Gott kommt in die dunklen Ecken – Predigt zu Jesaja 9,1-6 von Stephanie Höhner

Gott kommt in die dunklen Ecken – Predigt zu Jesaja 9,1-6 von Stephanie Höhner
9,1-6

Die Welt liegt im Finstern. Für diese Woche reicht die Brot- und Bohnenration nicht mehr. Der kleine Lohn reicht nicht für neues Saatgut. Die Pacht ist erhöht worden. Das nächste Kind droht zu verhungern. Neue Steuern an den Staat. Den Reichen im Land wachsen dickere Bäuche, die Pachteinnahmen steigen, die Zinsen haben sie auch heraufgesetzt. Von Norden drohen die Nachbarstaaten mit neuen Angriffen. Ein falsches Wort und der Krieg ist zum Greifen nah. Die Welt liegt im Finstern. Der Prophet Jesaja sieht sein Volk, das im Dunkeln lebt. Er sieht, wie Menschen um ihr Leben kämpfen, um ein Leben in Würde. Er sieht, dass Kinder ohne Hoffnung aufwachsen. Dass Mütter und Väter ihren Glauben an eine Zukunft verloren haben.

Diesem Volk und dieser Welt sagt er:

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. Vor dir freut man sich, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt. Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihrer Treiber zerbrochen wie am Tage Midians. Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn daher geht und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.

Denn uns ist heute ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er´s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches tut der Eifer des Herrn Zebaoth.

Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude.

Sie nimmt die blaue Glaskugel mit den weißen Schneeflocken aus der Schachtel. Karin überlegt kurz und hängt sie auf die rechte Seite im Baum. Daneben hängen Anhänger aus kleinen Astscheiben und grau-rote Herzen aus Filz. Die blaue Kugel sticht heraus. Sie wirkt irgendwie fehl am Platz, aber Karin hängt sie trotzdem in den Baum. Jedes Jahr – es ist ihr Ritual. Die blaue Glaskugel hat ihr Vater ihr geschenkt, ein Mitbringsel aus Rothenburg.

Es ist das dritte Jahr, dass Karin und ihre Mutter alleine unter dem Baum sitzen werden. Die Gans, die es früher immer gab, ist für beide viel zu viel. Jetzt gibt es Lachs. Den mochte der Vater nicht gerne.

Weihnachten tut es immer besonders weh. Der Vater hat jedes Jahr die Weihnachtsgeschichte vorgelesen, auch als Karin schon längst erwachsen war. Er bestand darauf, dass gesungen wird, „Ihr Kinderlein kommet“ und „Stille Nacht“.

Heute bleibt es still unter´ m Tannenbaum. Und es liegt über all dem eine tiefe Traurigkeit. Weihnachten muss halt gefeiert werden. Karin hat das Gefühl, das Fest einfach abzuarbeiten. Für ihre Mutter und für die Tradition. Wie traurig wäre es, wenn sie Weihnachten einfach alles normal machen würde. Kein Baum, kein Lachs, kein „Stille Nacht“. Das wohlige Weihnachtsgefühl von früher kommt einfach nicht auf. Nicht einmal ein bisschen Feststimmung, trotz Kerzen und grau-roten Herzen aus Filz. Die blaue Kugel im Baum – Karins Ritual. Sie ist es ihrem Vater schuldig, wenigstens ein bisschen seiner Weihnachtstradition zu behalten. Wenn es schon in ihr drinnen dunkel und trist ist, dann soll wenigstens außen alles stimmen.

Vor dir freut man sich, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt.

Susanne deckt den Tisch auch dieses Jahr wieder für vier. Wie jedes Jahr. Und doch dieses Jahr mit einem neuen Gefühl.

Letztes Jahr Weihnachten war furchtbar für sie. Sie hatte schon seit Monaten immer wieder Streit mit Max wegen jeder Kleinigkeit und auch wegen großer Themen. Bei welchen Eltern zuerst gefeiert wird. Wer die Tochter vom Hockey abholt und den Sohn zum Klavierunterricht bringt. Wer Samstagabend ausgehen darf und wer bei den Kindern bleiben muss. Überhaupt, immer ging es nur noch um die Kinder. Und dann ihre Beförderung. Sie bleibt länger im Büro, er muss auch mal früher Schluss machen und einkaufen gehen. Abends empfängt sie ein murriger Ehemann. So oft hat sie sich im letzten Jahr gefragt, wo eigentlich der Mann ist, in den sie sich verliebt hat. Wo die Liebe hin ist und ob jetzt alles nur noch für die Kinder gemacht wird. Sie fühlt sich gefangen in dem Haus, in dem Leben. Sie funktioniert nur noch, alles fühlt sich eng und dunkel an.

Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihrer Treiber zerbrochen wie am Tage Midians. Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn daher geht und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.

Donnernd ein Schritt nach dem anderen. Alle im Gleichschritt. Die Patrouille dreht wieder ihre Runde. Jeden Abend um sechs. Morgens um acht kommen sie wieder. Donnernde Schritte in der Dunkelheit. Sonst ist kein Geräusch auf den Straßen. Ahmed und Nour sitzen auf grünbunten Kissen am Boden, neben sich ein Glas Tee. Im Hintergrund läuft der Fernseher. Als das Stiefeldonnern näher kommt, stellt Ahmed den Fernseher aus, damit kein blaues Licht nach draußen fällt. Die Patrouille geht unten auf der Straße vorbei. Für ein paar Sekunden hält Nour den Atem an, Ahmed gießt sich gelassen Tee nach.

Draußen drückt die Dunkelheit der Nacht in die Stadt. Drinnen drückt die Dunkelheit der Angst auf Nour und Ahmed.

Die Welt liegt im Finstern. Das war auch letztes Jahr schon so. Immer noch verschluckt das dunkle Meer tausende von Menschen. Immer noch donnern Kriegsstiefel durch Gassen und Straßen. Auch heute, an Heilig Abend. Die Welt liegt im Finstern. Die Welt ist finster für Susanne, die um ihre Ehe bangt. Die sich in ihrem Leben eingesperrt fühlt und die sich nach Liebe sehnt. Die Welt ist finster für Karin. Sie trauert um ihren Vater, um das Gefühl von Geborgenheit, als sie noch Kind war. Sie fühlt sich allein, auch wenn sie Mutter und Freunde hat. Die Welt ist finster für Nour und Ahmed, die Angst haben, dass die Milizen sie ausrauben, entführen, töten, weil sie ihren Glauben anders leben als die Milizen es vorgeben.

In all der Finsternis sehne ich mich nach Licht. Ich schaue auf mein Leben. Es scheint erst einmal hell. Aber auch da gibt es dunkle Ecken und finstere Winkel. Manche liegen weit entfernt, manche sind direkt nebenan. In den dunklen Ecken wohnt die Angst, der Abschied, der Abschied für immer, der Unfall, die Selbstzweifel, der Streit – bis heute unversöhnt, die Einsamkeit. Manchmal fällt in eine dieser Ecken Licht. Ein feiner Strahl, kaum zu erkennen. Und ganz ab und zu ein heller Schein, der größer wird, um sich greift und nur noch ein kleines bisschen der Ecke dunkel lässt. Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.

Ich sehne mich nach Licht, das aufscheint in der Welt, die im Finstern liegt. Nach einem lieben Wort, das mir nach langem Schweigen über die Lippen kommt. Den Menschen loszulassen, den man liebt und ihn trotzdem festhält in der Erinnerung. Nach Momenten der Freude, auch wenn man für immer Abschied nehmen musste. Nach einem Leben in Sicherheit, ohne das Dröhnen der Kriegsstiefel und dem Bombenbeben, ohne Angst um das eigene Leben und das der Frau.

Nach knusprigem Brot und saftigen Orangen. Nach Frieden und Versöhnung. Nach einem dicken Buch, das an zwei Tagen unter´m Weihnachtsbaum ausgelesen ist und nach ausgelassenem Feiern.

Ich sehe in die Welt, die im Finstern liegt. Und ich höre die alten Worte: Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Denn uns ist heute ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er´s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches tut der Eifer des Herrn Zebaoth.

Ein Kind, klein und hilflos, trägt etwas großes: Die Hoffnung auf das Licht. Darauf, dass es anders wird. Dass sich etwas ändert im Leben. Ein Kind – Wunder-Rat  Dass ein Wunder geschieht. Er sieht sie an und sagt: So geht es nicht weiter. Wir müssen etwas ändern. Susanne und Max haben sich zusammen einen Tanzkurs geschenkt. Jeden Mittwoch lernen sie jetzt gemeinsam Salsa tanzen.

Ein Kind –Ewig-Vater

Dass der Vater ewig bleibt in der Erinnerung und das Leben hier auch schön ist. Der Lachs ist aufgegessen, die Mutter bleibt noch zum Kaffee. Karin stellt den CD-Player an, es erklingen die alten Lieder. Es ist anders als das Singen mit dem Vater. Die Melodien füllen den Raum und in Karin macht sich ein Gefühl von Wärme breit. Nur für einen Augenblick. Aber es war da, ein Gefühl von Leben und Geborgenheit.

Ein Kind – Gott-Held

Dass ein Held kommt. Der Bruder ruft aus Greifswald an. Er hat es geschafft. Endlich hat er den Bescheid, dass er bleiben darf. Er soll Nour und Ahmed nachholen. Sie sehen ein großes Licht. Sie setzen alle Hoffnung auf ihn.  Vielleicht sitzen sie schon in ein paar Monaten in einem Flugzeug Richtung Berlin, vielleicht auch auf einem Schlauchboot im Mittelmeer. Das Licht scheint in der Finsternis, doch manche Ecken werden immer dunkel bleiben.

Noch sitzen sie in ihrer Wohnung und hören das Stiefeldonnern der Patrouille.

Noch liegt die Welt im Finstern. Doch durch kleine Ritzen erahne ich es und hoffe weiter drauf:

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.

 

Perikope
24.12.2018
9,1-6

Lebenskinder - Königskinder – Hoffnungskinder – Predigt zu Jesaja 9,1-6 von Georg Freuling

Lebenskinder - Königskinder – Hoffnungskinder – Predigt zu Jesaja 9,1-6 von Georg Freuling
9,1-6

Wir feiern heute ein Kind: das Kind von Bethlehem. Ich habe immer wieder den Eindruck: Das bestimmt die Art und Weise, wie wir feiern. Weihnachten weckt in uns die Sehnsucht nach einer heilen Welt, den Wunsch, dass alles gut wird. Unausgesprochen sehnen sich viele zurück in die Unbeschwertheit ihrer Kindheit. Ob es die immer so gab...?

Ja – wir feiern heute ein Kind. Aber Weihnachten ist mehr als der größte Kindergeburtstag des Jahres. Weihnachten soll uns mehr geben, als dass es Wünsche und Sehnsüchte in uns wach hält.

In der Weihnachtsgeschichte sagen die Engel: „Euch ist heute der Heiland geboren!“ Und damit das kein Kinderkram bleibt, hören wir heute eine alte Weissagung aus dem Buch des Propheten Jesaja. „Uns ist ein Kind geboren“ heißt es da. Dieses Kind soll uns heute zeigen, was es mit dem Kind von Bethlehem auf sich hat und mit uns – Menschenkindern. Ich lese Jesaja 9,1-6:

 

1) Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. 2) Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. Vor dir wird man sich freuen, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt. 3) Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians. 4) Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. 5) Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; 6) auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er's stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des HERRN Zebaoth.

„Uns ist ein Kind geboren“ sagt der Prophet Jesaja. Mehr als 700 Jahre vor der Nacht von Bethlehem. Jede und jeder hat es wahrscheinlich gerade herausgehört: Hier geht es um ein besonderes Kind.

Die Menschen, zu denen der Prophet spricht, waren besorgt und verängstigt - „ein Volk im Dunkeln.“ Die Welt ringsum war finster und bedrohlich. Die Soldaten Assurs versetzten den Orient in Angst und Schrecken. Trampelten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte – grausam und brutal. Im Norden sahen die Menschen in Jerusalem, was ihnen blühte. Zukunft sahen sie nicht – für sich und ihre Kinder.

In diese Welt hinein spricht der Prophet von dem Kind, das alles ändert: „Uns ist ein Kind geboren.“

Was hat es mit diesem Kind auf sich? Und mit dem Kind von Bethlehem? Und – was hat das mit uns zu tun?

Es gibt etwas, was uns mit diesen Kindern verbindet: Am Anfang sind wir alle ein schreiendes,

blutverschmiertes Bündel Mensch. So kommen wir zur Welt. Am Anfang müssen wir raus aus dem Bauch der Mutter. Das ist mit Schmerzen verbunden. Das ist gefährlich. Danach sind Mutter und Kind fertig. Väter oft auch… Und dann zeigt uns dieses kleine Bündel Mensch, wie kostbar und zugleich verletzlich unser Leben ist. Das rührt uns an, macht uns glücklich.

Die meisten Kinder schreien direkt nach der Geburt. Früher hielt man diesen Schrei für lebenswichtig. Mit diesem Schrei, so dachte man lange, fangen die Lungen an zu arbeiten. Ab da atmet das Menschenkind. Heute hilft man nicht nach. Trotzdem schreien die meisten Kinder früher oder später: nach Milch, nach Zuwendung, nach Liebe, nach Leben. Und ich glaube: Das steckt in uns drin – auch, wenn dieser erste Schrei schon längst verstummt ist. Bis zum letzten Atemzug: Du bist ein Lebenskind.

Da kann die Welt noch so dunkel sein. Jedes neugeborene Kind zeigt uns, wie widerspenstig das Leben ist. Dann geht die Sonne auf…

Deshalb erzählt Jesaja seinen Leuten von diesem Kind. Da mögen die Stiefel im Gleichschritt marschieren und die Menschen zittern: Dieses Kind schreit dagegen an mit seinem Lebenshunger.

Ist es nicht merkwürdig, dass sich das Leben in dieser Welt immer wieder behauptet, dass es triumphiert, obwohl es so verletzlich ist? Obwohl es so schnell unter die Räder gerät. Immer wieder...

An das Kind von Bethlehem hat der Prophet nicht gedacht. Warum sollte er seine Leute 700 Jahre vertrösten? Trotzdem ist es auch dort im Stall dasselbe: ein kleines, schreiendes Bündel Mensch. So wie immer, wenn ein Kind zur Welt kommt. Und doch anders: „Menschwerdung“ sagen wir. Gott wird Mensch, ein Lebenskind – wie Du und ich. Weil Gott das Leben will, weil er es liebt, taucht er selbst hinein. Er tritt an unsere Seite, um dem Leben den Rücken zu stärken.

Damals bei Jesaja, damals in Bethlehem, heute - es gibt noch etwas, was uns mit diesen Kindern verbindet: Ein Kind bekommt einen Namen. Bei uns heute steht der mit der Geburt schon fest. Oft haben die Eltern lange darüber nachgedacht. Bei Taufgesprächen reden wir oft darüber. Der Name wird ausgesucht, weil er schön klingt, weil er eine besondere Bedeutung hat oder andere aus der Familie auch schon so hießen. 2018 sind die beliebtesten Vornamen Emma und Ben.

Bei dem einen Namen bleibt es dann aber nicht; Eltern werden erfinderisch: Hase, Maus, Spatz… Ich nehme an: Bei den meisten Eltern ist das so. Psychologen sagen, dass dadurch Zuwendung zum Ausdruck kommt.

Klar: Das kann Kindern auch zu Kopf steigen. In Köln habe ich neulich eine pinke Karte gesehen –

mit einer Krone drauf und dem Spruch: „Egal, was Papa sagt: Du bist keine Prinzessin.“ Und Eltern sollten auf jeden Fall aufhören, wenn es für die Kinder peinlich wird. Ich nehme an, dass kein 13jähriger sich freut, wenn er von seiner Mutter vor der Schule mit „Hallo, Mausebacke“ begrüßt wird.

Trotzdem sind diese Kosenamen wichtig und sagen etwas aus: Für Eltern sind ihre Kinder unendlich wichtig und wertvoll. Ausnahmen bestätigen – leider – die Regel. Und für Kinder ist das Wissen wichtig: Hier stehe ich an erster Stelle. Hier bin ich das Königskind.

Von einem richtigen Königskind spricht Jesaja. Am Königshof in Jerusalem wird ein Prinz geboren, der später auf dem Thron Davids regieren wird. Dieses Königskind bekommt gleich mehrere Namen: Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst. Das sind keine gewöhnliche Namen! Wahrscheinlich sind es sogenannte Thronnamen, die es auch bei den Ägyptern gab. Diese Namen zeigen: Dieser König ist Gott besonders nah und besonders begabt.

Auch das Kind von Bethlehem bekommt einen Namen: Jesus – Jehoshua – Gott hilft. Und es trägt noch andere Namen: Christus – Messias – der Gesalbte Gottes. Immanuel – Gott ist mit uns. Nicht nur seine Namen, seine ganze Geschichte erzählt, wer Gott für uns ist: Gott ist der Liebende, für den jedes Menschenkind an erster Stelle steht: ein Königskind.

Damals bei Jesaja, damals in Bethlehem, heute - es gibt noch etwas, was uns mit diesen Kindern verbindet: Wir sind in diesem Leben nicht immer auf Rosen gebettet, aber trotzdem sind wir Hoffnungskinder. Wenn ein Kind geboren wird, fragen sich Eltern schon mal: „Kind, in was für eine Welt haben wir Dich hineingesetzt?“ Und manche Erwachsene sind der Überzeugung, dass man diese Welt keinem Kind zumuten kann. Was haben wir Menschen aus dieser Welt gemacht?! Wir haben ihr unseren Stempel aufgedrückt, machen Wälder zur Wüste, und unser Müll schwimmt in den Ozeanen. Wie lange erträgt diese Erde uns noch? Friedenskinder sind wir auch nicht! Überall Hass und Gewalt, Unvernunft und Dummheit, dass es zum Himmel schreit. Und dazwischen unsere Kinder...

Trotzdem bringen Kinder Hoffnung in diese Welt. Sie öffnen uns Erwachsenen die Augen für das, was wir zu sehen verlernt haben - den Vogel am Himmel, den Marienkäfer auf dem Blatt, das Gänseblümchen am Wegrand. Sie protestieren gegen die kleinste Ungerechtigkeit, wo wir schon resigniert haben. Und sie erinnern uns daran, dass auch wir uns diese Welt ganz anders wünschen, machen uns zu Hoffnungskindern.

Große Hoffnungen setzt Jesaja auf das Kind, das am Königshof in Jerusalem geboren wird. Da kommt einer, der für Frieden und Gerechtigkeit sorgt. Da kommt einer, der zeigt: Gott hat uns nicht vergessen. Er hält das Versprechen, das er David gegeben hat. Er ist treu.

Und das Kind von Bethlehem? Auf Rosen gebettet ist es nicht - nicht im Himmelbett mit Samt und Seide, sondern im Futtertrog auf Stroh. Ein König, der nicht hoch zu Roß daher kommt, sondern auf einem Eselchen. Er hat einen harten Weg vor sich - der gekreuzigte Freund der Sünder.

Trotzdem hat er dieser Welt etwas entgegenzusetzen: Da kommt Gott nicht mit Macht, räumt nicht ein für alle mal auf. Kein Machtwort – sondern Liebe. Und die Idee von einer anderen Welt, in der nicht das Recht des Stärkeren zählt, in der die Gerechtigkeit nicht niedergetrampelt wird. Mit diesem Kind kommt unsere Hoffnung zur Welt, eine Hoffnung, die nicht tot zu kriegen ist. Da können die Mächtigen dieser Erde twittern und toben, wie sie wollen. Wir sind und bleiben Hoffnungskinder!

Deshalb feiern wir heute: Gott hat uns beschenkt; Lebenskinder – das sind wir. Gott liebt uns; Königskinder – das sind wir. Gott gibt uns uns diese Welt nicht auf; Hoffnungskinder – das sind wir! Amen.

Gebet

Gott, wir sehnen uns nach Deiner Nähe.

Wir schauen aus nach dem,

der zu uns kommt.

IHN versprichst Du uns,

den Wunder-Rat, Gott-Held,

Ewig-Vater, Friede-Fürst.

Deshalb bitten wir:

 

Komm, Wunder-Rat,

komm in unsere Welt,

rate allen die das Sagen haben

in Regierungen, Parlamenten und Palästen.

Bewege sie zu Besonnenheit und Menschlichkeit.

 

Komm, Gott-Held,

komm in unsere Welt,

und mach unsere Helden klein,

damit sie nicht überheblich werden

und Not und Elend über die Menschen bringen.

 

Komm, Ewig-Vater,

komm in unsere Welt

und mach uns zu Deinen Kindern.

Mach uns reich durch Deine Fürsorge,

damit unsere Herzen weit werden.

 

Komm Friede-Fürst,

komm in diese zerrissene Welt,

die sich so sehr nach Frieden sehnt.

Lass die Hassparolen verstummen,

entwaffne Hände und Herzen durch Deine Liebe.

 

Amen.

Perikope
24.12.2018
9,1-6

Morgenröte - Predigt zu Jesaja 35, 3-10 von Norbert Stahl

Morgenröte - Predigt zu Jesaja 35, 3-10 von Norbert Stahl
35,3-10

 

Liebe Gemeinde,

eine liebe Kollegin hat zum diesjährigen Advent ein Gedicht rundgemailt, das mich anspricht:

Advent vielleicht
Dass wäre schön
auf etwas hoffen können
was das Leben lichter macht
und leichter das Herz
das gebrochene ängstliche
und dann den Mut haben
die Türen weit aufzumachen
und die Ohren und die Augen und auch den Mund
nicht länger verschließen
das wäre schön…

…das wäre schön
wenn am Horizont Schiffe auftauchten
eins nach dem anderen
beladen mit Hoffnungsbrot
bis an den Rand
das mehr wird immer mehr durch teilen
das wäre schön…

... das wäre schön
wenn Gott nicht aufhörte zu träumen in uns
vom vollen Leben einer Zukunft für alle
und wenn dann der Himmel aufreißen würde
ganz plötzlich
neue Wege sich auftun
hinter dem Horizont
das wäre schön

(Carola Moosbach)

Das wäre schön…
Ja, liebe Gemeinde, das wäre schön, wenn plötzlich der Himmel aufrisse über Syrien, über dem Jemen, über dem Grenzgebiet zwischen Mexiko und den USA. Wenn plötzlich der Himmel aufrisse und neue Wege sich auftäten, hinter dem Horizont. Hinter dem Horizont, der in Mexiko am sechs Meter hohen Zaun endet, in Syrien hinter der Frontlinie und im Jemen an der nächsten Straßenkreuzung, die die Scharfschützen im Visier haben.

Das wäre schön, wenn der Himmel aufrisse über der Sprachlosigkeit in vielen Familien. Das wäre schön, wenn angesichts eine schwierigen Diagnose im Krankenhaus Wolken der Ratlosigkeit aufreißen würden. Das wäre schön, wenn plötzlich Licht hineinfiele ins Dunkel der Trauer. Wenn sich in finanziellen Sorgen plötzlich neue Wege auftäten und der Horizont weit würde – das wäre schön.

Israel in Gefangenschaft
Am heutigen zweiten Advent hören wir einen Predigttext aus ferner Zeit. Im Jahr 597 v. Chr. hört Israel als Staat auf zu existieren. Die Babylonier sind die alles beherrschende Großmacht. Ein ums andere Volk unterwerfen sie. Auch Israel. Jerusalem und der Tempel liegen in Trümmern. Weite Teile der Bevölkerung sind weggeführt ins Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris (das Gebiet des heutigen Irak). Die Israeliten sind sehr traurig und haben Heimweh. Sie sind abgeschnitten von allem, was ihnen lieb und teuer ist. Ob sie jemals zurückkehren, ist ungewiss. Und wenn ja: Was werden sie vorfinden? Die Lage erscheint hoffnungslos. – Da erhebt mitten unter den Israeliten einer seine Stimme. Jesaja heißt er. Er hat eine Verheißung für sein Volk:

Predigttext Jes 35, 3-10

Jesaja liefert Hoffnungsbrot
Gewaltige Worte! Jesaja liefert Hoffnungsbrot. Es ist, als reiße er den Himmel auf. Wie kann einer so reden? Jesaja traut sich das, weil er neben dem, was vor Augen ist, noch eine andere Dimension kennt: Die göttliche. „Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! … Er kommt und wird euch helfen.“ Also weil Gott handelt, gibt es Zukunft. Er ist gewissermaßen selbst das Mehl des Hoffnungsbrotes.

Ob jemand Jesaja geglaubt hat? Ob jemand gekostet hat von seinem Hoffnungsbrot? Ob bei jemandem das Leben lichter, das Herz leichter wurde? Es ist nicht zu leicht zu hoffen, wenn alles dagegen spricht. Wenn eine niederschmetternde Diagnose im Raum steht; wenn man sich auseinandergelebt hat; wenn die Zäune so hoch sind; wenn das Überqueren einer Straße tödlich enden kann. Es ist nicht leicht zu hoffen, wenn alles dagegen spricht. Niemand garantiert mir, dass das Erhoffte auch eintritt. Deshalb schreibt Fulbert Steffensky über die Hoffnung:

Hoffnung – eine untreue Buchhalterin
„Die Hoffnung … ist eine wundervolle untreue Buchhalterin, die die Bilanzen fälscht und einen guten Ausgang des Lebens behauptet, wo dieser noch nicht zu abzusehen ist. … Hoffnung ist der Glaube, der den Tag schon in der Morgenröte sieht.“*

Steffensky beschreibt hier die Fähigkeit der Hoffnung hinauszublicken über das, was vor Augen ist:

Die Bilanz aus Erfahrung sagt: Das geht nicht gut aus. Die Hoffnung fälscht die Bilanz und sagt: Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Die Bilanz aus Erfahrung sagt: Das ist unmöglich. Die Hoffnung fälscht die Bilanz und sagt: Ich suche weiter nach eine Lösung.
Die Bilanz aus Erfahrung sagt: Da sehe ich keine Zukunft mehr. Die Hoffnung fälscht die Bilanz und sagt: Ich gebe dennoch nicht auf.

Ich will nichts beschönigen. Ich weiß sehr wohl: Es gibt Momente im Leben, da sieht man nicht einmal mehr einen Hauch von Morgenröte. Da ist nur noch Ausweglosigkeit. Oder man ist ganz und gar in Trauer. Dennoch: Paradoxer Weise ist der Punkt, an dem die Nacht am tiefsten ist, zugleich der Punkt, an dem der neue Tag beginnt.

Morgenröte
Für Israel bricht dieser neue Tag tatsächlich an. Die Morgenröte, die am Himmel aufzieht, sind Veränderungen im Politischen. Bei den Persern gelangt Kyros auf den Thron. So wie einst die Babylonier, so zieht nun er gegen die umliegenden Völker. Auch gegen die Babylonier. Für die Israeliten scheint damit erstmals seit langem die Rückkehr in die geliebte Heimat als Möglichkeit am Horizont auf. Hoffnungsbrot!

Eines Tages ist es tatsächlich so weit. Kyros lässt die Israeliten ziehen. Ein langer Tross schlängelt sich durch die Wüste: Männer, Frauen, Kinder, junge und alte Menschen, schnelle und langsame, und viele Tiere. Mühsam ist der Weg. Aber die Israeliten haben Energie: Hoffnungsbrot ist nahrhaft. Nach tagelangem Marsch erreichen sie schließlich die letzten Berghöhen, die noch zu überwinden sind. Nur noch wenige Meter, dann können die Ersten im Zug über die Bergkuppe schauen. Dann liegt der Blick frei auf die Heimat. Plötzlich werden die vorne im Zug ganz still. Es verschlägt ihnen die Sprache. Was für ein Anblick! Der Jordan! Der See Genezareth! Das Grün! Das weite Land! Die anderen schieben von hinten nach. „Ist das schön!“ flüstert einer. „Jesaja hat Recht behalten!“ Da entfährt es einem: „Gelobt sei Gott, der uns erlöst!“ Es dauert nicht lange, dann stimmen sie das große Loblied an: „Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit!“(Ps 103,1-4)

Noch einmal: Morgenröte
Liebe Gemeinde, am ersten Heiligen Abend der Geschichte handelt Gott noch einmal. Nun bricht die Morgenröte an für die ganze Menschheit. Das Kind in der Krippe erhält den Namen Jesus. Das heißt: Gott hilft, Gott rettet. Diesem, seinem Namen, macht Jesus als Erwachsener alle Ehre. Er heilt Kranke, er holt Verlorene in die Gemeinschaft zurück. Er ebnet vielen einen Weg zu Gott, die schon aufgegeben hatten, nach ihm zu suchen. Kinder und Frauen erhalten bei ihm ihren rechtmäßigen Platz. Jesus schreibt die Bilanzen um. Und das ist gut so! Für Viele ist er Hoffnungsbrot. In seiner Nähe werden die Herzen hell. Darum heißt er auch Brot des Lebens und Licht der Welt. Sein Name ist ein Versprechen. Das Versprechen Gottes, für uns da zu sein. Gott hört nicht auf zu träumen vom vollen Leben einer Zukunft für alle.

Alte Geschichten?
Alte Geschichten? Lange vorbei? Mag sein, dass das damals so war, aber heute?
Ich erinnere mich noch gut an den Februar 1989. Da hielt ich mich für ein mehrwöchiges Gemeindepraktikum in der Kirchengemeinde Freiberg in Sachsen auf. Da existiert die alte DDR noch. Es ist ein kalter Winter. Ständig liegt der Geruch von verbrennenden Braunkohlebriketts in der Luft. In den Läden kann man das Nötigste für den täglichen Bedarf kaufen, mehr aber nicht. Vielfalt sieht aber anders aus. Auch an einfachen Dingen wie Möbeln oder Spielzeug für Kinder mangelt es. Man muss warten können. Manchmal jahrelang. Auf eine Fotokamera z.B. oder ein Auto. In vielen Gesprächen schlagen mir Hoffnungslosigkeit und Frust entgegen. Es erscheint völlig ausgeschlossen, dass es zu tiefgreifenden Veränderungen kommen könnte. Allenfalls Kosmetik ist zu erwarten. Manchmal hört man allerdings etwas aus Leipzig. Aus der Nikolaikirche. Da kommen schon jahrelang Menschen zusammen und halten ein Friedensgebet. Hoffnungsbrot wird verteilt. Immer montags. Die Menschen wünschen sich Veränderungen. Reden werden gehalten, es wird gesungen und gebetet. Kerzen werden entzündet. Das Leben wird lichter, Herzen werden leichter. Es werden immer mehr, die in Leipzig zusammenkommen. Und an vielen anderen Orten in der DDR.  Immer größer, immer machtvoller wird diese Bewegung. – Sie kennen den Ausgang, liebe Gemeinde. Im November desselben Jahres 1989 ist die Grenze offen. Menschen tanzen auf der Berliner Mauer. 40 Jahre lang war sie eine unüberwindbare Grenze. Vielen, die sie überwinden wollten, hat sie das Leben gekostet. Jetzt ist das Land hell und weit. Das hat niemand erwartet. Diese dynamische Bewegung hat niemand vorhergesehen. Es waren unglaubliche Monate. „Dann werden die Lahmen springen … und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Von Freude und Wonne sind sie ergriffen“(Jes 35) – das ist wahr geworden nicht nur im 6. Jahrhundert vor Christus. Das hat sich auch mitten unter uns ereignet. Gott hört nicht auf zu träumen vom vollen Leben einer Zukunft für alle. Manchmal, da reißt er den Himmel auf und neue Wege tun sich auf hinter dem Horizont.

Über alle Horizonte hinaus
Freilich: Nicht jede Geschichte geht so gut aus. Bei den großen Worten Jesajas bleibt ein Rest. Schon damals zu Israels Zeiten. Ganz so glanzvoll, wie Jesaja es vorhersagt, war die Rückkehr in die Heimat dann doch nicht. Und für uns Deutsche brachte die Wiedervereinigung viel Freude und Glück. Sie beinhaltet aber auch Mühevolles, bis heute. Und auch in unserem persönlichen Leben geht ja nicht jede Geschichte gut aus. Im Gegenteil: Manchmal geht der Weg wirklich bis ganz tief in die Nacht. Die Hoffnungsbotschaft Jesajas gilt dennoch. Ihr Horizont reicht über unser irdisches Leben hinaus. Ich glaube, es ist wahr: Die Mitte der Nacht – und sei es die Nacht des Todes – ist der Anfang des neuen Tages. Ich kann das glauben, weil ich nicht auf meine Kraft setze, sondern auf die Kraft Gottes.  Ich vertraue auf Jesus. Das heißt: Gott rettet. Das hat am Tod keine Grenze. Am Ende haben die Bedingungen von Zeit und Raum, haben unsere irdischen Horizonte keine Bedeutung mehr. Deshalb freue ich mich auf Weihnachten: Da liegt es, auf Heu und auf Stroh, das Hoffnungsbrot.

„Wenn Gott die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll des Lobes sein.“(Ps 126,1) „Freude und Wonne werden sein und Schmerz und Seufzen entfliehen.“(Jes 35,10).

Amen.

* zitiert nach „der andere Advent“ – Kalender 2018/19

 

Vorschläge zur Liturgie:

EG 1,1-3.5
Ps 24 (EG  712)
EG 11,1.5.6
EG 7,1-7
EG 13,1-3

Lesung: Mt 11,1-6

Perikope
09.12.2018
35,3-10

Freut euch, ihr Christ_innen, freuet euch sehr! – Predigt zu Jesaja 35,3-10 von Kirstin Müller

Freut euch, ihr Christ_innen, freuet euch sehr! – Predigt zu Jesaja 35,3-10 von Kirstin Müller
35,3-10

Liebe Gemeinde,

wo hat er sich nur versteckt, der Engel vom letzten Weihnachten? Irgendwo muss er doch sein. Als ich ihn schließlich in einer Ecke des Schrankes entdecke, kommt er mir kleiner vor, als ich ihn in Erinnerung hatte. Trotzdem freue ich mich, dass er noch da ist. Beim Suchen fällt mir außerdem ein Kerzenhalter in die Hände. Den hatte ich ganz vergessen. Ich freue mich, dass ich ihn wiederentdeckt habe. Stück um Stück schmücke ich die Wohnung im Advent. Das gehört für mich zur Vorbereitung auf Weihnachten dazu. Engel und Kerzenhalter sollen in diesem Jahr ihren Platz auf der Fensterbank finden. Fehlt nur noch der leuchtende Stern. Ein Zacken ist abgeknickt. Sieht irreparabel aus.  Soll ich ihn trotzdem noch einmal aufhängen? Der fehlende Zacken wird seinem Leuchten hoffentlich keinen Abbruch tun. Sein Licht soll doch anderen und mir zur Freude ins Dunkel scheinen.

Freude gehört zum Advent – in diese Zeit. Sie sucht ihren Platz in unserem Leben. Alle Jahre wieder. Neu.

Freude gehört zum Advent in vielen Liedern, wie „Tochter Zion, freue Dich!“ oder in Erzählungen und Erinnerungen: „Ich weiß noch, wie die Augen der Kinder an Weihnachten geleuchtet haben!  War das schön!“. Sie ist Vorfreude auf Menschen, die wir als Weihnachtsbesuch erwarten, oder im Gepäck, wenn wir uns selber auf den Weg machen, andere zu besuchen. Wir suchen Geschenke aus, um Menschen eine Freude zu bereiten. Und es gehört wohl auch zur Freude, dass ich Menschen in dieser Zeit sehr schmerzlich vermissen kann. Schmerzlicher, als in anderen Zeiten.  Dass mir – zum Beispiel beim Schmücken der Wohnung mit weihnachtlichem Schmuck aus vergangenen Jahren - erst bewusst wird, was sich alles getan hat in meinem Leben. Wer mir fehlt. Was neu und anders ist. Sich gewandelt hat. Manchmal zum Besseren. Manchmal aber auch nicht.

Freude gehört zum Advent. Mit dieser Freude sorgsam umzugehen, klarzukommen in dieser Zeit, ist eine Aufgabe. Sie beginnt damit wahrzunehmen, was ist und auf uns zukommt. Zukommen will.

Seht auf, erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht. Lk 21,28

Seht auf! Also: Sieh her. Schau genau. Denn es steht Großes an: Etwas ist in die Welt gekommen, kommt wieder zur Welt, was stark und mächtig ist. Gott kommt, um zu erlösen, zu verändern, zu retten. Dich. Und die Welt. Das zu sehen ist eine große Aufgabe. Weil damit eine große Erwartung verbunden ist: Erlösung naht. Wie soll ich Erlösung, Rettung der Welt im Alltag meines Lebens, im Alltag der Welt sehen, erkennen? 

Vielleicht, indem ich bei mir beginne und die Erwartung auch und vor allem als Ermutigung sehe. Diese, meine Adventszeit als gott-verbunden wahrzunehmen. Sie als Bestandteil des großen göttlichen Tuns zu sehen. Wenn ich meinen kleinen Engel zusammen mit dem wiedergefundenen Kerzenhalter in die Fensterbank stelle. Mich an ihnen freue. Wenn ich meinen demolierten Stern im Fenster zum Leuchten bringe. Mich an ihm freue. Und glaube, dass auch andere das Licht erfreut. Und sei es nur für kurze Momente. Wenn ich mich traue, darauf zu vertrauen, dass meine Erwartungen von Gott gesehen werden. Und erfüllt werden. Weil Gott zur Welt kommt. Auch zu mir. Und weil die Welt – von Gott aus gesehen - eine gerettete ist. Auch für mich.

Seht auf, erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht. Lk 21,28

Beim Blick in die Bibel fällt auf, dass Menschen ihre Erwartung auf Rettung oft groß gedacht haben. Von Gott her gedacht haben. Schon in alten Zeiten war das so. Sie haben sich Rettung herbeigesehnt. Erlösung aus Notlagen, Bedrückung, Ungerechtigkeit.  Sie haben sich erinnert an Zeiten, in denen sie sich von Gott behütet gefühlt haben. Manchmal kannten sie solche Zeiten nur aus Erzählungen. Sie haben diese Erzählungen in ihr Leben hineingelassen. Und damit die Sehnsucht in ihrer Zeit genährt. Rettung einen Platz eingeräumt. Deshalb lassen Sie uns heute bewusst in eine alte biblische Verheißung schauen. Sehen, was uns da ganz fremd – oder auch vertraut entgegen kommt. Wie uns Freude begegnet.

Ein Blick in das Buch des Propheten Jesaja. Dort heißt es im 35. Kapitel:*

Jauchzen sollen Wüste und Öde, frohlocken soll die Steppe und blühen wie die Lilien.  Sie wird blühen und jubeln in aller Lust und Freude. Die Herrlichkeit des Libanon ist ihr gegeben, die Pracht von Karmel und Scharon. Sie sehen die Herrlichkeit des HERRN, die Pracht unseres Gottes. Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie. Sagt den verzagten (*herzverscheuchten) Herzen: Seid getrost, fürchtet euch nicht. Seht – da ist euer GOTT!

Eine blühende Wüste. So etwas habe ich noch nie gesehen, aber ich stelle es mir himmlisch vor. Eine vor neuem Leben strotzende Landschaft. Jauchzen, frohlocken, jubeln sind die Worte, mit denen Jesaja diese Landschaft beschreibt. Nach langer Zeit bricht – unverhofft – Leben auf. Frische Farben, leuchtendes Grün. Knospen brechen hörbar auf. Es ist ein Aufblühen wie ein Lachen – mehr noch, wie ein Jauchzen, eine große Freude. Darin wird diese Landschaft adventlich – auch wenn sie nicht winterlich mit Schnee, Tannengrün und Lichterglanz daherkommt. In Jauchzen, Frohlocken, Jubeln wird laut Jesaja die Herrlichkeit Gottes erkennbar: Seht, da ist euer Gott! Das ist ein guter Grund, um die müden Hände zu stärken und die wankenden Knie festzumachen. Mich aufzumachen. Dorthin, wo die Sehnsucht mich hinführt. Selbst mit mattgewordener Freude, mit im-Halse-steckengebliebenen Jauchzern und schmerzenden Gliedern. Zu erwarten, dass Gott kommt, sichtbar wird. Und nicht zu erstarren und mutlos zu werden, aus lauter Furcht, es könnte nicht so sein.

Sagt den verzagten (*herzverscheuchten) Herzen: Seid getrost, fürchtet euch nicht. Seht – da ist euer GOTT!

Eine Landschaft, die vor Leben jauchzt und jubelt, ein mutiges Losgehen zu einem Sehnsuchtsort, ein Warten auf Gott. Findet die Verheißung Jesajas Anklänge in Ihrem Leben? Heute? In der Erinnerung? Oder in Erwartung auf das, was kommen soll?  Ich höre sie als Aufforderung, mein Gottvertrauen wachsen zu lassen. Ihm zwischen Engel, Kerzenhalter und Stern einen Platz in meiner Wohnung, meinem Leben einzuräumen.

Seht, da ist euer Gott. Er kommt zur Rache. Das von Gott Gereifte – er selbst kommt und befreit euch.* Plötzlich wird es ernst. Ein verstörender Vers. Ein Riss in der Sehnsucht, dass alles heil werden und  schön aussehen soll.  Mit Gott kommt Rache. Sie fügt sich nur schwer in das Jauchzen und den Jubelklang ein.

Bitte keine Rache. Niemals und schon gar nicht in dieser Zeit, die vom Frieden auf Erden träumt.  Schreien nicht aber das Unrecht, Unglück und Leid der Welt nach Rache? Nach ausgeglichen und abgegolten werden?

Bei Jesaja ist Rache Gottessache. Nicht Menschenangelegenheit. Er bringt sie zur Sprache, aber malt sie nicht weiter aus. Oder doch. Dann aber in ungewöhnlichen Tönen. Das von Gott Gereifte – er selbst kommt und befreit euch.*  Gottes Rache kommt – als Befreiung. Als Rettung.

Gereiftes wird gerettet. Es geht hier nicht nur um kurzes Aufblühen, sondern auch um Reifen, Ernten, Früchtebringen. Nicht nur ein kurzer Zeitpunkt, sondern ein Zeitraum gerät in den Blick. All das, was in den Jahren der Sehnsucht, die sich nicht erfüllt hat, geworden ist: Enttäuschte Erwartungen, Verluste, Wunden und Narben bekommen hier ihren Platz. Bei Gott. Auch das Enttäuschtsein von Gott und das Gottverlassensein. Sie haben ihren Platz, aber sie bedeuten nicht das Ende aller Sehnsucht. Das was gereift ist – Gott kann es befreien. 

Und so sieht Befreiung (die Rache Gottes?) nach Jesajas Verheißung aus:

Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden, dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen.

Wir kommen zurück in die blühende Wüste – in die knospende Landschaft.  Wenn Gott abgegolten und befreit hat, dann ändert sich das Leben grundlegend. Dann wird viel mehr möglich, als ich mir bisher gedacht oder vorgestellt habe. Was hält mich davon ab, mir die Welt vorzustellen, wie sie erlöst ist, von Gott gerettet?! Wie könnte sie aussehen? Wie wird es sein?

Sehnsuchtsbilder zu zeichnen, die Welt, wie sie sein kann. Und diese Bilder wie Sterne ins adventliche Fenster hängen, Lichtpunkte der Sehnsucht in der Welt, Lichtpunkte der Rettung auch. Auch das eine mögliche Aufgabe im Advent, Erlösung auszumalen, sie mir mit anderen vorzustellen. Von ihr zu erzählen, Gottes Rettung Ausdruck zu verleihen, reifen zu lassen und damit ihren Raum in der Welt zu vergrößern.

 Und dann kommt noch einmal Freude auf:

Und es wird dort (in der Wüste)  ein Damm sein, ein Weg, der der heilige Weg heißen wird. Auf ihm kann kein Makliger (unreiner) wandern. Selber ER geht ihnen den Weg voran, dass auch Toren sich nicht verlaufen. Es wird da kein Löwe sein  und kein reißendes Tier darauf gehen; sie sind dort nicht zu finden, sondern die Erlösten werden dort gehen. Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen  und nach Zion kommen mit Jauchzen ewige Freude wird über ihrem Haupte sein;  Freude und Wonne werden sie ergreifen  und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.

Die Befreiten aus dem Volk Israel werden nach Hause kommen. Auf sicherem Weg. Gott wird mit ihnen sein. Unreine werden nicht unter ihnen sein. Auf dem Weg, den Gott bereitet, kann sich niemand verlaufen.Es droht keine Gefahr von wilden Tieren. Gott selbst geht voran. Und so werden die Erlösten ankommen: Mit Jauchzen und Freude und Wonne. Am Ende wird nicht nur die Landschaft von Freude ergriffen,am Ende breitet sich die Freude unter den Menschen aus. Wird laut und hörbar. Das Ende ist ein Jauchzen! Freude! Wonne!

Freude gehört zum Advent. Stille Freude. Aber sie darf auch laut werden. Jauchzen!  Können Sie das? Jauchzen? Wo ist für Jauchzen Platz? In meiner Wohnung, bei Engel, Kerzenhalter und Stern? In meinem Herzen?

Vielleicht sollten wir täglich mindestens einmal jauchzen – um der Freude im Advent Ausdruck zu verleihen. Um sie groß werden zu lassen. Von Gott her gedacht. In unserer Zeit. Vielleicht ist es wie beim Lachen, von dem gesagt wird, dass es schon reiche, die Gesichtszüge zu verziehen. Ich muss nicht froh sein. Aber wenn ich die Mundwinkel hochziehe, lächele, wirkt es trotzdem. Wenn unser Jauchzen so der Erlösung den Weg bereiten könnte, mithelfen könnte - das wäre doch was, oder?!

Advent ist Zeit der Freude. Ich mag ihr trauen. Mich trauen, die Freude großwerden zu lassen. Denn seht: Gott kommt. Rettet. Erlöst. Mag die Sehnsucht danach in uns wachsen und reifen, dass sie laut wird und die Erde das Jauchzen lernt! Amen.

Tochter Zion freue Dich!

 

* in Klammern habe ich „beredte“ Worte aus der Übersetzung von Buber/Rosenzweig ergänzt.

* Gamal in Vers 4 kann vergelten, aber auch reifen, vollbringen und abstillen bedeuten. Deshalb folge ich hier der Übersetzung Buber/Rosenzweig.

Bei Luther heißt es: Gott, der vergilt, kommt und wird euch helfen.

* Bei Luther heißt es:

Kein Unreiner darf ihn betreten;

nur sie werden auf ihm gehen;

auch die Toren dürfen nicht darauf herumirren.

Perikope
09.12.2018
35,3-10

Eine kleine Geschichte vom Untergang der Welt - Predigt zu Jesaja 35,3-10 von Thomas Thieme

Eine kleine Geschichte vom Untergang der Welt - Predigt zu Jesaja 35,3-10 von Thomas Thieme
35,3-10

Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!

Er hatte mit seinen Fäusten schon auf so viele Stammtische gehauen - jetzt waren ihm die Hände müde. Immer wieder hatte er mit der Faust auf den Tisch gehauen, war aufgesprungen und hatte seine Meinung laut gesagt. Vom vielen Springen und Stehen bekam er schon wankende Knie.

Am Anfang wollte er noch etwas bewahren. „Es war doch nicht alles schlecht hier.“ Das war seine Standardantwort, wenn die Tochter mit dem Enkel zu Besuch war und das Thema auf die Schule kam. Der Enkel lernte anders und anderes und vor allem mit anderen. „Die Bekloppten brauchen doch viel mehr Aufmerksamkeit.“ Rief er und seine Tochter meinte halb angewidert, halb vertraut „Das sagt man nicht mehr Papa.“ „Was denn?“ meinte er „Ich hab doch Recht.“ Und Mutter sagte dann meistens „Lass doch. Haste schon gehört, der Klotz Michi hat jetzt Arbeit in der Stadt. Endlich. Und jetzt überlegt er, ob er sich ne Wohnung da nimmt, weil der Weg ist doch so weit und wenn er mal ne Frau trifft, na die kann er ja nicht bis hier rausbringen, wo er doch noch bei Mutti wohnt. Die wird’s dann aber schwer haben. Der Michi macht ja alles und fährt se überall hin zum Arzt und zum Einkaufen und so.“

Da hat er wieder mit der Faust auf den Tisch gehauen und gerufen „Weil se hier alles dicht gemacht haben. Früher gab’s hier alles. Bäcker, Fleischer, Arzt und den Kuhstall mit Arbeit für alle. Wer mit Kühen nicht konnte, der ist zu Schmidtchen in die Schrottbude. Und jetzt. Nüscht mehr. Alles tot und wenn wir hier den Löffel abgeben, dann is wirklich alles tot.“ „Ach Lass doch.“ Hat Mutter dann gesagt. „Die da oben machen doch eh, was sie wollen.“ „Wer sind denn ‚die da oben‘?“ Fragte die Tochter halb genervt, halb vertraut, weil sie wusste, gleich haut er wieder auf den Tisch und ruft „Die Verbrecher. Die gehören alle abgestraft. Warts nur ab, die kriegen schon noch ihr Fett weg.“

Sagt den verzagten Herzen:

»Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.«

„Gott kommt uns entgegen!“ Auf einmal wurde der Pfarrer laut. Die Sache war ihm wichtig, darum wiederholte er sie mit der Betonung auf dem ‚ER‘ „ER kommt uns entgegen. Darauf müssen wir uns einstellen und nicht noch mehr Handys kaufen und all den Weihnachtsplunder, der morgen schon Müll ist. Auf Gott bereiten wir uns auch nicht mit Glühwein vor. Der Zapfhahn ist keine Wüstenquelle, er ist eine Fata Morgana.“ Er dachte an Fatima, die bei Getränke-Maik arbeitet, aber selber keinen Alkohol trinkt. Und daran, dass er noch Glühwein kaufen musste für den christlichen Weihnachtsmarkt.

Mitten in seine Überlegung sang der Seniorenchor „O Heiland reiß die Himmel auf, herab vom Himmel lauf.“ Und er dachte: „Ja, lass laufen, Heiland. Kannste alles Wegspülen hier. Das ganze Land, ein einziges Jammertal. Wenn’s nach mir ginge, müsste man den Laden dicht machen und völlig neu anfangen. Aber dann ohne diese ganzen Pfuscher und Idioten. Wie damals die Straße. Die haben wir schnurgerade übers Feld gezogen und links und rechts ham se gejammert. Rechts die Besitzer, links die Naturschützer und wir mitten durch für Frieden und Sozialismus. So müsste man das heute wieder machen. Nur ohne Sozialismus.

Und es wird dort eine Bahn sein und ein Weg, der der heilige Weg heißen wird. Kein Unreiner darf ihn betreten; nur sie werden auf ihm gehen; auch die Toren dürfen nicht darauf umherirren. Es wird da kein Löwe sein und kein reißendes Tier darauf gehen; sie sind dort nicht zu finden, sondern die Erlösten werden dort gehen.

Am Montag begann es zu regnen. Erst nur ein wenig. Aber ab Mittag groß es wie aus Kübeln. Zuerst lief der alte Flutgraben längs der Dorfstraße voll. Das hatte es seit Ewigkeiten nicht mehr gegeben. Auf den Feldern rings um das Dorf bildeten sich erst kleine Lachen, dann richtige Seen. Dann liefen die Keller voll. Im Flutgraben war ein richtiger Fluss entstanden, der beharrlich am Unterbau der Straße nagte. Zwei Tage lang, dann war die Straße unterspült und sackte ab. Nun saßen alle fest auf der Insel im braunen Meer, weil das Wasser den lehmigen Boden aufweichte. Feuerwehr und Technisches Hilfswerk kamen mit Schlauchbooten zur Evakuierung. Sie schipperten zwischen den Häusern hindurch. Hielten mit Ferngläsern Ausschau nach Menschen, die auf ihren Dächern saßen und winkten. Sie riefen mit Megafonen in die Häuser. Oma Erna, die sonst keinen Meter ohne ihren Rollator schafft, musste sich mit einem Sprung aus dem Fenster ins Boot retten. Die Dorfbewohner wurden in der alten Kaserne gesammelt, die etwas außerhalb und auf einer Anhöhe lag. Wer im Kasino eintraf wurde begrüßt mit „Gott sei dank, du hast es geschafft.“ Oder „Himmel noch eins, was für eine Katastrophe. Zum Glück bist du jetzt hier.“ Alle bekamen heißen Tee, warme Decken und ausreichend Kekse. Der Seniorenchor sang Adventslieder und irgendwie war jeder froh, dass er selbst und der andere es hierher geschafft hatte.

Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und die Zunge des Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen.

Es regnete 10 Tage. Dann hörte es auf. Nach 12 Tagen brach der graue Himmel auf und eine strahlende Sonne beleuchtete die Überreste dessen, was einmal ihr Zuhause gewesen war. Die Bewohner kamen in einer langsamen Prozession von der Anhöhe in ihr Dorf zurück. Auf den Strahlen der Sonne kamen der Landrat und der Ministerpräsident. Fernsehteams und Reporter umschwärmten sie. Er hörte sie reden von einem Neuaufbau, einem Neuanfang und er dachte an „blühende Landschaften“ und dass er das alles schonmal gehört hatte. Schön sollte es werden, schöner als vorher. Mutter war ganz aus dem Häuschen. Ergriffen weinte sie ein paar Freudentränen in eine Kamera.

Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.

Die letzten Verse aus Jesaja, dass die Erlösten des Herrn wiederkommen mit Jauchzen und ewiger Freude, diese Verse haben für mich einen besonderen Klang und zwar den aus dem Deutschen Requiem von Johannes Brahms. Ein Requiem ist eigentlich ein Gottesdienst mit Geben für einen Toten. Aber Brahms schrieb sein Requiem als Trost für die Hinterbliebenen.

Für alle Mühseligen und Beladenen hat Jesaja den Trost, dass sie als Erlöste nach Zion kommen werden. Hört sich toll an, wenn wir gemeint sind. Aber je länger ich darüber nachdachte, desto weniger sicher wurde ich mir. Es ist doch so: Die Erlösung kommt nach dem Ende. Und selbst, wenn es nach dem Ende blühende Landschaften geben wird. Was wir zu Hause nennen, was wir als Heimat kennen - es wird vergehen. Weg, aus, Ende. Im besten Fall wandelt es sich, aber nicht zum Besseren. Wenn überhaupt, dann zu etwas völlig anderem.

Jesaja tröstet die, die heute schon verzagen, damit, dass Gott Rache üben wird. Das ist gut, denn es hält uns, die Gläubigen, zurück, selbst Rache zu üben. Aber damit sind wir nicht allein. Es gibt ja auch noch die, die wegen uns verzagen, die wegen uns Mühe haben oder Leid tragen, zum Beispiel darüber, dass sie ihre Heimat verlieren. Und seine Heimat verliert ja nicht nur der, der weggeht (weggehen muss). Sondern auch der, der bleibt, diejenigen, die zurückbleiben. Das gilt für Aleppo und das gilt für Asmara oder Kinshasa. Das gilt auch für Cottbus oder Frankfurt / Oder und das gilt auch für Wolfshagen oder Gumtow in der Prignitz.

Wir als Kirche wollen Vorreiter sein bei so ziemlich allem. Und dann passiert es eben - wer vorausreitet, hängt andere ab. Ist es da nicht tröstlich, dass wir alle auf die gleiche Weise zum Ende kommen? Das Ende wird zu uns kommen.

Hier unterscheidet sich übrigens Jesaja von Brahms. Jesaja sagt jedem, der es hören kann: wir werden die Erlösten - die anderen erfahren Gottes Rache. Aber mit dem Ton von Brahms wird daraus: Wenn Gott uns - die wir heute hier sitzen, wenn Gott uns auf den heiligen Weg leiten wird, dann nur zusammen mit allen, die wir abgehängt haben.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre Eure Herzen und Sinne bis ans Ende in Christus Jesus, durch den Gott die Welt richtet, als wollte er sie erlösen.

Amen.

Perikope
09.12.2018
35,3-10

Hoffnungsbilder - Predigt zu Jesaja 35, 4 – 6 von Walter Meyer-Roscher

Hoffnungsbilder - Predigt zu Jesaja 35, 4 – 6 von Walter Meyer-Roscher
35,4-6

Der Predigttext  lässt Bilder aufscheinen, die Hoffnung machen. Wir sehen  Bilder von der Verwandlung der Wüste in ein Land voller Leben; Bilder von der Heilung menschlicher Behinderungen und Gebrechen, von Begleitung und Geborgenheit in der Unwegsamkeit, von Freude, die Klage und Schmerz verbannt – Hoffnungsbilder.

Wir möchten uns ja gern, viel zu gern auf solche Bilder einlassen – schon gar in der Adventszeit, wenn das Licht der Kerzen die anderen Bilder, die uns das Jahr über bedrängen, ins Dunkel sinken lässt. Aber wirklich verdrängen können wir sie ja nicht. Sie kommen wieder – die Bilder von Unfrieden und Hass, Gewalt und Zerstörung, von Ungerechtigkeit, Hunger und Flüchtlingselend. Sie kommen wieder und bedrängen uns, verbreiten Angst, oft auch Resignation.

Sieht der Prophet sie nicht oder sieht er etwa über sie hinweg? Dann wären seine Hoffnungsbilder nur eine Illusion, ein Traum, der sich angesichts der rauen Wirklichkeit schnell wieder verflüchtigt. Nein, der Prophet hat sie durchaus vor Augen – die Bilder, die uns Angst machen. Er redet ja von müden Händen, wankenden Knien und von verzagten Herzen, die gestärkt und getröstet werden müssen.

Er redet in eine Zeit hinein, in der das Exil in Babylon nur noch ferne Erinnerung und die Hoffnung auf Heimkehr längst in Erfüllung gegangen ist. Aber diese Heimkehr ist nicht die erwartete große Wende in der Geschichte des Volkes Israel geworden. Die Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden hat sich schnell wieder abgenutzt. Die Realität ist voll von Enttäuschungen.

 Der Wiederaufbau von Stadt und Tempel ist nur schleppend vorangekommen. Kümmerlich, müde und armselig sind die Stichworte für alle Lebensbereiche geworden. Diejenigen, die den Ton angeben, haben als Hoffnungsträger abgewirtschaftet und durch Machtbesessenheit und Anfälligkeit für die Faszination der Gewalt  jede aufkeimende Hoffnung verspielt.

Nein, der Prophet kennt die bedrängenden, angstmachenden Bilder viel zu gut. Deshalb erwartet er beim Entwerfen seiner Hoffnungsbilder das Entscheidende auch nicht von Menschen. Sie können mit ihren begrenzten Kräften und ihrem eingeschränkten Durchsetzungsvermögen nicht Begründer der Hoffnung sein. Sagt den verzagten Herzen, so beginnt seine Botschaft: Fürchtet euch nicht. Seht, da ist euer Gott, er kommt und wird euch helfen.

Wieder nur eine Illusion? Wieder nur ein Traum, der sich vor dem Ansturm der uns täglich verfolgenden Bilder verflüchtigen wird? Wo ist er denn zu sehen und zu erfahren, dieser Gott, der kommt, um uns zu helfen? Für viele ist dies doch der eigentliche Grund für alle Hoffnungslosigkeit und Resignation: Das dumpfe Gefühl, nicht nur von aller Hoffnung, sondern auch von Gott verlassen zu sein.  

Aber vielleicht suchen sie ihn ja gar nicht da, wo er zu finden wäre. Vielleicht erwarten sie ja auch einen ganz anderen Gott als den, der kommt, um uns zu helfen.

Der Prophet sieht in seiner Zeit nach vorn. Seine Zusage zielt in die Zukunft. Wenn wir Advent feiern und mit Advent die Ankunft Gottes meinen, dann können wir auch zurückblicken und uns erinnern. Wir können zurückdenken an die Adventsgeschichte von dem, der in Gottes Auftrag und in seinem Namen gekommen ist: Jesus von Nazareth.

Die Adventsgeschichte berichtet tatsächlich, dass er so ganz anders gekommen ist als der erwartete Erlöser – ohne Macht und Gewalt, auch nicht von oben, so dass alle zu ihm aufblicken oder sich vor ihm ducken mussten. Kein Triumphator, kein Helfer, wie sich viele einen allmächtigen Gott vorstellen.

Der Evangelist, der seine Ankunft beschreibt, hat die alte Verheißung des Propheten durchaus vor Augen: Fürchtet euch nicht. Seht, da ist euer Gott. Er kommt und wird euch helfen. Und dann erzählt er, wie dieser Helfer in Gottes Namen und in seinem Auftrag auf einem Esel in die Heilige Stadt eingezogen ist, auf dem Reit- und Lasttier der armen Leute. Und er fügt hinzu: sanftmütig ist er gekommen.

Eine neue, ungewohnte und ganz und gar nicht erwartete Eigenschaft für den ersehnten Erlöser: sanftmütig. Nicht mit Macht und Gewalt hat er eine bessere, eine schöne neue Welt schaffen wollen, auf die zu hoffen es sich lohnt. Nein, durch seine Worte und seine Taten, sein Verhalten und sein Leben hat er Menschen ansprechen, beeindrucken und verändern wollen.

Ihm ging es weniger um die Demonstration von Gottes Allmacht. Seine Barmherzigkeit und seine Menschenfreundlichkeit wollte er denen nahebringen, die unter eigener Schuld und eigenem Versagen litten, die sich vom Leben übergangen fühlten, und die Macht anderer schmerzlich zu spüren bekamen. So hat er Vergebung gegen Gnadenlosigkeit, Versöhnung gegen Hass, Mitmenschlichkeit gegen Egoismus und Durchsetzungsvermögen zur Geltung gebracht. Im Namen Gottes hat er sich auf die Seite der Opfer, der zu kurz Gekommenen gestellt. Ihre Menschenwürde hat er ihnen wiedergegeben.

Wo er sich Menschen zugewandt hat, haben sie neue Hoffnung geschöpft und wieder zu leben begonnen. Da haben sie sich auch von seinem Geist in Bewegung setzen lassen,  um selbst mitzuhelfen, verwundetes, behindertes Leben zu heilen, gefährdetes Leben zu schützen und für das Lebensrecht der Ohnmächtigen einzutreten. In seiner Nähe haben sie alle verstanden, dass da ein Versprechen eingelöst ist: Siehe, da ist euer Gott. Er kommt, um euch zu helfen.

Wir können uns erinnern, die Adventszeit ist auch eine Zeit der Erinnerung daran, wie die alte Verheißung in Erfüllung gegangen ist.

Die Erinnerung aber kann zu einer Einladung und zu einer Aufforderung werden, wenn wir uns in den Sog der Geschichte vom Kommen dieses Jesus von Nazareth hineinziehen, wenn wir uns von seinem Geist in Bewegung bringen lassen. Er hat ja auch gesagt: Ich werde den Menschen zu allen Zeiten begegnen, jeden Tag. In den geringsten meiner Menschengeschwister werde ich auf sie zukommen. In den Ohnmächtigen und Unterdrückten, in den Versagern und in den Leidenden werde ich ihnen begegnen. In ihren Gesichtern können sie, müssen sie mich erkennen und wissen: was sie ihnen im Bösen oder Guten antun werden, das tun sie mir an.

Das ist Einladung und Aufforderung zugleich: Ihr könnt Gottes Menschenfreundlichkeit erfahren als Vergebung von Schuld, als Anerkennung von Menschenwürde und als Mut zum Leben, zu neuen Anfängen, zu Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit. Da wird aus der Erinnerung an die alte Verheißung vorwärtsweisende Gegenwart: Seht, da ist euer Gott. Er kommt, um euch zu helfen.

Da schieben sich tatsächlich vor die Bilder, die uns verfolgen, die Bilder von Verwundung, Behinderung und Vernichtung menschlichen Lebens, von gestörtem und zerstörtem Zusammenleben andere Bilder, Hoffnungsbilder: Menschen, die blind sind für die eigenen Möglichkeiten und für die Nöte anderer gehen plötzlich die Augen auf. Andere, die ihre Ohren verschlossen und sich in das Schneckenhaus ihrer Resignation zurückgezogen haben, hören wieder die alten Worte der Verheißung und der Mahnung. Menschen, die unbeweglich und starr geworden sind, kommen wieder in Bewegung. Andere, die den Weg verloren  haben, die den Weg zu sich selbst und zu ihren Mitmenschen nicht mehr finden konnten, sehen plötzlich einen Weg, auf dem sie gehen können. Sie sehen einen Weg, der sich in der Wüste eigener Verlassenheit und eigener Ängste auftut. Da wird sich diese Wüste verwandeln in ein Land, in dem sich zu leben, auf andere zuzugehen und mit anderen zusammenzuleben, lohnt. Die Erlösten werden dort gehen, sagt die alte Verheißung. So ist es und so wird es sein. Darauf könnt Ihr euch verlassen.

Amen

 

 

Perikope
09.12.2018
35,4-6

Schritte mit Gott - Predigt zu Jesaja 35, 3-10 von Dr. Sven Keppler

Schritte mit Gott - Predigt zu Jesaja 35, 3-10 von Dr. Sven Keppler
35,3-10

I. Liebe Gemeinde, was ist eigentlich aus dem Gelähmten geworden? Jesus sagt zu ihm: „Nimm dein Bett und geh.“ Und so geht er aus der Geschichte. Wir erfahren nicht, wie es mit ihm weitergeht. Nur ganz selten wird im Neuen Testament erzählt, was aus denen geworden ist, die Jesus geheilt hat. Welche Folgen ihre Begegnung mit Jesus auf Dauer gehabt hat.

Man könnte denken, es gehe nur um den Augenblick der Heilung. Diesen einmaligen Moment, in dem sich alles verändert. Wenn ein Mensch an Leib und Seele zurecht gebracht wird. Ist das, was danach geschieht, nicht mehr so wichtig? Ist es vielleicht normaler, als man es sich gewünscht hätte? Uneindeutiger? Fragwürdiger als der große Moment der Bekehrung?

Behalten wir diese Beobachtung im Hinterkopf, wenn wir auf den heutigen Predigttext hören. Er steht beim Propheten Jesaja im 35. Kapitel (V. 3-10).

 

II. Jesaja weiß von vier Schritten, die Gott mit seinen Menschen gehen will. Was Jesaja seinen Zeitgenossen verheißt, gilt heute noch genauso. Diese vier Schritte können nicht immer geradewegs hintereinander gegangen werden. Es gibt immer wieder ein lebendiges Vor- und Zurück. Aber wer sein Leben mit Gott führt, wird immer wieder vor einem dieser Schritte stehen.

Es beginnt mit Gottes Ankunft: Seht, da ist euer Gott, er kommt. Dann die Erneuerung: Wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Danach der Weg: Es wird dort eine Bahn sein, die der heilige Weg heißen wird. Und schließlich das Ziel: Die Erlösten des Herrn werden nach Zion kommen.

Ich möchte mit Ihnen Schritt für Schritt diesen Weg abschreiten. Versuchen wir zu spüren, wo Gott solche Schritte mit uns gegangen ist. Mit Ihnen. Mit mir. Und wo wir uns nach dem nächsten Schritt sehnen.

 

Der Anfang ist Gottes Ankunft. Der Advent. Damit beginnt jede Geschichte mit Gott, und deshalb gehört unser Text in die Adventszeit. Gott kommt. Seht, da ist euer Gott. Immer wieder ist das der Anfang. Aber wie ist das, wenn Gott uns nahekommt?

Liebe Gemeinde, ich glaube, es beginnt in meinem Inneren. Ich spüre, dass Gott mir sehr wichtig wird. Die Gedanken, die mir ansonsten im Kopf herumgehen, treten in den Hintergrund. Mein Denken und mein Fühlen kreist um diesen Gott, und ich trete in ein Zwiegespräch mit ihm. Wie dieses Gebet aussieht, kann ganz verschieden sein. In der Stille. Mit Worten. Oder auch so, dass ich etwas ganz Bestimmtes tun will.

In unserem Text beginnt Gottes Kommen mit einer Ermutigung: „Seid getrost, fürchtet euch nicht!“ Auch aus anderen Geschichten kennen wir das: Als der Engel zu Maria kommt, um Gottes Kommen in ihren Leib anzukündigen. Oder als die Engel den Hirten sagen, dass Gott als kleiner Mensch in die Krippe gekommen ist. Immer wieder dieses „Fürchtet euch nicht“.

Furcht ist menschlich, wenn Gott nahe kommt. Auch bei der Verheißung Jesajas verwundert es nicht. Denn es heißt dort: Gott kommt zur Rache. Daran lässt sich nichts beschönigen: Im Hebräischen steht das Wort naqam, und das heißt nichts anderes als Rache.

Mit anderen Worten: Wenn Gott zu einem Menschen kommt, dann kommt Klarheit in sein Leben. Es zeigt sich, was Gott gemäß ist und was Gott widerspricht, was verkehrt ist. Was im Leben des Menschen eigentlich keinen Raum haben soll. Wenn es heißt, Gott kommt zur Rache, dann meint das: Er wird beseitigen, was ihm zuwider ist.

Das löst natürlich Angst aus. Muss ich mich nicht fragen, ob nicht auch ich ihm zuwider bin? In Gottes Gegenwart kann doch nur das Heilige bestehen – und wenn ich mich selbst betrachte, finde ich wenig davon.

Ich lebe in ganz privatem Wohlstand, während um mich herum die Armut wächst. Als Christ müsste ich dafür sorgen, dass Menschen durch die frohe Botschaft erreicht werden. Stattdessen halte ich mich schüchtern zurück und warte, ob vielleicht jemand von selbst etwas wissen möchte.

Aber gerade auf diese Gedanken zielt das „Fürchtet euch nicht!“ Hierin liegt die Zusage: Wenn Gott kommt, dann wird das zu Ihrem Besten sein. Die Unterscheidungen, die dann aufbrechen werden, die werden Ihnen gut tun. Weil sich Gottes Nein nicht gegen Sie als Menschen richtet, sondern gegen das, was Ihr Leben belastet.

 

III. Durch die Begegnung ermöglicht Gott den nächsten Schritt: Gott will unser Leben erneuern. Unser Text bietet lauter Bilder der Erneuerung: Blinde werden sehen, Taube hören. Lahme werden springen wie der Hirsch. Und die Zunge eines Stummen wird frohlocken. Wenn Jesus Menschen geheilt hat, dann kam es zu genau diesen Momenten.

Er hat unterschieden: Zwischen dem Menschen, der Hilfe braucht, und dem, was ihn belastet. Das heißt nicht, dass wir unsere Probleme einfach abspalten sollen. Wenn ich ein schlechtes Auge habe, dann gehört es zu mir. Wenn mein Knie kaputt ist, dann leidet ein Teil von mir. Und wenn Schatten auf meiner Seele liegen, dann bin ich meine Trauer.

Aber ich bin mehr als das. Das zeigt mir Gott, wenn er mir nahe kommt. Ich bin mehr als die Summe meiner Krankheiten. Ich bin der Mensch, dem Gott nahe sein will. Den Gott liebt. Und mit dem er noch etwas vorhat. Dieser Mensch werde ich auch dann sein, wenn Gott mir eine Last genommen hat. Wenn der Schatten von meiner Seele gewichen ist. Vielleicht spüre ich mich dann wieder auf eine ganz neue Weise.

Liebe Gemeinde, für mich ist das schönste Bild für diese Erneuerung, dass da, wo es dürre war, neue Quellen sprudeln sollen. Das ist der Neuanfang: Wo ich mich dürre gefühlt habe, sprudelt es. Mein Kopf war matt, leer, kein frischer Gedanke. Meine Seele war müde, niedergeschlagen, mutlos. Mein Herz tat mir weh oder raste ohne Ruhe.

Aber wenn Gott mir nahe kommt und mich erneuert, dann sprudeln meine Gedanken und Gefühle wie neu belebt. Das sind die Heilungsgeschichten, die mitten aus dem Leben kommen. Die sich jeden Tag neu ereignen können. Vielleicht merken wir erst an diesen Folgen, dass Gott uns nahe war. Auch wenn wir sein Kommen gar nicht gespürt haben.

 

IV. An diesem Punkt meldet sich jedoch eine Frage. Die Frage, die ich zu Beginn der Predigt gestellt hatte: Wie geht es eigentlich weiter? Wenn es so einen Moment der Erneuerung in einem Leben gegeben hat – war das eine vereinzelte Insel? Ein Augenblick, an den man sich später dankbar erinnert. Der aber auch wieder verblasst, weil die alten Probleme wieder Oberhand gewinnen? Oder verändert sich etwas auf Dauer, wenn Gott mir nahe gekommen ist? Auch wenn die Heilungsgeschichten von Jesus meistens davon schweigen.

 

Unser Predigttext bleibt jedenfalls nicht bei der einmaligen Erneuerung stehen. Er spricht nicht nur davon, dass die Lahmen springen werden wie Hirsche. Sondern auch, dass es einen Weg für sie geben wird. Den heiligen Weg. Er ist ein Bild für das, was vor einem Menschen liegt, nachdem er von Gott zurechtgebracht und gestärkt worden ist.

Dieses Bild ist jedoch missverständlich. Jesaja schreibt, dass auf diesem Weg kein Unreiner und kein Idiot sein wird, kein Löwe und kein reißendes Tier. Soll das heißen, dass ein sorgloser Weg zu erwarten ist? Wenn Gott einen Menschen erneuert hat, dann bettet er ihn auf Rosen und lässt die Trauben in seinen Mund wachsen?

So ist dieses Bild nicht gemeint. Natürlich nicht. Der Weg, von dem Jesaja spricht, führt mitten durch die Wüste. Damals meinte er den Weg, der von der Gefangenschaft in Babylon, also vom heutigen Irak direkt nach Jerusalem führen sollte. Der Weg führte mitten durch die syrische Wüste.

Wer von Gott gestärkt und erfrischt worden ist, der hat also sehr wohl noch steinige Wege vor sich. Aber er muss diese Wege nicht alleine gehen. Er darf sie gehen mit den anderen Menschen, denen Gott nahe gekommen ist. Das ist gemeint, wenn es heißt: Es ist ein Weg für die Erlösten.

Und das ist auch eine Antwort auf die Frage, wie es nach den Heilungsgeschichten von Jesus weitergegangen ist. Wenn mir Gott nahe kommt, dann bin ich nicht der Einzige, dem das geschieht. Sondern er zeigt sich vielen, auf je eigene Weise. Dem einen in einer Notsituation. Der anderen im Alltag. Der einen, die lange darum gebetet hatte, und dem anderen, der gar nichts von Gott wissen wollte.

Diese Menschen bilden zusammen die Gemeinde, die große Kirche Jesu Christi. Wir sind gemeinsam auf dem Weg. Er führt durch die Wüsten des Lebens. Er mag viele Verästelungen haben. Aber es ist ein Weg, den Gott uns schenkt.

 

V. Und er hat ein Ziel. Das ist der letzte Punkt. Wir als Gemeinde empfinden dieses gemeinsame Ziel nicht unbedingt. Und als einzelne Personen erst recht nicht. Ganz individuelle Ziele hat jeder Mensch vor Augen. Aber letztlich führt der Weg zu einem Ziel, das uns alle verbindet.

Jesaja nennt es Zion. Also den Tempelberg in Jerusalem. Christen nennen es das Neue Jerusalem. Der große Neuanfang am Ende unseres Lebens. Die vollendete Gemeinschaft mit Gott. Amen.

Perikope
09.12.2018
35,3-10