Gott unterscheidet anders - Predigt zu Galater 3,26-29 von Christoph Dinkel
Gott unterscheidet anders
Die Kenner unter Ihnen wissen, dass für die Predigttexte eine Ordnung existiert, die vorgibt, über welchen Text an welchem Sonntag zu predigen ist. Nun ist die aktuelle Ordnung der Predigttexte aus dem Jahr 1978 – und etwas in die Jahre gekommen. Aktuell wird sie überarbeitet und seit einigen Wochen liegen die Vorschläge für die neue Ordnung vor. Bevor diese Ordnung in Kraft tritt, soll sie geprüft und ausprobiert werden. Und das will ich gerne tun. Einer der neuen Texte für den heutigen Sonntag ist Galater 3,26-29. Über diesen absolut zentralen Text wurde bislang überhaupt nicht gepredigt. Gut, dass sich das ändern soll. Ich lese aus dem Brief des Paulus an die Galater Kapitel 3 die Verse 26-29:
Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Kinder und nach der Verheißung Erben.
1. Taufkleid. Früher gab es sie öfter: die weißen Taufkleider für Säuglinge. Immerhin: manchmal wird auch hier in der Christuskirche ein Säugling im weißen Kleid zur Taufe gebracht. Die Tradition ist sehr alt. Auch Erwachsene, die sich taufen ließen, waren über Jahrhundert mit einem weißen Kleid umhüllt. Bei den Baptisten lebt die Sitte bis heute fort. In manchen Familien wird das weiße Taufkleid über Generationen weitergegeben. Die Namen der darin getauften Säuglinge werden auf das Kleid gestickt.
Die Sitte des weißen Taufkleids – sie hat ihren Ursprung in unserem Predigttext, denn es handelt sich um eine alte Taufformel, die die Metapher des Kleides nutzt: „Ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.“ Bei der Taufe zieht der Mensch Christus an und wir zu einem neuen Menschen, zu einem Menschen Gottes. Die symbolische Farbe für Christus ist seit alters weiß. Das weiße Kleid ist somit das Symbol dafür, dass der Mensch Christus anzieht. Das geistliche Geschehen der Taufe wird durch das weiße Gewand sichtbar veranschaulicht: Bei der Taufe werden wir mit Christus umkleidet. Wir sind neue Kreatur, wie Paulus an anderer Stelle sagt. Durch die Taufe wird der alte, sündige Adam abgelegt. Wir sollen ein neuer Mensch sein, der Mensch, wie ihn Gott gemeint hat und wie er in Christus erkennbar geworden ist.
2. Gott unterscheidet anders. Die Taufe macht einen Unterschied. Sie teilt das Leben in vorher und nachher, so wie wir auch unsere Zeit in die Zeit vor und nach Christus einteilen. Die Taufe macht den Unterschied zwischen dem alten Adam und den neuen Menschen in Christus. Für diese neuen Menschen werden die alten Unterscheidungen bedeutungslos: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“
Die Unterscheidungen, die Paulus hier aufzählt, sind die fundamentalen sozialen Unterscheidungen seiner Zeit. Die Juden sind das alte Gottesvolk, dem die Verheißung Abrahams und der Segen Gottes gilt. Ihnen gegenübergestellt sind die Griechen. Sie stehen für alle Heiden, also für den Rest der Menschheit. Im Judentum gab es immer wieder Tendenzen, die Trennung zwischen Juden und Heiden zu überwinden. Gezielt sind deshalb in den Stammbaum der Davidskönige auch heidnische Frauen eingefügt, die Hure Rahab zum Beispiel oder auch Rut. In dieser Tradition stehend setzt Paulus nun einen neuen Markstein. Die alte Grundunterscheidung zwischen Juden und Heiden wird aufgehoben. Paulus wischt sie einfach weg. Sie hat keine Bedeutung mehr. Gott unterscheidet anders. Aus welcher religiösen Tradition jemand kommt, ist gleichgültig. Wer getauft ist, ist allen anderen Getauften gleich.
Doch nicht nur die Unterscheidung zwischen Juden und Heiden wird von Paulus fortgewischt. Er setzt gleich noch eines drauf und erklärt auch die Unterscheidung von Freien und Sklaven für aufgehoben. Die Radikalität dieser Sätze kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Große Teile der Bevölkerung des römischen Reiches lebten als Sklaven. Der Unterschied von Sklaven und Freien war fundamental für die ganze Gesellschaftsordnung. Und in diese Situation hinein verkündet Paulus, dass Gott so nicht unterscheidet. Wer getauft ist, ist allen anderen gleich. Dass Sklaven diese Worte gerne hörten, liegt auf der Hand. Das Wunder ist, dass auch viele Freie diese Worte ernst nahmen und ihnen Geltung verschafften. Der Kampf gegen das Gräuel der Sklaverei beginnt hier bei diesen Sätzen des Apostels. Jede Taufe setzt das Zeichen: Alle sind gleich.
Das gilt schließlich auch für die Unterscheidung von Mann und Frau. Ob Paulus wirklich ahnte, was er damit in Gang setzte? Immerhin wissen wir aus Paulus’ eigenen Briefen, dass er Frauen als Leiterinnen und wichtige Ansprechpartnerinnen anredete. Am Ende seiner Briefe finden sich Grußlisten und sie lassen tatsächlich eine Gleichrangigkeit von Frauen und Männern erkennen. Eine uns sonst unbekannte Junia nennt er sogar Apostelin, so wie Paulus sich selbst immer als Apostel, als Gesandter Jesu Christi bezeichnet hat. Auch von Grabinschriften wissen wir, dass Frauen im ersten christlichen Jahrhundert alle Leitungsposten in christlichen Gemeinden bekleiden konnten. Wenn Paulus sagt, in Christus gilt nicht Mann noch Frau, so scheint tatsächlich für eine kleine Zeit dieser sonst so wichtig genommene Unterschied zwischen den Menschen seine Bedeutung verloren zu haben.
Allzulange währte dieses Glück jedoch nicht. Je mehr sich das Christentum ausbreitete und je weiter es Teil der Mehrheitsgesellschaft wurde, umso weiter setzten sich die alten Kräfte und die alten Unterscheidungen wieder durch. Das Zeitalter Adams, der alte Äon (Zeitalter), die Kräfte der Beharrung und der alten Ordnung erwiesen sich auf Dauer als sehr, sehr stark.
3. Widerstände des alten Äons. Das alte Zeitalter, das Zeitalter Adams, das Zeitalter Kains, der seinen Bruder Abel erschlägt, ist weiter mächtig. Jeden Tag hören wir derzeit von schrecklichen Ereignissen in Syrien oder im Irak. Die Milizen der IS schlachten Menschen ab, einfach, weil sie nicht zu ihnen gehören, weil sie etwas anderes glauben und sich nicht unterwerfen wollen. Der Gedanke, dass jeder Mensch ein Geschöpf Gottes ist, unendlich wertvoll und schützenswert, ist ihnen fremd. Und wenn sie den Gedanken kennen wie jene, die aus Europa nach Syrien in den Krieg ziehen, dann verachten sie ihn. Es wird viel Zeit und Geduld brauchen, bis auch die Kämpfer der IS ihren Irrtum und ihr Unrecht erkennen. Bis dahin gilt, was Jesus sagt: Liebet eure Feinde. Die Feindesliebe schließt aber nicht aus, dass man dem Treiben der IS durch militärische Gewalt ein Ende setzt.
Wie schwer die Überwindung der alten, der adamitischen Unterscheidungen ist, zeigt uns auch die Erzählung von Jesus und der kanaanäischen Frau, die wir in der Schriftlesung gehört haben (Matthäus 15,21-28). Eine heidnische Frau bittet Jesus um Hilfe für ihre kranke Tochter. Weil Jesus sonst allen beisteht, die ihn bitten, erwartet man, dass er auch dieses Mal hilft. Doch weit gefehlt. Jesus ignoriert die Frau. Ganz gezielt und ziemlich eisig schweigt er. „Er antwortete ihr kein Wort“, heißt es. Da wenden sich seine Jünger an ihn und fordern ihn zur Hilfe auf, damit die Frau nicht weiter stört. Jetzt wird die Szene noch krasser: Jesus sagt den Jüngern, er sei nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israels gesandt. Da lebt sie noch, die alte Unterscheidung von Juden und Heiden. Aber damit nicht genug. Als die Frau weiterbittet und fleht und sich vor ihm niederwirft, da kommt dieser furchtbare Satz: „Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde.“ – Ein durch und durch diskriminierender, anstößiger, inakzeptabler Satz Jesu. Er bezeichnet die heidnische Frau als Hund. Mehr Verachtung geht kaum. Doch die Frau lässt sich nicht beirren. Sie wird Demütigungen dieser Art gewohnt sein und weiß damit umzugehen. Klug und hartnäckig zugleich kontert sie: „Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.“ Da endlich erkennt Jesus, dass auch diese Frau, dass auch die Heiden zu seiner Mission zählen und er wendet sich der Frau zu und hilft. Jesus sagt: „Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst!“
So stark, so zäh, so schier unüberwindlich sind die Unterscheidungen des alten Äons, dass auch Jesus nur durch die unglaubliche Kraft jener Frau lernt, diese Unterscheidungen hinter sich zu lassen. Ob diese harte Szene historisch ist, fragt man sich. Immerhin gibt es mehrere Erzählungen, in denen Jesus ganz selbstverständlich erkrankte Heiden heilt. Was aber sicher historisch ist, ist die unglaubliche Härte und Festigkeit der alten Unterscheidungen nach Religion, Ethnie und Geschlecht. Der alte Äon ist zäh und mächtig.
4. Menschen des neuen Äons. Wenn eine neue Religion entsteht, muss neu sortiert werden, was von Gott ist und was nicht. Paulus stellt dabei für das entstehende Christentum die Weichen: Religiöse Herkunft, ethnische Zugehörigkeit oder Geschlecht haben keine Unterscheidungskraft für jene, die durch die Taufe zu Christus zu gehören. Die neue Welt, die Welt Gottes, der neue Äon legt auf diese Unterscheidungen der alten Welt keinen Wert mehr. Für eine kurze Zeit der Christentumsgeschichte waren diese Regeln tatsächlich in Kraft – und das Wissen um sie ging auch nie ganz verloren. Aber dann waren die Kräfte des alten Äons lange Zeit doch wieder sehr stark. Es brauchte fast zwei Jahrtausende bis die Sklaverei wirklich geächtet wurde – und die Diskriminierung von Frauen ist bis heute auf der Agenda der unerledigten Menschheitsaufgaben.
Doch entsteht für uns Christen in der sich globalisierenden Welt eine neue Herausforderung. Wir müssen einen Schritt weiter gehen als Paulus. Der Apostel sah den alten Unterschied zwischen Juden und Heiden durch die Taufe überwunden. Alle sind eins in Christus. Doch so entstand ein neuer Unterschied, der Unterschied von Christen und Heiden. Die Folgen auch dieser Unterscheidung waren oft genug blutig. Heute müssen wir lernen, auch diese Unterscheidung hinter uns zu lassen.
Das, wofür Jesus eintrat und steht – Gottvertrauen, Gerechtigkeit und Liebe –, das erkennen wir auch bei Menschen außerhalb der Grenzen des Christentums wieder. Der Gedanke ist an sich alt. Die Christen haben immer schon die großen Philosophen Sokrates oder Aristoteles als Verwandte und als vertraute Geister wahrgenommen. In einer globalen Welt müssen wir uns diese alte Erkenntnis neu aneignen. Und dann erkennen wir Verbündete und Freunde auch unter Buddhisten, Muslimen oder Atheisten. Eine muslimische Verbündete wurde vom Nobelkomitee für den Friedensnobelpreis ausgewählt: Die siebzehnjährige Schülerin Malala Yousafzai aus Pakistan. Sie hatte schon als elfjährige Schülerin auf einer Webseite der BBC über Gewalttaten der Taliban im Swat-Tal in Pakistan berichtet. Die Taliban zerstörten Schulen für Mädchen, verboten ihnen den Schulbesuch, das Hören von Musik, das Tanzen und das unverschleierte Betreten öffentlicher Räume. Malala berichtete mit Hilfe ihres Vaters über das Treiben der Taliban. Für ihren Einsatz wurde sie in Pakistan geehrt. Im Oktober 2012 lauerten dann Taliban-Kämpfer ihrem Schulbus auf und schossen ihr aus nächster Nähe in den Kopf. Die Taliban bekannten sich zu der Tat und gaben als Grund den Einsatz Malalas für die Bildung von Mädchen an.
Malala überlebte schwer verletzt. Inzwischen lebt sie mit ihrer Familie in England. Sie kann wieder reden und geht zur Schule. Im Chemie-Unterricht erfuhr sie an Freitag, dass sie als Jüngste überhaupt mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wird. Der Presse sagte sie darauf folgendes: „Ein Mädchen ist nicht vorherbestimmt, eine Sklavin zu sein. […] Es ist nicht nur eine Mutter, nicht nur eine Schwester, nicht nur eine Ehefrau - es sollte eine Identität haben und anerkannt werden, mit den gleichen Rechten wie ein Junge."
(aus: http://www.spiegel.de/politik/ausland/malala-yousafzai-friedensnobelpre…. Absatz vorher mit Material aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Malala_Yousafzai, Stand 10.10.2014, 21 Uhr)
Ich glaube, dass auch diese junge Muslimin zu den Menschen des neuen Äons gehört. Die alte Unterscheidung von Christen und Heiden greift hier nicht mehr. Malala ist uns vertraut mit ihrer Haltung, ist ein Vorbild in ihrem Einsatz für die Rechte von Mädchen auf Bildung und Gleichberechtigung. Hätte Paulus die Entscheidung des Nobelpreiskomitees zu kommentieren, würde er sagen: Malala hat verstanden, was ich meinte, als ich schrieb: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau.“ – Amen.
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Erwachsen Kind sein - Predigt zu Galater 4,4-7 von Jochen Cornelius-Bundschuh
Erwachsen Kindsein
Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen. Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott.
„Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in eure Herzen gesandt, der da ruft: Abba, lieber Vater!“
Weihnachten feiern wir die Geburt Gottes als Kind im Stall. Und wir feiern, dass wir auch als Erwachsene vor Gott nicht Knechte und Mägde sind, sondern Kinder, Geschwister und Erben.
I
Warum ist das ein Grund zum Feiern? Was macht den Unterschied zwischen Knecht oder Magd - und Kind? Was ist daran so schön: dass wir als Erwachsene vor Gott Kinder sind?
Paulus fasst das Wesentliche in einer Geste knapp zusammen: Kindsein heißt rufen können: „Abba, lieber Vater!“
Die ersten Worte: Mama, Papa können Unterschiedliches ausdrücken. Die Freude des Wiedersehens wie die Angst vor dem Alleinsein: „Geh nicht, Papa, Lass mich nicht allein im Kindergarten!“ Den Schmerz nach dem Hinfallen und die Wut, etwas zu wollen und nicht zu können. Den Schrecken, wenn etwas herunter gefallen und kaputt gegangen ist. Die Erleichterung nach einem bösen Traum: „Gut, dass du da bist, Mama! Darf ich zu dir ins Bett?“
II
Wir feiern an Weihnachten, dass wir auch als Erwachsene vor Gott Kinder sein können. Dass wir zu Gott wie zu einer Mutter und zu einem Vater rufen können. Und dass wir uns darauf verlassen können: Gott wird helfen, trösten, mitspielen, verzeihen.
Aber Kindsein ist kein Kinderspiel! Als Kind nicht und als Erwachsener schon gar nicht. Kindsein heißt: regelmäßig an die eigenen Grenzen zu stoßen, das eigene Leben nicht in der Hand zu haben, nicht autark zu sein. Kindsein heißt: du bist auf andere angewiesen! Und wenn die keine Zeit haben oder besseres zu tun? Oder wenn die dich spüren lassen, wie klein, dumm oder schwach du bist? Wenn die dich gar missbrauchen? Wenn die arm sind und du deshalb keine Chance hast? Dann ist es vorbei mit der Romantik der Kindheit!
Viele Kinder erleben das bei uns. Noch mehr erleben es da, wo Krieg herrscht und Gewalt. Die Flüchtlingslager in Jordanien, im Libanon und in der Türkei sind voller syrischer Kinder – dem Schicksal ausgeliefert, geopfert auf dem Altar der Ideologien und der Machtkämpfe der Erwachsenen. Sie können sich nicht wehren, sie werden benutzt, manchmal sogar als Soldaten. In vielen Ländern kratzen Familien ihr letztes Geld zusammen und setzen ihre Kinder allein in ein Flugzeug nach Europa oder Nord- oder Südamerika. Sie wollen sie schützen, weil sie erleben, dass die Kinder am gefährdetsten sind und doch zugleich unsere Zukunft.
Kindsein ist kein Kinderspiel! Warum ist es trotzdem für Erwachsene erstrebenswert vor Kind zu sein, nicht Knecht oder Magd? Welche Verheißungen stecken darin, dass ich auch erwachsen wie ein Kind zu Gott rufen kann?
III
„Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen.“
Jesus wird als Kind geboren. Er ruft „Mama“ und „Papa“, streitet sich, wird geliebt und gehasst. Er stirbt unter dem Gesetz, damit wir leben. „Damit wir die Kindschaft empfingen“, auch als erwachsene Menschen.
Wie sieht diese erwachsene Kindschaft aus?
IV
Sie begrenzt und stärkt meine Verantwortung. Nicht in dem Sinn, dass ich sage, das geht mich nichts an, dafür ist Gott verantwortlich. Sondern indem sie mich erinnert, dass ich all mein Tun und Lassen, mein Reden und Schweigen nicht alleine verantworte, sondern im Leib Christi.
Ich weiß um meine Grenzen; ich bin Mensch, nicht Gott, nicht Christus. Ich kann Fehler zugeben und Schwächen. Denn auch wenn ich schuldig werde: Ich bin und bleibe Gottes Kind! „Wer schuldig ist auf Erden, verhüll nicht mehr sein Haupt, er soll gerettet werden, wenn er dem Kinde glaubt.“
Ich muss mich nicht um jeden Preis durchsetzen. Die andere könnte auch Recht haben. Wenn die Logik meines Berufs ein bestimmtes Verhalten vorschreibt, bleibt ein Vorbehalt: Ich bin ein Kind Gottes und meine Geschwister auch. Haben wir das schon bedacht? Gibt es vielleicht doch noch einen anderen Weg.
Auch im Erwachsenenleben zählt nicht nur die Leistung. Gelingendes Leben ist mehr als: „Wenn du das tust, erhältst du dafür das.“ So wird kein Kind groß und stark und fröhlich und strahlend. „Wir sind bestimmt zu leuchten, wie es die Kinder tun“, soll der gerade verstorbene Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela gesagt haben. Kinder strahlen Mut und Hoffnung aus, weil wir ihnen und sie sich etwas zutrauen. Gott traut uns etwas zu, auch als Erwachsenen. Seine Herrlichkeit spiegelt sich in unserem Tun und Lassen, in unserem Reden und Schweigen.
V
Die erwachsene Kindschaft erweitert meine Handlungsmöglichkeiten. Was können wir schon tun für Frieden in Syrien? Da sind die Politiker zuständig. Und wenn die nichts tun können; was sollen wir dann machen? Wir können doch nicht alle Flüchtlinge aufnehmen!
Vielleicht doch: einfach die Türen weiter aufmachen und uns Zeit nehmen für die Menschen. Die Flüchtlingslager in Deutschland füllen sich wieder. Die Menschen warten auf unser „Willkommen“! Auf Kinder, die mit ihnen spielen. Auf Erwachsene, die mit ihnen reden und sie fragen: Was habt ihr erlebt? Kennen Sie die nächste Unterkunft für Flüchtlinge? Lassen Sie sich dorthin einladen!
VI
Erwachsen Kindsein heißt aus der Fülle leben, die Gott schenkt, und sie teilen.
Kinder werden, wenn sie erwachsen sind, zu Erben. Gottes erwachsene Kinder erben das Leben in Fülle. Brot und Wein: Brot, das, was jede und jeder unbedingt zum Leben braucht, und Wein, das, was das Herz erfreut: Gemeinschaft, Vertrauen, Hoffnung. Als Erwachsene kämpfen wir immer mit der Knappheit. „Es ist nie genug da“, sagt der Markt: „Da gibt es eine, die besser ist als du. Da gibt es einen, der anerkannter ist als du. Der kriegt den Posten, wenn du dich nicht anstrengst. Pass auf, fahr die Ellenbogen aus, kämpfe um Anerkennung, Macht und Geld.“ Gott sagt: „Du bist mein Kind und Erbe! Es ist genug da, genug für dich und für die anderen! Genieß‘ es!“
Erwachsene Kinder Gottes leben aus der Fülle. Und erleben wie kleine Kinder, dass Teilen stark macht, dass es Vertrauen stärkt und neue Hoffnung schenkt. Viele Einzelne und Gemeinden unterstützen zurzeit die Hilfsorganisationen, aber auch unsere Geschwisterkirchen in Jordanien, im Libanon und in der Türkei, die den Menschen in Syrien helfen. Was ist das für eine Erfahrung als Erwachsener mal wieder mit der „Brot für die Welt–Büchse“ über den Weihnachtsmarkt zu laufen, so wie damals im Konfirmandenunterricht. Zu sammeln und zu hören und zu reden: „Das nützt ja doch nichts!“ „Kommt das auch an?“ „Da müsste man doch einmarschieren!“ Dann wie ein Kind Gottes Zutrauen auszustrahlen und Hoffnung zu stärken: „Wissen Sie, die Schneller Schulen bauen eine Notschule im Flüchtlingslager auf: Kinder sind unsere Zukunft!“ Und Erwachsene, die auf Gott als ihre Mutter und ihren Vater vertrauen.
VII
Erwachsen Kindsein. Wir kämpfen nicht allein, wir leben aus der Fülle, die Gott uns und seiner Welt schenkt. Wir balancieren an Gottes- und Menschen-Hand durchs Leben, so wie Kinder über den gefällten Baum im Winterwald. Eine neue Gemeinschaft wächst, in der wir als Geschwister leben, als Brüder und Schwestern Jesu, als Söhne und Töchter Gottes, die rufen: „Abba, lieber Vater!“
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Predigt zu Galater 4,4-7 von Dörte Gebhard
Liebe Gemeinde,
für die Galater hat Paulus alles Notwendige für die Weihnachtspredigt im 4. Kapitel seines Briefes geschrieben. Ich lese die wenigen Verse, die er der Geburt Jesu widmet:
4 Als sich aber die Zeit erfüllt hatte, sandte Gott seinen Sohn, zur Welt gebracht von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, 5 um die unter dem Gesetz freizukaufen, damit wir als Söhne und Töchter angenommen würden. 6 Weil ihr aber Söhne und Töchter seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, den Geist, der da ruft: Abba, Vater! 7 So bist du nun nicht mehr Sklave, sondern Sohn; bist du aber Sohn, dann auch Erbe - durch Gott. (Gal 4, 4-7)
Für uns hat Paulus keineswegs alles Notwendige für die Weihnachtspredigt im 4. Kapitel seines Galaterbriefes geschrieben, daher wird bis heute im Sinne des Apostels weitergepredigt, auch über ihn hinaus.
Ebenso wichtig ist, was wir alles unsererseits Paulus zu erzählen haben! Der Apostel der ersten Christen hatte wirklich keine Ahnung! Er konnte keinen blassen Schimmer haben.
Damit wir nicht alle laut und unverständlich durcheinanderreden, will ich versuchen, unsere Gedanken zu ordnen, die schon lang gedachten – und ein paar neue auch.
Paulus weiss von Jesu Geburt nur das blosse „dass“, nichts vom „wie“. Er musste leben und glauben ohne eine einzige schöne Geschichte vom Anfang auf Erden. Er musste auskommen ohne die Hirten und Engel von Lukas, ohne einen Stern und ein paar Weise aus dem Morgenland von Matthäus, ohne Lametta und Zimtsterne und Weihnachtsbaum und Kerzen und alles andere von uns, das wir doch zu Recht vermissen würden, wenn es das zu Weihnachten nicht gäbe! Kein einziges Weihnachtslied konnte er singen und sich wahrscheinlich am wenigsten vorstellen, dass man es alle Jahre wieder und dann auch noch grossartig feiert!
Wir müssten nun ganz von vorn anfangen und ihm alles erklären, was uns von Kindesbeinen an vertraut ist. Malen Sie sich die Menge unserer Bräuche und familiären Traditionen aus, die Berge von Plätzchen und Rezepten, die dicken Liederbücher mit Tönen, die in die hintersten Ecken der Welt reichen, den Sinn und Zweck unserer Dekorationen, unserer Lichter und Bäume und Kränze und ...
Jedenfalls darf man Paulus keinesfalls Vorwürfe machen, etwa, dass er ein nüchterner Typ war und nur gute Argumente bringen konnte statt eine wirklich ergreifende Story zu erzählen. Er hat sich auch nicht besonders auf das Wesentliche konzentriert, weil es vom Unwesentlichen noch nicht genug gab, als dass man es zum Weglassen dagehabt hätte wie wir heute: Wir haben Nebensächlichkeiten im Überfluss. Davon konnten die Galater nur träumen. Sie hatten dafür von Paulus eine klare Ansage, kurz und bündig, davon können wir oft nur träumen in den Wörter- und vor allem in den Werbefluten unserer Weihnachtszeiten.
1. Paulus hat keine Ahnung von unserem Kirchenjahr. Unser Kirchenjahr ist eine fein und langwierig ausgetüftelte Sache. Es hat ein paar Jahrhunderte gedauert, bis die Christenheit eine gut verträgliche Festreihe beieinander hatte, die den Alltag immer im richtigen Moment unterbrach. Die Christen der Frühen Kirche haben viele Generationen lang erst gar nicht und dann gewissermassen probegefeiert. Weihnachten erschien aber danach noch zu allen Zeiten verbesserungswürdig und ausbaufähig. Im 19. Jahrhundert kam der Weihnachtsbaum als lebhafte Erinnerung an und Hoffnung auf das Paradies dazu. Diese Aussicht auf das Paradies konnte einem im 19. Jahrhundert sonst wirklich vergehen. Im 20. Jahrhundert wurde es bunt und glitzernd und auffällig, denn nur total Augenfälliges konnte das letzte Jahrhundert gut überstehen.
Paulus hat von all dem keine Ahnung. Das ist sehr gut so. Daher sind Weihnachten und Pfingsten bei ihm auch ein und dasselbe Fest: Gott kommt zur Welt und sein Geist in unsere Herzen. Da hat er vollkommen recht: Weihnachten ohne Pfingsten nützt gar nichts. Gott könnte als Mensch geboren werden, wann und wo und wie er will – es bringt uns nichts, wenn die Begeisterung darüber nicht unsere Herzen erreicht. (Pfingsten ohne Weihnachten ist genauso undenkbar.)
2. Paulus hat außerdem keine Ahnung von unseren Terminen, von unserem hocheffizienten Zeitmanagement. Er hat keinen blassen Schimmer davon, was wir alles speditiv zu erledigen haben, ehe wir dann wirklich Weihnachten feiern können. Das ist sehr gut so!
Paulus war mehr als oft und viel unterwegs, viel beschwerlicher auch als wir heute, aber immer hatte er noch genügend ‚Freizeit’ für die Pläne Gottes. Als sich aber die Zeit erfüllt hatte ...
Weihnachten beginnt bei Gott, nicht mit Quirinius, Herodes und so einem grossen August, der sich gewaltig herrlich vorkam, aber auch schon ziemlich lange tot ist.
Kein Mensch hat festgestellt, dass es nun langsam Zeit wird, sondern die Zeit war reif bei Gott.
Wir brauchen zu Weihnachten sicher mehrere freie Tage, um unser Denken einmal ganz auf den Kopf zu stellen, um zu verstehen, dass es mal nicht nach unseren Kalendern, unseren Uhren, unseren Vorstellungen von passenden Zeiten geht. Die Wahrscheinlichkeit ist 364:1, dass Jesus an einem anderen Tag des Jahres geboren wurde. Weihnachten ist sicher nicht am 25. Dezember, um uns zu stressen und zu hetzen und davon zu überzeugen, dass die Zeit viel zu schnell vergeht, dass der Advent zu kurz ist und überhaupt unsere Zeit nie reicht. Unser Gott kommt auf uns zu! Er kommt immer dann, wenn es für ihn Zeit ist, zur Welt zu kommen und uns mit seinem Geist zu Herzen zu gehen.
Das ist – gottlob – nicht nur vor 2000 Jahren einmal der Fall gewesen. Das ist – Gott sei Dank – auch öfter als nur einmal im Jahr möglich. Die Konsequenzen daraus liegen auf der Hand: Wenn man uns Christen das viele Feiern verbieten würde, dann könnten wir getrost Heilig Abend und am nächsten Morgen gleich mit voller Begeisterung Pfingsten feiern, ab 9:00 Uhr, wie es in der Apostelgeschichte (Kap. 2) heisst.
Liebe Gemeinde,
3. Paulus als unerfahrener Single hat gar keine Ahnung, was mutmasslich verheiratete Männer später alles in eine Geburt unter widrigen äusseren Umständen hineingeheimnissen können.
Im Römischen Reich damaliger Zeit war es besonders für manche Kaiser ‚angesagt’, mindestens von einer Jungfrau geboren zu sein. Lukas wusste, was im Trend lag!
Ausserdem kam es immens auf den Stammbaum väterlicherseits an. Matthäus wusste, was das sehnsuchtsvolle Herz erwartete. Paulus hat davon keine Ahnung, das ist sehr gut so: Gott wird zur Welt gebracht von einer Frau.
Dem ist nach wie vor eigentlich nichts hinzuzufügen. Es ist genug, mehr ist zu unserem Heil nicht nötig. Eine Frau hat ihn geboren und damit ‚zur Welt gebracht’. Wunderbarer kann man es nicht ausdrücken: einer kommt zur Welt. Mehr Wunder und Geheimnis sind in so wenigen Buchstaben nicht unterzubringen.
4. Paulus hat überdies keine Ahnung, wie erwachsen wir uns gleich vorkommen, wenn wir nur ein paar Jahre unseres Lebens Weihnachten feiern geübt haben. Das ist sehr gut so. Damit nehmen unsere Chancen zu, auch wieder einmal tüchtig „auf die Welt zu kommen“ und sie mit Kinderaugen anzuschauen. Gott wird Mensch ist nur die halbe Wahrheit für Erwachsene, die die ganze Weihnachtswahrheit nicht gleich vertragen. In Wirklichkeit ist alles noch viel verrückter: Gott wird Kind. Das ist schwer zu glauben. Vielleicht werden wir alle nicht alt genug, um oft genug Weihnachten zu feiern, um das wirklich aufzunehmen: Gott wird Kind.
Im Gegenteil: Es gibt jede Menge Erwachsene, die sich kaum noch daran erinnern können, dass sie selbst einmal Kinder waren. Die sich auch nicht gut überlegen, dass alle Kinder einmal erwachsen werden und die Erinnerungen an ihre Kindheit, an all die Erwachsenen damals, ihr Leben lang mit sich tragen müssen.
Wenn Erwachsene vergessen, dass sie einst Kinder waren, dann verkommen sie zu Verwachsenen. Nur schon dafür haben wir Weihnachten nötig. Paulus hat dafür übrigens auch Weihnachten nötig. Denn:
5. Paulus hat überhaupt gar keine Ahnung von Kindern. Ihm fallen bei seinem Brief an die Galater eigentlich nur zwei Sachen ein: Erstens sind Kinder laut und zweitens erben sie irgendwann mal alles:
So bist du nun nicht mehr Sklave, sondern Kind; bist du aber Kind, dann auch Erbe - durch Gott.
Beides ist ganz richtig und wahr, aber noch nicht die ganze Wahrheit.
Das Erben hat natürlich noch viel Zeit, wir haben es hoffentlich alle damit nicht eilig, fangen wir also vorn an.
Vom allerersten Moment an sind Kinder laut, das ist bekannt. Das ist gut so laut(!) Paulus. Ein Kind schreit, z.B. nach dem Vater: Abba, Papi! Das ist die erste Wirkung des Heiligen Geistes in unseren Herzen, dass wir nach dem Vater schreien wie ein Kind, nicht, dass wir weise und vernünftig wären oder alles wüssten oder keine Fehler mehr machen müssten, dass sind bloss die unfertigen Vorstellungen der Erwachsenen.
Kinder haben Zeit, so viel Zeit! Sie können alle Zeiten der Erwachsenen vergessen, wenn sie spielen.
Gott wird Kind. Das hat aber bis heute noch viel weitreichendere Konsequenzen, als Paulus ahnte.
Nur, wenn man so unvoreingenommen wie Paulus ist, kann man schlicht und ergreifend davon schreiben, dass wir Ausgewachsenen erst wieder richtig auf die Welt gebracht werden müssen: als Söhne und Töchter Gottes, die nicht länger unter dem „Gesetz“ zu leiden haben. Die Gesetze haben sich seit den Tagen der Galater rasant gewandelt. Es gibt keinen Grund, darüber nicht glücklich zu sein! Aber Gesetze, Sachzwänge und Regeln haben wir immer noch genug, um eine Ahnung davon zu haben, was Paulus gemeint hat.
Kinder wissen besonders gut und genau, aus wie vielen Geboten und Verboten die Welt bestehen kann! Sie kennen auch die engen Grenzen aller Vorschriften. Für uns Erwachsene gibt es dazu eine winzige Kurzgeschichte, die sogar wir Alten leicht behalten können, und die das ganze Leben Jesu von Weihnachten bis Pfingsten zusammenfasst und zugleich die Befreiung von den Gesetzen erzählt. Diese Geschichte geht so:
Alle sagten: „Das geht nicht.“ Dann kam einer, der wusste das nicht, und hats einfach gemacht.[1]
Gott wird Kind. Alle sagten: „Das geht nicht.“ Dann kam Gott, der wusste das nicht, und hats einfach gemacht: um die unter dem Gesetz freizukaufen, damit wir als Söhne und Töchter angenommen würden, schreibt Paulus.
Dann können wir es auch wagen.
Als Erwachsene ein Kind werden. Alle sagen dann zuerst: „Das geht nicht.“ Da kommt dann einer, der weiss das nicht, und macht es einfach, feiert wieder Weihnachten – wie ein Kind.
Liebe Gemeinde,
Paulus hatte keine Ahnung vom Weihnachtsfest. Das ist sehr gut so! Er weiss eine Menge über die erste Nacht Gottes auf Erden, gerade das, was bei uns leicht einmal untergehen kann.
Haben wir eine Ahnung vom Weihnachtsfest? Es wäre gut, wenn wir uns das vorläufig nicht einbilden, sondern noch oft Weihnachten feiern und üben, was es heisst, ein Kind Gottes zu sein.
Kind Gottes? Sie wissen schon: Alle sagten: „Das geht nicht.“ Dann kam wieder einer und noch eine und ... , die wussten das alle nicht, und haben es einfach geglaubt!
Und der Friede Gottes, der zu Weihnachten auf die Welt kommt, aber höher ist als unsere Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, dem Kind, Amen.
[1] „Wortschätzchen“ der Grafik Werkstatt Nr. 9077: www.gwbi.de.
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Nicht Knecht, sondern Kind und Erbe - Predigt zu Galater 4,4-7 von Jürgen Ziemer
Nicht Knecht, sondern Kind und Erbe
Liebe Gemeinde!
„Weihnachten hat Konsequenzen“ – so beginnt Helmut Gollwitzer einen Essay zum Fest der Geburt Jesu. Der durch mutige Predigten ebenso wie durch seine berührenden Erlebnisberichte von den Christnachtfeiern im sowjetische Kriegsgefangenlager bekannte Theologe sagt es pointiert: Weihnachten ohne Konsequenzen – das sei wie „ein kurzes Licht im grauen Alltag – und dann weiter in der alten Tour.“
„Weihnachten hat Konsequenzen“ – manchem wird bei solchen Sätzen leicht unwohl. Kündigt sich da ein leiser moralischer Druck an? Vielleicht nach dem Motto: Weihnachten war doch so schön, aber jetzt müsst Ihr auch das Eure tun, damit es nachwirkt in normalen Leben. So wie wir als Kinder ermahnt wurden: solch ein wunderbares Geschenk, nun aber schnell ein Dankesbrief an die gute Tante! Das reichte oft schon, um die Stimmung zu drücken.
Nein so nicht! Gollwitzer meint es ganz anders, so wie auch Paulus. Weihnachten hat Konsequenzen, so denkt auch der Apostel – nicht moralisch, sondern geistlich.
Der Predigttext des Paulus aus dem Galaterbrief mag im ersten Moment etwas fremd wirken, aber dann entdecken wir doch schnell den weihnachtlichen Ton:
Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau.
Das ist eindeutig. So beginnt die paulische Weihnachtsgeschichte. In den wenigen Worten steckt schon alles drin vom ganzen großen Fest.
Vor allem wird deutlich: Weihnachten ist ein Einschnitt der Weltzeit. Es hat Konsequenzen. Was ihm folgt ist etwas Neues, ja ein neues Zeitalter. Wir zählen unsere Jahre seit dem nicht umsonst „nach Christus“. Was das für Konsequenzen hat für unser Leben, für unseren Glauben, das möchte der Apostel uns erschließen.
Weihnachten, sagt Paulus, ist ein Fest der Freiheit: Gott wird ein Mensch. Er begibt sich durch die Geburt seines Sohnes auf unsere welthafte Ebene. Das adelt gleichsam unser ganzes Menschsein. Wir dürfen uns nun selbst als Kinder Gottes, als seine Söhne und Töchter verstehen. Als seine Kinder? Ja, aber hier gilt ein ganz neuer Begriff von Kindschaft. Kindsein in diesem Sinne hat nichts zu tun mit irgendeiner Form von Kindertümelei, wie sie uns manchmal auch in gut gemeinter Weihnachtsseligkeit begegnet.
Wenn Paulus davon spricht, dass wir wegen der Geburt des Gottessohnes selbst „Kinder“ seien, dann ist „Kind“ hier ein Ehrentitel, ein Qualitätsbegriff. Gemeint ist eine Existenz in Freiheit..
Kind sein – das bedeutet: frei zu sein für einen erwachsenen Glauben, frei von einengenden Vorgaben, frei für ein Bittgebet zu jeder Zeit.
(1) Kind sein – frei für einen erwachsenen Glauben
So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind
So lautet die weihnachtliche Freiheitsbotschaft. Und Kindsein bedeutet hier frei zu sein, die Rechte eines Kindes auch Gott gegenüber haben. So wird es uns in der Weihnachtsgeschichte selbst vor Augen geführt. Das wird deutlich, wenn wir sie einmal von den Menschen her erzählen, die darin eine Rolle spielen, wie sie unter dem Geschehen der Heiligen Nacht aus dem Dunkel und der Unsichtbarkeit heraustreten, wie sie zu erkennbaren Personen werden, Maria und Josef zu Mutter und Vater des göttlichen Kindes, die Hirten zu eilfertigen Boten und aufmerksamen Betern, die ahnungsvollen Touristen aus Morgenland zu Deutern des Geschehens in Bethlehem und Verkündigern des göttlichen Heils. Auf den Weihnachtsbildern der großen Maler aus den verschienen Epochen kann man es wunderbar erkennen: wie da neben der Krippe Persönlichkeiten heraustreten, freie Menschen.
Kindsein in diesem Sinne bedeutet auch für uns, nicht nur Zuschauer bei der Weihnacht zu bleiben, sondern selbst Teilhaber, Akteur, Subjekt des Geschehens zu werden, erwachsen im Glauben Was ich selbst meine und umsetze, ist wichtig. Das wird sich in bestimmten Aktivitäten, religiösen oder sozialen, zeigen, aber nicht nur darin. Es kann auch durch Besinnung geschehen, durch ein sorgsames in sich Gehen. So wie es Angelus Silesius seinen „Cherubinischen Wandersmann“ in den Mund legt:
Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren
Und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.
Dieser sehr bekannte Spruch ist in wenigen Worten gar nicht auszuloten. Was ist gemeint mit „Christus in mir geboren“? Es bedeutet, dass ich ihn in mein Innerstes einlasse, in mein Denken und Fühlen, so dass Christus in mir und durch mich Gestalt gewinnt und dass ich so selbst wie Er Kind Gottes bin.
So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind und Erbe
Was Angelus Silesius in mystischer Sprache zum Aus druck bringt, formuliert Paulus mit rechtlichen Begriffen. Kindsein heißt teilhaben an dem, was des Vaters ist: So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind, wenn aber Kind dann auch Erbe durch Gott. Du hast, anders gesagt, Anteil an dem, was Gott gibt, an seiner Güte, an seiner Liebe, an seinen Versprechungen. Du bist Erbin, bist Erbe der Gnade. Das ist die Gabe der Freiheit, die uns Weihnachten bringt.
(2) Kind sein – frei von einengenden Vorgaben
So bist du nun nicht mehr Knecht…. Das ist Teil der weihnachtlichen Botschaft, und es gilt für alle. Mann muss nicht in Vorleistung gehen, sich nicht einem bestimmten Regelwerk unterwerfen, um an die Krippe zu kommen, um Kind Gottes zu sein oder zu werden. Unsere Christvespern zum Heiligen Abend symbolisieren das: Jeder darf herzutreten. Keiner wird religiös kontrolliert und gefragt: Wann warst zuletzt in der Kirche? Ist dein Glaube richtig? Hast Du überhaupt Kirchensteuer gezahlt? In der Gemeinde der Galater scheint es hier Probleme gegeben zu haben. Eine neue Art von Gesetzlichkeit war in Mode gekommen. Es wurden bestimmte Verhaltensweisen zur Auflage gemacht, wie man sich im Gottesdienst zu verhalten hatte, wie man die Freiertage begehen sollte usw. Außerdem spielten die Unterschiede eine Rolle: woher man kam, welchem sozialen Status man angehörte, ob reich oder arm, Sklave oder Freier. Da ist der alte Knechtsgeist, kritisiert Paulus, und er erinnert demgegenüber daran: wir sind doch „alle in Christus“ (3, 28), also keine Knechte, auch keine Herrn, sondern Kinder Gottes.
Diese Freiheitsbotschaft gilt für jeden von uns, wie unterschiedlich immer wir unsern Glauben verstehen und unser Christsein praktizieren, sie gilt auch für die, zu deren religiösen Gewohnheiten es nicht gerade gehört, am 1. Feiertag in die Kirche zu gehen.
Kinder Gottes sind auch die, die einen langen Weg hatten. In der Seelsorge im Krankenhaus oder in Seniorenheimen kann man ihnen begegnen. Manchmal kommen erst spät die Fragen, die quälen und auf die es die befreiende Antwort gibt: du kannst dazugehören. Wie gut, wenn dann jemand dafür offen ist! Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, damit du dazu gehörst: nicht als Knecht, sondern als Kind und Erbe.
Wer es so sehen und glauben kann, der kann davon ganz praktisch Gebrauch machen; denn:.
(3) Kind sein – da bedeutet auch: frei zu sein für ein Bittgebet zu jeder Zeit.
Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsere Herzen, der da ruft: „Abba, lieber Vater!“
„Abba“ - das ist die vertrauensvolle Gottesanrede im Aramäischen, der Sprache Jesu.
Gott kommt uns nahe, und wir dürfen ihm nahe kommen. Wir sind Kinder, dürfen ihm in den Ohren liegen, „Abba“, lieber Vater schreien – jederzeit und wenn es an der Zeit ist. Tatsächlich liegt auch oft Aufbegehren darin. Das ist nicht Rückfall in eine infantile Lebensphase, sondern Ausdruck der Freiheit unseres Glaubens. Wer so bittet, lässt sich nicht gehen. Es tut etwas. Manchmal ist dafür viel Mut nötig, geboren aus Verzweiflung und Hoffnung.
Wie das konkret aussieht, habe ich gerade von einer Freundin gelernt. Ihre Tochter leidet an einer schweren Erkrankung. Mehrere risikoreiche Operationen wurden in kurzer Zeit notwendig. Was tun, wenn die Angst regiert und man als Elternteil nichts tun kann? Die Mutter schrieb Emails an eine Reihe von Freunden, von Mal zu Mal mit neuen Informationen über den Behandlungsverlauf, über das Auf und Ab und mit der Bitte, für das Kind zu beten – so wie es jeder vermag – mit Worten, Gedanken, Kerzen, Ritualen: Abba rufen im Verbund und mit digitaler Unterstützung. Gott hört seine so unterschiedlichen „Kinder“. Und aus solch einem Abbarufen fließt viel Kraft zurück. Es macht uns stärker in der Not.
Manchmal freilich können wir ungeduldig werden und in das Bitten mischt sich der Zorn der Enttäuschung. Warum spüre ich so wenig? Die Kinder mehr von ihrem Vater erwartet.
So wie es die Rose Ausländer in einem Gedicht „Der alles weiß“ beschreibt. Es beginnt mit der Zeile: „Du weißt, wie diese Tage mir begegnen“. Sie erzählt von ihrem Leid ohne Ende, und dann bricht es, als alles gesagt ist, aus ihr heraus:
Und du, der alles weiß, lässt es geschehen
und sendest nicht ein Herr von Engeln her?
Es ist nicht verwunderlich, dass es eine jüdische Dichterin ist, die uns so an das Abba-Schreien erinnert. Es kommt ja aus der Tradition des alten und unter uns gegenwärtigen Gottesvolkes, und es wird für uns durch Weihnachten erneuert und bestätigt.
Wir dürfen Kindsein vor Gott – mit unseren Wünschen, unsern Klagen, mit unserer Enttäuschung, aber auch mit unserer Dankbarkeit und mit unserer Hoffnung. Wir dürfen Alles sagen, um Alles bitten.
Wer denkt bei dem „Heer von Engeln“, das die Dichterin sich wünscht, nicht an die „himmlischen Heerscharen“ aus der Heiligen Nacht mit ihrem Ehre sei Gott und Friede auf Erden. Vielleicht – nein: gewiss - sind sie nicht endgültig in den Wolken verschwunden und lassen sich herunterflehen, wenn wir nur kräftig von unserer Freiheit Gebrauch machen.
Wir sind doch nicht Knechte, sondern Kinder Gottes und seine Erben!
Lieder zur Predigt: EG 351, 7
EG 27, 1-2.5-6
Nachweise: Helmut Gollwitzer, Die Konsequenzen von Weihnachten, in: Davis Stern steht über Bethlehem, München 1992, 282f; Angelus Silesius, Der Cherubinische Wandersmann, 1. Buch: Rose Ausländer, Wir ziehen mit den dunklen Flüssen. Gedichte, Frankfurt 42008, 187.
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Predigt zu Galater 4,4-7 von Wolfgang Vögele
"Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen. Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott."
Liebe Gemeinde,
ermüdet sind die Menschen vom Rummel des Geschenkekaufens. Wenn die Feiertage angebrochen sind, sehnen sie sich nach Ruhe und Stille. Im Kreis der Familie zünden sie Kerzen an, singen die alten Weihnachtslieder und riechen den Duft des frisch geschlagenen Tannenbaums. In Wahrheit aber feiern die Christen in der ganzen Ökumene das Fest einer Veränderung, die die menschliche Anschauung übersteigt: Der allmächtige Gott nimmt in einem schreienden Baby Gestalt an. Allmacht wird Ohnmacht.
Und die zweite Veränderung: Vertrauen und Glaube verwandeln die erwachsenen Menschen in Kinder der Freiheit. Wie geschieht das? Schnelle und überraschende Veränderungen der Lebensumstände setzen Menschen, die schon unruhig sind, unter Streß. Sie antworten auf alles Neue, das Handeln und Antworten erfordert, mit Nervosität und Hektik. Paulus dagegen schreibt von den kaum merklichen Veränderungen im Verhältnis zwischen Gott und Menschen. Sie entgehen oft der Aufmerksamkeit der Glaubenden, weil sie so langsam geschehen.
Was ich meine? Neulich, in der Fußgängerzone, traf ich eine Kollegin wieder, die ich seit meinen Studentenjahren nicht mehr gesehen hatte. Das heißt: Eher traf sie mich, denn ich erkannte sie erst nicht wieder. Trotz ihres Grußes, den ich höflich erwidert hatte, ging ich weiter und freute mich über den Gruß einer unbekannten Passantin. Erst als sie meinen Vornamen hinter mir herrief, wurde ich stutzig, hielt an und drehte mich um. Das freundliche Gesicht, das mir entgegen lächelte, löste kein Wiederkennen aus. Sie nannte ihren Vornamen. Ich blieb weiter begriffsstutzig. Sie nannte das theologische Seminar, in dem wir uns kennengelernt hatten. Erst damit kehrte meine Erinnerung zurück. Ich konnte nun Namen, Gesicht und Erinnerung wieder zusammenkleben. Die gemeinsame Geschichte der Freundschaft, die vor Jahren abgebrochen war, stand mir gegenwärtig vor Augen.
Aber die freundliche Frau, die mir nun gegenüber stand, hatte, jedenfalls nach meiner Erinnerung, wenig mit der Studentin gemein. Vor zwanzig Jahren hatte sie sich in der kleinen Universitätsstadt mit mir zusammen auf das Examen vorbereitet. Ich war sprachlos, und ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte gerade noch verhindern, daß mir herausrutschte: Du hast dich aber sehr verändert.
Freunden und Bekannten, die sich nur alle paar Jahre bei einer Geburtstagsfeier sehen, fallen Veränderungen sehr viel schneller auf. Wer täglich mit seinen Kindern frühstückt, Vokabeln paukt und mit ihnen fernsieht, dem fallen die Entwicklungssprünge der eigenen Kinder gar nicht so sehr auf. Eltern fehlt einfach der Abstand, um das körperliche und intellektuelle Wachstum ihrer Kinder wahrzunehmen.
Alltag und stets gleicher Trott der Routine höhlen die Wahrnehmung von Veränderungen aus. Im Alltagsleben fallen die vielen kleinen Tippelschritte des stetigen und unaufhaltsamen Wandels gar nicht auf. Sie verstecken sich unter der Oberfläche der Routine. Menschen verändern sich, in ihrem Aussehen, in ihrem Denken und in ihren Vorlieben. Umso sichtbarer werden diese Veränderungen, wenn ich einen Freund oder eine Bekannte nur alle paar Jahre einmal sehe: Du hast dich aber sehr verändert. Du bist aber alt geworden. Am schlimmsten: Du bist aber gut beieinander. Du bist aber dick geworden.
Und die äußeren Veränderungen lösen leise Befürchtungen aus. Wenn du anders aussiehst, hat sich dann auch dein Denken und Fühlen geändert? Können wir das Vertrauen wieder herstellen, das einmal zwischen uns ganz selbstverständlich geherrscht hat? Oder sollen wir sagen: Wir trinken jetzt einen Milchkaffee, tauschen Erinnerungen an alte gemeinsame Zeiten aus, vielleicht noch die Mailadresse. Und dann lassen wir's. War schön, dich wieder getroffen zu haben. Hinter Freundlichkeit und Höflichkeit verstecken sich gelegentlich Gleichgültigkeit und Enttäuschung. Gemeinsame Wege sind auseinander gelaufen, haben sich voneinander entfernt. Wenn sie dann trotzdem plötzlich wieder zusammen kommen, haben sich frühere Freunde voneinander entfremdet. Enttäuschung macht sich breit: Der ist auch nicht mehr so nett, wie er einmal war.
Leben läßt sich als eine Art Wegenetz verstehen: Freundschaften bilden sich und verlieren sich wieder. Partnerschaften bilden sich und führen hoffentlich auf einen langen gemeinsamen Weg. Kinder erweitern diesen gemeinsamen Weg um eine neue Spur. Und Kinder, wenn sie erwachsen geworden sind, gehen auch wieder eigene Wege. Wem das bewußt geworden ist, der lernt langsam, aber sicher, daß auch die Trennungen, so schmerzlich sie sein mögen, zum Lebensweg gehören.
Wer diese vielen, unmerklichen Veränderungsprozesse des eigenen Lebens erkannt hat, der nimmt manches gelassener, der denkt aber auch nicht nur in der Gegenwart des Alltags. Der denkt auch an das Ende des Lebensweges. Was ist so wertvoll und wichtig, daß ich es weitergeben will? Was taugt nur noch zum Entrümpeln und Abwracken? Was kann ich mitnehmen, wenn ich die letzten Tage meines Lebens im kühlen, weiß gestrichenen Zimmer eines Pflegeheims verbringe? Was kann ich vererben? Es kann weiterhelfen, die Frage in umgekehrter Richtung zu stellen. Was habe ich von meinen Eltern und Großeltern geerbt? Was habe ich mitgenommen? Was war mir gleichgültig?
Liebe Gemeinde, ich will Ihnen nicht Lebensweisheiten ohne Weihnachtsfreude predigen, sondern vielmehr Weihnachtsfreude, angereichert mit Lebensweisheit. Paulus redet in schwergewichtigen, beinahe trägen Worten von denselben Veränderungen des Lebens, mit denen sich Menschen beschäftigen, die älter werden. Er spurt sich ein auf die Lebensbahn von Kindern, Knechten und Erben. Das führt ihn nicht zu einer Lebenskunst des Altwerdens, sondern in eine Glaubenslehre der Veränderungen. Im Leben werden Menschen alt, im Glauben werden sie zu Kindern. Die Weisheit des Alters ist Demut und Einsicht in die schwindenden Kräfte. Der Glaube des Alters ist neue jugendliche Hoffnung.
Wir hören, daß Paulus von Kindern redet, und ahnen die Veränderungen, die darin für einen Menschen stecken. Denn jeder Mensch war einmal ein unwissendes, sprachloses, nur schreiendes Kind, das auf die Hilfe seiner fürsorgenden Eltern angewiesen war. Und alle Kinder haben sich aus diesem frühen Stadium herausentwickelt, wurden älter, erwachsener, reifer, konnten lernen und Lebenserfahrungen sammeln. Wer diesen Veränderungsprozeß nicht wahrhaben will, macht erwachsene Menschen klein. Nichts ist schlimmer als Großmütter und Mütter, die lebenslang in ihren Töchtern und Enkeln nur die immer kleinen Babys sehen, die diesen süßen rosa getupften Strampelanzug tragen. Sie wollen ihre Söhne, Töchter und Enkel nicht als erwachsene, veränderte Menschen annehmen. Der Grund dafür ist ganz einfach: Mit erwachsenen Kindern kann man leichter Machtspielchen treiben, wenn man sie klein und bedürftig hält.
Auch das Wort "Knecht" ist so ein starrer Begriff, in dem große Veränderungen stecken. Knechte sind auf ihre Herren angewiesen und umgekehrt die Herren auf ihre Knechte. Und das Spiel der erstarrten Machtverhältnisse besteht in seinem Kern darin, diese gegenseitige Abhängigkeit nicht an- und auszusprechen und vor allem nicht anzutasten. Aber darüber steht viel Klügeres bei Marx und Hegel.
Zuletzt ist das Wort "Erbe" ist ein Wort der großen Veränderung, welche in diesem Fall über die Grenze des Todes hinausreicht. Was gebe ich denen weiter, die nach mir kommen? Wie werden Kinder und Enkel mit der Entscheidung umgehen, die der Erblasser in seinem Testament bestimmt hat? Zum Erben wird man durch ein Testament, das ein Notar den begünstigten Familienmitgliedern vorliest. Ein Testament ist ein Vertrag für die Zukunft, über den Tod hinaus. Der, der sein Testament aufsetzt, denkt an seine eigenen Dinge. Er gibt sie denen, die noch leben, wenn er selbst nicht mehr leben wird. Die Erben stehen nach der Vollstreckung des Testaments in einer Beziehung zu einem Menschen, den sie gekannt haben, der aber gar nicht mehr lebt.
Kinder, Knechte, Erben: Paulus bezieht sich auf die selbstverständlichen Veränderungen des Lebens, wenn er von den Veränderungen des Glaubens redet. Das unscheinbare Kind in der Krippe macht die erwachsenen Menschen, die glauben, wieder zu neuen Kindern. Das Kind in der Krippe stiftet Veränderungsprozesse des Glaubens. Glauben heißt: wieder zum Kind werden. Um Mißverständnisse zu vermeiden, ein kurzer Einschub für Konfirmanden: Glauben heißt nicht: kindisch werden. Zwischen Kind-Werden und Kindisch-Werden besteht ein Unterschied, der ist so groß wie der Unterschied zwischen Markenklamotten und kopiertem Billigschund vom Trödelmarkt.
Wer glaubt, wird zum Kind. Wer wieder zum Kind wird, knüpft an neue, alte Bindungen an. Das Herz findet einen anderen, den göttlichen Vater. Darin liegt die weihnachtliche Revolution von Familie und Frömmigkeit. Im Glauben wird der Mensch zum Kind, und der allmächtige Gott wird zum gnädigen, liebenden Vater. Paulus schreibt den Glaubenden eine gänzliche neue Familienaufstellung ins Herz. Familiäre Bindungen werden völlig neu justiert. Das Testament wird neu geschrieben, das Erbe wird neu verteilt. Macht wird neu zugeordnet, die politischen und sozialen Verhältnisse kommen ins Tanzen. Aus Knechten werden Herren und umgekehrt. Eine angenehme Aussicht nach dem Streit um die Geschenke, der unter dem Tannenbaum den alljährlichen Ärger am Heiligen Abend verursacht hat.
Ich stelle mir den Glauben wie einen Jungbrunnen vor, denn er macht die Menschen zu Kindern. Niemand würde es für eine verlockende Aussicht halten, wenn Kindheit hier meinen würde: Ich bin abhängig von Vater und Mutter, ich muß früh ins Bett und stets das machen, was mir gesagt wird. Die geistliche Kindheit, von der Paulus spricht, zielt nicht auf die Zwänge, sondern auf die vielfältigen Chancen des Kinderlebens.
Kinder können über Kleinigkeiten staunen. Erwachsene haben um sich herum eine Mauer aus Achtlosigkeit gebaut. Kinder besitzen eine besondere Unmittelbarkeit und Direktheit, welche alle distanzierenden Mauern von Schüchternheit und Höflichkeit durchbricht. Kinder lassen sich nicht scheu machen durch Konventionen und überflüssige Moralregeln.
An Weihnachten wird Gott Mensch. Und diese Menschen werden zu Kindern und später zu Erben. Die geistliche Kindheit richtet sich auf Staunen, Unschuld, Freiheit und Hoffnung.
Das erwachsene Kind des Glaubens durchbricht die spröden Mauern der Selbstverständlichkeit, der Routine und der Langeweile. Es lernt neu, Menschen und Dinge zum ersten Mal zu sehen. Wer etwas zum ersten Mal sieht, ist fasziniert und ergriffen, im Herzen bezaubert von einer wunderbaren Welt der Anfänge, Chancen und Möglichkeiten. Gott hat für die Menschen die staunenswerte Vielfalt der Schöpfung geschaffen. Die Kindheit des Glaubens lebt ohne Quengelei und Querulantentum.
Erwachsensein ist charakterisiert durch Fehler, durch falsche Entscheidungen, durch den Bruch all der Regeln, die zum Schutz der Würde anderer aufgestellt wurden. Erwachsensein ist Leben am Gesetz vorbei. In der Sprache des Glaubens heißt das: Sünde. Wer sich beschenken läßt durch die Kindschaft des Glaubens, den spricht Gott von der Sünde frei. Die Kindheit des Glaubens ist ein neuer Zustand der Unschuld, der Annahme durch den gerechten Gott. Sie ist die Gnade des neuen Anfangs, welche die schweren Ketten schuldhafter Verstrickungen in der Vergangenheit zurückläßt. Die Kinder des Glaubens sind frei gesprochen.
Die Kindheit des Glaubens, die durch das Wunder von Weihnachten entsteht, stiftet eine neue Freiheit. Diese Freiheit ermöglicht neue Wege, das Verlassen der alten gewohnten Lebensbahnen, Schritte in die Zukunft hinein, entlang der Wegmarken des Vertrauens, welche Gott setzt. Diese Freiheit macht die erwachsenen Kinder des Glaubens fähig, alte Fehler nicht mehr zu wiederholen. Diese Freiheit wird nicht beschränkt durch die Grenzen eines autoritären Gottes, der Blitze schleudert, wo die Menschen Grenzen überschreiten. Dieses Gottesbild gehört nach Weihnachten der Vergangenheit an. Die Freiheit, die aus dem Glauben entsteht, lebt von einem Gott, der sich Vater nennen läßt und sich auch wie ein gnädiger und barmherziger Vater verhält.
Weihnachten macht Gott zu einem schutzbedürftigen kleinen Menschen. Weihnachten macht uns alle zu Kindern des Glaubens. Wir werden zu Kindern, um neue Lebensmöglichkeiten und Zukunft zu gewinnen. Alte Menschen resignieren oft. Sie sind der Überzeugung, daß sie das Leben hinter sich haben. Wer glaubt und neu zum Kind geworden ist, hat das Leben vor sich. Ihm öffnet sich die Hoffnung, daß Gott Zukunft schafft. Das ist der Kern der Weihnachtsfreude. Sie ist zugleich erwachsen und kindlich. Amen.
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Predigt zu Galater 4,4-7 von Isolde Karle
Liebe Gemeinde,
(1) Weihnachten ist das Fest der Familie Gottes. Zunächst gehören zu dieser Familie die ganz konkreten Familien, die an Weihnachten zusammen feiern, singen, in die Kirche gehen, zusammen essen und trinken, sich beschenken lassen und Geschenke verteilen. Die meisten Menschen feiern Weihnachten im Kreis der Familie. Weihnachten ist die Zeit der Rituale, der Besinnung, des zu Hause seins. Selbst die erwachsenen Kinder kommen an Weihnachten wieder nach Hause, um mit ihren Eltern und Geschwistern zusammen zu feiern. Wenn möglich sind auch die Großeltern dabei, vielleicht auch eine alleinstehende Tante oder ein geschiedener Patenonkel. An Weihnachten will niemand alleine sein. Weihnachten ist das Fest der Familie und der Gemeinschaft. Weihnachten ist das Fest der Zugehörigkeit.
Gerade das macht Weihnachten für manche aber auch zum Alptraum. Für die schweizerische Schriftstellerin Sibylle Berg ist das so. Sie schreibt in einer Kolumne im Spiegel, wie sie Weihnachten zu entkommen sucht, wie sie vor den religiösen und sozialen Zumutungen und Erwartungen flüchtet, jedes Jahr aufs neue. Sie ist an Heiligabend zu Freunden gegangen, mit denen sie über „die Idioten in der Kirche“ gelästert hat. Sie ist in die Ferne oder auch ins Nachtleben geflüchtet. Das letzte mal ist sie allein daheim geblieben und bildete sich ein, dass das großartig sei. Bis die Glocken läuteten. Ich zitiere aus der Kolumne: „Jetzt gehen die Glocken los. Die Katholiken greifen an, ich möcht verächtlich den Mund verziehen. Die Idioten belächeln, die in die Kirche gehen, sich ein Märchen anhören... Aber ich schließe nur die Augen und höre den Glocken zu. Jeder Schlag hallt in mir, füllt mich aus. Bis ich keine Luft mehr bekomme, bis ich schreien möchte, weglaufen vor diesen Glocken, denn sie werden immer lauter und schlagen in meinem Körper wie gegen Wände aus Eis. Dann ist Ruhe, und ich weiß, was jetzt passiert, in tausend Wohnungen.“
Sibylle Berg beschreibt dann, wie sie sich die Bescherung und das gemeinsame Essen in den Weihnachtszimmern vorstellt. Sie tut es voll beißender Kritik und Ironie. Aber sie weiß zugleich ganz genau, dass sie sich dabei etwas vormacht. Ich zitiere weiter: „Lüg nicht, lüg dich nicht an. Was passiert, ist Heimat. Zu wissen, wo man hingehört. Ist Ruhe.... Morgen ist der erste Weihnachtstag und alles schläft, satt von Liebe, vom Braten, von der Erschöpfung.“ Wenn sie nach den Weihnachtstagen von den anderen gefragt wird, wie Weihnachten denn bei ihr war, dann weiß sie schon jetzt, dass es ihr nicht helfen wird, dass die anderen nach den ganzen Familienbesuchen und den vielen Essensvorbereitungen sie um ihr Alleinsein beneiden werden. Denn Weihnachten ist „zu wissen, wo man hingehört.“ An Weihnachten wird eine neue Gemeinschaft gegründet und in Szene gesetzt, eine Gemeinschaft, die weit über die eigenen Familienbande hinausreicht. So hat es Paulus gesehen. Ich lese als Predigttext Galater 4, 4-7:
„Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen. Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott.“
(2) Paulus geht es um die Familie Gottes. Da ist der liebende göttliche Vater, der Sohn, der von einer Frau geboren wird, und wir, die Kinder Gottes. Die Familie Gottes ist ein Raum der Freiheit. Das ist die Botschaft des Paulus an uns. Vielleicht würde es Sibylle Berg weiterhelfen, vor diesem Hintergrund auch Weihnachten neu zu verstehen. Weihnachten ist nicht ein Raum der Beengung, der einem die Luft zum Atmen nimmt, ein Fest, das einen einzwängt in ein bürgerliches Korsett bedrängender Erwartungen. Weihnachten, das Fest der Familie Gottes, birgt vielmehr eine große innere Weite und Freiheit. Wie kommt Paulus zu dieser überraschenden Deutung?
Paulus redet nicht direkt von Weihnachten, er erwähnt lediglich die Frau, unter das Gesetz getan, die den Sohn Gottes gebar. Er nennt diese Frau nicht einmal beim Namen. An Maria hat er kein Interesse. Er spricht auch nicht von einem Kind, sondern vom Sohn Gottes. Seine Worte sind im Vergleich zum Lukasevangelium nüchtern-argumentierend und gar nicht poetisch. Keine Bilder vom Stall, von der Krippe, von der schwangeren Maria, vom gutmütigen Joseph, von der Herbergssuche, von den Hirten, Engeln oder Magiern beflügeln unsere Phantasie. Die paulinische Version der Weihnachtsgeschichte kommt ohne die vertrauten Bilder aus. Es fehlt jedes schmückende Beiwerk, jeder weihnachtliche Glanz. Nicht märchengleich ist die Zeitansage wie bei Lukas – „Es begab sich aber zu der Zeit“ –; es heißt vielmehr „als die Zeit erfüllt war“, als es höchste Zeit war, da sandte Gott seinen Sohn. Paulus erlaubt uns keine weihnachtliche Regression. Er führt uns in die Mündigkeit erwachsenen Glaubens.
Paulus stellt damit zugleich die Frage an uns, welche Bedeutung Weihnachten für unser Leben hat. Für Paulus liegt die Antwort auf der Hand: Weihnachten ist das Fest der Familie Gottes und diese Familie ist ein Raum der Freiheit. In der Familie Gottes gibt es keine Ausschlusskriterien qua Kultur, den Ritus oder die Volkszugehörigkeit mehr. In Christus schafft Gott eine Familie, die die Grenzen von Herkunft, Geschlecht, Ethnie souverän hinter sich lässt, eine Gemeinschaft, die einer befreienden Vielfalt von individuellen Begabungen und Persönlichkeiten Raum gibt, egal, woher jemand kommt, egal, was er an kulturellen oder religiösen Voraussetzungen mitbringt. Nur die Taufe ist der Schlüssel zu dieser neuen Familie, mehr nicht. Der Geist, der sich so direkt und vertrauensvoll an Gott wendet, dass Gott „Abba“, lieber Vater, genannt wird, ist nicht regressiv. Er ist ein Freigeist. Er führt in die Freiheit und in die Mündigkeit.
Die Familie Gottes wird durch den Geist Gottes ins Leben gerufen. Wir haben den Geist in der Taufe empfangen; er macht uns zu Erben der Verheißung, so formuliert es Paulus. Wenn jemand in einer Familie etwas erbt, dann gehört es ihm. Niemand kann ihm das Erbe mehr streitig machen. Ein Erbe will angenommen und gestaltet werden, es erfordert Selbständigkeit und Verantwortungsbewusstsein. Ein Erbe anzutreten, braucht Mut und zwar den Mut zur Freiheit. Deshalb ruft Paulus uns dazu auf: Begebt Euch nicht wieder in falsche Abhängigkeiten, lasst Euch nicht einreden, dass ihr die Verantwortung nicht tragen könnt, sondern lebt Eurer Berufung zur Freiheit gemäß! Ihr seid frei – lasst Euch niemals mehr etwas anderes weismachen, gebt dem Geist der Freiheit Raum! An Weihnachten macht Gott klar, dass wir seine Erben, seine Kinder sind, dass wir – wie sein Sohn – zu seiner großen Familie gehören. Weihnachten ist zu wissen, wo man hingehört und durch diese Zugehörigkeit die Freiheit Christi zu erleben und weiterzutragen.
(3) Die Familie Gottes ist nicht nur ein Raum der Freiheit, sie ist auch ein Raum des Vertrauens, in dem man sich seiner Verletzlichkeit und Schwäche stellen darf. Sie befreit von den Zumutungen einer olympischen Kultur, die von uns immer nur Stärke, Disziplin und Leistungsfähigkeit abverlangt. Sie befreit uns auch von den repressiven Erwartungen, die wir oft genug selbst an uns richten.
Der Regisseur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief verstarb 2010 an Lungenkrebs. Er schrieb ein Buch über seine Krankheit: „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“ Darin erzählt er von einem Weihnachtsfest mit seiner Mutter. Er hatte schon in fortgeschrittenem Stadium Krebs und wusste, dass er nicht mehr lange leben würde. Er sitzt mit seiner Mutter am Weihnachtsmorgen zu zweit beim Frühstück. Da muss Schlingensief mit den Tränen kämpfen. Seine Mutter sitzt im Rollstuhl und will sich ihm zuwenden. Er geht auf sie zu und legt seinen Kopf auf ihre Schulter. Sie nimmt seine Hand. Das befreit ihn zu weinen. Er beginnt all die Dinge auszusprechen, die ihn so lange schon belasten. Er erzählt seiner Mutter, wie sehr es ihn in all den Jahren angestrengt hat, immer wieder Optimismus und Lebensfreude zu verbreiten. Immer wieder so zu tun, als ob alles ok sei. Und dass er das nicht mehr wolle. Er redet sich die ganze Last von der Seele.
Danach findet er zur Ruhe. Das Gespräch ist für ihn ein Weihnachtswunder, so schreibt er. Christoph Schlingensief hat in der Gemeinschaft mit seiner Mutter den befreienden Geist Gottes erlebt. Ihre Hand spürend wusste er wieder, wo er hin gehört. Er konnte sich frei machen von allem, was ihn quälte und bedrückte, auch von der Zumutung, den anderen gegenüber immer zuversichtlich und stark sein zu müssen. Er wollte das nicht mehr. Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Zu solcher Freiheit, der Freiheit des Vertrauens und der Verletzlichkeit, wurde Christus geboren und ist er in die Welt gekommen.
(4) Nietzsche hat dem Christentum vorgeworfen, dass es die Menschen klein mache, dass es sie verzwerge und immer nur auf ihr Leiden, ihre Sünde und ihre Schwäche anspreche. Doch die Familie Gottes macht die Menschen groß. Vor wenigen Tagen ist in Südafrika einer der beeindruckendsten Menschen des letzten Jahrhunderts unter der Anteilnahme sehr vieler Menschen begraben worden: der Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela. Er ist ein Vorbild für die ganze Welt geworden.
Nelson Mandela war ein gläubiger Methodist, der sein ganzes Leben dem Kampf für die Freiheit widmete. Er glaubte an die große Familie Gottes, an die Gemeinschaft von Schwarzen und Weißen, an die Überwindung von Rassenhass und sozialer Ungerechtigkeit, an die Kraft von Versöhnung und Freiheit. Es ist schwer vorstellbar, aber „Madiba“, wie er in Südafrika genannt wird, hatte auch nach 27 Jahren Haft noch den Mut und die Kraft an die Versöhnung zu glauben. Und er hat als erster schwarzer Präsident Südafrikas mit vielen eindrucksvollen Gesten und Initiativen sehr viel zu Versöhnung und Freiheit beigetragen. Mandela träumte von einer Regenbogennation, in der alle Ethnien als Kinder Gottes miteinander leben. Ich zitiere aus einer seiner Reden:
„Du bist ein Kind Gottes.
Wenn du dich klein machst,
dient das der Welt nicht.
Es hat nichts mit Erleuchtung zu tun,
wenn du schrumpfst,
damit andere um dich herum
sich nicht verunsichert fühlen.
Wir wurden geboren, um die Herrlichkeit
Gottes zu verwirklichen, die in uns ist.
Sie ist nicht nur in einigen von uns,
sie ist in jedem Menschen.
Und wenn wir unser eigenes Licht
Erstrahlen lassen,
geben wir unbewusst anderen
Menschen die Erlaubnis, dasselbe zu tun.
Wenn wir uns von unserer eigenen
Angst befreit haben,
wird unsere Gegenwart
ohne unser Zutun andere befreien.“
Christus, der Sohn, von der Frau geboren, hat uns zu einer Freiheit befreit, die groß macht, nicht klein. Es ist eine Freiheit, die uns nicht schrumpfen lässt, sondern aufrichtet. Es ist eine Freiheit, die nicht unsicher macht, sondern selbstbewusst. Es ist eine Freiheit, die uns den Mut gibt, uns unserer Verletzlichkeit zu stellen, eine Freiheit, die die Angst überwindet und das Licht erstrahlen lässt. Es ist die Freiheit der großen Familie Gottes. Amen.
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Predigt zu Galater 4,(1-3)4-7 von Bernd Vogel
(4,1 Ich sage aber: Solange der Erbe unmündig ist, ist zwischen ihm und einem Knecht kein Unterschied, obwohl er Herr ist über alle Güter; sondern er untersteht Vormündern und Pflegern bis zu der Zeit, die der Vater bestimmt hat.
So auch wir: Als wir unmündig waren, waren wir in der Knechtschaft der Mächte der Welt.)
4 Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen.
Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott.
Weihnachten – ein Fest der Kinder. Glück den Kindern, den Eltern und Großeltern! Ein Glück für alle, die sich erinnern mögen an ihre eigene Kindheit. An die Anfänge. Als alles noch möglich schien und es Weihnachten nach einer großen Zukunft duftete.
Auch die rührseligen Weihnachtsgeschichten versetzen uns in die im Alltag oft versunkene Welt eines Kindertraumlandes. Dort ist der Arme reich. Dort kommt die Angst zur Ruhe. Und Traurigkeit wird zur Hintergrundfarbe für das Glück, die Nacht durchschritten zu haben. Auch die große Politik scheint für Stunden eingetaucht in Wunderlicht. In den Weihnachtsgottesdiensten bekommt der „Kaiser Augustus“ einen geheimnisvollen, fast göttlichen Glanz. Dabei ist sein „Gebot“ der Befehl zur Steuerschätzung und Steuererhebung: Quirinius soll mehr Geld herauspressen aus der unterworfenen jüdischen Bevölkerung. Der Davidssohn Josef soll seinen durchschnittlichen Verdienst als Bauhandwerker hoch versteuern. Und so kommt der „Heiland“ zur Welt, der „Retter“, wie es im Griechischen wörtlich heißt, in einem Stall am alten Davidsort Bethlehem, was heißt „Brothaus“, Backhaus“. Der Retter in Windeln als Kontrastprogramm zum „Retter“ Tiberius, genannt „Augustus“, der „Erhabene“. Volle Windel gegen purpurne Toga, wehrloser Säugling gegen den mächtigen Imperator. Selbst der Geschichtenerzähler Lukas enthüllt hinter Hirtenromantik und Engelsgesang ein Weihnachten für Erwachsene.
Die Hirten auf dem Feld hören die Engel singen. Dann eilen und sehen sie. Ein Kind in Windeln. Und sie kapieren, was hier geschieht. Sie „preisen und loben Gott für alles, was sie gehört und gesehen haben“ (nach Lk 2,20). Und blieben doch Hirten. Und lebten ihren Alltag wie all die Jahre zuvor. Doch manchmal, in leichteren Stunden, oder nachts, wenn ihre Herde Ruhe gab, dann erinnerten sie sich des Engels und dieses Kindes. Und ihr eigenes Leben erschien ihnen plötzlich bedeutungsvoll und sinnfällig. Und es leuchtete ihnen ein, dass Gott mit diesem Kind einen neuen Anfang gemacht hatte, der unwiderruflich war. Ein Kontrastprogramm zum Kaiser in Rom und ärgerlich sogar für die eigene Tempel – Herren in Jerusalem; denn dieser Anfang stellt jedes Herrschaftssystem infrage, politisch oder religiös.
Von der Geburtsgeschichte des Lukas 30 Jahre zurück zu Paulus. Er kennt die Weihnachtsgeschichte des Lukas nicht. Er hat allerdings selbst Besonderes erlebt. Er drückt es so aus: Gott „offenbarte seinen Sohn in mir“ (Gal 1,16).
Gott „offenbarte“ seinen Sohn in mir. Den Hirten auf dem Feld spricht der Engel ins Herz. Paulus sagt selbstbewusst: Gott hat mir seinen Sohn gezeigt. In mir. .. Als ginge er schwanger mit dem Christus! ..
Wie ist das geschehen? Lukas wird später – ganz seine Art – in seiner Apostelgeschichte (Kp. 9) eine Geschichte erzählen. Die Geschichte des rasenden Christenverfolgers, der auf dem weg nach Damaskus zu Boden stürzt. Er hört eine Stimme: „Saul, warum verfolgst du mich?“ Danach sieht er drei Tage nichts mehr. Drei Tage blind und Fasten, vollständiger „Reset“: Zurück auf „Neustart“, Maschine runterfahren, warten, Maschine hochfahren, auf „updates“ warten, „bitte nicht abbrechen!“: Der Neustart dauert seine Zeit. Drei Tage eben. Wie von Karfreitag bis Ostersonntag. Es ist dunkel.
Heilige Nacht: Dunkel bis zur Finsternis, kein Engel sichtbar, geschweige denn Kinderkarussell und Glühwein. Finster. Wie an Karfreitag.
Zieht den Stecker aus euren Gebrannte - Mandeln – Rührmaschinen! Haltet ein mit der ganzen schönen Weihnachtsfeierlichkeit! Wagt den Blick aus der Perspektive der Nachterfahrenen. Auf dass uns Gott seinen Sohn offenbare …
Achtet auf Weggefährten! - Nelson Mandela, diese Glücksgestalt des 20. Jahrhunderts, war vertraut mit der Finsternis. In all den Jahren im Gefängnis war er öfter nahe dran an der totalen Verzweiflung. Kein Licht zu sehen. Nur die wahnsinnige Versuchung, das alles abzubrechen, den Verfolgern zu entkommen durch den eigenen, den selbst fabrizierten Tod.
Mutter Teresa in Kalkutta. Jahrzehntelang Vorbild der Nächstenliebe und des Glaubens. Als vor ein paar Jahren ihre Tagebücher veröffentlicht wurden, erschraken ihre Leser(innen). So viel Nacht, ja Finsternis! Sie schrieb: In mir ist es finster, kein Gefühl von Gottes Nähe und Trost. Und machte doch weiter. Blieb bei den Kranken, den Sterbenden. Setzte darauf, dass hier doch irgendwie ihr Gott sei, wenn auch ungefühlt, selten glückselig machend. Es sei in der Liebe zwischen Mensch und Mensch.
Bethlehems Hirten, die Verhafteten und Bedrängten heute, Nelson Mandela, Dietrich Bonhoeffer, Mutter Teresa … du und ich, Menschen, die wir kennen, um die wir uns sorgen … es ist in uns allen. Es ist uns bekannt, vertraut. Wir fürchten und meiden es. Wir verbergen uns gern vor ihm, stricken drum herum einen Mantel aus Licht und zauberhaften Gerüchen und guten Erinnerungen an glücklichere Zeiten. Muss wohl auch sein immer wieder. Wir sind ja so bedürftige Wesen. Und draußen ist es kalt. - Paulus aber sagt:
Solange der Erbe unmündig ist, ist zwischen ihm und einem Knecht kein Unterschied, obwohl er Herr ist über alle Güter; sondern er untersteht Vormündern und Pflegern bis zu der Zeit, die der Vater bestimmt hat.
So auch wir: Als wir unmündig waren, waren wir in der Knechtschaft der Mächte der Welt.
Es nützt den „Erben“ ihr Erbe nichts, solange sie unmündig sind, wie Kinder. Erst wenn die „Erben“ von Gottes Versprechen (Verheißung) mündig, d.h. erwachsen werden, müssen die Vormünder ihnen das Erbe übergeben.
Der Haupt – „Vormund“ war für Paulus das „Gesetz“, die Weisung Gottes, die Tora. Ein Mensch des Glaubens tut, was im „Gesetz“ Gottes, in der „Tora“ steht. So einfach ist das: Tue nach der Tora – und du wirst gut leben! Das hat Paulus geglaubt. Danach hat er sich gerichtet. Ein halbes Leben lang.
Bis zu jener „Offenbarung“ des „Sohnes“ „in“ ihm. Licht aus. Dunkel. Licht an! Nun sieht Paulus das Leben in einem neuen Licht. Was ist geschehen? Und warum? War der alte Glaube etwa falsch? Ein Missverständnis! sagt er selbst. Aber es hat wohl etwas nicht mehr gestimmt. Jedenfalls für ihn selbst. Er war jedenfalls bereit und fähig, den „Sohn“ zu empfangen, den anderen Blick auf dasselbe Leben.
Und so schreibt er an die Gemeinde in Galatien, was unser Weihnachtstext ist:
Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen.
Der Mensch Jesus, geboren von einer Frau – von Jungfrauengeburt weiß Paulus nichts ..- lebte „unter das Gesetz getan“ … w. h. d?
„Unter dem Gesetz leben“ – das meint hier nicht Gesetzesfrömmigkeit! Das ist nichts anderes als die Hirten auf dem Feld bei Bethlehem Tag für Tag erlebten oder die Verhafteten in Kiew oder anderswo oder Nelson Mandela oder du und ich und die, die wir lieben und für die wir Sorge tragen: Allesamt sind wir „unter das Gesetz“ getan, das lautet:
Diese Welt, dieses Leben ist wunderbar und schrecklich manchmal, ist leicht und oft schwer, ist so einfach zu verstehen und so schwer zu leben und umgekehrt; denn Licht folgt auf Finsternis und Nacht auf Tag. Gute Menschen treffen auf böse, Friedfertige auf Gewalttäter, Kaiser Augustus auf das Kind in der Krippe. Und ist beides auch noch in uns selber im Kampf. Aller Weihnachtszauber zaubert es nicht weg. So ist die Welt. So ist das Leben. So sind wir. Die „Mächte der Welt“ beeinflussen auch den Freiesten. Niemand entkommt dem unbegreiflichen Widerfahrnis, Schwäche, Krankheit, Schuld, Schmerz, Trauer und Tod. Jede und jeder könnte nun zu erzählen anfangen vom eigenen Leben. –
Jesus ist gesandt – von Gott – um mit uns, als einer von uns unter diesem „Gesetz“ zu leben, wie das Leben eben ist. Mit Bemühen ist da kein Entkommen. Und mit guten Taten nicht. Und mit Rechthaben erst Recht nicht. Und mit all den kleinen Fluchtstrategien nicht. Nicht zu Weihnachten und erst Recht nicht im sogenannten Alltag. Wir entkommen uns nicht. Wir entkommen nicht dem „Gesetz“ dieser Welt und dieses Lebens. Ob wir jüdisch oder christlich glauben oder gar nichts mehr … wir entkommen nicht dem „Gesetz“ des Lebens, in das wir gestellt sind. Aber wir sind nicht seine „Knechte“. In Gottes Namen sind wir mitten im Leben Erlöste.
Weihnachten könnte uns sein: Wir sind „erlöst“ vom Zwang, uns zu verbergen und das Leben zu scheuen. Wir sind befreit dazu, zu uns selbst und anderen „Ja“ zu sagen in einer unbezwingbaren Fröhlichkeit.
Wir sind dazu befähigt, erwachsen leben zu können. Wir sind nicht mehr unmündige Kinder, sondern Erben. Uns gängelt kein Gesetz mehr, nicht einmal das Gesetz Gottes. Kein Vormund sagt uns, was zu tun und was zu lassen ist. Wir sind höchstgöttlich von dem Sohn zutiefst unten dazu befreit, uns selbst und unser Leben ganz und gar neu anzusehen und anzunehmen als Kinder Gottes und Erben von Gottes Zukunft. Was auch heißt: Wir werden verantwortlich. Frei – und verantwortlich. Mündig eben.
Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott.
„Abba, lieber Vater“ ruft, wer nicht mehr dieses schöne schwere Leben flieht oder umdeutet oder noch schwerer macht durch allerlei Regeln, Vorurteile, Gewohnheiten, Süchte und Flüchte. Erlöst ist, wer dieses Leben annimmt und zu besonderen Zeiten ins Loben und Preisen fällt, glücklich ist oder wütend wird über Ungerechtigkeit und Dummheit. Erlöst leben wir nicht ohne Hoffnung; denn Er ist mitten drin. Erlöst ist, wer in Frieden mit sich lebt und sich auch gönnt, ab und an „von der Rolle“ zu sein. Erlöst ist, wer nicht skrupulös den Gesetzen unterworfen ist, was man so tut oder nicht tut, sondern sich sein Gebot sagen lässt von Gottes Sohn. Riskant ist das, aber alle Dinge sind möglich dem, der glaubt. Weihnachten – ein Fest für Erwachsene. (Amen.)
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Predigt zu Galater 4,4-7 von Eberhard Busch
Ein vielbeschäftigter Christ hat offenbar auch für sich selbst folgende beherzigenswerte Sätze geschrieben: „Zeithaben für einander (bezeichnet) den Inbegriff aller Wohltaten, die ein Mensch dem anderen erweisen kann. Wenn ich jemandem meine Zeit wirklich schenke, dann schenke ich ihm eben damit das Eigentlichste, was ich zu verschenken habe, nämlich mich selber. Schenke ich ihm meine Zeit nicht, so bleibe ich ihm gewiss alles schuldig, und wenn ich ihm im übrigen noch so viel schenkte.“
Nicht wahr, wir fühlen uns bei diesen Sätzen ertappt. Wie manches Mal weisen wir Leute ab: „Tut mir leid, keine Zeit!“, obwohl wir wohl Zeit hätten. Aber um vor allem das eigene Gewissen zu beruhigen, drücken wir ihnen eine kleine Abfindung in die Hand und tun es, um uns damit davon freizukaufen, für sie Zeit zu haben. Doch kommt mir die Geschichte der Schweizer “Mutter“ Gertrud Kurz in den Sinn, die sich in dunklen Jahren in arbeitsreichen Mühen der Bedrängten annahm. Überraschend suchte ein Flüchtling sie auf und fragte: „Haben Sie Zeit für mich?“ Sie bejahte, leichtsinniger Weise, wie sie berichtete. Denn der Fremde wünschte, dass sie sich 6 Stunden für ihn Zeit nähme. Sie nahm sie sich: Zeit zum stillen Zuhören, was der Andere von seinen schweren Lebensschicksalen loswerden wollte. Sie schrieb später dazu: „Immer wieder begegnen einem Menschen, die über die Last ihrer Vergangenheit bisher nur Selbstgespräche führten und sie deshalb nicht auf die Seite legen konnten, bis einer kam, der sich Zeit ließ zum Zuhören.“
Gewiss, dergleichen kann man nur ein paar Mal tun, nicht alle Tage. Aber wie schwer ist es, auch nur für einen Mitmenschen gesammelt Zeit zu haben. Wie leicht ist man dabei nur körperlich anwesend, während unser Geist abschweift. Und nehmen wir uns für den einen Zeit, so können wir für so viel andere keine Zeit haben. Zeithaben für einen Bedürftigen ist der „Inbegriff aller Wohltaten“? Wir spüren wie problematisch unser Zeithaben für einander ist. Immerhin, wo das stattfindet, da ist es ein kleines Gleichnis des einzigartigen Wunders, von dem unser Bibeltext redet, das Wunder, das sich uns an der Weihnacht erschlossen hat. Es ist das Wunder, das so lautet: Gott nimmt sich Zeit für uns.
Wer kann das fassen? Der große Gott, von dem die Bibel sagt: „Ehe die Berge wurden, bist du Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Ps. 90,2). Doch nun das Wunderbare: Der Ewige hat Zeit – Zeit für uns. „Da die Zeit erfüllt wurde“, sagt unser Bibelwort. Indem er sich für uns Zeit nahm, wurde die Zeit erfüllt und gab es reich gefüllte Zeit. Hier ist es ganz wahr: Sich Zeitnehmen ist der Inbegriff aller Wohltaten. Weil er der Ewige ist, der sich jetzt Zeit nimmt, darum geschieht in Vollkommenheit, was es bei uns nur in elender Dürftigkeit gibt. Nimmt sich Gott für uns Zeit, dann hat er wirklich Zeit, ganz gesammelt und beteiligt Zeit für uns.
Für uns. Nimmt er sich sogar Zeit für mich, so schließt das nicht aus, dass er zugleich auch Zeit hat für Andere, für viele Andere. Er kommt nicht ins Gehetze, wenn bei ihm viele zur selben Zeit viel Zeit nötig haben. Eben das ist der Inbegriff aller Wohltaten. Indem er sich Zeit für uns nimmt, trifft es jedenfalls hier voll zu: Damit schenkt er uns nicht nur etwas. Damit schenkt er das Eigentlichste, was er zu geben hat – sich selbst. Als die Zeit erfüllt wurde, „da sandte Gott seinen Sohn“, sagt unser Text. Da hat er uns nicht abgespeist mit einer Schleckerei und dann weggeschickt. Da hat er sich selbst gegeben. Der „Sohn“ ist ja nichts anderes und nichts weniger als Gott, Gott in seiner Hingabe für uns.
Das Wort „Hingabe“ müssen wir dick unterstreichen. Denn dass Gott sich selbst für uns gegeben hat, das bedeutet für ihn etwas sehr Hartes. Dass er sich Zeit nahm für uns und seinen Sohn zu uns sandte, das bedeutet für ihn, dass er damit Anteil nimmt an unserem Leben. Und seine Anteilnahme bringt ihm Leid ein. Unser Bibelwort weist dafür auf ein Doppeltes hin.
Zunächst: „geboren von einer Frau“. Das deutet an, dass unser Dasein sich in einer befristeten Zeit vollzieht. Sie beginnt so, dass man „geboren wird von einer Frau“, unter Schmerzen. Aber von der Geburt an läuft sie unentrinnbar ihrem Abbruch entgegen. Und wenn sie einmal zerronnen ist, dann wird man auf unserem Grabstein, außer dem Namen, nur noch dies lesen: das Datum des Anfangs und das des Endes und dazwischen – ein einziger Strich. Man bedenke, was das für den Sohn Gottes bedeutet, daran teilzunehmen. Er hat nicht so Anteil genommen, wie ein Besucher an einem Krankenbett, der bei allem Bedauern gesund daneben sitzt. Er ist gleichsam selber ins Krankenbett gekommen, hat unser Leben in einem befristeten Dasein selber durchgemacht. So sehr hat Gott in seinem Sohn an unserem Dasein Anteil genommen.
Aber das ist nicht alles. Er nahm auch daran Anteil, dass er „unter das Gesetz getan wurde“. Das erinnert daran, dass unser Dasein auch belastet ist, belastet durch das, was der Mensch auf seiner kurzen Wegstrecke aus seinem Leben macht. Er leistet sich da allerhand: Arbeit und Ruhe, Vergnügen und Langeweile, Liebe und Hass, Geistesflug und Gedankenlosigkeit, Aufbauen und Zerstören, Rührseligkeit und Herzenskälte, Schönes und Hässliches. Paulus bringt alles, was von diesem Leben zu sagen ist, auf den einen Nenner: es ist „unter dem Gesetz“. Das heißt hier: es ist verkehrtes Leben. All das Mancherlei ist wie die Zahlen in einer Klammer. Es gibt darin Plus und Minus. Wenn aber das Vorzeichen vor der Klammer negativ ist, wird alles negativ, was in der Klammer steht.
Das Vorzeichen ist negativ; denn der Mensch richtet sich nicht nach Gottes Willen und nach seiner Gnade. Entweder ist er ein Übertreter der Gebote Gottes. Oder, was nach Paulus noch schlimmer ist, er hält sie zwar, aber er hält sich dabei nicht an Gottes Gnade, sondern blickt selbstzufrieden auf sich selbst. So oder so hält sich der Mensch nicht an Gott. So oder so ist dies das verkehrte Vorzeichen, unter dem alles steht. Dasselbe heilsame Gesetz, das Gott ihm gegeben hat, damit er sich an Gott und seine Gnade halte, dasselbe muss ihm nun auf Schritt und Tritt sagen: So einer bist du, einer, der sich nicht an Gott hält und nicht an seine Gnade. Du bist verkehrt. Du hast es nicht verdient, sein Kind zu heißen.
Und genau dorthin ist der Sohn Gottes geraten, indem er Anteil nahm an unserem Dasein. Er ist da an die Seite von uns getreten, die wir das eine oder das andere sind und oft genug beides miteinander. Er ist uns so zur Seite getreten, dass der anklagende Finger des Gesetzes nun genau auf ihn zeigt, wie er auf uns alle zeigen muss: er ganz unschuldig und jetzt doch ganz schuldig. „O Lamm Gottes unschuldig ... All Sünd hast du getragen.“ Manche Weihnachts-Lieder sprechen davon. Paul Gerhardt lässt da singen: „Du hast dich bei uns eingestellt, an unserer Statt zu leiden ...“ Oder Jochen Klepper: „Die Welt liegt heut im Freudenlicht. Dein aber harret das Gericht. Dein Elend wendet keiner ab. Vor deiner Krippe gähnt das Grab. Kyrieeleison.“ Das heißt: Herr erbarme dich.
Doch seine Anteilnahme greift noch weiter. Paulus schreibt: „Da sandte Gott seinen Sohn, damit er die, so unter dem Gesetz waren, erlöste.“ Er nimmt ganz Anteil an unserem Dasein, geht hinein in den dunklen Stall von Bethlehem und stellt sich unter unsere Vergänglichkeit und Verkehrtheit. Aber seine Anteilnahme an unserem Dasein ist nicht schwach, sondern stark. Sie überlässt uns nicht unserem Schicksal. Sie entreißt uns unserem Schicksal. Sie heilt. Sie macht gesund. Sie befreit. Sie „erlöst“. Sie erlöst uns von der Traurigkeit, die unsere Vergänglichkeit für uns bedeutet. Sie erlöst uns von der schweren Last unserer Verkehrtheit. Auch wenn wir immer noch sterben müssen, er hat uns erlöst. Darum können wir auch im Sterben nicht haltlos werden. Und wenn wir gleichwohl immer noch schuldig werden, so darf das uns nicht mehr irre machen im Vertrauen auf Gottes Vergebung aller Schuld.
So wahr er an der Weihnacht geboren und in unser dunkles Leben gekommen ist, so sehr ist er auch von den Toten auferstanden in ein neues Leben im Licht. So wahr er Anteil genommen hat an unserem Dasein, so wahr gibt er uns als der Auferstandene Anteil an seinem Leben. So wahr er im Stall von Bethlehem der Unsrige geworden ist, so wahr hat er uns an Ostern erklärt, dass wir die Seinigen sind – Brüder und Schwestern des Krippenkindes und darum Gottes Kinder. Dazu hat er uns erlöst, „dass wir die Kindschaft empfingen“, wie Paulus sagt. Seine Kinder, die in allem und trotz allem den einen Trost haben im Leben und im Sterben, wie es im Heidelberger Katechismus heißt, „dass ich nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre, der mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des Bösen erlöst hat“. Das hat seine große Liebe getan, als die Zeit erfüllt wurde und Gott seinen Sohn sandte und sich Zeit nahm für uns.
„Ihr seid alle Gottes Kinder durch den Glauben an Jesus Christus“, so hat Paulus kurz vor unserem Predigttext erklärt. Kinder Gottes, das ist ja wohl nicht einfach das, was die Leute „bessere Menschen“ nennen. Sie sind zuweilen ziemlich tollpatschig, werfen Tassen kaputt oder kommen störend dahergepoltert. Wiederum ändert das nichts daran, dass sie Gottes Kinder sind, dass sie zu ihm gehören und von ihm geliebt sind. Auch wenn sie nicht solche „besseren Leute“ sind, so sind sie doch Menschen wie sonst Kinder, die noch sehr unterwegs sind und vieles noch nicht begreifen. Graf Zinzendorf hat gedichtet: „Solche Leute will der König lehren, die ein jedes Kind mit Nutzen hören, und die fröhlich wissen, dass sie Schüler sind und lernen müssen.“
Es gibt bestimmte Merkmale, die anzeigen, dass sie Gottes Kinder sind. Eines der Merkmale ist dies, dass sie Zeit haben. In der Dankbarkeit dafür, dass Gott sich für uns Zeit nimmt, lernen sie auch ihrerseits, sich Zeit zu nehmen. Sie haben ja Zeit zu verschenken, befristete Zeit, aber immerhin doch Zeit, geschenkte Zeit, Zeit, die verdorben ist durch jenes negative Vorzeichen. Aber indem sie sich der Vergebung freuen dürfen, wird ihre Zeit Gnadenfrist. Kinder Gottes sind Menschen, die sich Zeit nehmen für Gott. Die Widerstände dagegen sind groß. Aber man kann sie überwinden und Zeit haben zum Beten, zum Hören auf Gottes Wort, Zeit zum Gottesdienst. So wie man den Josef der Weihnachtsgeschichte auf alten Bilder sehen kann, der einfach da sitzt und schaut in großer Ruhe: „Sehet, was hat Gott gegeben.“
Kinder Gottes sind Menschen, die sich daraufhin auch Zeit nehmen füreinander. Sind wir durch Jesus Christus zu Kindern Gottes gemacht, so sind wir damit untereinander Brüder und Schwestern. Also benehmt euch jetzt auch geschwisterlich und habt Zeit füreinander! Denkt in nächster Zeit an die Worte, die wir zu Anfang der Predigt hörten: „Zeithaben für einander bezeichnet den Inbegriff aller Wohltaten, die ein Mensch dem anderen erweisen kann. Wenn ich jemandem meine Zeit wirklich schenke, dann schenke ich ihm eben damit das Eigentlichste, was ich zu verschenken habe, nämlich mich selber.“