus einen Kelch mit Wein in die Hand und sagte: ‘Dieser Kelch ist der Becher der Freude. Trinkt ihn leer. Lasst nichts übrig.’ Philippus aber wurde stutzig und fragte Jesus: ‘Rabbi, wie können wir feiern und fröhlich sein, wenn wir doch wissen, dass wir noch in dieser Nacht auseinandergehen müssen?’ Und Jesus gab ihm zur Antwort: ‘Wenn ihr ohne Brot geht, so werdet ihr schwach sein und nicht standhalten. Wenn ihr aber ohne Wein geht, so werdet ihr bitter, und niemand wird euch glauben, dass ihr schon vom Reich Gottes gekostet habt. Ihr werdet mich aber wiedersehen, wenn ihr solches Brot esst und solchen Wein trinkt.’“
Lesung: 1. Korinther 11,23-26
„Passagen“, IV:
„Frankfurt, 1938 (nach Christus). ‘Warum ist diese Nacht so anders als andere Nächte?’, fragt die neunjährige Elisabeth Grubinger ihre Mutter. Beim schwachen Licht einer Petroleumlampe sitzen sie am Küchentisch. Zwischen den beiden starrt der kleine Jakob auf die Tischplatte. Elisabeths Mutter schneidet den Kindern Stücke von einem Laib Brot herunter. ‘Sie sind an uns vorbeigegangen und haben nichts bemerkt’, antwortet sie. Am Morgen dieses Tages stand Jakob vor der Tür. Er wohnte mit seinen Eltern und den älteren Geschwistern in der Nachbarschaft. Sie hatten ein Bekleidungsgeschäft. Doch seit einiger Zeit blieb die Kundschaft aus. Vergangene Woche waren die Schaufensterscheiben eingeschlagen und das Inventar verwüstet worden. Und nun waren Soldatengekommen und hatten die Eltern und Geschwister einfach in einem Wagen mitgenommen. Jakob konnte über den Hof fliehen. Er rannte so schnell er konnte, bis er an der Wohnungstür von Familie Grubinger ankam. Sie waren die einzigen, zu denen er noch Vertrauen hatte. Frau Grubinger versteckte Jakob in ihrer Speisekammer. Als Stunden später einige Uniformierte an ihrer Tür aufkreuzten, konnte sie sie abwimmeln. Nein, sie hätte den kleinen Buben schon lange nicht mehr gesehen. Er spiele ja auch nicht mehr draußen auf der Straße, schon seit Wochen nicht. Frau Grubinger wollte es erst selbst nicht glauben, doch nun waren sie weg. ‘Esst noch etwas von dem Brot. Wir müssen jetzt aufbrechen und Jakob zu seinen Verwandten nach Landau bringen. Schnell – ehe sie zurückkommen.’“
„Passagen“, V:
„Stetten im Remstal* (2019 nach Christus). ‘Warum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte?’, werden Sie sich fragen. Sie ist anders, weil sie uns Gelegenheit gibt, auf unserem Lebensweg kurz stehenzubleiben. Den Rucksack gepackt, die Schuhe geschnürt, den Stab sozusagen schon in der Hand halten wir kurz inne an einem karg gedeckten Tisch. Da ist nicht mehr als Stückchen Brot für jede und jeden – und ein Schlückchen Wein. Und doch ist es genug. Wir sind Marathonläufer, ein jeder allein auf der Strecke seines Lebens. Hier aber sind wir zusammen – eine Gemeinschaft der Wandernden. Und den Tisch hier haben wir uns nicht selbst bereitet, sondern Gott hat ihn für uns gedeckt mit den Zeichen seiner Liebe. Das Brot lässt uns zurücksehen. Es hilft uns, uns an die Augenblicke auf unserem Lebensweg zu erinnern, da wir gestärkt wurden, obwohl wir fürchten mussten, dass uns die Kraft ausgeht. Der Wein lässt uns nach vorne schauen. Er gibt uns einen Vorgeschmack auf die Zeit, da wir wieder aufatmen und feiern können. Wir wissen, dass wir weiterziehen müssen, aufbrechen von diesem Tisch hier und heute. Bisweilen spüren wir den Druck solch erlebter Rastlosigkeit auf unseren Schultern lasten. Mitten hinein in diese Ahnung sagt uns dieses Mahl: ‘Ich stand dir bei mit meiner Kraft, und ich werde dir wieder Ruhe und Freude schenken.’“
* Anmerkung: Die Predigt ist für meinen Predigtort Stetten im Remstal formuliert; die Ortsangabe kann aber problemlos ersetzt werden. Die Predigt ist zudem Teil eines Abendmahlsgottesdienstes. Innerhalb eines reinen Predigtgottesdienstes müsste der Abendmahlsbezug im letzten Teil indirekt formuliert werden, nach dem Motto: „Wenn wir miteinander Abendmahl feiern, dann halten wir kurz inne, den Rucksack gepackt, die Schuhe geschnürt, den Stab sozusagen schon in der Hand, an einem karg gedeckten Tisch …“
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Predigt zu 1. Korinther 11, 17-34 von Elke Markmann
Liebe Gemeinde,
beim letzten Abendmahl Jesu führte Jesus das Abendmahl als Erinnerungsmahl ein – so haben wir vorhin in der Lesung (Das Passamahl – ein letztes gemeinsames Abendmahl (Gütersloher Erzählbibel nach Lk 22, 7-34)) gehört. Aber schon sehr schnell kam es in manchen jungen christlichen Gemeinden zum Streit darüber, was Abendmahlsgemeinschaft heißt. Der Predigttext für den heutigen Gottesdienst erzählt anschaulich über die Streitigkeiten:
Ich lese aus dem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth aus der Gütersloher Erzählbibel:
Paulus schreibt: Beim gemeinsamen Essen sollt ihr euch daran erinnern, wie Jesus mit seinen Schülerinnen und Schülern Essen und Trinken geteilt und das letzte Passamahl gefeiert hat. Offenbar ist euch das nicht möglich: Jeder und jede isst und trinkt für sich, wer viel hat, überfrisst und betrinkt sich, wer wenig hat, steht hungrig von Tisch auf. Wenn die Armen unter euch endlich von der Arbeit kommen, sind die Reichen schon satt. Können denn diejenigen, die im Überfluss leben, nicht zu Hause essen oder wollt ihr die, die nur wenig haben, demütigen? Erwartet dafür keinen Beifall von mir! Ich erinnere euch noch einmal an das, was ich euch über das Erinnerungsmahl gesagt habe, so wie ich selbst es gelernt habe: In der Nacht, in der Jesus verraten wurde, feierte er mit seinen Schülerinnen und Schülern das Passamahl. Dabei nahm er das Brot, dankte dafür und sagte: Dieses Brot ist wie mein Leben. Immer, wenn ihr miteinander das Brot teilt, erinnert euch an mich und unser letztes gemeinsames Essen. Nach dem Essen nahm Jesus den Becher und sagte: Dieser Becher steht für den erneuerten Bund in meinem Blut. Wann immer ihr miteinander den Wein teilt, erinnert euch an mich und unsere Gemeinschaft. Denkt daran, wenn ihr bei euren Versammlungen zusammen esst!
Was war da eigentlich passiert?
In den frühen christlichen Gemeinden kamen Reiche und Arme zusammen, Hausbesitzer und Sklaven. Alle zusammen bildeten die neuen Gemeinden. Alle zusammen hörten auf das, was von Jesus erzählt wurde.
Aber es waren nicht immer alle zusammen. Da gab es immer noch soziale Unterschiede. Wer hart im Hafen arbeitete, konnte erst später zur Gemeinde kommen. Wer weniger zu tun hatte oder andere für sich arbeiten ließ, konnte schon früh zum Versammlungsort kommen. Wenn die einen schon da waren, fingen sie an zu essen und zu trinken. Sie feierten ihre Gemeinschaft. An sich ja nicht schlecht. Wenn aber dann für die schwer arbeitenden Armen nichts mehr da ist, wenn sie dazu kommen, ist das keine Gemeinschaft mehr, wie Jesus sie sich vorstellte oder lebte.
„Erinnert euch an unsere Gemeinschaft!“
Paulus ermahnt die Menschen in Korinth.
Gemeinschaft leben – dazu gehört auch das gemeinsame Essen. Das letzte Abendmahl war kein sparsames Essen von etwas Brot und einem Becher Saft für alle. Das letzte Abendmahl war ein Passamahl. Dabei gab es wie bei jedem Festessen gutes Essen. Neben einem guten Essen gehören bis heute bestimmte symbolische Speisen dazu.
Mit denen werden bestimmte Erinnerungen verbunden. Zu den einzelnen symbolischen Speisen werden bis heute Geschichten beim Passamahl erzählt.
Auf dem Tisch befinden sich verschiedene Speisen mit symbolischer Bedeutung:
- Ungesäuertes Brot (Matze/Mezzot) als Symbol der Eile, in der die Juden aus Ägypten geflohen sind, so dass sie nicht einmal den Brotteig säuern konnten und dieser konnte so nicht aufgehen.
- Salzwasser als Symbol des Weinens über die Zerstörung des Jerusalemer Tempels, wo das Passalamm geopfert wurde
- Ein Sederteller (Ka’ara), auf dem sich die folgenden Speisen befinden. In der Anordnung der Speisen gibt es Varianten:
- Maror – ein Bitterkraut, meist Meerrettich, als Zeichen der Bitterkeit der Knechtschaft in Ägypten.
- Seroa – eine angebratene Lammkeule mit wenig Fleisch, die an die biblische Vorschrift der Opferung eines Passalamms im Jerusalemer Tempel erinnert.
- Charosset – eine Mischung aus Apfel- bzw. auch Feigenstückchen und Datteln, Nüssen oder Mandeln, mit etwas Rotwein zusammengeknetet, mit Zimt oder Ingwer bestreut, als Symbol für den Lehm, aus dem die Israeliten in den Zeiten der Knechtschaft Ziegel herstellen mussten.
- Chaseret – ein zweites Bitterkraut, es wird zusammen mit dem Charosset gegessen.
- Karpas – Sellerie, Radieschen, Petersilie oder Kartoffeln als Frucht der Erde, symbolisiert die „zermürbende Arbeit“ in Ägypten. Diese Erdfrucht wird während des Mahls in das Salzwasser getaucht und gegessen.
- Beitzah – ein gesottenes Ei, zum Zeichen der Gebrechlichkeit menschlicher Geschicke, aber auch der menschlichen Fruchtbarkeit und schließlich zum Zeichen der Trauer um den zerstörten Tempel in Jerusalem.
- Ein Becher Wein, der für den Propheten Elija bestimmt ist.
Nachdem diese Zeremonie gefeiert wurde, wurde gemeinsam ein Festessen geteilt.
Dies war auch der Ablauf des letzten Abendmahles Jesu mit seinen Schülerinnen und Schülern. Bei dem Brot, das er brach und über dem er den Segen sprach, handelt es sich höchstwahrscheinlich um das ungesäuerte Brot, das symbolisch für die Eile stand, mit dem die Jüdinnen und Juden Ägypten verlassen haben. Der Aufbruch und die Rettung waren Themen bei diesem Teil des Passamahles. Und von diesem Brot spricht Jesus nun als einem neuen Symbol:
Dieses Brot ist wie mein Leben. Immer, wenn ihr miteinander das Brot teilt, erinnert euch an mich und unser letztes gemeinsames Essen.
Damit wird es zu einem doppelten Symbol. Jesus knüpft an die Rettungsgeschichte seines Volkes an. So wie Gott das Volk rettete, rettet auch die Gemeinschaft, die die Menschen mit Jesus erlebt haben: hier gelten keine Grenzen oder Schranken mehr. In Jesu Gemeinschaft gibt es keine Ausgeschlossenen. Das war auch ein politisches Versprechen. Hier ist nicht wichtig, ob Ihr reich seid oder arm, ob Ihr Hausbesitzer oder Sklaven seid, ob ihr jüdisch oder griechisch seid. Hier zählt nur, dass Ihr zusammen kommt. Hier ist wichtig, dass Ihr Gott liebt – und Eure Nächsten wie euch selbst.
Der Becher, den Jesus nach dem Mahl nimmt, ist der letzte Becher, der zur Zeremonie gehört.
Jesus nimmt den Kelch nach dem Mahl – dankt und spricht den Segen, wie es beim Passamahl üblich war. Dann deutet er auch diesen Becher oder Kelch um.
In unserem Predigttext heißt es dazu: Dieser Becher steht für den erneuerten Bund in meinem Blut. Wann immer ihr miteinander den Wein teilt, erinnert euch an mich und unsere Gemeinschaft.
Auch hier wird wieder viel Wert auf die Gemeinschaft gelegt.
Wenn wir jetzt und hier miteinander essen und trinken, leben wir Gemeinschaft.
Zur Gemeinschaft bei Passamahl gehört die Erinnerung an die Rettung aus der Sklaverei.
Zu unserer Gemeinschaft heute gehört die Erinnerung an die Gemeinschaft, die Jesus wichtig war.
Eine Gemeinschaft, in der es keine Grenzen und Ausgrenzungen gab.
Eine Gemeinschaft, in der alle gleich viel bekommen – und nicht die einen schon besoffen und die anderen hungrig sind.
Und so wollen wir nun Abendmahl feiern.
Gott, nur ein Stück Brot in meiner Hand,
und doch ist es mehr:
Du schenkst mir das Leben
und stärkst mich
und machst mir Mut.
Gott, nur ein Kelch in unseren Händen,
doch in ihm schenkst Du Dich selbst.
Du schenkst uns die Fülle,
mehr als wir fassen können:
Deine Gegenwart.
Gott, wenn wir miteinander Brot und Kelch teilen,
dann sei uns nahe,
lass uns teilen,
was wir empfangen,
weitergeben:
Deine Liebe und Vergebung,
Deine Barmherzigkeit und Deinen Frieden.
Darum stimmen wir ein in das Loblied deines Volkes in aller Welt und singen:
Heilig, heilig, heilig...
Wir nehmen Brot und Traubensaft, Gaben der Schöpfung, von Menschen zubereitet, durch Jesus zum Zeichen der Liebe gemacht.
Wir erinnern uns: Als Jesus mit seinen Schülerinnen und Schülern das letzte Mal das Passamahl feierte, verband er sich und die Erinnerung an die Gemeinschaft mit dem Brot und dem Wein. Er lud ein, sich immer wieder mit Brot und Wein zu treffen und sich zu erinnern.
Jesus nahm das Brot, dankte für alle Gaben und sprach den Segen, wie es Tradition war. Er nahm das Brot, brach es und teilte es aus.
Wie das Brot aus Gottes Schöpfung, Arbeit und Liebe entstanden ist und euch stärkt, so wird es euch stärken und ermutigen, aus meiner Lebenskraft und Liebe zu schöpfen. Sie strömen euch zu, wenn ihr euch an mich erinnert.
Am Ende der Mahlzeit nahm er den Trinkbecher und sagte:
Mein Blut wird nicht umsonst vergossen sein. Aus Leben und Sterben wird Gott eine neue Hoffnung wachsen lassen. In diesem Kelch findet ihr den Geschmack der neuen Gemeinschaft mit Gott. Wenn ihr das tut, erinnert euch an mich und spürt unsere Verbundenheit.
Amen.
Vater unser …
228 Er ist das Brot, er ist der Wein
Und nun wollen wir essen und trinken.
Wir geben uns gegenseitig Brot und Saft. Wenn wir das Brot geben, sagen wir: Das Brot des Lebens! Wenn wir den Saft geben, sagen wir: Der Kelch des Heils.
Austeilung
Dann gemeinsam essen mit Gesprächsimpulsen:
- „Liebe wächst wie Weizen und ihr Halm ist grün.“
Sie haben auf den Tischen kleine Töpfchen mit Weizenkeimlingen.
Aus diesen kleinen Pflanzen wird das Korn, aus dem dann Mehl für Brot mahlen. Es beginnt mit einem kleinen Wunder. Aus Gottes Schöpfungswunder und unserer Hände Arbeit entsteht das, was uns lebendig erhält. Dabei steht das Brot für stellvertretend viele andere Lebensmittel. Alle wachsen wunderbarer Weise und werden mit unserer Hände Arbeit zu dem, was uns am Leben erhält.
Haben Sie schon einmal Lebensmittel selbst angebaut? Kartoffeln oder Gemüse? Weizen oder anderes Getreide? Wie fühlt es sich an, eigenes anzubauen und zu ernten?
- Brot teilen und in Gemeinschaft essen.
Welche Brotgeschichten kennen Sie? Geschichten, in denen Brot eine Rolle spielt.
Hier sind auch eigene Beispielgeschichten möglich. Z.B. „Brot in deiner Hand“ (Aus: Heinrich A. Mertens, Brot in deiner Hand, Geschichten für Kinder von der Bedeutung des heiligen Mahles, J. Pfeiffer Verlag, München, 6. Auflage 1982, 5–8.)
- Gäste bewirten
Wenn wir Gäste bekommen, legen wir oft Wert auf gutes Essen, auf eine angenehme Atmosphäre. Was machen wir, wenn wir Gäste erwarten? Wie leben wir Gemeinschaft mit Freundinnen und Freunden, mit Verwandten und Bekannten?
Am Ende der Mahlzeit, nahm er den Kelch und sprach: Nehmt und trinkt alle daraus!
Wenn ihr das tut, erinnert euch an mich und spürt unsere Verbundenheit.
Und der Friede Gottes, der größer ist als all unser Denken und Tun, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
Lied: 336: Danket, danket dem Herrn
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Gottes-Ahnung – ein Weg aus dem Labyrinth? Predigt zu 1. Korinther 1,4-9 von Jens Junginger
Ich danke meinem Gott immer wieder für die Gnade, die er euch durch Christus Jesus geschenkt hat. Durch ihn hat Gott euch an allem reich gemacht: Reich an der Fähigkeit zu reden und reich an Erkenntnis. 6 In gleicher Weise hat Gott der Botschaft von Christus bei euch einen festen Grund bereitet. Deshalb fehlt euch keine der Gaben, die er in seiner Gnade schenkt. So vorbereitet, erwartet ihr das Erscheinen unseres Herrn Jesus Christus.1
Das sind wohlklingende Worte, voller Anerkennung, Lob und Wertschätzung.
Es ist eine Art zu schreiben und Briefempfänger anzusprechen wie es in der antiken Briefkultur üblich war. Vergleichbares kann einem heute – in akademisch universitären Kreisen oder in diplomatischen Zusammenhängen begegnen. Man startet sein Schreiben, eine Rede mit einer höflich freundlichen wertschätzenden Anerkennung, um die Angesprochenen anschließend dann seine Sicht der Dinge zu präsentieren.
Und so macht mich Paulus mit seiner Wortwahl neugierig. Was kommt da noch?
Mir fällt auf: Er dankt nicht den Angesprochenen direkt und persönlich, für ihre Gaben, Fähigkeiten und ihre Haltung.
Er dankt Gott.
Er dankt Gott für dessen Gnade und Zuwendung gegenüber den Angesprochenen,
er dankt Gott dafür, dass Gott bereichert und befähigt.
Er appelliert nicht an die Angesprochen im Blick darauf was zukünftig zu tun wäre.
Er unterstreicht Gottes Wirken auch im Blick auf das was noch kommt.
Gott wird euch helfen, bis zum Schluss fest auf diesem Grund zu stehen. Es kann keine Anklage gegen euch erhoben werden. Gott ist treu. Er selbst hat euch berufen zur Gemeinschaft mit seinem Sohn Jesus Christus, unserem Herrn.
In Anlehnung an die Für-Bitte lesen bzw. hören wir hier einen Für-Dank.2
Obwohl es reichlich Zoff gibt, in Korinth. Konflikte, Streit, Diskussionen, innerhalb der Christengemeinde und einzelnen darunter und Paulus.
Und so frage ich mich, will Paulus mit seinem ausführlichen Für-Dank vielleicht - die ihm entfremdete Leserschaft – gewinnen? Ihnen ein wenig schmeicheln?
Bevor er darauf zu sprechen komm, dass es Starke und Schwache, Freie und Sklaven, Arme und Reiche, Enthusiasten und Ernüchterte, Gewissenhafte und Gewissenlose gibt, die nicht einmal beim gemeinsamem mahl in einer Gemeinschaft zusammenfinden?
Will er die gewinnen, die als Charismatiker mit ihm nicht klarkommen? Will Paulus gerade die gewinnen, zu denen er in Schwachheit und mit Furcht und Zittern kam?3
Je mehr ich mich in die Situation, in die Vielschichtigkeit der Beziehungen hineindenke, umso näher rückt sie mir. Umso bekannter wird sie mir. Und umso spannender empfinde ich die einleitenden theologischen Gedanken des Paulus und seine Haltung, die mich anfangs so irritiert hat.
Das meiste klicke ich einfach weg, erzählt ein Journalist unserer Tage. Aber eine Wirkung bleibt, fügt er hinzu. Was manche von ihm halten und was ihm wünscht, das bekommt er bisweilen aufs hässlichste mitgeteilt, aus allen Bevölkerungsschichten. Von Leuten mit und ohne Titel. Es ist wirklich krass, meint er.
Die Menge, die Dichte, die Brutalität und Hässlichkeit der Wutschreiber ist enorm gewachsen. Da ist irgendwann eine Hemmschwelle weggeschwemmt worden.
Verletzende, menschenfeindliche beleidigende Kommentare gelten als mutiger Tabu-Bruch, mit dem man Applaus erntet. Man kann wieder derb sein und ungeschönt reden. Und manche sind richtig stolz darauf. Sie sagen: Es gilt ja Meinungsfreiheit!4
Ein neuer Ton geht um. Eine – im wahrsten Sinne des Wortes - gnadenlose Art und Form des Redens und Schreibens. Eine bislang nicht gekannte oder nicht offen erkennbare, anstandslose, hässliche Streit-Unkultur kommt zum Vorschein. Keiner kennt das Rezept, meint der Dresdner Dichter Durs Grünbein5, wie aus diesem Labyrinth wieder herauszufinden sei. Es ist an der Zeit – auch in Theologie und Kirche -, über den Umgang mit starken Emotionen in Politik und Gesellschaft und Religion nachzudenken.6
Paulus macht einen ungewöhnlichen Anfang, so wie er an die schreibt, mit denen er im Streit liegt und die mit ihm und untereinander.
Ich danke meinem Gott immer wieder für die Gnade,
die er euch durch Christus Jesus geschenkt hat.
So seid ihr reich an der Fähigkeit zu reden
und reich an Erkenntnis.
Es fehlt euch keine der Gaben,
die er in seiner Gnade schenkt.
Ich verstehe es als einen Ansatz, um aus diesem Labyrinth wieder herauszufinden. Ich will zu erläutern versuchen warum. Die Haltung und die Botschaft des Paulus in diese unschöne, hässliche Tabu- und Gnadenlosigkeit hinein lautet:
Ihr, ihr Gekränkten, Beleidigten, Vergessenen ihr gereizte Wutschreiber, ihr Hassverliebte und recht-haben-wollende, auf eure Rechte beharrende, ihr Sündenbocksucher, ihr polternde und beachtet werden wollende, ich möchte, ich wünschte mir, dass ihr eine Gewissheit habt, aus der ihr leben könnt, nämlich,
dass ihr - und wir alle - den Weg zum Glück nicht als Suchende beginnen, sondern als schon gefundene7, als angenommene, als mit Gnade überschüttete, als wahrhaft Begnadete.
Und so würde ich euch schlicht einfach sagen, euch erinnern und vergewissern wollen: worin ihr stark seid welche Gaben euch ausmachen welche Fähigkeiten euch gegeben sind, geschenkt wurden - umsonst wie ihr bereichernd wirkt was in euch ist, ohne dass ihr selbst etwas dazutun konntet was euch gegeben ist
Und ich würde euch gerne daran erinnern: Das findet ihr vor, das ist das, wovon ihr lebt, vorrausetzungslos, was ihr nicht kaufen, nicht herstellen oder verdienen könnt. Es ist euch schon gegeben - als Geschenk.
Jesus vermochte es seine Gegenüber als ein Geschenk anzunehmen. Und darin war und ist er uns ein Geschenk.
Er hat damit die Umstehenden irritiert, aber auch fasziniert, verändert, bekehrt. Das hat Wunder gewirkt, Menschen aufgerichtet, motiviert, manchen enorme Kraft gegeben, sie gestärkt weiter zu leben, neu anzufangen, nicht zu verhärten oder zu versteinern.
Die dramatische Begegnung mit der sog. Ehebrecherin8 macht das auf eindrückliche Weise deutlich. Gerade weil es da so viele gejuckt hat diese Frau zu verdammen, sie zu verurteilen und ihr den Tod zu wünschen.
Mit dem Blick auf Jesu charmante Umgangsweise mit schimpfenden und niemals fehlerfreien Menschen, mit den großen wertschätzenden Worten im Gedächtnis, höre ich die gegenwärtige gnadenlos gewordenen Wut- und Gewaltsprache, mit zum Teil vernichtenden Aussprüchen. Und dann denke ich:
Bedürften wir es wieder mehr eine Ahnung von Gott zu bekommen, vielleicht auch nur den Hauch einer Ahnung von Gott? Weil die Tatsache, dass Menschen immer mehr nur in den Grenzen dessen fühlen und denken, was sie als Einzelne überschauen können und wollen, dabei aber die Frage nicht mehr stellen, auch nicht mehr stellen wollen, woher wir kommen, wohin wir gehen. Ist nicht das ein Ausdruck des Verlustes von Gott? (Vaclav Havel, 1997)9
Paulus inständige, wiederholte Erinnerung an Gott ist eine Aufforderung zu fragen:
Ich denke ein Anfang wäre gemacht uns bewusst zu machen wo mir Gutes getan wurde, wodurch ich im wahrsten Sinne des Wortes stark gemacht, wertgeschätzt, gekrönt und aufgebaut wurde – einfach so. Was ich vorgefunden und erlebt habe, und wie ich bereichert wurde, ohne etwas dafür getan zu haben.
Und vielleicht fällt einem beim Innehalten und Besinnen auf: Es gibt so manches, das verdanke ich nicht mir selbst, da ist ein unverfügbares gewährtes Geschenk. Manchmal muss man es sich sagen lassen, von anderen.
Paulus Für-Dank wirkt zunächst befremdlich, eben weil wir es nicht gewohnt sind so zu reden und angesprochen zu werden. Weil wir es für unangemessen halten für umsonst Geschenktes, für Begabungen und Fähigkeiten, womit wir andere bereichern, einfach zu danken. Zu danken, dass wir über das uns Geschenkte verfügen können. Im Grunde ticken wir nämlich nicht so, schon gar nicht wir Protestanten. Wir sind weit aus gnadenloser, kritischer, pessimistischer, hoffnungsarmer und unschöner mit uns selbst und mit anderen. Und da grätscht Paulus dazwischen. Vielleicht ist es ein Weg raus aus dem Labyrinth, der uns etwas dankbarer stimmt.
Deshalb danke ich meinem Gott für diese Art von aufrüttelnder Gnade.
Sie lässt mich aufhorchen und gibt Impulse.
Ich danke Jesus, diesem begnadeten Menschenfreund
Ich danke dem so irritierend nachdenklich stimmenden Schreiber, Paulus.
Er hat mich gewonnen.
Er vermag mir in seiner Sprache eine wahrlich anregende hoffnungsvolle Gewissheit zu vermitteln:
Gott wird euch helfen,
bis zum Schluss fest auf diesem Grund zu stehen.
So kann an dem Tag,
wenn unser Herr Jesus Christus kommt,
keine Anklage gegen euch erhoben werden.
Gott ist treu.
Er selbst hat euch berufen
zur Gemeinschaft mit seinem Sohn Jesus Christus,
unserem Herrn.
Möge er auch auf Sie liebe Gemeinde und uns Christengemeinden immer wieder neu so wirken.
Amen
1 I Nach der Übersetzung der Basisbibel
2 I M.Frettlöh, GPM H.1/73.Jg, S.113ff
3 I Vgl. M. Frettlöh aaO.
4 I Vgl. Hasnain Kazim, Post von Karlheinz, Wütende Mails von richtigen Deutschen – und was ich ihnen antworte
5 I Wie aus Sprache Gewalt wird, ZEIT 10. Januar 2019, S.39
6 I Theologische Impulse 4 "Von blinder Wut, heiligem Zorn und politischer Empörung", von Dr. Thorsten Latzel, unter: https://www.evangelische-akademie.de/
7 I Dorothee Sölle, Vortag am Tag vor ihrem Tod, Bad Boll 2003, zit. In Gottfried Orth „Gnade“, in: Hübner/Orth, Wörter des Lebens, Stuttgart 2007
8 I Johannes 8,1-11, mein Vorschlag für die Schriftlesung
9 I Vaclav Havel, Moral in Zeiten der Globalisierung, 1998, S. 237
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18.04.2019 - Gründonnerstag
03.02.2019 - 5. So. vor der Passionszeit
Als ob - Predigt zu 1. Kor 7,29-31 von Martina Schwarz
«Als ob»
Predigt zu 1 Kor 7,29-31
Berner Münster, Vesper zum 20. Sonntag nach Trinitatis, 13.10.2018, Martina Schwarz
Doris Grozdanovic
In Terezin – Theresienstadt blühen die Kastanien.
Wir steigen aus dem Reisebus.
Eine kleine Frau winkt uns schon von Weitem. Sie trägt von Kopf bis Fuss lila. Ihre Haare hat sie rötlich getönt. Und ihre Haut geht gegen neunzig zu. Ihre Augen allerdings blitzen immer noch schelmisch und blau. Sie bedankt sich bei unserer Reisegruppe für jede einzelne Frage. Als sie von ihrer zurückgelassenen Katze in Brünn erzählt, mischen sich Tränen in ihre Worte. Ganz ohne Tränen erzählt sie von der Trennung der Familie im Lager, von der Krankheit der Mutter und von ihrem Tod. Und wie sie alleine übrig blieb damals mit sechzehn. Im kleinen Museum in Terezin hängt heute ein Bild von ihr als Schafhirtin. Doris hat überlebt.
Wir essen unser mitgebrachtes Picknick in der Frühlingssonne. Kinder spielen Fussball.
Am Himmel leuchten die Kastanienkerzen, ein Kreuz und ein Davidsstern.
Später führt uns Doris durchs Museum.
Im Lager lebte auch ein Dichter, Leo Straus. Die zarte Frau führt uns zu seinem Gedicht, das ihrer Meinung nach, das ganze Lager zusammenfasst. Falls man Schreckliches zusammenfassen kann.
Es heisst: „als ob“
Und die letzte Strophe geht so:
„Man trägt das schwere Schicksal,
als ob es nicht so schwer,
und spricht von schönrer Zukunft,
als obs schon morgen wär.“(Leo Straus, 1942)
«Als ob Musik»
Vor ein paar Jahren wurde in der französischen Kirche Musik aufgeführt, die in Theresienstadt komponiert und gespielt wurde. «Als ob» nannte sich das Konzert des Ensembles I Salonisti. Es waren leichtfüssige Stücke und schluchzende Töne dabei.
Die Musik riss einen Spalt durch die Mauern im Lager, und Schönheit blitzte rein. Eine Melodie, die weit machte, was eng und bedrängend. Wir weinten die Tränen, die all die Dichter, Komponisten und Schafhüterinnen abends im Kopfkissen erstickten.
«Als ob-Musik» des Paulus
Paulus hat auch «als ob-Musik» komponiert in seinen Briefzeilen an die Geschwister in Korinth.
Er weiss, dass ihre Zeit aus den Fugen geraten ist. Paulus schreibt: Die Zeit drängt. Und meint sie ist bedrängend. Neunzig Prozent der Menschen leben an der Armutsgrenze. Wie soll man da eine Frau heiraten, eine Familie gründen? Es reicht gerade mal für ein Ein-Mann-Leben mit von-der-Hand-in- den Mund. Eng ist`s in den Garküchen unten am Hafen.
Die Mietskasernen der armen Leute kennen keine Küchen. Überfüllte Kneipen. Stickige Luft.
Am Hafen werben Kinder für ihre Mütter, die sich prostituieren. Salz und Schmutz in den Haaren.
Weit weg liegt die Shopping-Meile mit Blick auf die Landenge von Isthmus.
Elegante Villen propagieren einen römischen Lebensstil, wie man ihn überall sieht, auf Gebäudefassaden und in Heldenstatuen hoch über dem Hafen. Einkaufsläden und Tempel gehen ineinander über. Daneben Bilder von Gewalt und pornographische Szenen auf harmlosen Öllämpchen. Ein Netz von Bordellen überzog die Stadt. Auch innerhalb der Wohnhäuser reicher Familien gabs oft noch einen kleinen «Club» für den gestressten Hausherrn. Pater familias.
Heilig sein heisst genügen
Paulus sieht sich die Welt an.
So wie Christus sie angesehen hätte. All die Entwurzelten in Korinth. Die von den Römern Angesiedelten. Die Heimatlosen, die sich am Hafen rumtreiben und am Sonntag in den Katakomben Lieder singen. Auch die vielen alleinstehenden Frauen. Für sie will er Würde und einen Schutzraum für Seele und Gebet. Kein Jagen zum «Gefallen».
Was eigentlich «genügen» heisst. Und heilig sein.
Er spricht viel von diesen Frauen. Dass sie wichtig seien für die «messianische Gemeinde».
Prophetinnen der Katakomben.
Heilige an Leib und Seele.
Als ob – das Lied der Freiheit
Frei statt Freiwild.
Wie sonst in der Gesellschaft.
Unverheiratete Frau.
Witwe und wie die Ausgrenzungen damals hiessen. Heute noch.
Queer zu jeder Norm.
Für sie singt Paulus sein Lied.
Und uns:
Den einen Körper Christi:
niederkommend
schwitzend
schön.
Als ob schon gälte:
Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus. (Gal 3,28)
Als gäbs keine Ausbeutung mehr an den Geschöpfen
Rückgang des Permafrost und schrumpfende Gletscher.
Keinen Billigflug mehr nach Mallorca
Bloss langsame Schritte im herbstlichen Gold
Als obs schon morgen wär
Amen
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„1000 Places To See Before You Die“ – Predigt zu 1. Korinther 7, 29-31 von Christoph Hildebrandt-Ayasse
Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Auch sollen die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht. Ich möchte aber, dass ihr ohne Sorge seid.
Liebe Gemeinde,
die Zeit ist kurz.
Waren Sie schon an allen Orten, die man gesehen haben muss, bevor man stirbt? Vielleicht kennen Sie ja diesen Reiseführer mit dem Titel: „1000 Orte, die man gesehen haben muss, bevor man stirbt“. Darin finden sich die Top-Destinationen in der Welt, die jeder im Leben angeblich einmal besucht haben sollte, bevor das Leben zu Ende geht. Das Buch gibt es jetzt sogar mit einer „neuen Lebensliste für den Weltreisenden“. 1000 Orte sind offensichtlich nicht genug. Na, hoffentlich reicht die Lebenszeit, um auch diese Lebens-Liste mit den Reisezielen, die man gesehen haben muss, abzuarbeiten.
Die Zeit ist kurz.Inzwischen gibt es auch Bücher wie: 100 Dinge, die man im Leben einmal getan haben sollte; 100 Dinge die Frau oder Mann einmal im Leben getan haben sollte; 100 Dinge, die jedes Paar einmal tun sollte. Nun: die Zeit ist kurz; und offensichtlich muss man unbedingt noch jede Menge unternehmen und tun und machen im Leben. Was ist aber, wenn man nicht überall war, wenn man nicht alles gemacht hat, wenn man nicht alles getan hat? Ist man dann zu kurz gekommen im Leben? Hat man etwas verpasst; nicht nur: etwas, sondern ganz viel: Interessantes, Tolles, Wichtiges?
„1000 Places To See Before You Die“, so lautet der englische Originaltitel dieses ganz besonderen Reiseführers.
Und das ist natürlich mit einem Schmunzeln und mit einem Augenzwinkern gemeint. So, als könnte man das überhaupt. 1000 Orte die du sehen musst, bevor du stirbst - der Titel spielt auf eine ganz fein ironische Art mit einem sehr aktuellen Lebensgefühl. Das Leben ist kurz, aber du musst ganz viel erleben; musst ganz viel hineinpacken in das Leben. 1000 Orte sollte man besuchen und noch die neue, zusätzliche Lebensliste abhaken. 100 Dinge sollten Mann und Frau und Paare einmal im Leben getan haben. Kinder sollten im Kindergarten spätestens mit einer Fremdsprache beginnen; und ab der Grundschule darf es dann ruhig auch Chinesisch lernen.
Selbstoptimierung nennt man dieses Lebensgefühl, diese Lebenseinstellung. Unser Drang zur Selbstoptimierung treibt manchmal seltsame Blüten. Und während man den Hund am Halsband durch die Gegend führt, ermahnt einen die App über das Fitnessarmband am Handgelenk, dass man sein eigenes Sportpensum heute noch lange nicht erledigt hat.
Selbstoptimierung. Gilt das auch für den Glauben? Würde der Apostel Paulus heute ein Buch schreiben mit dem Titel: 1000 Gottesdienste, die man im Leben einmal besucht haben sollte. Oder: 1000 Gebete, die man gesprochen haben sollte, bevor man stirbt? Wie meint er dieses: Die Zeit ist kurz? Und: Das Wesen der Welt vergeht? Meint er: Zeit ist Geld? Muss ich meine Zeit also perfekt ausnutzen? Oder meint er: alles vergeht. Deswegen lasse ich nichts zu sehr an mich heran. Oder: alles ist vergänglich. Deswegen genieße ich jeden schönen Augenblick. Da mag von allem etwas mitschwingen. Aber all das beschreibt nicht so ganz das, was Paulus meint. Paulus fasst das christliche Lebensgefühl in diese seltsamen „als-ob-nicht“ Sätze:
„Auch sollen die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht.“
Paulus macht deutlich: alles ist vergänglich in unserer Welt. Alles vergeht, aber es ist deswegen nicht wertlos.
An einfachsten verstehen wir Paulus vielleicht bei dem Satz: kaufen, als behielten wir es nicht. (Und das verbinde ich zur Verdeutlichung hier gleich mit dem Aufruf zum Bazar aus dem neuen Gemeindebrief. Dort heißt es: „Für unseren Kunst-und-Krempel-Markt bitten wir um ansehnliche „Antiquitäten“ aller Art.“) Eigentlich wissen wir, dass wir die Dinge, die wir kaufen, irgendwann nicht mehr in Händen halten. Schön, wenn manches Lieblingsstück in die Hände der Enkelkinder weiter wandert. Dass wir unser Herz nicht an Dinge hängen können, das wissen wir hoffentlich schon beim Bezahlen; und können uns trotzdem an einem schönen Kauf freuen.
Paulus selber lebte ja recht bescheiden. Er verdiente sich sein Geld als Zeltmacher. Verheiratet wollte er nicht sein. Das passt nicht zu mir, schreibt er an der gleichen Stelle, an der unser Predigttext steht. Die Zeit ist kurz, und ich muss von Jesus predigen und die frohe Botschaft verkündigen. Da bleibt keine Zeit für eine Ehe. Seine Lebensweise hält für die beste. Aber er möchte das niemandem vorschreiben. Für andere Christen sieht es anders aus, schreibt er. Wichtig ist für ihn die Verkündigung.
Das Lebensgefühl, dass Paulus hier vermitteln will, schließt nichts aus. Liebe, Trauer, Freude und Haben-Wollen: das gehört für Paulus zum Leben. Er sagt: Ja, so ist es. Ganz und gar so, wie du es erlebst; aber unter der Perspektive Gottes ist da noch mehr. Ja, wir freuen uns, wenn uns danach ist. Und gleichzeitig wissen wir um die Not. Ja, wir sind traurig und weinen, wenn uns danach ist. Und gleichzeitig wissen wir um das Kinderlachen in der Nachbarschaft. Alles hat sein Recht und seine Zeit und gehört gleichzeitig in Gottes großer Welt zusammen. Ja, wir sind glücklich in der Ehe. Und wissen doch um die Begrenztheit: bis der Tod uns scheidet.
Ich las kürzlich, dass manche jungen Menschen nicht heiraten, weil sie immer den noch perfekteren Partner suchen. Alles soll optimal sein und alles soll perfekt sein. Beruf, Partnerschaft und Familie. Vor lauter Selbstoptimierung verpasst man dann das Leben. Vor lauter Reisezielen verpasst man die Erholung. Vor lauter guten Ratgebern weiß man nicht mehr, was man selber will.
Vielleicht könnte uns da ja wirklich eine Buch helfen, wie: 1000 Gebete, die man gesprochen haben sollte, bevor man stirbt. Bei der Lektüre sollte es aber nicht darum gehen, ein Gebet nach dem anderen abzuhaken. Eigentlich reichte auch schon ein Gebet. Es sollte, wie bei jedem kurzen oder langen, vorformulierten oder frei von der Leber weg gesprochenen Gebet darum gehen, sich bei Gott geborgen zu wissen. Dass die Zeit kurz ist, wie Paulus schreibt, und dass das Wesen der Welt vergeht, das muss nicht unsere Sorge sein. Wir sind in seiner Hand und seiner Zeit geborgen.
Der Herbst ist ein Spiegelbild dafür. Die prächtig gefärbten Blätter zeigen das, was Paulus hier mit diesen „als-ob-nicht“ Sätzen ausdrückt: genießen, aber nicht festhalten.
Rainer Maria Rilke hat dies in seinem Herbstgedicht so ausgedrückt:
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Amen
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Zeit für Genügsamkeit – Predigt zu 1. Korinther 7,29-32 von Jens Junginger
Die Zeit drängt - morgens meistens. Die Zeit drängt. Weil der Kunde wartet, der Auftrag raus muss. Die Zeit drängt, ab zum nächsten Patienten. Die Zeit drängt. Und irgendwann geht einem die Puste aus.
Liebe Gemeinde,
auf Dauer tut das niemand gut. Andererseits: der Permafrostboden taut früher als erwartet. Hetze, Rassismus und Nationalismus, Demokratie Zweifel werden immer unbeschwerter hinausposaunt. Die Zeit der Fülle war gestern, das wissen wir. In der Kirche erleben wir‘s. Die Zeit drängt – Entscheidungen müssen gefällt werden, Handeln ist angesagt. Wie gehen wir um - mit diesem Zwiespalt, mit dieser Spannung?
In der Jesusbewegung, in der Urchristenheit, bei Paulus stoßen wir auf ein ähnliches Dilemma:
Paulus war damals unentwegt unterwegs und hoch engagiert, verhandelnd, schreibend, predigend, diskutierend und immer wieder selbst sehr bedrängt und manchmal auch am Ende. Das Herrschaftsgebaren des Imperium Romanum war bestimmend. Für die Masse der normalen und einfachen Leute, für christlich gesinnte war es eine Zeit der Bedrängnis, voll Härte, Gewalt, voll täglicher Existenzsorgen und Unrecht.1
Der reale Hunger und Durst waren groß. Die Sehnsucht nach einem Ende dieser Zeit war da, mal mehr, mal weniger. Auch in den Christengemeinden. Bei manchen aber hatte die Zeit Gottes schon etwas begonnen. Da wo bereits galt: hier ist weder Mann noch Frau, weder Sklave noch Freier ist (vgl. Gal 3,28) und: Einer des andern Last trägt. (vgl. Gal 6,2) Wir sorgen uns umeinander. (vgl. 1. Kor 12,25f)
Paulus war Protagonist einer unumstößlichen Glaubensgewissheit, dass die Leiden der jetzigen Zeit nicht ins Gewicht fallen, wenn wir an die Herrlichkeit denken, die Gott bald sichtbar macht und an der er uns teilhaben lassen wird. (Rö 8,18) .Zugleich war er beseelt von einer bisweilen ungeduldig, rastlos, eifernden Sehnsucht, die das Ende des von so vielen real erlebten Unheils herbeihoffte.
In Paulus begegnen uns diesen beiden widersprüchliche Haltungen. Im Grunde leben wir alle als Christenmenschen in dieser Spannung, und damit in einem Dilemma.
Im 7ten Kapitel seines Briefes an die Freundesschar in der quirlig, elenden Hafenmetropole Korinth zeigt Paulus, dass er um die Lage der Leute dort weiß, um ihr ge- und bedrückt sein, wie um ihre erwartungsvolle Sehnsucht. Ich lese den Text nach der Genfer Neuen Übersetzung (GNÜ) 7,29-32:
Eins ist sicher, Geschwister: Es geht immer schneller dem Ende zu. Deshalb darf es in der Zeit, die uns noch bleibt, beim Verheirateten nicht die Ehe sein, die sein Leben bestimmt; beim Traurigen darf es nicht die Traurigkeit sein und beim Fröhlichen nicht die Freude. Wer etwas kauft, soll damit so umgehen, als würde es ihm nicht gehören, und wer von den Dingen dieser Welt Gebrauch macht, darf sich nicht von ihnen gefangen nehmen lassen. Denn die Welt in ihrer jetzigen Gestalt ist dem Untergang geweiht. Ich möchte, dass ihr frei seid von ´unnötigen` Sorge
„in der Zeit, die uns noch bleibt, darf es beim Verheirateten nicht die Ehe sein, die sein Leben bestimmt“ Ein Satz, der für manche Ohren heraussticht und erst mal irritiert. Paulus spricht aber in diesem Zusammenhang noch von mehr: Vom Weinen, sich freuen, kaufen und die Welt gebrauchen. Er spricht ganz konkret die realen Sorgen, Themen, Fragen und Zwänge der Leute an, wie Jesus, wenn er in der Bergpredigt von der Sorge ums tägliche Brot, ums Trinken, und ums Kleiden spricht. (vgl. Matth 6,25)
Wie bekommt man die Dinge geregelt? Wie geht man emotional, seelisch und gedanklich mit diesen mehrfach bedrängenden Fragen um? Wie bleibt man seinem Selbstverständnis, seiner Überzeugung und seiner Haltung als Christenmensch treu, auch in ethischer Hinsicht. Bedrängt einerseits und zugleich überzeugt, dass eine neue Zeit nahe ist.
Eine Frage, die sich (nicht nur damals) stellte, wenn man davon umgeben war, was die antiken städtischen Shoppingmeilen so boten: Wohin man kommt, so beschreibt es ein römischer Autor, … da stehen Walker, Tuchsticker, Goldschmiede und Wollarbeiter, Händler mit Goldbordüren für Tunikas, Rot-, Violett- und Nussbaumfärber… Büstenhalter- und Korsettmacher und Gürtelmacher. Es scheint, als ob du es einfach mitnehmen kannst, als sei alles schon bezahlt. 2
In der Zeit, die noch bleibt, sah der unentwegte Apostel für sich selbst keine Zeit und keine Kraft für eine feste persönliche Bindung. Andere in seinem Team allerdings schon. In Korinth und anderen Orten konnten wiederum viele aus existentiellen Gründen gerade noch für ihr eigenes Überleben sorgen, jedoch nicht auch noch für eine Partnerin.
Paulus bewegte angesichts der spannungsvollen Dilemma-Situation offenkundig die Frage: Wovon lasse ich mich in meiner Haltung bestimmen, beherrschen, manipulieren? Woran binden wir uns? Woran orientieren wir uns? Was ist uns – Christenmenschen, als Kirche - wirklich wichtig? Wovon wollen und sollen wir als Christenmenschen frei sein, im Vertrauen auf Gottes neue Zeit und in die Gemeinschaft untereinander?
Wovon lassen wir uns leiten?
Die Diagnose hatte dem Mit-Fünfziger den Boden unter den Füßen weggezogen. Der chirurgische Eingriff war zwar eine Chance aber keine Garantie, dass dann alle Gefahren für immer gebannt wären. Dabei war er doch gerade in eine gute und aussichtsreiche Phase seines Schaffens und Wirkens gekommen. Die Diagnose setzte ihn seelisch und gedanklich schachmatt. Die Sorge um das Wohl der Familie hatte ihn ebenso im Griff. Wer ihn kannte, machte sich Sorgen, mit ihm und um ihn. Weißt du was, sagte er dann eines Tages: Ich weiß nicht wirklich wieviel Zeit ich tatsächlich noch haben werde. Das kann mir auch keiner sagen. Aber ich bin nicht bereit mich von dieser Ungewissheit und der Angst und den Sorgen gefangen nehmen und meine Motivation und Schaffenslust nehmen zu lassen. Soweit ich es kann möchte mich davon frei machen. Denn, sind wir doch ehrlich: Früher oder später beißen wir alle ins Gras.
Es ist eine Kunst, eine solche Haltung einzunehmen, einnehmen zu können. Mit einer bedrängenden Ungewissheit so umzugehen, dass sie einen nicht permanent beherrscht und lähmt. Sondern: Sehen, gestalten was möglich ist. Mehr noch: Schöpferische Schaffenskraft zur Entfaltung bringen, die auch die Mitwelt beglückt, aller Bedrängnis zum Trotz. Die Rahmenbedingungen gebrauchen, unbefangen, - in aller Freiheit und entspannten Gelassenheit – im Gottvertrauen.
Eine solche trotzig hoffnungsfrohe Lebenshaltung einnehmen zu können, erinnert daran, wie Gott, wie die Kraft Gottes in uns und durch uns zur Entfaltung kommen kann.
Könnte auch uns das befähigen in aller spannungsvollen Zerrissenheit in Balance zu kommen? Genügsamer zu leben und dies als etwas Schönes zu erleben, als befreiende Leichtigkeit? Achtsamkeit zu wahren für das, was über das materiell Begehrenswerte hinaus reicht und über dieses unerträgliche „me first“.
Paulus wirbt seiner eigenen unermüdlichen Umtriebigkeit zum Trotz für eine genügsame Glaubensgelassenheit, die befreit nach dem Willen Gottes das Leben entspannter, genügsamer zu gestalten.
Die Zeit drängt. Wir leben in bedrängenden Zeiten. Jetzt noch in der Zeit der Fülle und der Zeit der Maßlosigkeit, des zu viel – auch in der Kirche -. In einer Zeit, in der sich gleichzeitig der Planet und viele Menschen in höchst prekärer Lage befinden.
Und wir erahnen oder wissen es: Wir sind mitten drin, in einer Zeit des Übergangs. In einer Zeit angespannter Ungewissheit, in der du meinst, dass du alles einfach haben kannst und in einer Zeit, in der an vielen Orten Menschen vermeintlich einfache, entsetzlich einfache und menschenverachtende Lösungen anstreben und bereits umsetzen.
Füllen wir diese Zeit, als Christen, als Kirche. Lassen wir das Klagen, Beklagen und Jammern, übers eigene weniger werden, über die zu vielen Räume, die wir jetzt haben. Lassen wir hier in einem solchen ergreifenden Raum wie diesem hier Grundtöne der Schöpfung und des Willen Gottes erklingen. Der Liedtext lautet:
Wir gehen mit den Dingen so um, als würden sie nicht uns gehören, wir machen von den Dingen dieser Welt Gebrauch, aber lassen uns nicht von ihnen gefangen nehmen. Wir trachten nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit (vgl. Mt 6,34)
Hören wir in einem Raum wie diesem auf die Resonanz, die ein solches Lied hier in Sindelfingern hervorbringt. Und lassen es immer wieder erklingen, in und vor der Kirche, im Stifts Hof und im Markus Zentrum, im kulturell-, musikalischen, wie im sozialen, pädagogischen und diakonischen Engagement, in und für Menschen in dieser Stadt.
Geben wir der Resonanz Raum und Zeit und unsere Aufmerksamkeit.3
Für die Kirche – und alle, die darin Verantwortung tragen – drängt die Zeit, sich von der Zeit der Fülle zu verabschieden, sich nicht länger von unnötigen Sorgenlasten um Besitzstände und vom Verwalten des Schrumpfens gefangen nehmen zu lassen.4
Die Botschaft von der Genügsamkeit klingt im Fortissimo aus der neuen Welt Gottes zu uns herüber. Öffnen wir auch unsere eigenen Resonanzräume für diese Botschaft. Öffnen wir uns als Christengemeinde. Damit die Kirche eine neue Gestalt annehme. Damit sie ihre Relevanz für die Menschen in dieser Welt und in dieser Stadt verstärke. 5
Amen
1 I Vgl. zur Auslegung des gesamten Abschnittes: L. Schrottroff, Der erste Brief an die Korinther, Stuttgart 2013, S. 136-141.
2 I Plautus, Aulularia III 5 (505-535), deutsche Übersetzung Ludwig 1973, 133, zit. In L. Schottroff, S. 140.
3 I Vgl zum Ganzen: Jörg Göpfert; Es reicht. Von der Last und Leichtigkeit der Suffizienz, S.178-189 in: Brigitte Bertelmann, Klaus Heidel (Hrsg.): Leben im Anthropozän. Christliche Perspektiven für eine Kultur der Nachhaltigkeit. München, 2018
4 I Vgl. zum Gedankengang: Anette Kick in: AuB, Zeitschrift für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, S.21
5 I Göpfert, S.188
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Was da wirklich steht – Predigt zu 1. Korinther 7, 29-31 von Rudolf Rengstorf
Liebe Leserin, lieber Leser!
„Es sollen die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine.“ Wenn ich mich an diese Weisung des Apostels gehalten hätte, dann wäre ich mit Sicherheit nicht mehr verheiratet. Und ein solcher Text ausgereechnet an dem Sonntag, an dem es um die Gültigkeit des 6. Gebots geht und an dem Jesus im Evangelium sagt: „So sind Mann und Frau nun nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was nun Gott zusammen gefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.“ (Mk. 10,8f) Wie kann einer, der sogar Apostel ist, sagen: Lebe mit deinem Partner zusammen, alsob du nicht zu ihr oder ihm gehörst! Was ist hier bloß los mit Paulus? Weisungen zu erteilen, die sich auch in der damaligen Zeit – da bin ich ganz sicher – kein Ehepartner gefallen ließ. Ganz offensichtlich hatte Paulus von der Ehe keine Ahnung, und vor den Ratschlägen solcher Leute muss man auf der Hut sein. Aber es geht ja hier noch weiter: „Die, die weinen, sollen sein, als weinten sie nicht; und die sich freuen, sollen sein, als freuten sie sich nicht.“ Wer so etwas sagt, würde durch jede Seelsorger-Prüfung rasseln. Was für eine Herzlosigkeit, einem haltlos weinenden Menschen zu sagen: Nun tu mal so, alsob du nicht weinst. Hab dich nicht so, vergiss, was dich zum Weinen bringt. Und genauso herzlos ist es, jemandem, der sich nicht fassen kann vor Freude und Erleichterung, zu sagen: Komm runter und werd mal wieder cool!
Cool sein, cool bleiben, das gilt bei vielen heute ja als eine Art Lebensprinzip. Bloß nichts und niemanden zu nah an sich herankommen lassen, sich nicht dauerhaft binden, immer davon ausgehen, dass alles im Fluss ist und man sich bloß nicht festsetzt und dann auch sitzengelassen wird. Alles mitmachen und mitnehmen, klar, aber innerlich immer schön auf Abstand bleiben und sich nicht engagieren. Ein nicht zu fassender und letztlich charakterloser Mensch, dem es nur um sich selbst und sein Überleben geht: Das kann doch dem leidenschaftlichen Apostel nicht als Ideal vorschweben!
Wenn es dann weitergeht mit Die, die kaufen, sollen sein, als behielten sie die Sachen nicht und die, die Dinge dieser Welt gebrauchen, sollen sein, als brauchten sie sie nicht. Ja. damit kann ich mich anfreunden. Wie viele andere Männer auch, gehe ich nur ungern zum Einkaufen von Klamotten. Dabei cool zu bleiben, fällt mir zum Leidwesen meiner Frau überhaupt nicht schwer. Und an an den Umgang mit Sachen soll man natürlich das Herz nicht hängen, wobei die cooolen Typen im Umgang mit Klamotten und Konsumgütern am ehesten noch ihre coolness verlieren.
Aber noch mal: was ist los mit Paulus, dass er in alle nur denkbaren Lebenslagen dieses „Tut alsob nicht“ schiebt und rät, überall innerlich auf Abstand zu gehen?. Als Begründung gibt er an: „Denn das Wesen dieser Welt vergeht.“ Dass alles vergänglich ist, auch wir selbst, dass wir nichts festhalten können und wir auf Abruf leben, das verdrängen wir in der Tat nur zu leicht. Dass wir kein Recht haben auf „Weiter so“ und „Hauptsache gesund“ sollten wir allerdings beherzigen und auch aufhören, dies ständig als Geburtstagswunsch vor uns her zu tragen. Die Hauptsache ist vielmehr, dass wir lernen, mit unserer Vergänglichkeit, mit unserm Sterbenmüssen umzugehen, unser Haus zu bestellen und loszulassen, was sich nicht halten lässt. Aber das kriege ich doch nicht damit hin, dass ich überall ein „Alob nicht“ dazwischenschiebe! Ehepartner können sich doch nicht auf den unvermeidlich kommenden Abschied von einander dadurch vorbereiten, dass sie jetzt schon miteinander leben, als gäbe es den andern gar nicht mehr! Im Gegenteil: Gerade das Wissen um die Endlichkeit des Lebens wird, wenn es gut geht, die beiden noch enger zusammen führen und darauf achten lassen, einander in dieser Not beizustehen und einander gerade nicht allein zu lassen! Und der Tatsache, dass ich einmal nicht mehr dasein werde, der werde ich doch nicht damit gerecht, dass ich mir schon heute abtrainiere, was mich in Weinen und Lachen zu einer unverwechselbaren Person macht!
Was Pauls zu seinen merkwürdigen „Alsob nicht“- Weisungen veranlasst, bleibt leider in der deutschen Übersetzung des ersten Satzes dieses kurzen Abschnitts verborgen, wenn es heißt: „Die Zeit ist kurz.“ Damit ist nicht die Zeit bis zum Welt- oder Lebensende gemeint Nein, vom Kairos ist im griechischen Urtext die Rede Und das ist der Höhepunkt, auf den alle Zeit zuläuft, der Zeitpunkt nicht des Endes, sondern der Vollendung und Erfüllung. Das ist der Anfang des Lebens, in dem du ganz und gar der Mensch sein wirst, wie Gott dich immer schon haben wollte. Und dieser Anfang kommt damit, dass Christus kommt und die Herrschaft übernimmt. Dieser Kairos – sagt Paulus – ist uns auf den Leib gerückt, steht unmittelbar bevor.
Naja, kann man nun sagen: Diese Naherwartung hat doch getäuscht. Warten wir nicht bis heute auf die Wiederkunft Jesu, und ist das nicht so etwas wie ein St. Nimmerleinstag? Von wegen! Wit sitzen doch hier in einer Welt, in der – anders als draußen – Gott allein das Sagen hat. Wo wir dem begegnen auf Schritt und Tritt, der uns ins Leben gerufen hat. Was wir dort draußen erleben, was uns erfreut und bedrückt, was uns mit anderen Menschen verbindet, bringen wir hier im Singen und Beten vor sein Angesicht. Hier bekommen wir mit, dass Leben mehr ist als das, was sich zwischen Geburt und Tod abspielt, mehr als das, was mich selbst mit dem liebsten Menschen verbindet, mehr als das, was mich jubeln und weinen lässt. Hier geht es um den, der heil macht, was in meinem und deinem Leben zerbrochen ist, der zum Leuchten bringt, was am Verglimmen ist. Hier, wo Gottes Welt zum Vorschein kommt, rückt nun in der Tat alles andere in den Hintergrund. Damit ich mich hier wieder zurechtbringen, aufrichten und segnen lasse und zum Gottesdienst im Alltag der Welt zurückkehre..
Darum also geht es Paulus, dass wir den im Kommen begriffenen Gott nicht verpassen, dass wir ihm Raum geben neben und vor allem, was unser Leben ausfüllt. Achte darauf, dass die Verbindung zum Gottesdienst in der Kirche nicht abreißt. Sonst ist e wirklich so, dass das Kommen Christi zum St. Nimmerleinstag wird. Achte darauf, dass du Raum lässt für Christus. Er braucht ihn, um uns aufmerksam darauf zu machen, dass er gerade auch in der Gestalt von ungeliebten und übersehenen Mitmenschen auf uns zukommt. Wo denn sonst wird uns das auf die Seele gebunden, wenn nicht hier? Und er braucht den Raum, um dir mit seinem Kreuz das Leiden und Sterben der Welt vor Augen zu führen. Das Kreuz, in das du hineinsehen sollst das Leiden von Angehörigen, das Leiden von Gefolterten und Ermordeten, das Leid von hungernden Kindern und derer, die vor Europas Grenzen ums Leben kommen. Er braucht Raum, um dich gewiss zu machen: In diesem Leidenskreuz begegnet uns der auferstandene Christus, kommt er auf uns zu. Er ist der Wiederkommende, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden. Vom Ende der Welt her kommt er mit ausgebreiteten Armen auf uns zu und bringt Heil und Segen. Von hier aus bekommen die Sätze des Paulus Sinn. Ich möchte sie so wiedergeben:
Liebe Schwestern und Brüder: Christus kommt auf uns zu. Davon lasst eure Partnerschaft bestimmen. Ihm setzt aus, was euch traurig und fröhlich macht. Geht mit dem, was ihr verdient und besitzt so um, dass es ihm gefallen kann. Nichts davon vermag euch zu halten. Auf ihn allein kommt es an, Amen.