Gott bleibt da und trägt alle dunklen Tage mit - Predigt zu Jesaja 53,1-12 von Thomas Volk
Gott bleibt da und trägt alle dunklen Tage mit
„Da hätten wir doch drauf kommen müssen!“
So sagen wir, liebe Gemeinde, wenn uns eine Sache erst im Nachhinein aufgegangen ist oder wenn wir erst später gemerkt haben, wie es sich wirklich verhält.
Eigentlich hätte ich doch wissen müssen, dass ich dieser Person nicht vertrauen kann. Wie sehr habe ich mich doch blenden lassen. Wenn ich heute an manche Gespräche denke. Wie bin ich doch so naiv gewesen?
Eigentlich ist die Klausur gar nicht so schwer gewesen. Aber ich habe einfach zu kompliziert gedacht, bin einfach zu hektisch und zu kurzsichtig geblieben. Jetzt wo ich die Lösung weiß, sehe ich die Aufgabenstellung in einem ganz anderen Licht.
Und eigentlich hätte ich schon längst merken müssen, dass etwas mit meinem Körper nicht stimmt. Aber ich habe die Zeichen einfach ignoriert und gedacht, es ist doch bis jetzt auch alles gut gegangen. Ich habe gar nicht gemerkt, dass meine Schmerzen richtige Alarmsignale gewesen sind.
Manchmal kommen wir wirklich nicht darauf, weil wir zu sehr in unseren eigenen kleinen Gedanken gefangen sind oder weil wir davon ausgehen, dass es keine andere Sicht der Dinge geben kann als unsere eigene.
„Da hätten wir doch drauf kommen müssen!“
So haben auch Menschen über die Person geredet, von der in diesem alten Text die Rede ist. Als sie so sprechen, da ist es schon einige Zeit her, dass sie an seinem Grab gestanden sind.
Damals haben sie noch gedacht: Wer hat ihn schon ernst genommen? Wer hat seinen aberwitzigen Worten Glauben geschenkt? Wer kann man nur so eine absurde Meinung haben? Niemand!
Und wie er ausgeschaut hat? Keine Erscheinung mit der man Wahlen gewinnt.
Er hat so gar nicht zu uns gehört. Es geschieht ihm ganz recht, dass er sein Grab außerhalb unserer Glaubensgemeinschaft bekommt, draußen bei den Gottlosen.
Aber später ist ihnen nach und nach aufgegangen: Er hatte Recht. Und wie! Wir konnten einfach nicht glauben, dass seine Worte gelten. Wer konnte schon darauf kommen, dass der Sturz der großen Weltmacht Babylon bevorsteht? Und dass Gott mit uns, nach der großen Katastrophe, fern der Heimat, einen neuen Anfang machen möchte?
Und wir hatten unsere ganze Enttäuschung darüber, dass wir unser Hab und Gut verloren haben und wir in der Fremde einfach nicht heimisch werden, an ihm herausgelassen, so wie man sich in der Klasse einen aussucht, an dem man alle Ernüchterung ablädt oder im Ort über den herzieht, der andere Ideen und eine andere Meinung hat.
Wir haben ihm sogar noch so übel mitgespielt, dass er krank geworden ist. Und dabei hat er uns mit seiner Hoffnung, dass Gott auch in allen Umbrüchen und Veränderungen da ist und da bleibt, Mut gemacht, durchzuhalten. Und mit ihm hat ja auch tatsächlich schon etwas von dieser vorausgesagten Zukunft begonnen. Aber wir haben es einfach nicht begriffen.
Jetzt unerklärlich, dass der, der da draußen liegt und dessen Grab man schon gar nicht mehr ausmachen kann, so behandelt, so abgelehnt und so verachtet wurde.
„Da hätten wir doch drauf kommen müssen!“
So haben die ersten Christen gedacht, als sie nach einiger Zeit auf diesen schlimmen Karfreitag zurückgeschaut haben.
Damals haben sie noch nicht verstanden und nur gedacht: Unfassbar. Wir finden einfach keine Worte für das, was passiert ist. Zu welchen Ausmaßen von Gewalt doch Menschen fähig sind. Und keiner schreitet ein, stoppt diesen Wahnsinn.
Weil diese letzten Tage Jesu in Jerusalem so unwirklich gewesen sind, haben sie nach einem Grund gesucht. So wie man heute auch bei Ereignissen, die einfach keinen Sinn ergeben, grübelt, weil man sie einfach nicht so stehen lassen kann und möchte. Und weil man alles Sinnlose nur schwer aushalten kann, sagt man: „Naja, für irgendwas wird es schon gut gewesen sein.“ Aber ein echter Trost ist das nicht.
Auch der Tod Jesu muss doch für etwas gut gewesen sein. Viele haben es nicht ausgehalten, dass es am Ende so schlimm gekommen ist. Das kann doch nicht sein, dass das Leben von dem, der doch so gut gewesen ist und den Menschen so unmittelbar von Gott erzählt hat, so schrecklich geendet hat.
Es ist für die Geschichte des Christentums wegweisend geworden, dass man nach dem Tod Jesu nach möglichen Hinweisen gesucht hat. Und man ist auch auf Antworten gekommen. Eine davon haben sie in diesem alten Text aus dem Buch des Propheten Jesaja gefunden, wo von einer Person ist, von der man eigentlich gar nichts weiß, außer dass sie von diesem Neubeginn Gottes mit seinen Menschen gesprochen und keiner ihr zu deren Lebzeiten Glauben geschenkt hat.
Genau dort, vor mehr als 500 Jahren, ist schon beschrieben, wie sie es jetzt mit Jesus gemacht haben. Schon damals soviel Unrecht an einem, bei dem man kein Unrecht entdecken konnte.
Und eigentlich hätten wir dieses schlimme Ende, das Jesus erlitten hat, verdient, weil wir irgendwie doch auch mitgeholfen haben, dass er nicht mehr bei uns ist. Eigentlich hätte es mit uns so enden müssen, weil wir ihm nicht geglaubt haben, weil wir uns auf und davon gemacht haben, zu feige gewesen sind und weil wir allem schlimmen Treiben nicht Einhalt geboten haben.
Um die Gedankengänge von damals zu verstehen, muss man wissen, dass es zu dieser Zeit gängige Auffassung gewesen ist, dass das Böse durch Blut aus der Welt geschafft wird. Das war bei den alten Griechen nicht anders als bei irgendwelchen Völkern anderer Erdteile. Auch im Alten Bund Israels ist es so gewesen.
Dazu ist jedes Jahr das Volk am "Jom Kippur", am großen Versöhnungstag zusammengekommen. Der Hohepriester hat ein Tier geschlachtet, ist in das Heiligtum gegangen und hat gesagt: "Ja, Gott, das Maß ist wieder voll. Sieh dieses Opfer gnädig an und gib uns einen Neuanfang mit dir zu leben." Und danach hat er einen Ziegenbock genommen, hat ihm die Hand aufgelegt und hat gesprochen: "Alles Böse lege ich auf dich drauf." So hat er ihn zum Sündenbock gemacht und hat ihn hinausgejagt aus der Stadt. Das Böse ist raus aus der menschlichen Gemeinschaft.
Die Menschen haben sich gefragt: Ist es beim Tod Jesu nicht ebenso gewesen? Und heißt es nicht im Buch des Propheten Jesaja: „Er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten und durch seine Wunden sind wir geheilt“ (V.5). Einer leidet und stirbt für andere, nimmt somit alle Schuld auf sich und schafft damit das Böse aus der Welt. Und alles ist wieder gut.
Liebe Gemeinde, alle Erklärungen und Deutungen haben auch ihre Zeit. Und man muss immer wieder neu drauf kommen, wie man heute verantwortlich von dem, was damals am Karfreitag geschehen ist, sprechen kann.
Denn gerade diese Deutung von dem stellvertretenden Leiden und Sterben hat auch eine fatale Wirkungsgeschichte in Gang gesetzt.
Nicht nur das Leiden und Sterben Jesu hat man so verstanden: Jesus musste sterben, weil die anderen so schlecht sind. Man hat auch noch so gesagt: „Du und deine Sünden haben Jesus ans Kreuz gebracht.“ So wurde über Jahrhunderte Konfirmanden und Schüler vorgehalten. Zu Recht fragen sie heute: Warum soll ich für etwas verantwortlich sein, was vor hunderten vor Jahren geschehen ist? Und die von der Kirche sind ja auch nicht besser. Nicht nur die Missbrauchsfälle, die in den vergangenen Jahren aufgedeckt worden sind, machen deutlich, dass wir viel behutsamer und viel feinfühliger mit der Schuldfrage umgehen müssen.
Ich glaube nicht, dass man heute noch so von Gott sprechen kann, dass er - man kann es umschreiben, wie man möchte - in irgendeiner Form mit Blut besänftigt werden muss. Wie soll man in Hospizen oder bei Trauergesprächen, in denen es um einen vorzeitigen Abschied geht, einen Gott nahe bringen, dem die Menschen zwar am Herzen liegen, der aber bewusst und willentlich den Tod seines eigenen Sohnes in Kauf nimmt? Und was würde der Glaube an einen Gott, der zwar die Menschen liebt, aber den eigenen Sohn grausam dahingibt, auch für einen Trost geben? Wer könnte da sicher sein, ob er Gott auch wirklich recht ist oder ob Gott irgendwann doch genug mit einem hat?
Alle, die sagen, dieses Sterben ist ein göttlicher Plan gewesen, vergessen, dass das grausame Sterben am Kreuz Menschen besorgt haben und nicht Gott. Ich bin mir sicher: Gott hätte diesen Tod nicht gebraucht.
Denn Jesus hat schon längst mit seinem Leben gezeigt, dass er auf der Seite der Menschen steht. Mit seiner Zuwendung zu all den Mühseligen und Beladenen, die ohne Hoffnung sind und an ihrem Leben leiden, hat Jesus längst deutlich gemacht: Es ist Gottes großes Bedürfnis, dass Menschen wieder den Mut bekommen, den sie brauchen.
Und die Tatsache, dass Jesus sich mit all den Gestrandeten zusammengesetzt, gegessen und gefeiert hat, macht deutlich, dass es einfach Gottes unabdingbarer Wille ist, Menschen trotz all ihrer Schwächen zu fördern und nicht ständig aufzurechnen oder vorzuhalten, was sie wieder alles nicht geschafft haben und deshalb mit dem dicken Ende zu drohen.
Der Tod Jesu am Kreuz ist die unausweichliche Folge seines Lebens und seiner Zu-wendung zu den Armen und Schwachen gewesen. Dass Jesus auf sie zugegangen ist, war mehr als ein Hinweis, dass sie Gott recht sind.
Man ist auch erst später drauf gekommen, dass Jesus weg musste, weil er die religiös Verantwortlichen einfach gestört hat: Er hat es gewagt den gängigen religiösen Tempelbetrieb in der Hauptstadt Jerusalem zu kritisieren. Und viele haben es nicht ertragen, dass er so unmittelbar von Gott gesprochen hat, dass auch die Armen und die, die immer wieder an den religiösen Forderungen scheitern, sich angenommen fühlen konnten. Nicht mit dem Hinweis auf das Einhalten von Gesetzen und Vorschriften kann man die Menschen ändern, sondern indem man ihnen eine Welt vorlebt, in der man sich wie zu Hause empfinden kann.
Liebe Gemeinde, auf welche Zusammenhänge man kommt oder nicht. Der Karfreitag geht nicht auf. Niemand kommt ganz darauf, warum er damals so und nicht anders abgelaufen ist. Und keiner kann diesen schweren Tag mit einer schlüssigen Logik erschließen. Auf alle Fälle glaube ich nicht daran, dass am Karfreitag ein göttliches Schauspiel inszeniert worden ist, das sagt: Jemand musste sterben werden, damit andere leben.
Wer Bilder von den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Kiew oder Kairo im Blick hat, in denen Menschen, die friedlich für bessere Zustände eintreten und dann ins Zielfeuer von Scharfschützen genommen werden, kann nicht damit Hof halten, dass Gott irgendeine Form von stellvertretendem Leiden gut heißen kann.
Was für mich von dem alten Bericht aus dem Buch des Propheten Jesaja, der so viele Kreise gezogen hat und so viele Pfarrerinnen und Pfarrer unterschiedlicher Generationen angeregt hat, bleibt: Gott ist da und er bleibt da, wenn jemand etwas Schlimmes erleiden muss. Er geht alle Wege mit, auch die ganz dunklen und bitteren. Er trägt „unsre Krankheit“ und lädt auf sich „unsre Schmerzen“ (V.4a). Und es ist auch sein Leid, wenn etwas ganz anders verläuft, als gedacht, wenn jemand vorzeitig gehen muss oder wenn etwas passiert, was niemand auf der Rechnung hatte.
Gott ist alle Wege dieser unbekannten Person, von der unser Schriftwort erzählt, mitgegangen, die nicht mehr erleben konnte, wie andere froh geworden sind. Die auch nicht mehr daran teilnehmen konnte, wie sie in ihre Heimat gezogen sind, wie es ein Wiedersehen mit den Familien gegeben hat. Nach all dem, wie sie sich eingesetzt hat und wie sie die Hoffnung aufrecht gehalten hat, hätte sie es verdient gehabt, diesen Neubeginn mitzuerleben.
Gott hat auch diesen schlimmen Karfreitag mitausgehalten und hat sich nicht aus der Welt drängen lassen. Er ist geblieben und hat allem Bösen standgehalten und ein Gegengewicht gesetzt. Erst nach Ostern ist man darauf gekommen.
Und auch all unsere Tage, die uns wie ein Karfreitag vorkommen, sind Zeiten, an denen Gott bei uns ist und bleibt, auch wenn wir vielleicht erst später Spuren seiner Gegenwart erkennen.
Und der Gott, der nicht von unserer Seite weicht, möge all unsere Hoffnungen und alle Zuversicht, die sich gerade an dunklen Tagen durchscheint, bewahren.
Amen.
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Durch seine Wunden sind wir geheilt - Predigt zu Jesaja 52,13-53,12 von Mira Stare
Durch seine Wunden sind wir geheilt
Liebe Glaubende,
wir begehen heute den Karfreitag und gedenken des Sterbens und des Kreuzestodes unseres Herrn Jesus Christus. Die Schriftlesung führt uns jedoch zuerst zu einer besonderen Gestalt, nämlich zum Gottesknecht. Über ihn haben wir ein Lied gehört. Das ist das vierte Gottesknechtlied im Jesajabuch.
Mit den Worten Gottes beginnt das Lied:
„Seht, mein Knecht hat Erfolg,
er wird groß sein und hoch erhaben.“ (Jes 52,13)
Man ist nun auf den Erfolgsbericht gespannt. Die anschließenden Worte Gottes machen jedoch den Erfolg wie auch die Gestalt des Gottesknechtes geheimnis- und spannungsvoller. Denn Gott sagt über ihn:
„Viele haben sich über ihn entsetzt, so entstellt sah er aus,
nicht mehr wie ein Mensch,
seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen.
Jetzt aber setzt er viele Völker in Staunen,
Könige müssen vor ihm verstummen.
Denn was man ihnen noch nie erzählt hat, das sehen sie nun;
was sie niemals hörten, das erfahren sie jetzt. (Jes 52,14-15)
Auf der einen Seite ist der Gottesknecht so entstellt, dass er nicht mehr wie ein Mensch ausschaut, und löst er die Entsetzung aus. Auf der anderen Seite bringt ausgerechnet er viele Völker und Könige zum Staunen und zu einer bisher nie erfahrenen Wirklichkeit.
Interessiert an diesem Novum, das der Gottesknecht mit sich bringt, stoßen wir noch auf weitere Kontraste. Nicht der Grund für das Staunen wird zuerst genannt. Umgekehrt, an ihm und seiner Gestalt wird weder Schönheit wahrgenommen noch findet man Gefallen an ihm. Er wird nicht geschätzt und wird sogar von den Menschen verachtet und gemieden. Mit Schmerzen und Krankheiten ist er vertraut.
Schritt für Schritt vergrößern sich die Lasten und die Leiden, die der Gottesknecht trägt. Gleichzeitig wird wiederholt gesagt, dass er sie stellvertretend für andere Menschen trägt. So wird behauptet:
„Aber er hat unsere Krankheit getragen
und unsere Schmerzen auf sich geladen ...
Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen,
wegen unserer Sünden zermalmt.
Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm,
durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jes 53,4-5)
Dass jemand für andere so ein Leidensschicksal auf sich nimmt, ist ein Novum und löst das Staunen aus. Es ist unglaublich, ja fast unmöglich, dass er auf die ganze Gewalt, die ihm angetan wird, völlig gewaltlos reagiert.
„Er wurde misshandelt und niedergedrückt,
aber er tat seinen Mund nicht auf.
Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt,
und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer,
so tat auch er seinen Mund nicht auf.“ (Jes 53,7)
Schließlich nimmt er für andere Menschen auch den gewaltsamen Tod und ein Grab bei den Verbrechern auf sich. Mit dem Tod und dem Grab kommt jedoch das vierte Gottesknechtlied noch nicht zu einem Ende. Nun handelt Gott selbst an seinem Knecht und redet über ihn. Er hat Gefallen an ihm, rettet ihn und schenkt ihm langes Leben. Der Gottesknecht erblickt das Licht. Er bekommt seinen Anteil bei Gott. Nicht der Tod, sondern Gott mit seiner Gabe des Lebens und des Lichtes hat das letzte Wort.
Wer ist der Gottesknecht? Bezieht sich er auf einen einzelnen Menschen oder auf ein Kollektiv, wie dies das Volk Israel ist? Es gibt verschiedene Deutungen. Für die Christen steht der Gottesknecht von Anfang an mit Jesus Christus in Verbindung, denn er erinnert an die Art und die Weise des Lebens und des Leidensweges Jesu. Bereits im Neuen Testament wird dieses Lied wiederaufgenommen und zitiert. So liest in der Apostelgeschichte (Apg 8,26-40) ein Äthiopier dieses Lied vom Gottesknecht aus dem Jesajabuch. Philippus fragt ihm: „Verstehst du auch, was du liest?“ Der Äthiopier bittet Philippus, ihm zu sagen, von wem der Prophet erzählt? Philippus beginnt zu reden und ausgehend von diesem Schriftwort verkündet er ihm das Evangelium von Jesus. Der Äthiopier lässt sich anschließend taufen und wird selber zum Verkünder Jesu und seines Evangeliums. Auch der 1. Petrusbrief ruft mit diesem Gottesknechtlied zur Nachfolge Jesu auf und erkennt im Gottesknecht Jesus selbst:
„Dazu seid ihr berufen worden;
denn auch Christus hat für euch gelitten und euch ein Beispiel gegeben, damit ihr seinen Spuren folgt.
Er hat keine Sünde begangen,
und in seinem Mund war kein trügerisches Wort.
Er wurde geschmäht, schmähte aber nicht;
er litt, drohte aber nicht,
sondern überließ seine Sache dem gerechten Richter.
Er hat unsere Sünden mit seinem Leib auf das Holz des Kreuzes getragen, damit wir tot seien für die Sünden und für die Gerechtigkeit leben.
Durch seine Wunden seid ihr geheilt.“ (1 Petr 2,21-24)
Liebe Glaubende, wir verehren heute unseren Herrn Jesus Christus am Kreuz. Was sehen und erkennen wir? Den Gottesknecht, den Sohn Gottes, der auch uns seine Liebe bis zur letzten Konsequenz in der Haltung der Gewaltlosigkeit schenkt. Was bewirken seine Wunden in uns? Was löst seine Hingabe für uns in uns aus? Die Liebe Jesu und der Blick des Gekreuzigten mögen uns begleiten und uns aus unseren Ängsten befreien und unsere Wunden heilen. Dankbar können wir uns vor ihm beugen, der an uns denkt und sich für uns und die ganze Welt hingegeben hat.
„Im Kreuz ist Heil, im Kreuz ist Leben, im Kreuz ist Hoffnung.“ Amen.
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Predigt zu Jesaja 53,1-12 von Peter Schuchardt
Liebe Schwestern und Brüder!
Wir feiern den Karfreitag. Aber können wir so eine Tag feiern? Wir feiern den heruntergekommen Gott. Ist das ein Grund zum Feiern? Wir erinnern uns, wie Jesus am Kreuz stirbt. Es ist zuallererst ein Tag der Trauer. Ein Tag, den die Farbe Schwarz beherrscht. Ein Tag, der Bilder in uns wachruft. Bilder der Kreuzigung. Bilder des Leidens Jesu. Bilder bedeutender Maler. Szene aus Filmen und aus dem Fernsehen. Mancher von euch kennt den Film „Die Passion Christi“ von Mel Gibson. Vor Jahren hat er für große Aufregung und viele Diskussionen gesorgt. So viel Leiden gab es da zu sehen. So viel Blut, so viel Schmerz. Ich denke, er hat auch gerade darum so verstört, weil wir uns an andere Bilder gewöhnt haben. Die Bilder von Leid, Blut und Schmerz wollen wir nicht sehen. Wir haben uns an das Kreuz in unseren Kirchen gewöhnt. Erkennen wir noch, ahnen wir noch das Leid, den Schmerz, der in dem Kreuz steckt? Wir haben oft Bilder von Christus im Kopf. Sie zeigen uns den friedlichen, sanften Heiland, den Wohltäter, den Guten Hirten. Wir sehen ihn mit langem Gewand und mit wallenden Haaren und bedenken nicht: Dieses Bild ist von der Malerei geformt worden, von den Nazarenern im 19. Jahrhundert. Bis heute bestimmt es unser Denken. Achtet einmal auf das Bild, das in der Werbung, im Fernsehen, in so vielen Jesus-Satiren in den Comedy-Shows zuhauf auftaucht. Es ist dieser immer gleiche, leicht dämliche, stets lächelnde Jesus, der mit uns nichts mehr zu tun hat, der als Witzfigur belächelt wird.
Heute, am Karfreitag, aber geht es um sein Leiden, seine Schmerzen, seinen Tod – und es geht um uns. Darum steht heute ein Abschnitt aus dem Propheten Jesaja im Mittelpunkt. Es ist ein Lied, ein Lied über den Knecht Gottes, aus dem Kapitel 53:
1Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und wem ist der Arm des HERRN offenbart?
2Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.
3Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.
4Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre.
5Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.
6Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn.
7Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.
8Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wer aber kann sein Geschick ermessen? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat meines Volks geplagt war.
9Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist.
10So wollte ihn der HERR zerschlagen mit Krankheit.
Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und in die Länge leben, und des HERRN Plan wird durch seine Hand gelingen.
11Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden.
12Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben und er soll die Starken zum Raube haben, dafür dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.
Liebe Schwestern und Brüder, dieser Text ist alt, viel älter als das Neue Testament. Niemand weiß genau, von wem dieses Lied handelt. Ist es das Volk Israel, das in der damaligen Zeit im Exil sitzt? Ist es der Prophet selbst? Auf diese Fragen erhalten wir keine Antwort. Aber auf eine andere Frage bietet uns der Text eine Antwort: Wer ist Jesus Christus? Seine Jünger, die ihn begleitet haben, die Menschen, die er begeistert, geheilt und mit seinen Worten aufgerüttelt hat, sie fragen immer wieder: Wer ist das? Die Fragen werden größer und drängender, als Jesus in Jerusalem einzieht. Die Fragen werden schmerzlich und fassungslos, als Jesus am Kreuz stirbt. Wer ist Jesus Christus? Die Jünger, die Menschen in Israel kennen die Schrift. Sie kennen das Lied vom Knecht Gottes. Und sie erkennen: Jesus ist wie dieser Knecht. Jesus ist der Knecht Gottes, der für uns leidet und stirbt. Und so steht heute, am Karfreitag, dieses Lied im Mittelpunkt. Es soll uns helfen zu verstehen, was mit Christus am Kreuz geschieht, warum er stirbt.
Aber dieses Lied ist voller verstörender Bilder. Es will uns von aller Gewöhnung ans Kreuz freimachen. Es will uns die Augen und das Herz freimachen für das, was da geschieht. Denn das Lied besingt nicht den freundlichen Guten Hirten. Dieser Knecht Gottes ist eine erbärmliche Gestalt, der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Das ist kein hoheitsvoller Jesus, der mit Würde am Kreuz stirbt. Das ist ein zerschlagener und geplagter Mensch. „Da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte“, heißt es in dem Lied. Wir haben uns an das Kreuz und das Sterben Jesu gewöhnt – und wie schnell gewöhnen wir uns an das Sterben in den Kriegsgebieten unserer Tage! Mit seinen Bildern aber stört das Lied vom Knecht Gottes unsere Gewöhnung. Was für eine heruntergekommene Gestalt hängt da am Kreuz! Und es geht noch tiefer. Denn in Christus kommt Gott zu uns. Er selbst, der Schöpfer der Welt, gibt sich in das Leiden, die Verachtung, den Tod. An was für einen heruntergekommenen Gott glauben wir eigentlich! Der Karfreitag ist ja darum ein so wichtiger Feiertag, weil er uns den Grund unseres Lebens zeigt, einen doppelten Grund. Der eine ist: In allen menschlichen Abgründen, in allem, wo wir heruntergekommen, gestürzt und verloren sind, ist Gott an unserer Seite. Und dafür geht Gott in Christus den Weg in tiefste Verachtung und Ablehnung. „Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg.“ Der andere: Das Lied will uns mit seinen Bildern nicht nur verstören, es will uns auch den Blick öffnen für das Warum. Warum ist Gott so heruntergekommen? Und die Antwort ist: Weil es ihm um uns geht. Es geht ihm um uns, weil wir so heruntergekommen, unansehnlich, verachtet sind. Wir meinen, das sind wir nicht? Oder ist es so: Wir wollen es nicht sein!? Und wenn wir das sind, dann tun wir alles, um das zu verstecken, um den Schein zu wahren. Ein jeder sieht auf seinen Weg. Ein jeder hat nur sich selbst im Blick. Wir vertrauen nur auf uns selbst. Wir sind doch gut, und wenn etwas mal nicht klappt, wir schuldig werden, dann ist es eben ein Ausrutscher auf unserem Weg. Denn wir haben doch, meinen wir, eigentlich so viel vorzuweisen. Unsere Leistungen, unser Konto, unser Ansehen, alle unsere guten Taten. Und wir hängen der fixen Idee an, wir könnten Gott mit unseren Erfolgen und unserem Leisten beeindrucken. Ja, wir meinen, Gott sei doch mit denen, die genau das vorzeigen können: die besten Noten, das meiste Geld, das beste Leben. Wir hängen an dieser fixen Idee, Gott sei in unseren Guttaten bei uns. Meinen, Gott sei uns in unseren Abgründen fern. Das Gegenteil ist wahr.
Aber neben den verstörenden Bildern von dem unansehnlichen, abstoßenden Knecht Gottes sind es die Worte, die uns verstören. Worte, die unsere Ruhe und unsere Selbstsicherheit stören. Denn der Knecht Gottes, Jesus, so deuten es die Jünger, sieht nicht auf sich selbst. Er sieht auf Gott. Und das heißt: Er vertraut nicht auf sich, er vertraut auf Gott. Und darum kann er uns sehen, wie wir sind, verstrickt in alles, was wir sein wollen und nicht sind, was wir vorspielen und niemals sein werden, was uns belastet und bedrängt und die Kraft raubt. Er sieht auf unser selbstgemachtes zerbrechliches Glück. Und nun kann es uns so gehen wie den Menschen im Lied aus vom Gottesknecht. Wir erkennen: Er leidet ja für uns! Er nimmt das alles, Hohn und Spott, Verachtung und Schmach, Tod und Grab auf sich, allein für uns, ohne eigene Schuld. Unsere Krankheit und unsere Schmerzen hat er auf sich geladen. „Die Strafe Gottes liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Sofort werden einige einwenden: das geht doch gar nicht. Da kann sich doch keiner für uns opfern. Wenn wir schuldig sind, dann müssen wir das auch verantworten. Kann denn ein anderer für uns Schuld und Strafe tragen? Ja. Aus Verantwortung und aus Liebe. „Eltern haften für ihre Kinder“, lesen wir an jeder Baustelle. Und hier, vor den Trümmern unseres Lebens, ist es unser himmlischer Vater, der für uns haftet, der zu uns in unser Leben herunterkommt, sich selbst in seinem Sohn am Kreuz hingibt. Weil er uns liebt.
Eine verstörende Botschaft, eine Botschaft, die unsere Sicherheiten stört und zerstört. Denn sie sagt: Es ist notwendig, dass wir gerettet werden. Wir können es nicht allein. Und zugleich eine heilende Botschaft. Die heilende Botschaft für uns: Gott liebt uns so sehr, dass er uns daraus retten will. So gibt er sich für uns aus Liebe in Leid und Schuld und Tod. Alle Bilder von Jesus, die wir in uns tragen, sind zusammengefasst in dem einen: Christus, Gottes Sohn, Gott selbst am Kreuz. Für uns.
Wir feiern den Karfreitag. Können wir das überhaupt feiern? Ja. Mit einem Herzen, das auf unseren Gott am Kreuz sieht. Was ist das nur für ein heruntergekommener Gott, an den wir glauben! Gott sei Dank. Amen
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Predigt zu Jesaja 52,13-53,12 von Angelika Volkmann
Ein Lied von dem, der mit seinem Leben für andere einsteht
Siehe, meinem Knecht wird's gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. Wie sich viele über ihn entsetzten, weil seine Gestalt hässlicher war als die anderer Leute und sein Aussehen als das der Menschenkinder, so wird er viele Heiden in Staunen setzen, dass auch Könige werden ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn denen nichts davon verkündet ist, die werden es nun sehen, und die nichts davon gehört haben, die werden es merken.
Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und wem ist der Arm des HERRN offenbart? Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.
Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.
Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn. Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf. Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wer aber kann sein Geschick ermessen? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat meines Volks geplagt war. Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist. So wollte ihn der HERR zerschlagen mit Krankheit.
Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und in die Länge leben, und des HERRN Plan wird durch seine Hand gelingen. Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden. Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben und er soll die Starken zum Raube haben, dafür dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.
Liebe Gemeinde,
Karfreitag. Der dunkelste Tag im Kirchenjahr. Der Tag, an dem wir in besonderer Weise unser Augenmerk auf das Leiden legen. Das Leiden von Menschen, die uns wichtig sind, das große Leiden von Vielen in der Welt, das Leiden im eigenen Leben. Karfreitag. Der Tag, an dem wir auf das Leiden und Sterben Jesu Christi schauen. Auf manche Fragen gibt es keine Antwort. Nicht jedes Leiden hat einen Sinn. Doch ist es möglich, so bezeugen es viele, durch den Blick auf das Leiden Christi zu erleben, dass Christus unser Leiden teilt. Er ist uns tief verbunden, tröstet uns und vermittelt uns neue Hoffnung.
Das Leiden Jesu Christi, auf das wir heute schauen, entzieht sich dem vollkommenen Verstehen. Es bleibt ein Stück weit Geheimnis. Es entzieht sich vor allem dem Versuch, es in eine einfache dogmatische Gleichung zu pressen, so in der Art: Weil der Mensch gesündigt hat, will Gott zu Besänftigung ein Opfer, darum straft er seinen Sohn stellvertretend, um den Menschen vergeben zu können. Die Evangelien und auch das Gottesknechtslied sind meilenweit entfernt von einer solchen Haltung. Hier ist nirgends von einem strafenden Vater die Rede.
Das Leiden und Sterben Jesu war für seine Anhänger schwer zu verstehen. Nach seiner Auferstehung rangen sie darum, all diese Geschehnisse zu verkraften. Warum war Jesus so entwürdigt worden? Was konnten sie dieser Schmach entgegensetzen? Wozu der Spott, die Gewalt, die Schmerzen? In den Gottesknechtsliedern des Propheten Jesaja fanden sie hilfreiche Einsichten. So kommt es, dass in den Evangelien das Leben Jesu im Anklang an die Gottesknechtslieder erzählt wird, ohne dass die Evangelien diese Lieder in Besitz nehmen. Die Gottesknechtslieder haben ihre eigene Botschaft schon längst vor Jesus Christus.
Wer ist der Gottesknecht?
Der Gottesknecht ist nicht der verheißene Messias. Es ist eine Gestalt, über die nach ihrem Tod gesprochen wird. Es könnte der Prophet selber sein. Manchmal ist auch Mose darin gesehen worden. In späterer Zeit hat sich das ganze Volk Israel in dieser Gestalt erkannt. Viele Deutungen sind möglich.
Aufgabe des Gottesknechtes ist es, das Licht der Völker zu sein und ihnen die Tora und die Gerechtigkeit zu bringen. Eine große Aufgabe.
Das Wunderbare an diesem geheimnisvollen Lied, das absolut Tröstliche und oft Übersehene ist sein Anfang. Quasi die Überschrift. Am Anfang spricht Gott selber (V 13). Gott sagt: „Siehe, meinem Knecht wird’s gelingen, er wird erhöht und hoch erhaben sein. Wie viele sich über ihn entsetzten … so wird er viele Heiden in Staunen setzen.“
Dass dieser Knecht unbeschreibliche Leiden durchlebt und die Menschen sich voller Abscheu von ihm abwenden, sagt nichts aus über das Wunderbare, das er bewirkt und sagt nichts aus über sein Ende.
Dann redet im Lied eine Gruppe von Menschen. „Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde?“ Sie beschreiben den Gottesknecht von Geburt an bis zu seinem Tod. Er wuchs auf wie eine Wurzel aus dürrer Erde. Keine Gestalt hatte er, keinen Glanz, dass wir ihn gerne angeschaut hätten. Verachtet war er, von den Menschen nicht mehr als Mensch angesehen. Ein Mensch der Schmerzen war er, vertraut mit Krankheit, wie jemand, vor dem man sein Gesicht verbirgt, so verachtet war er, wir hielten ihn für nichts.
Dann schildern sie die jähe Erkenntnis, die sie später gewonnen haben, im Rückblick auf die Ereignisse. Er hat unsere Krankheiten getragen! Er hat unsere Schmerzen auf sich geladen! Wir hielten ihn für einen, den Gott geschlagen hatte – aber das stimmt nicht! Wegen unserer Vergehen war er durchbohrt. Er hat unser Schicksal auf sich genommen, damit es uns gut geht, damit wir Frieden finden.
Und dann singen sie davon, wie der Gottesknecht sich beugte wie ein Lamm, dass er seinen Mund nicht auftat, sich nicht wehrte. Dass er schändlich begraben wurde bei den Übeltätern. Und sie enden mit der unvermuteten Einsicht, dass Gott an ihm Gefallen hatte, an ihm, der von Krankheit geschlagen war, an ihm, der sein Leben zur Schuldtilgung einsetzte. Er wird Nachkommen haben und leben! Was dem Ewigen gefällt, wird durch die Hand des Knechtes gelingen!
Am Ende des Liedes ist wieder Gottes Stimme zu hören, der über seinen Knecht sagt: Er wird die Vielen gerecht machen, denn ihre Verschuldung lud er auf sich und er trat ein für die Übeltäter.
Was also tut er Gottesknecht?
Aktiv übernimmt er einen Weg, den andere hätten gehen sollen. Willentlich übernimmt er ein Schicksal, das andere hätten erleiden sollen. Er tritt für sie ein. Er übernimmt Verantwortung für ihre Taten. Er trägt die Konsequenzen – damit sie verschont bleiben. Es ist ihm gelungen!
Er ist Knecht. Er ist kein strahlender Held. Er ist kein Opfer, das Gott verlangt. Freiwillig übernimmt er für andere Haftung und Verantwortung, um Böses von ihnen abzuwenden.
Diese anderen erkennen das schließlich voller Ergriffenheit. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe! Welch ein großes Geschenk ist es, dass der Gottesknecht für uns einsteht und uns geholfen hat, dass er unser Leiden übernommen, unsere Verantwortung getragen hat.
Jener Knecht war dazu bereit, an die Stelle der anderen zu treten. Das ist ein unglaubliches Geheimnis. Es erinnert uns an das Wort Jesu im Johannesevangelium: Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für die Freunde.“ (15,13)
Liebe Gemeinde,
davon leben wir.
Mehr als von vielen anderen Gütern leben wir davon, dass jemand, wenn es darauf ankommt, zu uns hält. Dass jemand ganz konkret hilft.
Wo haben wir das schon erlebt?
Wir werden an manche Menschen denken, denen wir viel verdanken.
Wir werden an die denken, die für ihre Mitmenschen voll und ganz eingestanden sind im Laufe der Geschichte. Voller Respekt sei hier erinnert an viele Märtyrer, die tatsächlich ihr Leben gegeben haben, wie Martin Luther King, Oscar Romero, Mahatma Gandhi, Maximilian Kolbe, Janusz Korczak, Dietrich Bonhoeffer und viele andere.
Und ich möchte auch an all die vielen „kleinen Leute“ erinnern, die nicht berühmt wurden und werden: die Feuerwehrmänner in den Twin Towers am 11.9.2001, die vielen das Leben retteten und selber umkamen. Die Lehrerin, die sich beim Amoklauf vor ihre Schüler stellte und erschossen wurde, die Ehefrau, die keine Mühe scheut, ihren todkranken Mann zuhause zu pflegen bis er stirbt, die Tochter, die ihre demenzkranke Mutter versorgt und seit Jahren auf viele eigene Bedürfnisse in ihrer Lebensgestaltung verzichtet, den Bruder, der seinem arbeitslos gewordenen Bruder einfach mal eine größere Rechnung bezahlt ohne Rückforderung, die jungen Freiwilligen, die jedes Jahr in die armen Länder der Erde reisen, um mit den Menschen dort ihr Leben zu teilen und sich einzusetzen. Und viele mehr.
Davon lebt unsere Familie, unsere Gesellschaft, unsere weltweite Gemeinschaft, dass Menschen selbstlos füreinander einstehen, dass sie Verantwortung füreinander übernehmen, die Lasten der anderen tragen.
Wenn Menschen so etwas tun, gefällt das Gott. Ein Mensch, der so handelt, setzt sich voll und ganz für die Sache Gottes ein. Und wenn er noch so von anderen verachtet und ausgelacht wird. Er ist ein Mensch Gottes. Er ist einer, der wirklich lebt, weil er voller Liebe zu seinem Nächsten handelt. Weil er in tiefer Verbundenheit mit anderen diesen Leben ermöglicht hat. Gott steht zu ihm. Gott anerkennt ihn. Gott lobt ihn. So singt es das alte Lied. Gott rehabilitiert ihn.
So können wir auch Jesus sehen. Er hatte eingewilligt in diesen Weg. Er war ein leidender Gerechter, der dieses Leid für andere auf sich genommen hat – im tiefsten Gottvertrauen – und in der Erwartung, dass er zur Rechten Gottes sitzen würde und von dort wieder kommen würde, um Gerechtigkeit herzustellen.
Liebe Gemeinde, worunter oder mit wem auch immer wir leiden – wir können den Blick des Gekreuzigten suchen und seine ausgebreiteten Arme sehen, die uns sagen: ich sehe dich. Ich leide mit dir und für dich. Ich kenne deinen Schmerz und ich bin dir verbunden. Du bist in meiner Liebe und Gott wird am Ende alles gut machen. Und wenn du willst und kannst, dann lass auch du dich in Dienst nehmen von Gott und setze dich für andere ein ohne Furcht. Denn du hast Anteil an meinem Weg und auch dein Leben ist in Gott geborgen.
Amen.
Viele Gedanken zum Verständnis des Gottesknechtes verdanke ich der Predigtmeditation von Klaus Müller, Karfreitag: Jes (52,13-15) 53,1-12, Gottes Knecht – gelebte Solidarität bis zum Tode, erschienen in: Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext, Zur Perikopenreihe VI, Herausgegeben von Studium in Israel e.V., Wernsbach 2007, S.146-151.
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Predigt zu Jesaja 54,7-10 von Ralph Hochschild
“Rühmt Euch! Aus Eurer Gemeinde wird etwas werden! Freut Euch! Investiert, schafft euch Räume, breitet Euch aus! Fürchtet Euch nicht! Die Leute werden Euch achten und respektieren!”
Das klingt jetzt befremdlich in unseren Ohren, liebe Gemeindeglieder, und sogar ein wenig peinlich. “Sich rühmen” - das passt nicht zu unserem Selbstverständnis. Wir rühmen uns nicht. Eher gehen wir ab und an mit dem unguten Gefühl in den Gottesdienst, dass mit unserer Kirche nicht mehr viel Staat zu machen sei. Es plagt uns, dass wir nicht investieren können, sondern darum kämpfen müssen, Gebäude und Arbeitsfelder zu erhalten. Die Jüngeren unter uns spüren, wie sie für ihren Glauben nicht selbstverständlich geachtet werden, sondern im Freundeskreis begründen müssen, warum sie “noch” in unserer Kirche sind, manche Konfirmanden, warum sie sich in den nächsten Wochen konfirmieren lassen.
“Rühmt euch! Freut Euch! Fürchtet Euch nicht!”
Noch befremdlicher klingt das in den Ohren der ersten Hörer. Sie sind aus ihrem Land vertrieben. Sie sind im Exil in Babylon. Sie sind am Boden. Kein Staat mehr da und kein Staat zu machen mit Israel. Der Tempel in Jerusalem zerstört, ein erkennbarer, verlässlicher, zentraler Raum für ihr geistliches Leben fehlt. Statt geachteter Bürgerinnen und Bürger sind sie Deportierte, abhängig von den Launen ihrer neuen Herren, verstört auf der Suche nach einem neuen Leben, irritiert in ihrem Glauben. Und doch ruft ihnen der Prophet zu:
“Rühmt euch! Freut Euch! Fürchtet Euch nicht!”
Es ist kein verzweifelter Pfiff im Wald. Es ist mehr als ein haltloser Appell und für uns mehr als eine euphorische Unterbrechung der Passionszeit. Das werden wir sehen. Denn wir lesen jetzt die direkt anschließenden Worte des Propheten aus dem zweiten Teil des Buches Jesaja, im 54. Kapitel die Verse 7 bis 10.
“7Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. 8Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.
9Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will. 10 Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.”
Herr, segne unser Reden und Hören. Amen.
Liebe Gemeinde,
I. “Rühmt Euch! Freut Euch! Fürchtet Euch nicht!” - Denn: “7Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. 8Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.
Es sind scharfe Kontraste, die hier einander gegenüberstehen: da “verlassen” - hier “sammeln”, dort “das Angesicht verbergen” - hier “erbarmen”, da “nur ein Augenblick” und hier die “Ewigkeit”, dort der “Zorn” und hier die “Gnade”.
Diese Kontraste spiegeln die Widersprüche zwischen dem Erleben dieser entwurzelten Menschen und dem Propheten, der diesen traumatischen Erlebnissen eine ganz andere Deutung gibt. Da steht das Vergangene, hier steht die neue Zeit. Da steht der Schmerz über den Verlust der Heimat, der geistlichen Mitte, da steht die Orientierungslosigkeit und wohl auch materielle Not, hier dagegen das intuitive Wissen, dass dieses babylonische Exil nur eine Episode, fast nur ein Ausrutscher, eigentlich nur ein Augenblick in der langen Geschichte des Gottesvolkes mit seinem Gott ist.
Aber wie lange kann so ein Augenblick dauern? Wie quälend kann es für Menschen sein, wenn sie den Eindruck haben, Gott habe sie in ihrer Not verlassen? Wie entmutigt fühlen wir uns, wenn Gott sein Angesicht verbirgt, nicht ansprechbar für unsere Bitten, für unser Klagen scheint?
Es kommt mir vor, als forderte der Prophet von seinen Zuhörern den Mut zum Unwahrscheinlichen, das Wagnis, schon jetzt mitten im Leiden das Neue zu sehen, jetzt die neu erwachte Liebe Gottes im eigenen verpfuschten Leben zu spüren. Und darauf zu hoffen, dass sich einmal im Rückblick die Zeit der Not als kleiner Augenblick erweist. Wie in der Geschichte von jenem Mann, der erzählt: “Das letzte Lebensjahr meines Vaters war furchtbar. Ich war am Rande meiner Kräfte und wusste oft nicht weiter. Was ihm in seinem Leben etwas bedeutet hatte, das hatte ihm die Demenz Schritt für Schritt genommen. Er war nicht mehr er selbst, nicht mehr der, der er immer gewesen war. Orientierung und Selbstkontrolle waren ihm entglitten.
Aber wenn ich heute auf dieses schlimme Jahr zurückblicke, dann denke ich auch an die vielen glücklichen Jahre, die ich mit ihm als Kind gelebt habe. Wie mir mein Vater die Welt gezeigt und erschlossen hat, wie er mir Vorbild war und meinen ganzen Lebensweg mit so viel Liebe begleitet hat. Da ist dieses schlimme Jahr doch nur ein kurzer Abschnitt gewesen im Vergleich zu der langen, schönen Zeit, die wir miteinander in größerer Nähe und weiterem Abstand miteinander geteilt haben.”
Es stärkt uns, wenn Menschen von solchen Erfahrungen erzählen. Sie ermutigen uns, in den schwierigen Zeiten unseres Lebens doch mit Gott zu rechnen, darauf zu hoffen, dass auch uns eine bedrückende Gegenwart einmal nur als Augenblick erscheinen könnte. Der Prophet fügt noch eine biblische Erfahrung hinzu:
II. “Rühmt Euch! Freut Euch! Fürchtet Euch nicht!” - Denn: “9Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will.”
Wir reden nicht gerne vom zornigen Gott. Der Gedanke ist uns unangenehm. Einige spüren hier die destruktiven Kräfte, die jeder Glaube, auch ein religiöser, auch der christliche, haben kann. Manche erinnern sich vielleicht daran, wie Ihnen Angst vor Gott gemacht wurde, um sie zu disziplinieren. Uns gefällt die Vorstellung eines zornigen Gottes nicht, der sich von Menschen enttäuschen lässt. Ein Gott, der nicht mehr souverän ist, der die Kontrolle über sich verliert und “eine Flut von Wut”, wie man das hebräische Wortspiel hier nachahmen könnte, über die Menschen ergießt. Und doch machen Menschen solche Erfahrungen mit Gott, erklären Menschen ihr Scheitern mit dem Zorne Gottes.
Die Sintflutgeschichte, an die der Prophet uns hier mit dem Namen Noahs erinnert, verschweigt die Erfahrung des zornigen Gottes nicht. Aber sie gibt dieser Erfahrung eine grundlegende Wendung. Viel wichtiger als Gottes Zorn ist das Versprechen, das Gott in dieser Geschichte gibt: dass er sich selbst eine Grenze setzt. Dass er seinem Zorn eine Grenze setzt. Dass er einen Schwur leistet: “Ich will meine Versprechen niemals brechen.” Nicht den Bund mit Noah für die ganze Welt, nicht den Bund mit Israel, dessen Verheißungen bleiben, nicht den neuen Bund, den er durch Jesus Christus mit uns gestiftet hat. Indem Gott seinem Zorn eine Grenze setzt, verspricht er zugleich, dass er Schuld vergeben wird, Gnade schenken wird, neue Anfänge, neues Leben immer wieder möglich machen wird - auch für uns, so wie wir sind. Deshalb:
III. “10Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.”
Wir haben die tröstende Kraft dieses Bibelwortes erfahren. Viele Menschen hat es in tragischen Momenten mehr getröstet, als es jedes andere Wort gekonnt hätte. Hier hat der Prophet uns sein poetisches Talent, das Bibelwort seine große Kraft, Gott sein Treue gezeigt. Mögen Berge herabstürzen, Hügel wanken, Hoffnungen erschüttert werden, Lebensträume zerbrechen, Lebensentwürfe scheitern - Gottes Gnade und sein Friedensbund bleiben. Die Beziehung Gottes zu seinen Menschen bleibt intakt.
“Rühmt Euch! Freut Euch! Fürchtet Euch nicht!”
Lesen wir das Wort zusammen mit der Einleitung, die der Prophet diesem ganzen Abschnitt gegeben hat, so weitet sich unser Blick. Das Trostwort wird zu einem Impuls, das ganze Leben mit Höhen und Tiefen im Licht von Gottes Gnade, gehalten in seinem Friedensbund, zu begreifen. Darum rühmt euch des Gottes, der mit seiner Gnade bei uns bleibt, freut euch auch im Leide und fürchtet Euch nicht!
Liebe Gemeinde,
“Freut Euch mit Jerusalem” heißt der Leitvers für unseren heutigen Sonntag Lätare, “Freut euch”. Vielleicht liegt im Mit-Freuen mit Jerusalem das Geheimnis dieses Sonntags für uns Christen, in der Mitte der Passionszeit. Denn ich glaube aus dem Mit-Freuen mit Jerusalem wird ein Mit-Hoffen mit dem Gottesvolk erwachsen und der Mut, auf das zu vertrauen, was uns manchmal als das Unwahrscheinliche erscheinen mag - Gottes Treue. Amen.
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So soll es nicht mehr sein! - Predigt zu Jesaja 54,7-10 von Peter Haigis
„So soll es nicht mehr sein!“
Liebe Gemeinde,
„Wo ist Gott?“ – so fragen Menschen, wenn das Leben Wunden schlägt. Da stirbt ein geliebter Mensch und der Partner oder die Partnerin steht plötzlich leer und verloren da. „Es ist kalt geworden in meiner Wohnung“, sagt mir jemand, „kalt auch in meinem Leben.“ Da bringt ein unvermuteter Unfall die gewohnten Abläufe durcheinander; da wendet eine Krankheitsdiagnose alle Zuversicht und endet gemeinsam geschmiedete Pläne; da schneidet der Tod hart und grausam ins Leben…
Nach Beispielen für derlei Erfahrungen müssen wir nicht lange suchen. Und immer fehlen die Worte, das Unfassbare zu benennen. Es fehlt der hoffnungsvolle Blick nach vorne. Es fehlt das Gefühl, im Leben zuhause sein zu dürfen. Im Gegenteil: Die Hütte des Lebens bekommt Risse, bekommt einen Schlag, ist einsturzgefährdet.
„Wo ist Gott?“, fragen Menschen in solchen Situationen oder auch: „Warum ich?“ So fragen wir im Angesicht des Leids, das uns selbst widerfährt oder dessen unmittelbare Zeugen wir werden. Es sind Fragen, die zum Ausdruck bringen, dass man sich hinauskatapultiert fühlt aus dem Leben und ungeborgen, unbehaust geworden ist. Und es sind Fragen, auf die es keine Antwort gibt – jedenfalls keine Antwort, die einfach so zu formulieren wäre wie die Frage selbst. Die möglichen Antworten auf diese Fragen können nur im und mit dem Leben selbst gegeben werden. Sie stellen sich ein, werden formuliert und gewonnen im Laufe eines lange währenden Prozesses, für den es viel Geduld braucht und der auch kein geradliniger Weg ist, sondern bei dem es ein Hin und Her, ein Auf und Aber, ein Vor und Zurück gibt.
Im Angesicht solcher Fragen, die sich mangels anderer Worte aufdrängen, ist es deshalb entscheidend, ob am Ende der Frage ein bloßes Fragezeichen steht, oder gar mehrere, oder ob es einen Doppelpunkt gibt, der über die Frage hinaus führt und hinein, ja zurück ins Leben.
Die Frage „Wo ist Gott?“ wurde und wird nicht nur im Blick auf individuelle Schicksalserfahrungen gestellt. Sie ist immer wieder auch Ausdruck für die Erfahrung einer Gruppe von Menschen, einer Sozialgemeinschaft, einer Generation. Die Älteren unter uns, die noch lebendige Erinnerungen an die Jahre des letzten Krieges oder an die unmittelbare Nachkriegszeit haben, werden sich daran erinnern, wie die Frage nach der Gegenwart Gottes Ausdruck für das Lebensgefühl einer Volks- und Schicksalsgemeinschaft geworden ist. Die ängstigenden Bombennächte in den Schutzbunkern oder die kargen Hungerwinter in den Ruinen drängten vielen diese Fragen auf: „Wo ist Gott?“ oder auch: „Warum müssen wir dies erleben?“
Von einer solchen schicksalhaften und niederschmetternden Erfahrung einer ganzen Volksgemeinschaft sprechen auch die Worte, die der Prophet Jesaja hier im Namen Gottes hörbar macht. Indirekt sprechen sie davon, rühren diese Erfahrungen noch einmal auf. Die Zeiten des Krieges, der Eroberung und Verschleppung sind vorüber, lange vorüber. Doch die Erinnerung daran sitzt noch in den Knochen. Da war das Gefühl, von Gott verlassen zu sein, übermächtig und die Empfindung, Gott habe sein Angesicht verborgen, stark.
Aber nun ist dies alles vorbei, ist Vergangenheit – und der Prophet wendet den Blick im Namen Gottes in eine neue Zukunft. Er malt den zerschlagenen Volks- und Leidensgenossen ein strahlendes Bild von Gottes neuer Zukunft vor Augen. Aus der drückenden Perspektive ihrer Leiderfahrungen heraus sollen Menschen wieder auf- und nach vorne schauen können. Sie sollen aufatmen dürfen. Ihre verletzten und geschundenen Seelen sollen Beruhigung, Zuversicht, ja Heilung erfahren.
Wie gesagt, dies ist ein Weg im Leben, manchmal sogar ein besonders langer und mühsamer. Man kann eigentlich wenig über ihn sprechen, jedenfalls nicht im Rahmen einer Predigt. Es ist ein therapeutischer Weg, ein Weg, der Begleitung erfordert, sicher auch Worte, die trösten und ermutigen, vor allem aber, Hände, die einen wohltuend berühren und stützen, oder einfach auch nur Ohren, die offen sind für all die Klagen, und die zuhören, lange geduldig zuhören. Solch ein Weg zurück ins Leben braucht Zuspruch und viel spürbare Gegenwart von anderen Menschen, die einfach nur da und nahe sind.
Aber über etwas anderes kann und muss gesprochen werden in dieser Predigt über Jesajas tröstende und aufmunternde Worte, die er im Auftrag Gottes seinem Volk übermittelt: Ist die Abwesenheit Gottes, die da so bitter erfahrbar war, ein Gefühl, eine Empfindung in mir – oder ist sie eine Tatsache? Hat sich Gott wirklich abgewandt und verborgen oder habe ich / haben wir dies „nur“ so empfunden? Und wenn ja: Welchen Grund hatte Gott, sich von mir / von uns abzuwenden? Warum hat er sich verborgen, sich aus meinem Leben zurückgezogen?
Die Worte, die Jesaja im Namen Gottes wieder- und weitergibt, sprechen in der Tat davon, dass es Gottes Abwesenheit im Leben von Menschen gibt. Dass Gott sich also von uns Menschen zurückzieht, sich verborgen hält, sich gerade nicht von ihnen finden lassen will und sie nicht hört: „Ich habe dich verlassen“, „ich habe mein Angesicht vor dir verborgen“. Das ist nicht nur ein Gefühl, es ist hier eine Tatsache, die ihren Grund im Handeln Gottes selbst hat.
Nimmt man diese Worte ernst, dann geht die Geschichte eben nicht aus wie in jenem anrührenden Bild von den Spuren im Sand. Dann ist es nicht nur ein Wahrnehmungsproblem, dass wir in schweren Zeiten des Lebens Gottes Spuren neben uns nicht mehr gesehen haben bzw. seine Spuren in den Zeiten, in denen er uns getragen hat, nur einfach nicht erkannt haben. Dann gibt es kein tröstliches Aufatmen am Ende. Sondern es ist wirklich so: „Ja, ich, Gott, habe dich verlassen; hier und da war ich nicht anwesend, habe dich nicht begleitet.“
Aber ist das Gott, so wie wir ihn kennen gelernt haben und auf ihn vertrauen? Müssen wir dies und müssen wir so an ihn glauben, dass es eben auch Zeiten seiner Abwesenheit und Verborgenheit in unserem Leben gibt? Zeiten, in denen er sich fernhält, ganz bewusst fernhält?
Da ist es ein kleiner Trost zu wissen, dass die Zeiten seiner Gnade und seines Erbarmens größer sein sollen als die Zeiten seiner Abwesenheit und Verborgenheit. So kann das Leben doch nicht ausgehen: wie eine Bilanz, die uns aufzeigt, wie viele Male Gott uns im Leben nahe und wie viele Male er uns ferne war!
Jesajas Worte sprechen aber nicht nur von Gottes tatsächlicher Abwesenheit, sie nennen auch einen Grund hierfür: in seinem Zorn hat sich Gott von den Menschen abgewandt und sich verborgen gehalten. Mit dieser Stimme ist Jesaja nicht allein. Viele andere Stellen der Bibel führen den Zorn Gottes als Grund für seine Verborgenheit ins Feld. Da ist es dann mit der Gnade und dem Erbarmen vorbei – und Menschen bekommen eine frostige und dunkle Seite Gottes zu spüren. Psalmen sprechen von dieser Erfahrung bzw. bitten darum, Gott möge sich nicht in seinem Grimm und Zorn offenbaren.
Immer wieder waren der Zorn Gottes und die Schuld des Menschen ein Erklärungsmodell für erfahrenes Leid. Die Frage „Warum ich?“ sollte die Antwort erhalten: „Weil du dir dies oder jenes hast zu Schulden kommen lassen und nun dafür büßen musst.“ Die Frage „Wo ist Gott?“ sollte die Antwort erhalten: „Er hat sich von dir abgewandt in seinem Zorn.“
Ob solche Antworten im Prozess der Bewältigung von Leid wirklich hilfreich sind, darf man fragen. Ob auf diese Weise mit dem erfahrenen Leiden besser umzugehen ist, wenn man zudem auch noch eine mögliche Schuld zu bearbeiten und zu bewältigen hat – ich bezweifle es. Und meine Zweifel rühren nicht nur aus einem Unbehagen über einen derart gnadenlosen Gott, der uns Leid zufügt, damit wir uns unserer Schuld stellen bzw. der sich aus Zorn weigert, uns auf dem Weg der Bewältigung von Leid und Schuld zu begleiten. Meine Zweifel haben ihren Grund in den Worten Jesajas selbst. Denn Jesaja kündigt hier im Namen Gottes eine grundstürzende Wende an. Sie steht unter der Generalüberschrift: „So soll es nicht mehr sein!“
Um seinen Wort Nachdruck zu verleihen, verweist Jesaja im Namen Gottes auf die Sintflutgeschichte: Zu Zeiten Noahs, in grauer Vorzeit also, da mag es so gewesen sein. Da gingen die Wasser über die Erde und vertilgten alles Leben auf ihr – aus Gründen des Zornes Gottes, wie uns die Geschichte erzählt. Doch dann schwor Gott, solches Unheil nicht mehr über die Erde zu bringen, und der Regenbogen sollte die Menschen an dieses Gelöbnis Gottes erinnern.
Zu Zeiten dieses Jesajas, der hier vor seinen von Kriegserfahrungen und Gefangenschaft gedemütigten Volksgenossen auftritt, kündigt sich nun eine ähnliche Wende in Gott selbst an und ein ähnliches Versprechen: „Mit meinem Zorn ist es vorbei“, sagt Gott. „Mit ihm brauchst du nicht mehr zu rechnen.“ Zum Zeichen für das Ende des Zornes Gottes mit seinem Volk richtet sich der Blick auf die Festigkeit und Unerschütterlichkeit der Berge. Sicher, da mag es noch manches Grollen geben, aber sie werden eher in sich zusammenstürzen als Gottes Gnadenbund.
Und heute? Heute leben wir in den Zeiten nach Noah und nach Jesaja. Heute gilt dies für uns: Wir sollen uns an Gottes Erbarmen und an seine Gnade halten. In Erfahrungen des Leids sollen wir nicht mit Gottes Zorn rechnen und uns das Hirn über mögliche Schuld und Strafe zermartern. Das bedeutet nicht, dass die Schuld klein geredet wird. Es bedeutet nur, dass es mit der unseligen Verquickung von Schuld und Leid ein Ende hat, ein definitives Ende: So soll es nicht mehr sein! Sondern so: Wo wir Schuld in unserem Leben erkennen, da sollen wir sie im Vertrauen auf Gottes Vergebung bekennen. Und wo uns das Leiden trifft, da sollen wir im Vertrauen auf Gottes Kraft diesen schweren Weg annehmen und ihn gehen. In aller Geduld und in aller Gewissheit um Gottes Nähe, die so unverbrüchlich ist wie die Gestalt der Berge, ja, noch unerschütterlicher. Amen.
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Freude am Neuanfang - Predigt zu Jesaja 54,7-10 von Dorothee Kolnsberg
Freude am Neuanfang
Liebe Brüder und Schwestern,
ich denke mal, Sie kennen das auch! Ich meine Situationen, in denen wir nicht so reagieren, wie es angemessen wäre. Situationen, in denen Emotionen im Spiel sind und dadurch aus Kleinigkeiten auch mal Elefanten werden. Menschen erleben das in der Familie, in Partnerschaften und Freundschaften, in der Schule, bei der Arbeit und im öffentlichen Leben.
Ich erzähle Ihnen eine Begebenheit aus der Straßenbahn: Schon längere Zeit ist die Luft angespannt. Eine Frau guckt stur geradeaus. Eine ältere Frau hält sich konzentriert am Rollator fest. Sie redet auf ihren grauhaarigen Ehemann ein, der ebenfalls nicht mehr ganz rüstig ist: „Das ist doch kein Benehmen!“, schimpft sie vor sich hin. „Die jungen Leute meinen, die könnten sich alles erlauben.“ Die Luft ist zum Schneiden. Dann, beim Aussteigen kommt es zum Gerangel. Die ältere Frau mit dem Rollator fährt der jüngeren vor lauter Wut von hinten gegen die Beine. Die jüngere Frau dreht sich sofort um und wehrt sich. „Jetzt geht`s aber los! Was soll das denn? Sie sind mir gegen die Beine gefahren!“ – „Bin ich nicht!“ entgegnet die ältere. „Sind sie wohl. Jetzt lügen Sie auch noch!“ „Bin ich nicht!“
Auf dem Bahnsteig geht es weiter. Lautstark erheben die Frauen Vorwürfe gegeneinander. „Ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen so schlecht geht wie mir, wenn sie alt sind!“ ruft die ältere Frau heraus. Auch der Mann versucht nun, seine Frau zu verteidigen. Der Konflikt endet erst, als ein Jugendlicher darauf aufmerksam macht, dass sich viele an der Haltestelle von den Streithähnen (bzw. Streithennen!) gestört fühlen. Immer noch vor sich hin kochend, geht die jüngere Frau schließlich ein paar Schritte zur Seite. Was ursprünglich der Anlass für den Streit war, ist nicht mehr auszumachen.
Von außen betrachtet scheint es ganz einfach: Der Streit führt zu nichts, getrennte Wege zu gehen wäre angesagt. Aber für die Personen selbst? Alles andere als einfach. Es ist ein Beispiel für die vielen Momente, in denen Menschen sich nicht so verhalten, wie es vielleicht angebracht wäre, vernunftgeleitet, freundlich, höflich, verständnisvoll, besonnen.
Ein Beispiel dafür, dass Menschen nicht perfekt sind, sondern Fehler machen.
So beten wir im Vaterunser: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Denn das Ziel ist, dass Menschen miteinander gut auskommen: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Damit ist gesagt: es kommt immer wieder vor, dass Menschen aneinander schuldig werden. Aber wichtig ist, dass diese Dinge angesprochen werden. Dass sie nicht hinuntergeschluckt oder unter den Teppich gekehrt werden. Wer aber sagt: „Ich habe einen Fehler gemacht, es tut mir leid“, zu dem kann sein Gegenüber sagen: „Ist in Ordnung, nicht weiter schlimm.“ – „… wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“
Ein Zeitsprung zurück nach Babylon vor rund 2 500 Jahren. Die Israeliten sind verschleppt worden und leben im Exil. Ihr großer Traum: die Rückkehr in die Heimat, nach Jerusalem. Dort, in Babylon fühlen sie sich weit entfernt von Gott. Für sie ist Jerusalem ihre Heimat und die Heimat Gottes zugleich. Dort fühlen sie sich Gott nahe. Jetzt kommt es ihnen so vor, als ob sie von allem abgeschnitten wären. So erlebt es der Prophet Jesaja im heutigen Predigttext. Er hört Gott sagen:
„Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln.
Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.“ (Jesaja 54,7-8)
Das Gefühl der Verlassenheit und Gottesferne deuten die Israeliten so, dass Gott sie strafen will. Sie können es sich nicht anders erklären, als dass sie für ihr Tun selbst verantwortlich sind. All ihre Fehler haben nun zur Folge, dass es ihnen schlecht geht. Gott hat sie verlassen, er ist nicht mehr auf ihrer Seite.
Auch Menschen heute kommt es manchmal so vor, als ob Gott verschwunden wäre. Wo ist Gott? fragt die Frau, die an Krebs erkrankt ist.
Wo ist Gott? fragt der Mann, der noch nie so recht geglaubt hat.
Wo ist Gott? fragt der Mann, der von seiner Frau verlassen wurde.
Wenn es nicht glatt läuft – wenn Menschen sich Sorgen machen, oder Probleme im Beruf haben, dann kommt häufig die Frage auf: Wo ist Gott jetzt?
In der Leidensgeschichte Jesu hören wir übrigens auch davon. Jesus selbst ist von Gott verlassen. Er schreit es laut am Kreuz heraus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Auch von den Jüngern wird Jesus verlassen, so haben wir es in der Schriftlesung gehört.[1] Jesus bittet sie, mit ihm wach zu bleiben und zu beten. Aber sie schlafen ein. In dieser Stunde hat Jesus große Angst. Er hätte es so sehr gebraucht, dass jemand ihn an die Hand nimmt und ihn tröstet. Oder zumindest: Dass die Jünger mit ihm leiden. Aber nein: sie schlafen ein. Jesus ist von Gott und den Menschen verlassen. Er wird von Judas verraten und nach der Gefangennahme fliehen die Jünger.
Verlassen – so fühlen sich die Israeliten. Schauen wir, wie sie Hoffnung finden: Sie finden neuen Mut in der Erinnerung, in dem, was Menschen vorher bereits mit Gott erlebt hatten. Gott erinnert sie daran:
„Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will.“ (Jesaja 54,9)
Wie als Beweis erinnert Gott in den Worten des Propheten an frühere Zeiten, an die Sintflutgeschichte. Sie lässt sich wie eine Versöhnungsgeschichte lesen. Gott lässt es regnen, und er vernichtet damit Menschen und Tiere. Nur die Menschen und Tiere, die sich mit Noah auf die Arche gerettet haben, überleben. Diese Katastrophe verstehen die Israeliten als Zorn und Strafe Gottes: „Als aber der HERR sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden.“ (1. Mose 7,5)
Doch nach der Sintflut erneuert Gott die Gemeinschaft mit den Menschen. Er verspricht, dass dies nicht mehr passieren wird. Als Zeichen dafür setzt er den Regenbogen in die Wolken. Ein Zeichen der Versöhnung mit den Menschen. Daran können wir uns erinnern, bei jedem Regenbogen, den wir sehen. Gott zeigt: ich will mit euch sein. Nach der Sintflut entsteht neues Leben, und neue Hoffnung. Ich denke an die Taube, die mit einem grünen Zweig zur Arche zurückkehrt. Die Gefahr ist vorüber. Und Noah dankt Gott für die Bewahrung. Von nun an soll nichts mehr zwischen Gott und den Menschen stehen. Das sagt Gott im heutigen Predigttext folgendermaßen:
„Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“ (Jesaja 54,10)
Dies ist ein beliebter Bibelvers bei Konfirmationen und auch bei Taufen. Er ist als Trost zu lesen in Zeiten, in denen es sich anfühlt, wie von Gott verlassen zu sein. Gott setzt dagegen: „Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen.“ Alles kann ins Wanken geraten. Die Welt mag erschüttert werden, aber ich bin bei dir. Was immer Du für Fehlern begehst, ich werde immer zu dir halten. Oder wie Paulus schreibt: „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ (Römer 8,38-39)
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, stellt euch vor: ist es nicht ein schönes Bild, wenn bereits Babys bei der Taufe diese Worte zugesprochen bekommen. Sie müssen nichts dafür tun: Was auch immer passiert, Gott wird diesem kleinen Menschen immer wieder verzeihen. Und auch den größeren!
Das hat Folgen, liebe Gemeinde. Wenn ich mir sicher bin, dass ich geliebt bin, und dass nichts mich von dieser Liebe trennen kann, dann werde ich selbst zum Liebenden. Ich werde frei, mich entsprechend zu verhalten und, wenn es angebracht ist, zu sagen: „Entschuldige bitte.“
Wenn der Ärger sich ein wenig gelegt hat, könnte die ältere Frau aus der Anfangsgeschichte gesagt haben: „Ich bin neidisch, dass ich nicht mehr so jung bin wie Sie. Entschuldigen Sie bitte, dass ich Ihnen wehgetan habe vor lauter Wut.“ Die jüngere Frau könnte auch sagen: „Sie haben mich ganz schön ausgeschimpft. Ich sehe aber, dass es ihnen nicht gut geht. Das tut mir leid.“
Immer wieder gibt es im Leben diese Gelegenheiten zum Neuanfang, „denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“
Amen.
[1] Matthäus 26,30-56, nach der Württembergischen Reihe.
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Das Heulen des Feuermelders ernst nehmen… - Predigt zu Jesaja 58,1-9a von Marco Müller
Das Heulen des Feuermelders ernst nehmen…
Ich stand senkrecht im Bett! Ein verwirrter Blick auf den Radiowecker bestätigte: es war lange noch nicht Morgen! 2 Uhr 30! Auf dem Flur war der Feuermelder losgegangen. Ein selbst im Schlafzimmer durch Mark und Bein gehendes Heulen hatte mich aus dem Schlaf gerissen. Ich verlor keine Zeit, wühlte mich aus dem Bett, tapste hinaus auf den Flur und schaute zur Decke: Dort oben blinkte und heulte aufgeregt das Leben rettende Gerät. Von Feuer –– Gott sei Dank –– keine Spur. Kein Brandgeruch, nichts. Nur dieses Trommelfell zerschneidende Heulen… –– ‚Wie geht das wieder aus?‘ Ich stellte mich auf die vierte Stufe der Treppe und konnte gerade so mit dem Arm an die Zimmerdecke langen. Ein langer Druck auf den kleinen Taster sollte reichen, hatte ich seinerzeit in der Anleitung gelesen – aber nichts passierte, der Alarmton hielt an. Ich wurde unruhig. Die Nachbar, was würden die Nachbarn denken? Und hoffentlich wacht der Kleine nicht auf! Mein Gott, ich will schlafen! Es ist 2 Uhr 30! Also griff ich nach dem ganzen Gerät. Ein kräftiger Ruck – und ich hatte es samt Dübel aus der Decke gerissen. Ich zerrte die Batterie aus der Halterung… Das Geheul wurde leiser wie ein Plattenspieler, dem man den Stecker gezogen hat. Bis endlich Ruhe war. Gott sei Dank!
Ich lese aus dem Buch des Propheten Jesaja:
Rufe aus voller Kehle, halte nicht zurück!
Erhebe deine Stimme wie ein Horn und verkünde meinem Volk sein Vergehen; und dem Haus Jakob seine Sünden! Zwar befragen sie mich Tag für Tag, und es gefällt ihnen, meine Wege zu kennen. Wie eine Nation, die Gerechtigkeit übt und das Recht ihres Gottes nicht verlassen hat, fordern sie von mir gerechte Entscheidungen, haben Gefallen daran, Gott zu nahen.
– »Warum fasten wir, und du siehst es nicht? …demütigen uns, und du merkst es nicht?«
Siehe, am Tag eures Fastens geht ihr euren Geschäften nach und drängt alle eure Arbeiter. Siehe, zu Streit und Zank fastet ihr, und um mit gottloser Faust zu schlagen. Zurzeit fastet ihr nicht so, dass ihr eure Stimme in der Höhe zu Gehör brächtet. Ist ein Fasten, an dem ich Wohlgefallen habe, etwa wie dies: Ein Tag, an dem der Mensch sich demütigt? Seinen Kopf zu beugen wie eine Binse und sich in Sacktuch und Asche zu betten? Nennst du das ein Fasten und einen dem Herrn wohlgefälligen Tag?
Ist nicht vielmehr das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Ungerechte Fesseln zu lösen, die Knoten des Joches zu öffnen, gewalttätig Behandelte als Freie zu entlassen und dass ihr jedes Joch zerbrecht? Besteht es nicht darin, dein Brot dem Hungrigen zu brechen und dass du heimatlose Elende ins Haus führst? Wenn du einen Nackten siehst, dass du ihn bedeckst und dass du dich deinem Nächsten nicht entziehst?
Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell sprossen. Deine Gerechtigkeit wird vor dir herziehen, die Herrlichkeit des Herrn wird deine Nachhut sein. Dann wirst du rufen und der Herr wird antworten. Du wirst um Hilfe schreien, und er wird sagen: Hier bin ich![1]
»Erhebe deine Stimme wie ein Horn und verkünde…«
Liebe Gemeinde, es durchdringt Mark und Bein, was Jesaja den Menschen da zuruft. Es heult alarmierend. Ein irritierender, die Trommelfelle zerschneidender Ton liegt in der Luft – und lässt sich nicht einfach samt Dübel rausreißen.
Heute, am Sonntag Estomihi, sozusagen am Tor in die Fastenzeit, drei Tage vor Aschermittwoch, da höre ich diese Generalkritik am Fasten Israels mit offenen Ohren… Und ich will nicht der Versuchung erliegen, zu schnell einzustimmen in die Überschrift der Lutherbibel und vom „falschen und echten Fasten“ reden, so als wüsste ich es so viel besser. Das ist ja verführerisch!
Israel hält sich an Gott. Es sucht Tag für Tag seine Nähe. Es befragt ihn, ruft zu ihm, versucht in ihn zu dringen und seine Wege zu verstehen. Jesaja lässt keinen Zweifel daran: Israel ist orientiert. Es hat einen klaren Blick auf Gott, es ringt mit ihm, wie vielleicht nur Israel das kann. Ich habe keinen Grund an der Wahrhaftigkeit dieses Suchens zu zweifeln! Gerade deshalb klingt die Stimme Jesajas ja so schrill. Auch in meinen Ohren…
Auf geheimnisvolle Weise teilen wir womöglich die gleichen Perspektiven, die gleichen Fragen und Sehnsüchte; und erhoffen in gleicher Weise, dass da einer antwortet: Hier bin ich!
Sie blickt ängstlich auf die kleine Kerze, die sie für ihn angezündet hat. Vorsichtig drückt sie sie in den Sand der Schale neben dem Kreuz. Sie schließt die Augen. Ohne dass sie das geplant hat, finden ihre Hände zueinander. Sie ist es nicht gewohnt zu beten. Sie weiß auch nicht, wie sie anfangen soll. Und so horcht sie nur in die große Stille dieser Kirche. Und füllt sie aus mit ihrer Sehnsucht und ihren Fragen. Welches Beten könnte ehrlicher sein? „Warum, Gott? Warum lässt du all das zu? Ich habe solche Angst.“ Es sind mehr die Gefühle, die zu Worten werden als die Gedanken. So versucht sie in Gott zu dringen und seine Wege zu verstehen. Ganz wahrhaftig, ganz nah dran. Sie würde so gern hören: Hier bin ich, hab keine Angst!
Die Stimme Jesajas geht durch Mark und Bein. Sie stört die Ruhe, die ich vor Gott suche. Ich nenne es nicht immer Fasten, aber dieses Suchen nach innerer Ruhe Tag für Tag, dieses Gottesdienst-Feiern und gerade dort die Kraft für eine neue Woche tanken – das kenne ich doch auch. Und ich kenne auch die Sieben Wochen Ohne in der Passionszeit, die mich erden sollen; durch die ich manchen Überfluss hinter mir lassen will, um wieder konzentriert zu sein auf den, der die Fülle ist… Auch ich versuche mich Gott zu nahen; im Stammeln eines Gebets, indem ich meine Sehnsucht ernst nehme.
Auf geheimnisvolle Weise teilen wir womöglich Israels Perspektiven. Die Fragen und Sehnsüchte; und erhoffen, dass da einer auf all unsere Fragen antwortet: Hier bin ich!
Aber heute muss ich mir etwas gefallen lassen! »Erhebe deine Stimme wie ein Horn und verkündige…« Es ist, als käme einer und wollte uns die Brillen zurechtrücken. Nicht abreißen und wegwerfen – so höre ich das nicht; aber doch abnehmen, putzen und neu aufsetzen. Schaut, seht noch einmal hindurch: bleibt nicht allein bei Euch, höre ich. Als korrigierte mir einer die Perspektive. Das tut manchmal weh. Petrus wüsste Lieder davon zu singen, wie weh das tun kann, wenn einer dir neue Perspektiven zeigt: »…du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist«[2]
‘Ihr fastet und senkt die Köpfe; ihr faltet die Hände und verliert Euch im Gebet. Und überseht, was es doch zu sehen gäbe…‘ Plötzlich korrigiert einer meine Perspektive und ich beginne schärfer zu sehen. Womöglich Zusammenhänge, die ich gar nicht so scharf sehen wollte! Ich höre Worte von ungerechten Fesseln, von Unterjochten, von Misshandelten und Hungrigen, von Heimatlosen. Das ganze Elend dieser Welt wird aufgerufen und steigt vor mir empor. Bedrohlich und überwältigend und lässt mich erstarren. Wie sollte ich da nicht ohnmächtig in mir zusammensinken!?
Das „Schlimme“ ist: durch diese frisch geputzte Brille kommen Perspektiven in den Blick, die Zusammenhänge aufzeigen. »Am Tag Eures Fastens geht ihr euren Geschäften nach und drängt alle eure Arbeiter; …zu Streit und Zank fastet ihr; …um mit gottloser Faust zu schlagen.« Ich hänge mit drin! Ich bin Teil dieses Systems! Das zu erkennen, muten diese Worte mir zu! Die Bedrängten dieser Welt und ich – wir sind im Zahnrädersystem dieser Welt miteinander verbunden. Die leidenden Kreaturen und ich, da gibt es Beziehungen, die ich nicht wegdiskutieren kann! ‘…ihr fastet und macht ansonsten so weiter wie bisher…!‘
Es ist schräg, wenn ich in Tränen vor dem Fernseher sitze und das Leid der Hühner in den Fabrikhallen von Wiesenhof und Co beklage, während ich tags drauf die halben Broiler für 2 Euro 49 an der Imbissbude kaufe. Es ist schräg, fassungslos den Kopf zu schütteln, wenn davon berichtet wird, wie kleine Bauernfamilien in Lateinamerika auf den Koka-Anbau als lukrative Quelle setzen, während ich tags darauf zum günstigen Kaffee greife, durch den vernünftige Löhne systematisch verhindert werden. Es ist sogar schräg, auf die Waffengewalt korrupter Staatschafs zu schimpfen, während die deutschen Waffenexporte in alle Welt Jahr für Jahr Spitzenwerte toppen und so auch meinen Lebensstandard heben helfen. Ich hänge mit drin in den Strukturen der Ungerechtigkeit! Ich bin Teil dieses Systems – auch wenn ich mir das nie ausgesucht habe! Das tut weh.
Diese Perspektive muss sich mir gefallen lassen! Die Bedrängten und ich – wir sind im Zahnräderwerk dieser Welk verbunden. Die leidenden Kreaturen – sie existieren nicht unabhängig von mir…
Ich bin Leben, das Leben will. Inmitten von Leben, das leben will. Albert Schweitzers Kernsatz gilt genau hier. Und Jesaja erinnert: Alles hängt zusammen – die Fesseln, mit denen wir beizeiten unsere Blicke festhalten, um nicht zu weit hinter den Horizont zu gucken, sind nicht selten die Enden derselben Fesseln, die andere Menschen und Kreaturen binden… Das zu hören, tut weh. Es ist ein alarmierendes Heulen in meinen Ohren. Dabei wollte ich doch Ruhe finden. Wollte horchen, ob Gott antworten würde auf mein Suchen und Fragen… Ob er endlich Heil bringen würde für mich und die, für die ich bete… Stattdessen weckt er mich auf durch dieses heulende Signal: »Rufe aus voller Kehle, halte nicht zurück!«
Christus-Pavillon. Hannover im Jahr 2000. Ich war übers Expo-Gelände geschlendert. Und stand schließlich in jenem riesigen Kubus am Messeschnellweg. Hoch und klar, weit und offen. Und still. In diesen Gottesdienst-Raum trat ich und näherte mich langsam dem Altar. Plötzlich fiel mein Blick auf das Kreuz, ein Kruzifix. Jedenfalls in Teilen: Ein Torso hing dort. Christus am Kreuz, den Blick gesenkt, der Körper ausgemergelt, kraftlos. Eine Schnitzerei aus dem Mittelalter. Der Zahn der Zeit hatte an ihm genagt. Vielleicht auch die Holzwürmer. Ihm fehlten die Beine. Und die Hände. Gottes Sohn – der Füße beraubt, die ihn zu den Menschen tragen könnten; beraubt der Arme, nach deren Umarmung doch auch ich mich so oft sehne! ‚Hier bin ich.‘ Auch ich will das hören!
Geht hin in alle Welt, schoss mir durch den Kopf. Hier im Christus-Pavillon auf der Weltausstellung. Und plötzlich begann dieser Torso zu sprechen, zu sprechen durch das Werk der Holzwürmer: ‘Geht hin in alle Welt! Ihr seid meine Füße; ihr seid meine Hände. Durch Euch will ich wirken. Durch Euch soll es hell werden. Auch durch Euch. Stellt euer Licht nicht unter einen Scheffel.‘
Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell sprossen. Deine Gerechtigkeit wird vor dir herziehen…
Liebe Gemeinde, all das geschieht ja bereits. Daran glaube ich. All das ist ja längst auf dem Weg. Es gibt keinen Grund zusammenzubrechen vor der Größe dieser Aufgabe. Die Morgenröte ist ja schon zu sehen – immer wieder wird die Passionszeit vom Osterlicht durchbrochen. Heilung ereignet sich unter uns – manchmal in kleinen Zeichen, die alles auf den Kopf stellen. Und Gottes Gerechtigkeit geht doch längst vor uns her: sie stützt uns, wo wir fallen; sie hilft uns auf, wo wir scheitern; er sucht uns immer wieder, wo wir ihn vergessen haben.
Aber in all dem gilt es, nicht zu vergessen: Ihr werdet gebraucht! Ihr seid viele, ihr seid nicht allein – und auch auf Euch kommt es an! Ihr tragt Verantwortung, weil Gott euch das zutraut! Er baut auf Euch. Glaubt nicht die relativierenden Worte, dass all das egal sei. Traut nicht dem Kraft zehrenden Gefasel vom Tropfen auf den heißen Stein. Lasst Euch nicht irritieren von denen, die die Mitarbeit am Reich Gottes abqualifizieren. Von jenen, die sich Worte ausdenken, um zu diskreditieren: Gutmenschentum – als wäre daran etwas von Übel, das Gute zu suchen. Tugendterror[3] – als wäre es falsch, seinem Handeln hehre Ziele zu geben…
Ihr seid meine Füße; ihr seid meine Hände. Durch Euch will ich wirken. Geht hin in alle Welt, höre ich Christus sagen. Dieses Mal will ich das Heulen des Feuermelders nicht aus der Wand reißen. Denn es brennt ja tatsächlich. Riecht Ihr es nicht? Es gibt Zeiten, in denen ist es dran, sich neue Perspektiven zeigen zu lassen, bevor man wieder Ruhe finden darf. Da ist es dran, neue Wege zu gehen. Zu meinem Nächsten, zu denen, die gebeugt sind, die die Fesseln dieser Welt tragen. Diese Wege können sehr unterschiedlich aussehen… Ich spüre, wie ich Gottes Geistkraft brauche, um sie phantasievoll betreten zu können.
Noch immer sitzt sie vor der kleinen Kerze in der Kirche. „Warum, Gott? Warum lässt du all das zu? Ich habe solche Angst.“ Sie versucht ruhig zu werden. Hier in der Kirche klappt das ganz gut. Sie würde so gern hören: Hier bin ich, hab keine Angst! Als sie gerade aufstehen will, um zu gehen, legte eine alte Frau ihr die Hand auf die Schulter – phantasievoll auf dem Weg zu jemandem, der Fesseln trägt. Und sie flüstert ihr etwas ins Ohr: „Hab keine Angst, spricht Gott, ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.“
AMEN.
[1] Jes 58,1-19a in der Elberfelder Übersetzung nach der Revision von 2006.
[2] Evangelium des Sonntags: Mk 8,31-38.
[3] Vgl. Thilo Sarrazin, Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland, 2014.
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Predigt zu Jesaja 58,1 – 9a von Karin Klement
(1) So spricht GOTT zum Propheten:
Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit. Und dem Hause Jakob seine Sünden!
(2) Sie suchen mich täglich. Und begehren, meine Wege zu wissen. Als wären sie ein Volk, das die GERECHTIGKEIT schon getan und das RECHT seines Gottes nicht verlassen hätte.
Sie fordern von mir RECHT; sie begehren, dass Gott sich nahe.
(3) „Warum fasten wir, und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib, und du willst es nicht wissen?“
SIEHE, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach. Und bedrückt alle eure Arbeiter. (4) SIEHE, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr. Und schlagt mit gottloser Faust drein.
Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.
(5) Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit: Wenn ein Mensch seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet?
Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem Gott Wohlgefallen hat?
(6) Andersherum ist das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe:
Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast!
Lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast!
Gib frei, die du bedrückst; reiß jedes Joch weg!
(7) - Brich dem Hungrigen dein Brot,
und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!
Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn,
und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
(8) Dann wird dein LICHT hervorbrechen wie die MORGENRÖTE. Und deine HEILUNG wird schnell voranschreiten. Und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen. Und GOTTES HERRLICHKEIT wird deinen Zug beschließen.
(9) Dann wirst du rufen, und GOTT antwortet dir. Wenn du schreist, wird er sagen: SIEHE, hier bin ich.
Liebe Gemeinde!
Morgen ist Rosenmontag – Höhepunkt im Karnevalstrubel und närrischem Verulken. Mit riesigen Figuren aus Pappmaché werden bei den Umzügen Berühmtheiten des öffentlichen Lebens oder ein aktuelles Ereignis witzig dargestellt. In Büttenreden nimmt man Politiker und Prominente kräftig auf die Schippe. Sie müssen es ohne Widerspruch ertragen, dass ihnen oft recht schmerzhaft eine Wahrheit gesagt wird, die sie selbst vermutlich ganz anders einschätzen.
Die aufwendig geschmückten Umzugswagen präsentieren, was dem einfachen „gemeinen“ Volk im Blick auf unsere Gesellschaft an die Nieren geht oder auf die Nerven. Mit viel Witz in der Übertreibung und treffendem Spott werden wunde Punkte unseres menschlichen Verhaltens offengelegt und unübersehbar vor Augen geführt.
Diese Offenheit in Fasching, Fastnacht, oder wie immer man es nennt, hat auch etwas sehr Entlastendes: Wer Kritik äußert, muss sich nicht um abwägende, vorsichtige Formulierungen bemühen. Im Gegenteil, je übertriebener, desto besser. Hinter der Maske des augenzwinkernden Spötters dürfen ehrlich gemeinte Ansichten deutlich ausgesprochen werden. Ja, im Karneval darf man sich auf Kosten einer oder eines anderen ungestraft lustig machen. Und die Verspotteten tun gut daran, den Witz und dessen verborgenen Tiefschläge über sich ergehen zu lassen. Fasching ist somit – neben anderem – auch eine Form genehmigter „Rache des kleinen Mannes“ für all das, worüber er sich bei den „Großen und Mächtigen in Politik und Gesellschaft“ geärgert hat. Dabei wird „Tacheles“ geredet, unverblümt ehrlich zumindest ein Stück Wahrheit zu Gehör gebracht.
Dies kann durchaus heilsam wirken, sofern die davon Betroffenen sich die Wahrheit sagen lassen und darüber ins Nachdenken kommen. Einfach ist es aber nicht. Und es gelingt wohl kaum ohne schmerzliche Selbsterkenntnisse. Das mag jeder/jede aus eigenen Erfahrungen kennen, wenn man unverhofft hinter der Sonntags-Maske mit dem wahren eigenen Gesicht konfrontiert wird. Mit Schattenseiten, die einem nicht gefallen. Doch der Lohn ist eine neue, freie Gelassenheit; ein Wegfall von anstrengender Selbstdarstellung. Man darf sich einfach so geben, wie man ist, und muss anderen nichts mehr vormachen. Ein Stück Wahrheit über sich selbst zu erkennen, das entlastet und befreit, um der eigenen Person ein Stück näher zu kommen.
Wahre Worte zu sprechen, unabhängig davon, ob sie gefallen oder nicht, war auch eine Aufgabe der Propheten des Alten Testaments. Sie hielten oftmals eine recht harte, schmerzhafte Wahrheit dem Volk Israel wie einen Spiegel vor die Augen. Doch es ging ihnen nicht darum, ihre Mitmenschen zu verdammen, vielmehr ihnen einen heilsamen Weg zu eröffnen. Indem sie ihren Finger auf den wunden Punkt legen, zeigen sie, wie zwischenmenschliche Beziehungen und unsere Beziehung zu Gott gesunden können. Hören wir, was ein Prophet – rund 500 Jahre vor unserer Zeitrechnung – im Auftrage Gottes zu verkündigen hat:
T E X T
Ein harsches, radikal kritisches Wort soll der Prophet seinen Zeitgenossen verkündigen. Schonungslos offen, ohne jede Zurückhaltung soll er die Wahrheit ausposaunen: „Ihr befindet euch im Irrtum, wenn ihr glaubt, es reiche aus, Gott zu dienen, ohne eure Mitmenschen im Blick zu haben. Ihr verfallt einer Illusion, wenn ihr glaubt, Gott erfreue sich daran, dass ihr religiöse Rituale einhaltet, fastet und euch vor Gott demütigt. Auf der anderen Seite jedoch unterdrückt ihr eure Mitmenschen, lasst eure Nächsten schonungslos leiden. GOTT will dir nahe sein, Mensch! Aber nicht ohne deine Nähe zu deinem Mitmenschen. Die Art und Weise, wie du anderen begegnest, berührt Gottes Herz.“
Historisch gesehen spricht der als Trito-Jesaja benannte Prophet vermutlich in eine triste Situation seines Volkes Israel. Die Zeit der Verbannung ins Exil ist überwunden. Doch die Heimgekehrten finden ein immer noch verwüstetes Land vor. Grundlegende Aufgaben stehen ihnen bevor: Häuser und Straßen bauen, eine schützende Mauer um Jerusalem schließen. Der zerstörte Tempel – Ort göttlicher Nähe und Zentrum für ihre Opfergottesdienste –muss neu errichtet und wieder aufgebaut werden. Aber alles braucht lange Zeit, und die Mühsal ermüdet die Menschen.
Ich stelle mir vor, wie die schlimmsten Hungerzeiten vorübergehen. Doch die wirtschaftliche Lage bleibt schwierig; die Kluft zwischen Arm und Reich verbreitert sich. Die Ordnungen des Lebens, öffentlich wie privat, gelingen nur ansatzweise und bruchstückhaft.
Über verordnete Fastentage versucht man das Gedächtnis an die Schrecken des Krieges zu bewahren und gleichzeitig Voraussetzungen für eine Umkehr und Erneuerung zu schaffen. In Klagegottesdiensten wendet sich das Volk an Gott; von IHM erhofft es eine Veränderung zum Guten. Aber erkennbare Verbesserungen bleiben lange Zeit aus, und mancher fragt sich schon, ob die ganze Mühe überhaupt etwas bringt.
Es scheint, als versage der Himmel seinen Segen zu allem, was die Menschen aufbauen. Harte Plackerei bringt nichts Ansehnliches hervor. Erfolge versickern, und auch das Leben jenseits aller Mühen und Arbeit gelingt nicht festlich. Kein Wunder also, dass sich Enttäuschung ausbreitet, und die Vergeblichkeit Zorn und Zweifel auslöst. Mit Gewalt wollen die Menschen ein Heil erzwingen, das sich durch Fasten und Beten nicht einstellen will.
„Wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein!“ klagt der Prophet. Der Umgang miteinander wird härter, die zwischenmenschlichen Beziehungen leiden. Der Zusammenhalt des Volkes bröckelt; die ganze Gemeinschaft leidet unter wachsender Rücksichtslosigkeit. Religiöse Rituale, wie Gebet und Fasten, verwandeln sich in Instrumente ihres Durchsetzungswillens. Nicht Demut, Umkehr, Einsicht bestimmen die Fastenden, sondern ein Geist von Bemächtigung: Es muss uns doch irgendwie gelingen!
„Es muss nicht“, widerspricht der Prophet. „Es würde vielleicht, wenn ihr aufhören könntet, alles selbst erzwingen zu wollen.“ Öffnen, lösen, freigeben – sind Handlungsweisen, denen die Morgenröte folgt. In kleinen Schritten, in persönlicher Zuwendung gegenüber dem Nächsten kann jede/jeder von uns am Heilwerden der Gemeinschaft mitarbeiten. Und dabei die große Wende zum Guten vertrauensvoll Gott überlassen. „Gottesdienst im Alltag“ könnte man das nennen, der genauso wichtig ist, wie das Singen, Beten und Gottloben in gottesdienstlicher Gemeinschaft.
Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe“, erklärt Gott:
Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, z.B. jene Menschen, von denen du glaubst, dass sie dir etwas schuldig sind, und die du nicht freigeben magst. Wer sagt dir denn, dass nur deine Ansichten die Richtigen sind?
Lass frei, auf die du das Joch der Unterdrückung gelegt hast! Überlege dir, wer von dir abhängig ist, und wie sich das anfühlt für diese Person. Vielleicht fällt es dir dann leichter, den anderen frei zu geben, und dich selbst auch viel freier zu fühlen.
Teile mit den Hungrigen dein Brot! Lass niemanden neben dir verhungern. Wo du das Bedürfnis eines anderen verspürst, gehe darauf ein, antworte mit dem, was du geben kannst und willst. Teile das, wovon du selbst lebst, dein Lebensmittel.
Führe die Obdachlosen in dein Haus! Gib ein Stück Heimat jenen, die draußen vor bleiben: vor den Grenzen Europas oder vor der Gemeinschaft in einem Stadtteil, einer Straße.
Bekleide den, der nichts anzuziehen hat. Nimm wahr, wo Menschen entblößt und bloßgestellt werden, und schütze sie in ihrer Scham.
Entzieh dich nicht deinem Fleisch. Kümmere dich um deine Mitmenschen, die dich brauchen.
Mitmenschlichkeit ist gefragt, Solidarität und Freigabe all jener, die du abhängig von dir hältst. Ein achtsamer Umgang mit allen, damit niemand Not leiden muss – eine ethische Forderung, die uralt ist, und dennoch in jedem Zeitalter immer wieder neu gestellt werden muss. Eine spezielle Art von Fasten fordert Gott: Verzicht auf Bereicherung, die zu Lasten oder auf Kosten anderer geht.
Fasten als Rücksichtnahme, anstelle rigoroser und ausschließlicher Selbstsucht. Es darf nicht sein, dass wir Menschen in reichen Ländern alles daran setzen unsere Körper per Fitnesstraining und Selbstkasteiung schön und gesund zu erhalten; andererseits gleichgültig die Ausbeutung unserer Mitmenschen ignorieren. Sei es, dass Models im perfiden Schlankheitswahn sich fast zu Tode hungern. Oder dass Menschen in armen Ländern aus Not ihre Nieren oder ihre Kinder verkaufen müssen. Wir profitieren auch von der Ausbeutung der Hilfsarbeiter in Katar, die für die Fußball-WM 2022 unter völlig unmenschlichen Bedingungen Stadien bauen.
GOTT aber gefällt ein Fasten, das ein Verzichten einübt in jene Dinge, die anderen Menschen sonst fehlen würden. Ein Fasten, das für sozialen Ausgleich sorgt und für ein gelingendes Miteinander.
Enthaltsam sein kann man auch im weiteren Sinne: In Solidarität mit den Hungernden in der Welt, indem man Geld, das man durch Verzicht auf luxuriöse Güter spart, den Armen spendet. Oder als symbolhaftes Verzichten und Sich-Verweigern gegenüber dem Zwang zum Immer-mehr-haben-müssen.
Fasten bedeutet nicht nur Verzicht auf etwas! Man hat auch etwas davon. Sich einzuüben in Enthaltsamkeit erschließt gute Erfahrungen von geistigem und leiblichen Wohlbefinden. Ich gewinne ein Mehr an Lebensqualität, wenn ich Zeit finde für einen besseren Kontakt zu meinen Mitmenschen, wenn ich über meinen eigenen Tellerrand hinausschaue und Anteil nehme an den Sorgen und Freuden der anderen. Ich empfinde Lebenszuwachs durch die befriedigende Erfahrung, dass ich helfen kann, dass ich gebraucht werde von meinen Nächsten. Ich bin zufriedener, gelassener, wenn ich unabhängig werde von dem permanenten Drang nach immer mehr.
Wenn ich mich – ab und zu – ein wenig zurücknehme, auf die Durchsetzung meines Willens oder meiner Wünsche verzichte. Dann kann ich erfahren, wie sich eine Situation entspannt, und mein Gegenüber ebenfalls locker und entspannt reagiert.
Der Verzicht auf etwas schenkt mir auch eine neue Sichtweise auf Gottes Schöpfung und Dankbarkeit für seine Gaben. Weniger zu besitzen ist auf einmal viel mehr!! Die vorher so selbstverständlich und gering geschätzten Dinge gewinnen ihre Einmaligkeit und Kostbarkeit zurück: Dass ich atmen und leben darf! Dass ich Menschen in meiner Nähe weiß, die mir lieb und wichtig sind.
„Wenn ihr einander helft, die Not des Nächsten seht und nicht achtlos daran vorübergeht“, lässt Gott den Propheten verheißen, „dann strahlt euer GLÜCK auf wie die Morgenröte und eure inneren und äußeren Wunden (vielleicht entstanden durch Unzufriedenheit, Neid und Konkurrenzverhalten) heilen schnell.
Eure guten Taten gehen euch voran; und meine Herrlichkeit folgt euch nach wie ein starker Schutz. Dann werdet ihr zu mir rufen, und ich werde euch antworten. Wenn ihr um Hilfe schreit, werde ich sagen: „Hier bin ich!“
Gottes Nähe lässt sich entdecken, wenn ich bereit bin, mich selbst und meine Mitmenschen gleichermaßen wichtig zu nehmen. Wenn ich bereit bin, andere Wahrheiten anzuerkennen – nicht nur meine eigenen. Auch, wenn es schmerzt. Dann kann die Maske abfallen, und ich schaue wie in einem Spiegel mein wirkliches Gesicht – ungeschminkt und unverzerrt.
GOTT lässt sich entdecken – in jedem Menschen, der neben und mit mir lebt, in der Gemeinschaft mit allen Menschen. Auch in jenen, bei denen es mir persönlich schwer fällt. Ich habe selbst sehr viel davon, wenn mir das gelingt! Ich darf so sein, wie ich bin, und kann darüber lachen, wenn beim Fasching meine Schwächen offensichtlich werden. Oder, wenn mir jemand einen Spiegel der Wahrheit vorhält. Denn, was immer es auch Kritisches an mir zu entdecken gibt, EINER ist da, der mir liebevoll den Rücken stärkt und spricht: „Siehe, hier bin ich!“
AMEN
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Predigt zu Jesaja 58,1-9a von Dieter Splinter
Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden!Sie suchen mich täglich und begehren meine Wege zu wissen, als wären sie ein Volk, das die Gerechtigkeit schon getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte. Sie fordern von mir Recht, sie begehren, dass Gott sich nahe.»Warum fasten wir und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib und du willst's nicht wissen?« Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter. Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll. Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit, wenn ein Mensch seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der HERR Wohlgefallen hat? Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.
I.
Liebe Gemeinde!
Der Tempel hat keinen König. Das war lange anders. Wir erinnern uns. Geschichte ist aufschlussreich.
Der erste Tempel in Jerusalem geht auf König Salomo zurück. So berichtet es die Bibel. In diesem Tempel wurde nicht nur der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs verehrt. Der König hatte darin eine besondere Rolle. Er repräsentierte das Volk vor Gott. So wurde er im Gottesdienst in Psalmen besonders gewürdigt. Der 21. Psalm etwa fasst das in diese Worte: „Herr, der König freut sich deiner Kraft, und wie sehr fröhlich ist er über deine Hilfe! Du erfüllst ihm seines Herzens Wunsch und verweigerst nicht, was sein Mund bittet. Denn du überschüttest ihn mit gutem Segen, du setzt eine goldene Krone auf sein Haupt.“
Nun aber ist es anders. Der erste Tempel wurde 587 bzw. 586 v. Chr. zerstört, das Volk Israel in das babylonische Exil verschleppt. Dort saß es an den Wassern zu Babylon und weinte. Ihre Harfen hängten sie in Trauerweiden. Und sie sagten sich: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein.“ (Psalm 126, 1-2)
Eines Tages war es soweit. Die Erlösung geschah. Nach etwa 50jährigem Exil konnten die Israeliten zurückkehren. Viele waren in der Fremde geboren worden. Viele dort gestorben. Nun waren sie wieder im gelobten Land. Bald nach ihrer Rückkehr nach Jerusalem machten sie sich daran, den zerstörten Tempel wieder aufzubauen. Unter Mühen. 515 vor Christus wird der zweite Tempel eingeweiht. Er hat keinen König mehr. Ihm steht nun ein Priester vor. Aber vor allem gehen die Rechte und Pflichte des Königs auf die Gemeinde und jeden einzelnen und jede einzelne darin über.
II.
Der Tempel hat keinen König mehr. Aber er hat eine königliche Gemeinde. Jede darin ist eine Königin, jeder darin ist ein König. Wie so oft nehmen Entwicklungen in der Religion ihren Anfang. Hier – in den Worten Jesajas - deutet sich nämlich ein Übergang an: Von der Monarchie zur Demokratie, von der Theokratie zu einem Gemeinwesen, das Glaube und Recht in gegenseitigem Respekt aufeinander zu beziehen weiß. Entscheidend ist, dass schon bei diesem Übergang die solidarische Hilfe als eine königliche Aufgabe aller beschrieben wird.
Der Prophet Jesaja sagt es so: „Brich den Hungrigen dein Brot, und die im Elend und ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“ Der Tempel hat keinen König. Er braucht ihn auch nicht mehr, denn er hat ja eine königliche Gemeinde. Wenn die sich ihrer Bestimmung gemäß verhält, dann ist sie „wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.“ (Jesaja 58,11) Dann – so Jesaja in einem großartigen Bild voller Verheißung – wird ihr „Licht hervorbrechen wie die Morgenröte“, ihre „Heilung wird schnell voranschreiten“, und ihre „Gerechtigkeit wird vor ihr hergehen“. Worte voller Bewegung. Am Ende dieser Prozession wird gar „die Herrlichkeit des Herrn“ ihren „Zug beschließen“.
III.
Stimmt das? Verheißungen haben immer einen voraus laufenden Charakter, sonst wären sie keine. Die Wirklichkeit sieht jedoch oft anders aus. Das war schon zu Jesajas Zeiten so. Und so bekommt der Prophet den Auftrag, dem Volk die Leviten zu lesen: „Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakobs seine Sünden!“
Das Volk bemüht sich ja, seinem königlichen Auftrag gerecht zu werden. Sie wollen Gott nahe sein. „... sie begehren, dass Gott sich nahe.“ Und darum fragen sie ihn : „Warum fasten wir und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib und du willst's nicht wissen?“
Die Antwort ist eindeutig. Das innere Bestreben durch Fasten Gott nahe sein zu wollen, passt nicht zum äußeren Verhalten. Da ist etwas auseinander gebrochen, was eigentlich zusammen gehört: „Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter. Siehe, wenn ihr fastet, hadert ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.“
IV.
„Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.“ Passt dieser Satz ins Heute? Und – wenn ja – wie?
In einer Predigthilfe habe ich dazu folgende Feststellung gefunden: „In der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation ist nicht nur eine breite Palette von Nahrungsmitteln unabhängig von der Jahreszeit und den regionalen Bedingungen der Landwirtschaft verfügbar. Auch Genussmittel sind frei erhältlich. Bis in die Fernsehgewohnheiten hinein fordert die Konsum-gesellschaft dem Einzelnen ein gehöriges Maß an Selbstdisziplin ab, um zu wissen, was ihm selbst als Einheit von Seele und Leib eben nicht nur zu essen und zu trinken, sondern auch zu sehen guttut, und wo die Grenze zu problematischer Gewöhnung und Abhängigkeit überschritten ist. In einer solchen Situation hat die Praxis des Fastens verständlicherweise neue Freunde und Freundinnen gefunden.“ Soweit diese Predigthilfe. (Christian Nottmeier/Hans Martin Dober: Jesaja 58, 1-9a: Unterwegs zu den Quellen des Selbst, in: Predigtstudien für das Kirchenjahr 2007/2008, Perikopenreihe VI – Erster Halbband, hrsg. von Volker Drehsen et al., Stuttgart 2007, S. 137)
Für die Freunde und Freundinnen des Fastens geht es um Herrschaft. Genauer: Es geht darum, sich selbst zu beherrschen. Man möchte erreichen, dass man von Äußerem nicht abhängig ist. Man möchte erfahren, dass man ganz und gar dazu fähig ist, über sich selbst zu bestimmen. Diese Selbstbestimmung hat etwas Königliches. Kein Wunder, dass man nicht nur in der säkularen Welt, sondern auch in der evangelischen Kirche das Fasten (wieder-)entdeckt hat. Wir nennen das „Sieben Wochen ohne“. Da kann man zeigen, dass die Rechte und Pflichten des Königs auf die Gemeinde übergegangen sind. Schließlich hat der Tempel längst keinen König mehr.
Im Fasten kommen so auch evangelische Christen durchaus ihrem Auftrag nach. Ein Christenmensch ist schließlich ein freier Herr aller Dinge und nichts und niemandem untertan. Zugleich ist ein Christenmensch aber auch ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan. Nur der ist ein guter König, der seinem Volk, also anderen und nicht bloß sich selbst, zu dienen weiß.
Jährlich werden in Europa und den USA Lebensmittel im Wert von 100 Milliarden Euro weggeworfen. Damit ließen sich die in dieser Welt von Hunger Bedrohten oder tatsächlich Hungernden, also etwa eine Milliarde Menschen, leicht ernähren. So lange es keinen gerechten Ausgleich zwischen Arm und Reich gibt, so lange die einen hungern, weil sie zu wenig haben – und die anderen hungern, weil sie zu viel haben - so lange das so ist, stimmt der Satz, den Jesaja uns über viele Jahrhunderte hinweg in unser Ohr posaunt: „Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.“
V.
Der Tempel hat keinen König mehr. Schon zu Jesajas Zeiten, also vor langer Zeit, wurde das festgestellt. Die Rechte und Pflichten des Königs sind auf die Gemeinde übergegangen. Daraus folgt nicht bloß das Recht zur Selbstbe-stimmung, sondern auch die Pflicht zur solidarischen Hilfe. Das schreibt uns Jesaja über die Jahrhunderte hinweg ins Stammbuch. Mehr noch: Er posaunt uns diese Mahnung ins Ohr.
Doch lässt er uns auch nicht ohne eine Verheißung und ohne einen Zuspruch Gottes. Dem nämlich, der nicht müde wird, Selbstbeherrschung und Solidarität miteinander zu verbinden und in einer Gemeinde zu leben sucht, ruft Jesaja mindestens genauso laut ins Ohr: „Dann wird dein Licht hervorbrechen wie eine Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HER wird dir antworten. Wenn du schreist wird er sagen: Siehe, hier bin ich.“
Amen