Predigt zu Markus 10,2-9 von Heiko Naß

Predigt zu Markus 10,2-9 von Heiko Naß
10,2-9

Und er machte sich auf und kam von dort in das Gebiet von Judäa und jenseits des Jordans. Und abermals lief das Volk in Scharen bei ihm zusammen, und wie es seine Gewohnheit war, lehrte er sie abermals.

2 Und Pharisäer traten zu ihm und fragten ihn, ob ein Mann sich scheiden dürfe von seiner Frau; und sie versuchten ihn damit.
3 Er antwortete aber und sprach zu ihnen: Was hat euch Mose geboten?
4 Sie sprachen: Mose hat zugelassen, einen Scheidebrief zu schreiben und sich zu scheiden.
5 Jesus aber sprach zu ihnen: Um eures Herzens Härte willen hat er euch dieses Gebot geschrieben;
6 aber von Beginn der Schöpfung an hat Gott sie geschaffen als Mann und Frau.
7 Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und wird an seiner Frau hängen,
8 und die zwei werden ein Fleisch sein. So sind sie nun nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch.
9 Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.

Liebe Gemeinde,

die scharfen Worte Jesu lösen bei mir zwiespältige Gefühle aus.

Ich denke beim Hören zunächst an Menschen, die ihre Ehe als Ort der Geborgenheit und des tiefsten Glücks erfahren, an Feiern von goldenen und diamantenen, ja eisernen  Ehejubiläen, die von der kostbaren Tragkraft einer Beziehung erzählen. Als wir einmal eine diamantene Hochzeit im Gottesdienst feierten, da standen alle, zeigten ihren Respekt und Hochachtung von den alten Jubilaren, die sich gegenseitig in ihrer langen Ehe getragen haben. In guten wie in bösen Tagen war nicht nur sprichwörtlich, es war tiefe Lebenswahrheit und auch offensichtlich, dass hier das Ehebündnis bis zum Tod des Ehepartners dauern würde.

Gleichzeitig aber denke ich auch an Menschen, die erst dann wieder glücklich wurden, als sie sich aus einer Beziehung, die ihnen zum Albtraum wurde, lösen konnten, oft begleitet von unsäglichen Schuldvorwürfen, Scheidungsanwalt und erfahrenen Verletzungen. Und schließlich denke ich an Menschen, die zwar für sich das Glück einer Ehe wünschen, aber es doch nicht erlangen können, weil sie auf paradoxe Weise Angst haben, sich zu binden.

Es irritiert mich, in diesem Text den sonst so sanften Jesus so hart zu erleben. Und gleichzeitig irritieren mich Schilderungen an anderer Stelle, den hier so harten Jesus, als er tatsächlich einer Ehebrecherin begegnete, dann sanft zu erleben. Als zu einem anderen Zeitpunkt einmal ein Haufen Männer eine Frau zu Jesus schleppten und sie bereit waren, sie zu steinigen, da kniete sich Jesus hin zur Frau, schrieb Worte in den Sand und sagte: wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.

Wir können den Textabschnitt von heute nicht ohne den anderen Textabschnitt lesen und wir können die Worte von damals auch nicht ohne unsere Erfahrungen von heute lesen und verstehen.

Mit diesen Erfahrungen versuche ich noch einmal einen Einstieg in den Text. Am Anfang heißt es dort: Abermals lief das Volk in Scharen bei ihm zusammen, und wie es seine Gewohnheit war, lehrte er sie abermals.

Das klingt alles andere als spannend. Das klingt nach wenig Begeisterung, wenig Feuer, wenig Lust, dafür um so mehr Langeweile. Jesus wirkt wie ein etwas müde gewordener Prediger in Sachen Gottes.

Das ging den Zuhörern vermutlich auch so. Und einigen von ihnen,  eine Gruppe von gelehrten Leuten aus dem Kreis der Pharisäern, wurde es wohl etwas zu bunt und sie sich überlegten sich, wie sie die Debatte ein wenig in Gang bringen könnten. Sie versuchten ihn, steht später im Text. Ich verstehe das ein wenig anders. Sie nehmen ein Thema, von dem sie wissen, dass Jesus darauf anspringen würde und legen los: Ist es erlaubt, dass sich ein Mann von seiner Frau scheiden darf?

Das sagen sie so. Es gibt keinen konkreten Anlass. Die Freude an der Provokation.

Es gibt Fragen, die sind wie ein rotes Tuch. Ich kenne das von mir auch. Ich reagiere unwirsch auf bestimmte Themen, auf  bestimmte Fragen, auf bestimmte Leute. Ich werde scharf und schieße in meiner Antwort über das Ziel hinaus. Hinter ärgere ich mich darüber – du hättest das doch wissen können, sage ich mir ehrlich schuldbewusst, dass es eine solche „rote Tuch-Situation“ war und ich mehr hineingetragen habe in die Situation, als wirklich drin steckte.

Das, so vermute ich, passiert auch hier. Jesus, ich sage das so ungeschützt, fällt auf die Fragestellung herein. Das macht ihn ausgesprochen menschlich. Aber was wird Jesus bei dieser Frage so geärgert haben?

Es ist nicht die Sache nach Ehescheidung selbst. Es ist die Frage, was erlaubt ist.

Denn die Frage eröffnet ein Spiel. Etwas Heiliges wird auf’s Spiel gesetzt. Die Frage nach den Grundlagen menschlichen Miteinanders wird plötzlich Gestand gelehrter Diskussion. Und mehr noch: es ist eine durch und durch männliche Sichtweise, die dort eingetragen wird. Wieso sollte es nur dem Mann erlaubt sein, sich zu scheiden, ohne Absehung, was sein Handeln mit der Frau bewirkt? 

Eigentlich ist ein solches Fabulieren auch die Lebenseinstellung unserer Zeit par excellence. Ist es erlaubt, am Sonntag seine Geschäfte zu öffnen, könnten wir fragen. Ist es erlaubt, zur Behandlung von Krankheiten auf embryonale Stammzellen zurück zu greifen, auch wenn dabei werdendes Leben abgetötet wird? Ist aktive Hilfe beim Sterben erlaubt?

Jesus reagiert, wie wir reagieren würden und fragt zunächst zurück: Wie ist denn die Gesetzeslage? In seiner Zeit heißt das: Was hat euch Mose geboten?

Die Pharisäer antworten sofort, denn mit dieser Frage haben sie gerechnet: Mose hat es zugelassen, einen Scheidebrief zu schreiben, sagen sie. Ein starkes Argument ist das. Die Schrift scheint eindeutig zu sein. Ein Bibelspruch legitimiert eine Einstellung. Das ist eine bewährte Form, einen anderen mit der Bibel in der Hand bildlich zu erschlagen. So hat man in späteren Jahrhunderten auch Bibelsprüche herangezogen, um die Unterordnung der Frau unter den Mann zu rechtfertigen oder um Schwule und Lesben zu disqualifizieren.

Jesus fühlt das, er der für Heiligkeit der Schrift stehen will, weiß, dass er mit einem Schriftbeweis in die Enge getrieben werden soll. Er weiß, dass die Gelehrten gleich triumphieren und damit auch seine Ernsthaftigkeit verspotten werden.

Und darum schlägt er zugeben gereizt und argumentativ unsauber zurück: Um eurer Herzenshärtigkeit willen hat Mose dieses geschrieben, entfährt es ihm.

Warum ist das böser, als es im Deutschen klingt? Herzenshärtigkeit heißt Griechisch Kardiosklerose – wenn man das, frei nach Luthers auf deutsche Maul schauen übersetzen würde, stünde da der Ausdruck: Ihr seid einfach verkalkt!

Ja, liebe Schwestern und Brüder, wer meint, dass die Bibel nur ein frommes Buch sei, der lasse sich an dieser Stelle eines besseren belehren.

Und deswegen lohnt es sich, jetzt genauer hin zu sehen. Jetzt steht da das kleine Wort „aber“ in der Rede Jesu. „Aber“ bedeutet eine Kehrtwende. Es markiert hier den Augenblick, da Jesus merkt bei allem berechtigten Zorn, dass er zu weit gegangen ist.

Denn es geht nicht darum, seine Gesprächsgegner zu beleidigen. Es geht darum, auch sie zu gewinnen.

„Aber“ sagt er, - und nun kommt zum ersten Mal in dem begonnenen Gespräch das Wort Gott vor. Jesus legt offen, was für ihn der Grund seiner Emotionen war: von Anbeginn der Schöpfung hat Gott sie geschaffen als Mann und Frau.

Nun geht es ihm in der Argumentation nicht mehr um Möglichkeiten, nun geht es ihm um Gott, um Gottes ursprüngliches Beginnen. Nun geht es ihm um ein Ergründen, was es heißt, dass Mann und Frau füreinander da sind, Frau und Mann.

Gott hat Frau und Mann füreinander geschaffen. Sie sind  aneinander gewiesen.

In der Liebe zweier Menschen kommt auch die Liebe zum Nächsten zum Tragen, sie ist sozusagen das Urbeispiel dafür. Und mehr noch, die Liebe zum Nächsten ist nur möglich, wenn man sich selbst gegenüber Liebe und Respekt beimisst, auf sich selbst achtet, sorgfältig lebt, versucht glücklich zu sein.  

Jede, jeder, die oder der darum nur ich sagt,  und in allem fragt, was erlaubt ist, setzt Gott und den anderen auf’s Spiel. In Gottes ursprünglichem Beginnen aber steht sein Wille, dass diese Welt durchwirkt wird mit Liebe. Und die Liebe zwischen Mann und Frau ist das Siegel auf diesem Willen, bekräftigt ihn und lässt ihn glaubwürdig werden. Ein kostbarer Wille, und eine wunderbare Verheißung Gottes und darum umso ernsthafter zu wahren.

Kein Wunder, dass Jesus so zornig wurde, als er gefragt wurde, ist es erlaubt, mit dieser Verheißung zu spielen.

Liebe Gemeinde, wir leben jenseits von Eden und es gibt nachvollziehbare Gründe, dass Mann und Frau, die ihren Lebensweg im Teilen der Liebe begonnen haben, an einem Punkt merken, es geht nicht mehr miteinander.

Moralisch sollte man da nicht werden, so wenig wie Jesus moralisch wurde, als ihm in konkreter Situation Frauen begegneten, denen von Männern vorgeworfen wurde, sie hätten die Ehe gebrochen.  Da wurde er einfühlsam in die Not, in die Wunden geschlagener Verletzungen, die diese Frauen mit sich trugen, da wurde er nicht urteilend, sondern barmherzig und gnädig.

So geht es hier nicht um Urteile, sondern darum, von Gott zu sprechen und daran zu erinnern, dass von Anbeginn der Wille Gottes nach Liebe diese Welt durchzieht, dass er als ein Beispiel seiner Liebe die Liebe von Frau und Mann in der Welt schuf, dass es wunderbare, erfüllende – wohlwissend private Augenblicke – in einer Ehe zwischen Frau und Mann gibt, dass die Erfahrungen von Geborgenheit und Fürsorge tragen können, ein Leben lang, dass auf diesem Gelingen ein Segen liegt, und dass darum auch das Wort Jesu wahr ist, der Mensch solle nicht scheiden, was Gott zusammengefügt hat.

Dass alles lässt sich sagen – und dann das Gelingen und das Scheitern in Gottes Hand legen, in der wir geborgen sind und aus deren Gnade und Barmherzigkeit wir leben Tag um Tag.

Und der Friede Gottes, der höher ist, als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne, in Christus Jesus.

Amen.

Perikope
18.10.2015
10,2-9

Befreiendes Wort - "Wir können neu ins Leben gehen" - Predigt zu Markus 2,1-12 von Heinz Janssen

Befreiendes Wort - "Wir können neu ins Leben gehen" - Predigt zu Markus 2,1-12 von Heinz Janssen
2,1-12

Befreiendes Wort - "Wir können neu ins Leben gehen"

Liebe Gemeinde,

ein Haus, berstend voll, weil dort einer "das Wort" sagt. Ein kraftvolles und befreiendes Wort. Wie spannend, wie kraftvoll und mitreißend muss dieses Sagen, Aussprechen von lebenswichtigen Einsichten gewesen sein. Es muss sich um ein besonderes Wort gehandelt haben, dem die Menschen sogar die Kraft zutrauten, einen gelähmten Menschen aus seiner „Unbeweglichkeit“ herauszuholen. Es das Wort (vom Reich) Gottes, das die Menschen in jenem Haus zusammenkommen ließ. Er, Jesus von Nazareth, der Gottes Wort weitersagte, war der umringte Mittelpunkt.

Geschlossener Raum, geschlossene Gesellschaft?

Hörende, Zuhörende, Neugierige, Wissbegierige, Skeptiker und Glaubende bilden für einen kleinen Trupp ein Hindernis: für vier Menschen, die eine Liege mit einem Gelähmten tragen. Kein Durchkommen, keine Gasse, die sich bildet. Das Haus erweist sich als geschlossener Raum, die Hörenden als geschlossene Gesellschaft. Kein Durchkommen. Schlimm, wenn heute unsere Kirche, unser Land, unser Europa, ein geschlossener Raum wäre und die Menschen sich als geschlossene Gesellschaft verstehen würden. Hören wir noch etwas mehr in die Bibelgeschichte hinein. Seltsam, die Träger waren doch nicht stumm. Haben sie nicht gerufen, um Platz gebeten, erst leise, dann laut?

Lähmungen entgegenwirken

Dem Evangelisten Markus scheint es nicht allein um eine körperliche Lähmung zu gehen, nicht allein um eine einzige betroffene Person. Mit "Platz da", "aus dem Weg", "Jesus, hilf uns", hätte sich doch alles leichter regeln lassen. Waren die Zungen der Träger gelähmt? War es einfach nur pfiffiger, das mit Lehm bedeckte Flachdach abzudecken oder war es als Erzählung für den Evangelisten interessanter?

Übertragen wir das Geschehen in unser Leben heute: Ein Mensch ist uns anvertraut, der sich selbst nicht helfen kann – so wie in dieser Geschichte. Anvertraut, er braucht unser Vertrauen, er ist mit uns in eine Beziehung gebracht, er ist uns meist sogar sehr vertraut als Familienangehöriger, befreundet, Nachbar, Kollege oder Kollegin. Vertraut sind wir dann auch mit seinem Schicksal, welches die Lähmung oder Hilfsbedürftigkeit ausmacht. Wir sind mit hineingezogen in die Lebensgeschichte, in Irrungen und Wirrungen oder in das Unglück. Wir sind Mitbetroffene (Beispiele ...) - und Betroffenheit kann sprachlos machen, die Zunge lähmen.

Mitbetroffen, mitverwickelt sein, bedeutet: Ich muss an der Befreiung von der Lähmung mitarbeiten, meinen aktiven Anteil an Arbeit bei der Entwirrung und dem Aufdecken der Ursachen tun. In der Bibelgeschichte decken sie das Dach des Hauses auf, in dem das Wort Gottes als Lebensmitte von Jesus gesagt wird. Die vier Träger verschaffen sich Zugang zum Zentrum, können sehen, erkennen und erst jetzt den nächsten wesentlichen Schritt wagen. Die gelähmte Person Jesus präsentieren, darbieten, vor die Füße legen.

Krankheiten - eine Strafe Gottes?

Als Jesus – so hören wir – ihren Glauben sah, wurde er aktiv. Nicht der Gelähmte wird genannt, nein die Träger. Weil sie glauben, spricht Jesus dem Gelähmten die Vergebung der Sünden zu. Laufen kann der Gelähmte dadurch noch nicht. Zuerst weist Jesus auch auf etwas ganz anderes hin. Vier Tragende, Mittragende, legen Jesus den anvertrauten Gelähmten vor die Füße. Jesus erkennt die wechselseitigen Beziehungen der kleinen Gemeinschaft, die Auswirkungen von lähmenden Sünden auf die eine Person und ihr Umfeld. Von anderen Bibelstellen, besonders von der Heilung eines blindgeborenen Menschen (Johannes 9), wissen wir sehr genau: Krankheiten, also auch die Lähmung, sind nach Auffassung Jesu keine Strafe Gottes für begangene Sünden.

Was aber einleuchtend ist: es gibt sündiges, verfehltes Leben, das krank macht.
Verhindertes Gehen auf guten Wegen durch Verstrickung in Lügen, Gewalt und Betrug kann zum Beispiel Lähmungen bewirken. Hier bin ich, um herauszukommen, auf Vergebung angewiesen. Habe ich diese Vergebung erfahren, so wirkt es sich bei den Trägern, den Mittragenden, aus, gleichgültig, ob sie Mitträger des Guten oder des bösartig lähmenden Verhaltens waren. Die ganze Gemeinschaft ist betroffen, der tragende wie der getragene Mensch. Noch hat der Verlauf der Erzählung dem Gelähmten nicht zum Gehen verholfen.

Die Vollmacht Jesu wird in Frage gestellt. War die Menschenmasse erst noch an seinem Wort interessiert, bezweifelten es diejenigen, welche sich mit Gott auszukennen meinten. Die Kircheninsider sozusagen sind sogar entsetzt, bis ins Herz getroffen. Jesus konfrontiert sie mit der Frage: Was ist leichter zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher? Dann erst schickt Jesus den Gelähmten heraus aus der Lähmung in die Bewegung.

Das eigentliche Wunder

Einfach nur ein Machtexempel? Nur eine rhetorische Frage wie die: Wer war zuerst da – die Henne oder das Ei? – Nein, Jesus gibt die Antwort: Wenn Gott vergibt – und wir dürfen seine Vergebung weitergeben -, kann ein Mensch wieder in Bewegung kommen, dann ist er in der Lage, sogar seine Liege, sein Bett, zu nehmen wie einen Teil seiner Lebensgeschichte, zuzupacken und zu tragen, ohne daran unbeweglich gefesselt zu sein. Das ist das eigentliche Wunder, das Wunder, das auch heute immer noch geschehen kann: Dir sind deine Sünden vergeben, steht auf, nimm dein ganzes Leben in die Hand, du kannst es tragen, du bist in Bewegung gekommen, geh deinen Weg mit Gott!

Kirche ein offenes Haus – Gemeinde eine tragende Gemeinschaft

In diesem Sinn soll unsere Kirche ein offener Raum, ein offenes Haus für alle sein - und die Menschen, denen sie wichtig ist, sollen eine offene, hörende und helfende, eine tragende und mittragende Gemeinde sein. So können wir, wie wir es gleich singen (EG 432), "neu ins Leben gehen".
 

Perikope
11.10.2015
2,1-12

Predigt in leichter Sprache zu Markus 2,1-12 von Christiane Neukirch

Predigt in leichter Sprache zu Markus 2,1-12 von Christiane Neukirch
2,1-12

(Diese Predigt ist bestimmt für einen Gottesdienst in Gebärdensprache. Deshalb ist sie in leichter Sprache verfasst und kürzer als Predigten für hörende Gemeinden.)

Liebe Gemeinde!

Ich stelle mir vor: da sitzt er, der Mann aus der Geschichte – früher gelähmt, jetzt wieder gesund. Ich stelle mir vor, er sitzt hier, aufrecht und munter bei uns!

Ich möchte ihn fragen: wie geht es Dir heute? Was hast du uns zu erzählen? Ich möchte ihm das Wort geben! Er sagt:

Ihr Lieben! Ich freue mich sehr, dass ich heute bei euch sein kann!

Was ich erlebt habe, das war unglaublich. Ich war gelähmt, konnte mich nicht bewegen. Ehrlich: Manchmal habe ich gedacht: besser, ich bin gar nicht mehr da, dann hat keiner Mühe mit mir. Das waren schreckliche Stunden. Ich fühlte mich hilflos und ausgeliefert und ich fühlte mich auch noch schuldig, weil andere durch mich leiden mussten, weniger Zeit hatten für sich und ihr Leben, Mühe und Arbeit mit mir hatten.

Aber meine Freunde haben immer gesagt: du wirst wieder gesund! Meine Freunde haben die Hoffnung, den Glauben an Gottes Hilfe, nie aufgegeben. Der beste Beweis dafür: dieser Tag, als Jesus kommt. Ich sehe es noch vor mir: meine Freunde tragen mich da zu dem Haus, und wir haben keine Chance, reinzukommen. Sie überlegen kurz miteinander und dann los, hoch aufs Dach mit mir und ich denke: Huch? Was machen die denn mit mir?? Schnell begreife ich: die machen ein Loch ins Dach! Das gibt´s doch nicht?! Die wollen mich da runter lassen - wenn das nur gut geht? Aber wie peinlich: dann sehen mich alle da im Haus!! Und gleichzeitig bin ich doch glücklich und stolz auf diese Freunde!

Heute denke ich: Richtige Freundschaft – die gibt´s nur mit Geben und Annehmen. Geben ist leicht. Annehmen ist schwer, für mich war es lange so. Ich kenne viele Menschen, für die ist das Annehmen auch schwer. Besser allein leiden, nur nicht andere bitten müssen: helft mir und die anderen damit nerven und stören! Auf der anderen Seite: Hilfe bekommen, nicht allein gelassen werden – das tut so gut!! Ich bin sicher: genau das haben meine Freunde auch gefühlt. Vielleicht konnte ich ihnen mit meiner Freude und Dankbarkeit doch etwas geben! Vielleicht gehören Geben und Nehmen zusammen?

Ja, und dann haben sie mich runtergelassen, genau vor die Füße von Jesus. Und da lag ich. Und was sagt Jesus als erstes zu mir? Er sagt ganz direkt zu mir: „Kind, deine Sünden sind dir vergeben.“ Ihr staunt vielleicht darüber. Bei euch sind „Sünden“ zu viele Kalorien zu essen oder zu schnell zu fahren mit dem Auto. Aber Sünden sind ja viel mehr! Wie oft hatte ich nachgedacht: warum, bin ich gelähmt? Warum gerade ich? Was hab ich falsch gemacht? Und dann ist mir schon dies und das eingefallen. Ja, ich hatte nicht alles gut gemacht in meinem Leben! Ich dachte immer: ich hab meine Krankheit verdient, sie ist die Strafe von Gott für irgendetwas?! Für was, das wollte ich herausfinden.

Und dann sagt Jesus: „Kind, deine Sünden sind dir vergeben“. Den Leuten im Haus bleibt der Atem stehen.

Aber ich weiß in diesem Moment genau: Jesus hat meine Gedanken und Gefühle verstanden – ohne lange mit mir geredet zu haben. Er hat nicht versucht, mich zu ändern – z.B. zu sagen: das ist ganz falsch, was du da denkst?! Oder zu sagen: was du fühlst, das stimmt ja nicht?! Jesus hat mich so akzeptiert, wie ich da war. Und hat einen Schlussstrich gezogen, mich befreit von dem Grübeln: was war früher. Heute kann ich sagen: Meine Sünden von früher, die hab ich losgelassen, sind nur noch „alte Suppe“, „Schnee von gestern“. Er, Gott, hat sie ja auch losgelassen! „Kind, deine Sünden sind dir vergeben!“ hat Jesus selbst gesagt.

Nur: gelähmt war ich ja immer noch?! Komisch. Die Sünden weg, also kein Grund mehr da für Strafe und ich war trotzdem krank?! Da habe ich verstanden: meine Lähmung – die war gar keine Strafe von Gott! Nein! Gott ist ganz anders als ich immer dachte! Barmherzig und freundlich – wie ich es in den Psalmen schon oft gelesen hatte! Er vergibt uns unsere Sünde! Er bestraft uns nicht mit Leid!

Und dann passierte es: Jesus sagt zu mir: „Steh auf, nimm dein Bett und geh nachhause!“ Und ich konnte es. Glaubt es oder nicht. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie das für mich war. Oder vielleicht doch?

Fühlt ihr eure Füße in den Strümpfen in den Schuhen? Ich habe sie lange nicht gefühlt!! Fühlt ihr, wie sie auf dem Boden stehen? Dann freut euch, genießt es!! Und jetzt legt mal eure Hände auf die Oberschenkel und spannt in den Beinen alle eure Muskeln an – und jetzt lasst sie wieder los! Wie weit haben euch eure Beine schon getragen! Wie hab ich mich früher danach gesehnt, meine Beine wieder bewegen zu können! Und jetzt kann ich es! Und nun geht mal in euern Rücken. Aufrecht sitzt ihr da! Könnt euch drehen und wenden, könnt euch bücken und hochstrecken. Ist das gut! Und jetzt schaut einander an – ihr seht euch auf Augenhöhe. Ich konnte andere immer nur von unten sehen und sie sahen auf mich herab. Jetzt bin ich aufrecht - so wie ihr. Großartig, einander ins Gesicht sehen zu können.

So hat Gott mich befreit, mich aufgerichtet und groß gemacht – so groß, wie ihr seid! Denkt an mich, wenn ihr euch klein und gelähmt fühlt – und vertraut auf Gottes Barmherzigkeit! Er wird euch auch befreien und immer wieder aufrichten!

Liebe Gemeinde! Ich kann mich nur noch bei dem Geheilten und beim Evangelisten Markus bedanken – wie gut, dass er uns diese Geschichte erzählt hat! Ich nehme daraus mit: wie schön Gemeinschaft ist, wie barmherzig Gott ist und wieviel er mir täglich schenkt.

Amen.

Perikope
11.10.2015
2,1-12

Predigt zu Markus 2,1-12 von Antje Marklein

Predigt zu Markus 2,1-12 von Antje Marklein
2,1-12

‚Heile du mich, Herr, so werde ich heil‘ – Der Wochenspruch führt uns in das Thema des Sonntags hinein. Was ist heil, was ist Heilung? Natürlich fällt mir gleich die Gesundheit ein. Aber Heil ist viel mehr als körperliches Wohlbefinden.

Mit einem weiten Blick für das Wort ‚heil‘ hören wir die Geschichte von der ‚Heilung des Gelähmten‘:

Nach einigen Tagen ging Jesus wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war.
Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort.
Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen.
Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag.
Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.
Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen:
Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?
Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen?
Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher?
Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden - sprach er zu dem Gelähmten:
Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!
Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.


Liebe Gemeinde.

Über die vier möchte ich sprechen, die ihrem Freund Heil bringen. Die vier haben es mir angetan. Vier Menschen, die einen Gelähmten zu Jesus bringen. Vier Menschen, die sich darum kümmern, dass einer heil wird. Vier Menschen, die ihre gesamte Energie in die Heilung des Einen stecken. Manchmal ist das nötig. Ich kenne das.  Manchmal kann ich nicht selbst für mich sorgen. Dann brauche ich Menschen, die sich für mich einsetzen, die tun, wofür ich gerade keine Kraft habe. Manchmal  müssen es sogar vier sein, die mir Heil bringen.

Sie wohnen in  Weetzen. Karina, Alfred, Birgit und Hans. Eigentlich kannten sie sich vorher gar nicht. Aber irgendwie sind sie alle zum ‚AK Willkommen‘ dazu gestoßen.  Hans wollte Deutschkurse anbieten. Karina  hat ein Auto und Zeit. Alfred kocht gern. Birgit kennt sich mit Behörden aus. Am Anfang hatten sie sich wenig zu sagen, nur: helfen wollten sie, wie alle. Im Flüchtlingsheim herrschen chaotische Zustände, hatten sie gehört. Und der AK willkommen braucht Unterstützung. Und dann geht es schnell. An einem Abend im Juni kommt eine Rundmail: Ab morgen geht ein Sudanese ins Kirchenasyl. Eine Unterstützergruppe bildet sich. Karina, Alfred, Birgit und Hans. Sie treffen sich mit  Admir im Gemeindehaus. Dort hat die Kirchengemeinde ihm den Konfirmandenraum eingerichtet.  Es gibt viel zu organisieren, und Admir kann weder Deutsch, noch lesen oder schreiben. Und  er darf  das Haus nicht verlassen. Um alles muss sich jemand kümmern. Den Einkauf, die Wäsche, das Essen, Besuch und soziale Kontakte, Sportmöglichkeiten, Verhandlungen mit der Kommune und dem Rechtsanwalt, und Unterricht. Lesen lernen, schreiben, deutsch. Manche Woche vergeht, da sehen sie sich täglich bei Admir. Karina, Alfred, Birgit und Hans. Hans lernt mit Admir. Karina kauft ein oder holt Lebensmittel von der Tafel, Alfred kann schnell die Gerichte kochen, die Admir kennt und mag, und Birgit verhandelt mit den Behörden.  Es gibt auch Konflikte, Rückschläge, Ungeduld und Verzweiflung. Aber Admir lernt schreiben, er lernt sich zu verständigen, und er bekommt immer mehr Kontakt in der Gemeinde. Nach 10 Monaten darf Admir umziehen, in eine kleine Wohnung, versehen mit einem Aufenthaltsstatus und begleitet von Karina, Alfred, Birgit und Hans. --

Anna ist alt. Den 87. Geburtstag haben sie noch gefeiert vor ein paar Wochen. Annas Mann, Johann, und die drei Töchter Katrin, Sophie und Lina.  Sie haben mit Anna gelacht und auch ein bisschen geweint. Bilder angesehen, Kuchen gegessen, durcheinander geredet  und immer wieder auch geschwiegen. Am Abend sind Katrin und Sophie wieder in den Zug nach Hause gestiegen. Lina ist in ihre Wohnung nebenan gegangen. Johann hat Anna geholfen, sich  für die Nacht fertig zu machen, und sie haben früh geschlafen.

Dann geht es jeden Tag schlechter. Wenn Lina nachmittags nach der Arbeit vorbeikommt, sieht sie ihre Mutter meist nur noch im Sessel sitzen. Wenn Katrin anruft, hört sie die gebrochene Stimme ihrer  Mutter, und Katrin reißt sich zusammen, um aufmunternde  Worte zu finden. Sophie ruft nicht an. Sie verhandelt mit dem Pflegedienst, besorgt das Krankenbett, schickt jeden Tag eine bunte Postkarte.  Und Johann kocht seiner Frau Pudding, begleitet sie zum Bad, stellt die Waschmaschine an und wäscht das Geschirr. Er lässt den Pflegedienst rein und den Arzt.

Irgendwann will Anna nicht mehr aufstehen. Auch essen will sie nicht mehr. Sie wird im Bett versorgt, der Pflegedienst kommt öfter. Wenn Johann ihr die Kissen zurecht rückt, lächelt sie schwach. Aber meistens hat sie die Augen geschlossen.  Lina sitzt nachmittags am Bett ihrer Mutter und hält die Hand. Sie liest der Mutter die Postkarten von Sophie vor. Immer wieder. Und erzählt ihr von Katrin, die angerufen hat.

Dann sagt der Arzt: ‚Es geht zu Ende‘. Katrin und Sophie kommen mit dem Zug und quartieren sich bei Lina ein. Abwechselnd sitzen sie am Bett der Mutter oder mit dem Vater in der Küche.  Als die Atemzüge länger und die Abstände größer werden, sind die vier am Bett der Mutter versammelt. Johann, Katrin, Sophie und Lina. Ruhig liegt Anna da. Mit jedem schweren Atemzug weicht das Leben aus ihr. Johann streichelt ihre Hand, Katrin steht hinter Johann, Lina und Sophie halten sich fest.

Dann ist lange kein Atemzug mehr zu hören. Johann weint. Lina zündet eine Kerze an. Sophie lehnt sich an Katrin.  Und es ist eine große Erleichterung in der Luft.

Vier Menschen, die einem Menschen helfen auf seinem Weg, an einem Punkt, wo er allein nicht weiterkommt. Wo er allein nicht heil werden kann.

Im Markusevangelium steht die Geschichte als Heilungsgeschichte, und zugleich  wird die Heilung zum Thema eines Streites. Wer darf Sünden vergeben, wer kann heilen? Ein theologischer Skandal bahnt sich an. Was macht dieser  Jesus da?  Jesus sieht den starken Glauben der Freunde und sagt dem Gelähmten Vergebung zu. Darf er das? Kann er das?  Für mich ist diese Frage unwichtig, ja sogar konstruiert. So, als solle die Heilung des Mannes missbraucht werden für einen Streit  zwischen Jesus und seinen Gegnern.

Ich bin immer noch bei den Vieren. Vier Menschen, die einem Menschen helfen, heil zu werden.

‚Als nun Jesus ihren Glauben sah‘ – so schildert es der Evangelist; Jesus sieht, wie überzeugt die vier sind. Mehr noch als den Kranken sieht Jesus die, die ihn bringen. Als Jesus ihren Glauben sah… 

Und dann: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.  Heilung erfahren. Frei sein von Sünden. Jesus vergibt dem Kranken – oder auch: Jesus verhilft ihm zu einem ganz neuen Blick auf sein Leben, seine Welt, seine Beziehungen, seinen Gott.  Jesus macht den Gelähmten heil. Heil an Leib und Seele. Der Mann steht auf, nimmt sein Bett und geht.

In der Geschichte bringen der Glaube der Freunde und der Vergebungszuspruch von Jesus dem Gelähmten Heil. Er, der die ganze Zeit passiv ist, lässt sein krankes Leben hinter sich, nimmt sein Bett und geht. Nimmt sein gesundes Leben  in die Hand. Jetzt kann er sogar seine Freunde hinter sich lassen.  Das Netz, das ihn getragen hat, kann er ablegen.

Admir wird seine Freunde nicht mehr brauchen, und auch Anna ist jetzt heil in einer Welt ohne ihre Lieben. Das Netz, das getragen hat, wird überflüssig. Der Gelähmte ist aufgestanden und heil seinen Weg gegangen.

Im Markusevangelium wird die Geschichte so erzählt, dass ohne die vier keine Heilung möglich gewesen wäre.  Und Jesus hat das Seine dazu getan.

In den beiden Geschichten von Admir und Anna, die ich Ihnen erzählt habe, war auch ohne die vier keine Heilung möglich.

Und Jesus hat das Seine dazu getan.

Amen.

Perikope
11.10.2015
2,1-12

"Liebe überwindet Grenzen" - Predigt von Volker Jung

"Liebe überwindet Grenzen" - Predigt von Volker Jung
12,29-31

Predigt zu Markus 12, 29-31 von Volker Jung, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), im ARD-Fernsehgottesdienst am Tag der Deutschen Einheit, 3. Oktober 2015, im Dom St. Bartholomäus zu Frankfurt am Main.

 

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen.

 

Liebe Festgemeinde hier und zuhause,

An Tagen wie diesen …! – An Tagen wie diesen schauen wir dankbar zurück – auf die deutsche Einheit, die wir vor 25 Jahren wiedergewonnen haben. Auf den Mut vieler Menschen: Ihre Liebe zur Freiheit hat damals Grenzen geöffnet. Und wir schauen mit Dank zurück auf die vergangenen 25 Jahre neue, gemeinsame deutsche Geschichte. Es ist nicht selbstverständlich, dass so vieles gelungen ist. Es gibt viel Grund, dankbar zu sein: Dankbar für viele Menschen, die sich engagieren, damit alle hier gut leben können. Und dankbar für Gottes Güte, die diese Zeit erfüllt hat und erfüllt.

An Tagen wie diesen ist es aber auch gut, innezuhalten und sich auf das zu besinnen, worauf wir unser Zusammenleben gründen können, was Menschen verbindet und wichtig ist. Wir leben in einer höchst unruhigen Welt. Manche haben vor 25 Jahren gehofft: Die wichtigsten Probleme sind gelöst. Jetzt wird alles einfacher.

Ja – manches wurde gelöst. Anderes ist neu aufgebrochen. Was Menschen tun, schwankt immer zwischen Gelingen und Scheitern. Die Welt ist enger zusammengerückt.  Wir sind weltweit digital verbunden und wissen viel mehr voneinander. Chancen stehen neben Risiken. Das heißt auch: Weltweit sind Menschen unterwegs – auf der Suche nach einem guten Leben.

An Tagen wie diesen blenden wir das nicht in einem nationalen Hochgefühl aus. Dabei ist es gut, nach vorne zu schauen und die Zukunft zu gestalten. Es ist gut, bei den vielen Fragen und auch den vielen Stimmen, die raten und beraten, zu fragen: Worauf kommt es an? Was zählt wirklich?

"Welches Gebot ist das erste von allen?" – So hat der Schriftgelehrte Jesus gefragt. Und Jesus antwortete, indem er aus der hebräischen Bibel das alte Bekenntnis Israels zitiert. "Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft." Und Jesus hat  noch ein zweites Gebot dazu gefügt. Auch das ist ein Zitat aus den Heiligen Schriften Israels: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Jesus kommentiert: "Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden." (Markus 12, 29-31)

Der Schriftgelehrte hatte ehrliches Interesse. Selbstverständlich kannte er die Gebote in den Heiligen Schriften. Und es sind ja etliche. Die zehn Gebote und darüber hinaus noch mehr. 613 Gebote haben die Schriftgelehrten gezählt. Und so fragt er: Was muss ich mir auf jeden Fall einprägen? Woran kann ich mich immer verlässlich orientieren?

Gibt es in den vielen Angeboten und Geboten dieser Welt einen Orientierungspunkt?

Es gibt eine Richtungsanzeige. Einen Kompass für mein Leben.

Jesus redet von der Liebe. Genauer von einer dreifachen Liebe: der Liebe zu Gott, der Liebe zum Nächsten und der Liebe zu sich selbst. Die Liebe ist das höchste Gebot. Die Liebe ist der Kompass für das Leben.

Die Liebe verbindet Gott und Mensch. Die Liebe verbindet Mensch und Mensch. Vielleicht noch mehr: Die Liebe ist das Geheimnis des Lebens. Ohne Liebe wäre alles nichts. Der Apostel Paulus denkt so über die Liebe. Er schreibt: "Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte, wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts." Johann Sebastian Bach vermittelt es uns wunderbar musikalisch: Wie gut es ist, Gott, dem Nächsten und mir selbst mit Liebe zu begegnen.

Musik:
Herr, durch den Glauben wohn in mir, Lass ihn sich immer stärken,
Dass er sei fruchtbar für und für Und reich in guten Werken;
Dass er sei tätig durch die Lieb, Mit Freuden und Geduld sich üb, Dem Nächsten fort zu dienen.

So klingt Nächstenliebe bei Johann Sebastian Bach.

Ohne die Liebe wäre alles nichts. Weil es Liebe ist, die Menschen Kraft gibt. Die Liebe der Eltern macht Kinder stark und lebenstüchtig. Wir sehen den Schaden, wenn Kinder keine Liebe erfahren oder ihnen Schlimmes angetan wird. Die Liebe von Menschen trägt durch schwere Zeiten und gibt neuen Mut. Sie hilft, mit Einschränkungen zu leben. Viele Menschen sagen im Rückblick: Es war nicht allein der Erfolg, das Ansehen, die Karriere, die mein Leben wirklich erfüllt haben. Es waren die Menschen, die mit mir das Leben geteilt haben – meine Familie, meine Freunde – Menschen, die für mich da waren und für die ich da war. Und am Ende des Lebens ist es gut, nicht allein zu sein.

Jesus sagt: Die Liebe zu Gott, die Liebe zum Nächsten und die Liebe zu sich selbst gehören zusammen. Wenn du spürst, wie sehr du Liebe brauchst, dann spürst du auch, was andere Menschen brauchen. Und dann spürst du auch, was Gott will und was Gott dir schenkt.  

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Dein Nächster ist wie du darauf angewiesen, ihn in Not nicht verhungern, verdursten oder ertrinken zu lassen. Nächstenliebe ist darauf aus, anderen zu helfen, dass sie leben können. Sie schließt aus, andere vernichten zu wollen.

Es kann keine Gottesliebe geben, die das Leben von Menschen verachtet. Alle irren, die meinen, man könne mit Gottesliebe die Vernichtung von Menschen begründen. Das ist der große Irrweg. Auch die Christenheit hatte sich auf diesem Irrweg immer wieder verlaufen.

Gott, der uns in der Bibel bezeugt ist, ist der Gott der Liebe. Gott ruft nicht zum Hass, sondern zur Liebe, nicht zum Krieg, sondern zum Frieden. Und am Ende steht nicht der Tod, sondern das Leben.

Wenn wir solche Gedanken zu uns sprechen lassen, an Tagen wie diesen, dann ermutigen sie uns zu sehen, worauf es ankommt. Wir leben von Gottes Liebe, die uns ins Leben gerufen hat. Sie trägt und hält uns. Wir leben von der Liebe, die wir einander schenken.

Diese Liebe überwindet  Grenzen und  macht keinen Halt vor Grenzen zwischen Ländern, Kulturen und Religionen. Wer liebt, sieht im anderen Menschen nicht den Fremden, sondern die Schwester, den Bruder – auf Liebe angewiesen wie ich selbst.

Gott schenkt uns die Kraft, das Zusammenleben in unserem Land so zu gestalten, dass Menschen das leben können, worauf es ankommt – nämlich füreinander da zu sein. Gott schenkt uns die Kraft, dass wir damit beitragen zu einem guten und friedlichen Miteinander in Europa und in dieser Welt.

Amen.

Gemeinsam an einem Tisch sitzen - Predigt zu Mk 2,15-17 von Margot Käßmann

Gemeinsam an einem Tisch sitzen - Predigt zu Mk 2,15-17 von Margot Käßmann
2,15-17

Liebe Gemeinde,
vor vielen Jahren durfte ich als Jugenddelegierte an einer Kirchenkonferenz in Buenos Aires teilnehmen. Der deutsche Botschafter lud die beteiligten Bundesbürger zu einem Essen ein. Ich war ziemlich verunsichert angesichts all der Gläser und all der Besteckteile. Mein Nachbar raunte mir zu: „Immer von außen nach innen!“ Das war hilfreich! Aber wohl gefühlt habe ich mich nicht bei diesem Essen, so förmlich und steif – letzten Endes kam ich mir fehl am Platze vor. Dabei sollte diese Einladung doch eine Ehre sein. Viel lieber wäre ich mit den anderen Jugenddelegierten in die Pizzeria gegangen…


Es kann sehr  unangenehm sein, zu einem Essen eingeladen zu werden, bei dem du dich nicht als passend fühlst. Du kannst eingeladen sein, und dich trotzdem unwohl fühlen, weil du nur geduldet bist und nicht wirklich herzlich willkommen. An einem Tisch – da geht es auch um die Erfahrung von Ausgegrenzt-sein oder sich Angenommen-wissen.
Wir haben es gerade in der Geschichte aus dem Markusevangelium gehört: Der Tisch, die Tischgemeinschaft, sie sind geradezu ein Symbol für die Botschaft des Jesus von Nazareth. Er setzte sich mit Menschen zusammen, die offenbar nicht als feine Gesellschaft galten. Welche Leute waren das wohl? Was die oft genannten Zöllner betrifft, wissen wir zuallererst von Zachäus, dass sie gut Geld verdienen wollten. Und dabei sind wohl manches Mal Bestechung und Korruption im Spiel gewesen – nicht dass uns das heute unbekannt wäre! Jesus zeigt ein ganz persönliches Interesse an Zachäus. Er fragt ihn direkt, ob er abends bei ihm zu Gast sein könnte. Und die ebenso genannten Sünder, wen können wir uns darunter vorstellen? Jemand wie Maria, der in der Geschichte unterstellt wurde, dass sie Prostituierte war? Leute, vielleicht, die nicht so gut gerochen haben, weil sie nicht in geordneten Verhältnissen lebten, sondern auf der Straße? Auch mit ihnen will Jesus offensichtlich zusammen sein, er kommt in ihr Haus, lässt sich anrühren im wahrsten Sinne des Wortes. Es scheint ihm gleichgültig gewesen zu sein, was andere darüber dachten, wie sie ihn dadurch beurteilten.


Er hatte die innere Freiheit, sich mit Menschen zu umgeben, die ihn interessierten, und nicht mit Menschen, die ihm nützlich sein könnten.
Das war eine Provokation und führte zu sehr unterschiedlichen Reaktionen. Der Evangelist Markus erzählt, dass die Schriftgelehrten und Pharisäer sich darüber empörten. Jesus galt ja im Grunde als einer der ihren, auch er wurde als Lehrer der Schrift respektiert. Und so sahen sie wohl das Ansehen der eigenen Klasse gefährdet, wenn einer der ihren sich in solche Gesellschaft begab. Vorstellen können wir uns das auch in unserer Zeit nach dem Motto: Sage mir, mit wem du isst und ich sage dir, wer du bist. Bei denen, die die Gesellschaft als unwürdig ansahen, in die Jesus sich da begab, wird Verachtung den Ton angegeben haben: Dass der sich mit solchen Leuten abgibt, das schlägt auf ihn selbst zurück, disqualifiziert ihn.


Und die Jünger. Ob sie sich dafür geschämt haben, dass der Mann, dem sie nachfolgten, solche Leute einlud? Beziehungsweise zu solchen Leuten ins Haus ging? Vielleicht wären sie entspannter gewesen, wenn Jesus mit den Pharisäern und Schriftgelehrten gespeist hätte. Dann wäre ja auch ihr Status angehoben worden – schaut mal, mit wem wir Umgang haben! In höchsten Kreisen hat unser Anführer Zugang. Das ist glatt wie eine Einladung zum Sommerfest des Bundespräsidenten – eine Auszeichnung!


Der Dreh- und Angelpunkt in der Erzählung von Markus ist die Gemeinschaft.
Es geht bei ihr nicht um die soziale Stellung, sondern um das Dazugehören. Es ist gar nicht so wichtig, wer da sitzt, sondern dass die Menschen, die an einem Tisch sitzen, sich wirklich wahrgenommen fühlen mit ihrem individuellen Leben, ihren Erfolgen und ihrem Scheitern, mit ihren Lebensfragen und Lebenslagen. Jesus überschreitet soziale und wohl auch religiöse Grenzen, weil er deutlich machen will: Vor Gott ist jeder Mensch eine besondere Person, ganz unabhängig von dem Status, den die Gesellschaft ihm zugesteht. Gott lädt sie ein, die Frauen und Männer, die mit Religion und die ohne Religion, die mit Status und die ohne Status. Und sie fühlen sich offenbar wohl am Tisch mit ihm, weil sie nicht nur Schmuck sind oder aus Pflichtgefühl eingeladen, sondern Teil des Geschehens und tatsächlich herzlich willkommen. Jesus interessiert sich für sie ganz persönlich.


Gehen wir damit in die Zeit Martin Luthers. Wir haben es schon gehört, Lucas Cranach hat Wittenberger Bürgerinnen und Bürger an den Abendmahlstisch gesetzt in seinem wunderbaren Bild. Was sie wohl gedacht haben, als sie sich und andere da wieder erkannten? Auch wir sind eingeladen? Oder: Was, auch der? Und warum die und ich nicht?
Das Bild setzt eine zentrale theologische Erkenntnis der Reformation um: Wir alle sind Sünder. Das klingt etwas altbacken und abgedroschen.


Gemeint ist: Du kannst niemals, so sehr du es versuchst, absolut makellos und völlig schuldfrei vor Gott durchs Leben gehen. Niemand soll sich da über den anderen erheben nach dem Motto: Schaut euch den Versager mal an! Dafür sind wir alle anfällig, wenn wir die Klatschteile selbst der seriösen Presse lesen. Da wurde eine beim Lügen ertappt, ein anderer beim Seitensprung und in gewisser Weise ergötzen sich die anderen daran. Dass wir alle „simul iustus et peccator“, „Gerechte und Sünder zugleich“ sind, wie Luther sagt, daran gilt es sich immer wieder zu erinnern. Da erhebe sich niemand über den anderen.


Aber machen wir uns nichts vor: Auch an einem Tisch ist es nicht immer nur harmonisch nach dem Motto: Ach wie schön, da kommen wir Sünder mal alle zusammen. Oh nein, da kommen auch Streit und Auseinandersetzung auf die Tagesordnung, sonst wäre der Tisch ja eine einzige Heuchelei. Vor Kurzem habe ich den Film „Im August in Osage County“ gesehen. Er dreht sich eigentlich nur um einen einzigen Abend, an dem eine Familie sich zum Essen versammelt. Die Wahrheiten, die da aufgetischt werden, sie sind zum Teil niederschmetternd. Das Verhältnis der Paare zueinander, die Beziehungen zu den Kindern, sie werden knallhart ausgesprochen und so manche Fassade bröckelt...
Aber es kann ja auch sein, dass gerade das gut und gemeint ist?


Hat Lucas Cranach die Wittenberger vielleicht genauso darstellen wollen: Ohne Fassaden. Gar mit ihren Schwächen und Ängsten? Humor hatte Cranach ja durchaus. In der Predella, also dem Fuß des Altars, hat er einige Menschen abgebildet, die während der Predigt von Martin Luther ein Schwätzchen halten – so etwas gab es also sogar beim großen Reformator! Sünder also? Es sind gut situierte, gut bürgerliche Wittenberger, die Cranach um den Tisch versammelt. Das Sündersein verläuft also quer zum  äußeren Anschein und trifft genau die Mitte der Gesellschaft.
O ja, ich weiß, der Begriff Sünde ist out. Es sei denn, es geht um Diätfragen, bei denen dann ein Eis Sünde ist oder der Griff zum Stück Sahnetorte. Das hätte Martin Luther nun ganz gewiss lächerlich gefunden! Sünde, das war für ihn die Entfernung von Gott. Und Sünder Menschen, die meinen, ganz und gar Macher ihres eigenen Lebens zu sein. Diejenigen also, die die Karten auf den Tisch knallen nach dem Motto: Meine Frau, mein Haus, mein Auto. Alles selbst erreicht, ein Macher, erfolg-reich.


Und genau da kehrt sich die Sache um: Diejenigen, die mit Jesus am Tisch sitzen, werden nur nach den Maßstäben der Welt degradiert. Gerade weil sie unsicher sind, ob sie an diesem Tisch überhaupt sitzen dürfen, gehören sie eher zu den Heiligen. Denn das waren für Luther nun gerade nicht makellose, fehlerfreie Menschen, sondern diejenigen, die wissen, dass sie ganz und gar auf Gottes Zuwendung angewiesen sind.


Am Tisch Gottes eingeladen und versammelt, verschieben sich die Kategorien!


Es ist anrührend, dass Cranach Martin Luther selbst an diesen Tisch gemalt hat und sich vermutlich selbst als Mundschenk. Alle sitzen mit ihrer Geschichte an einem Tisch...
Ja, es sind tatsächlich alle eingeladen. Das umzusetzen fällt uns manchmal auch heute in der Kirche schwer. Ich denke an eine Situation, als ich in eine Kirche ging und der Verkäufer einer Obdachlosenzeitung zu mir sagte: „Frau Käßmann, sagen sie den Leuten bitte, dass sie im Anschluss eine Zeitung bei mir kaufen sollen“. Ich sagte: „Okay, aber wollen Sie nicht mit hinein kommen“. Darauf er: „Ach, da passe ich nicht hin, da fühle ich mich nicht wohl!“.


Wie schade, dachte ich. Was müssten wir tun, damit er gern dabei ist im Gottesdienst und wir uns freuen, das Abendmahl mit ihm zu teilen? Warum fühlen sich viele in der Gemeinschaft der Christen nicht wohl? Könnte es sein, dass wir manchmal nur so tun, als ob wir offen sind für alle, auch für die Zöllner und Huren, die Banker und Obdachlosen, es in Wirklichkeit aber gar nicht sind? Oft bleiben wir doch ganz gern unter uns, sind mit denen zusammen, die sich auskennen in der Kirche. Und das spüren dann andere, die am Tisch sitzen wie ich in Buenos Aires, aber spüren, dass sie nicht wirklich eingeladen sind, sondern nur geduldet. Dass es kein echtes Interesse an ihnen gibt, sondern dass die Einladung nur eine Pflichtübung ist, aus der die anderen Anwesenden sich gern so schnell wie möglich verabschieden würden.


Aber manchmal gelingt es und das sind dann wunderbare Erfahrungen, die das Evangelium ganz aktuell lebendig werden lassen.


Ich denke an die geöffneten Kirchen am Ende der DDR Zeit. Da hat mancher gemunkelt in Ost- aber auch in Westdeutschland: Ist es denn richtig, für all diese Leute, die Bürgerrechtler, die Ausreisewilligen, die Umweltaktivisten die Kirche zu öffnen? Ist das denn gute Gesellschaft? Oja, es war beste Gesellschaft, die eine friedliche Revolution in Gang setzte!
Ich denke an die vielen Gemeinden, die heute Flüchtlinge einladen bis hin zum Kirchenasyl. Sie eröffnen einen Tisch für Menschen, die mit Angst, geplagt von Albträumen in unser Land kommen. Traumatisiert sind sie vom Krieg, Angehörige haben sie verloren und ihre vertraute Heimat. Sie brauchen einen Tisch des Friedens statt der grölenden Horden von Neonazis. Ja, eine Mahlzeit, die wir teilen, Geschichten, die wir erzählen, sie schaffen Frieden und sie beheimaten uns und die, die ihre Heimat verlassen mussten.


Liebe Gemeinde, ein gedeckter Tisch, an dem Menschen zusammenkommen, miteinander essen und trinken, lachen, sich ihre Lebensgeschichten erzählen, aber auch streiten im besten Sinne und ringen um die Zukunft, das ist ein wunderbares Symbol der Gemeinschaft. Ich freue mich, dass durch das Abendmahl diese Tischgemeinschaft im Zentrum unserer Kirche steht durch all die Jahrhunderte.


Es bleibt ein Stachel, dass wir nicht als Christen aller Konfessionen gemeinsam an diesen Tisch kommen können - auch das ist Erbe der Reformationszeit. Bis dieses Ziel erreicht ist, werden wir offenbar noch viel Geduld und Engagement benötigen. Aber dass wir die Reformationsgeschichte heute als unsere gemeinsame ansehen, dass wir Sehnsucht haben nach dieser Gemeinschaft, die damals zerbrochen ist, das ist ein großes Zeichen der Hoffnung.


Zuletzt: Nicht die Kirche gibt ein Fest. Nein, Gott gibt ein Fest, so werden wir es alle gleich singen. Und alle sind eingeladen, die Armen und die Reichen, die Glücklichen und die Traurigen, die Alten und die Jungen, die Einheimischen und die Zugereisten, die Hausbesitzer und die Flüchtlinge. Das gelingt nicht, weil wir das so wunderbar hinbekommen, sondern weil Gott tatsächlich Interesse hat an Menschen, die „Sünder“ sind,- die also Mängel haben, scheitern im Leben, Fehler machen. Gott verachtet sie nicht, das zeigt Jesus. Dieser Tisch, der für alle gedeckt ist, ist ein Vorgeschmack auf Gottes Zukunft, in der Leid und Unrecht ein Ende haben werden. Diese Zukunft kann schon Jetzt und Heute beginnen, wenn wir einander einladen, uns zusammensetzen und das Leben miteinander feiern.


Ich wünsche uns, dass wir uns um diesen Tisch nicht aus Pflichtgefühl versammeln, sondern aus Freude an der Gemeinschaft. Dass wir andere nicht einladen, weil man das halt tut, sondern weil wir neugierig auf sie sind. So können das Abendmahl und auch die Tischgemeinschaft im Alltag zu bereichernden werden, weil alle sich ganz persönlich willkommen geheißen fühlen.
Amen.
 

Perikope
13.09.2015
2,15-17

Was wirklich seltsam ist - Predigt zu Markus 7, 31-37 von Martin Schewe

Was wirklich seltsam ist - Predigt zu Markus 7, 31-37 von Martin Schewe
7, 31-37

Was wirklich seltsam ist

Das Markusevangelium erzählt von Jesus:

„Und als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Tu dich auf! Und sogleich taten sich seine Ohren auf und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, sie sollten’s niemandem sagen. Je mehr er’s aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.“

Soweit die Erzählung aus dem Markusevangelium, liebe Gemeinde. Ich schlage vor, wir sehen uns die Personen, die in der Erzählung vorkommen, noch einmal genau an. Zuerst Jesus.

(1) Jesus befindet sich auf der Reise. Die Erzählung beginnt mit einer Beschreibung der Reiseroute. Wenn Sie die Ortsangaben auf der Landkarte nachgucken – vorn in Ihrer Bibel finden Sie wahrscheinlich eine –, werden Sie feststellen: Entweder nimmt Jesus einen Riesenumweg, oder der Evangelist Markus kennt sich in der Geographie Palästinas nicht besonders gut aus. Im Einzelnen scheint es auf die Ortsangaben nicht weiter anzukommen. Nur das Ziel, zu dem die Wanderung führt, könnte wichtig sein: das Gebiet der Zehn Städte. Es liegt im Ostjordanland. Dort war Jesus im Markusevangelium schon einmal und hat ein spektakuläres Wunder getan. Warum er zurückkehrt, erfahren wir nicht. Darauf scheint es ebenfalls nicht anzukommen. Die Einheimischen können sich aber offenbar an Jesus erinnern, denn sie bringen wieder einen Hilfsbedürftigen zu ihm. Wichtig könnte daran sein, dass die Bewohner der Zehn Städte Heiden sind, also keine Juden. Trotzdem erwarten sie von dem Juden Jesus, dass er den Taubstummen heilt.

Er soll ihm die Hand auflegen, bitten sie. Doch was Jesus tut, bekommen die Leute nicht mit. Er führt den Taubstummen nämlich fort. Was dann passiert, ist seltsam. Die Wunderheilungen, von denen das Markusevangelium zuvor erzählt hat, klangen so, als fielen sie Jesus ganz leicht. Oft genügte ihm ein einziger Satz, ein bloßer Befehl, und der Kranke war gesund. Bei dem Taubstummen dagegen muss sich Jesus richtig anstrengen. Nachdem er ihn beiseite genommen hat, fort von den Leuten, nimmt er eine Art medizinischer Behandlung vor. Jesus steckt dem Patienten die Finger in die Ohren und benetzt ihm die Zunge mit Speichel. Der Speichel von Jesus ist gemeint, auch wenn uns das unappetitlich vorkommt. Aber so dürften sich die Menschen in der Antike einen Wunderarzt vorgestellt haben: jemanden, der geheimnisvolle Riten praktiziert und magische Berührungen beherrscht. An dieser Stelle der Erzählung wirkt Jesus wie ein solcher Zauberer.

Weiter heißt es, dass er zum Himmel aufblickt und seufzt. Das soll wohl heißen, dass er um Beistand von oben bittet und daraufhin ein Heilgeist über ihn kommt. Dann sagt Jesus: „Hefata!“ Das ist Aramäisch, doch der Evangelist kommt uns zur Hilfe und übersetzt, was Jesus dem Taubstummen befiehlt. „Hefata!“ heißt: „Tu dich auf!“ Damit ist die Behandlung abgeschlossen.

(2) Wir wollten uns die Personen genau ansehen, die in der Erzählung vorkommen. Von dem Taubstummen haben wir bisher nicht viel erfahren. Wir erfahren auch jetzt nicht viel von ihm, und das ist wieder seltsam.

Dass der Kranke nicht selber zu Jesus geht und um Hilfe bittet, sondern zu ihm gebracht werden muss, hängt mit seiner Krankheit zusammen. Als Taubstummer wird er von Jesus noch nie etwas gehört haben. Was Jesus mit ihm anstellt, lässt er widerstandslos über sich ergehen. Dann befiehlt ihm Jesus: „Tu dich auf!“ Auch das kann ein Gehörloser eigentlich nicht verstehen. In diesem Fall allerdings doch. Denn der Erzähler fährt fort: „Sogleich taten sich seine Ohren auf und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig.“ Das ist alles. Danach wird der Geheilte nicht mehr erwähnt. Dass er auf einmal richtig redet, ist wichtig, weil es beweist, dass der Kranke tatsächlich gesund geworden ist. Aber was er sagt – ob er sich bei Jesus bedankt oder Gott lobt, wie es sich in einer anständigen Wundergeschichte gehört –, bleibt offen. Falls der Evangelist darauf hinauswill, dass der Geheilte von nun an die Taten und Worte Jesu weitererzählt, deutet Markus es nur an.

Dafür lässt er die Leute wieder auftreten, die den Taubstummen zu Jesus gebracht haben. Von ihnen haben wir schon gehört, dass sie Heiden sind, keine Juden. Trotzdem erwarten sie, dass Jesus dem Taubstummen hilft. Das Wunder selbst erleben die Leute nicht mit. Es spielt sich ausschließlich zwischen Jesus und dem Kranken ab. Umso eifriger sprechen die anderen hinterher davon. Das ist wohl die seltsamste Stelle in der Erzählung: Als Jesus verbietet, über die Sache zu reden, spricht sie sich erst recht herum. Im Markusevangelium passiert das häufig. Jesus möchte nicht, dass seine Wunder bekannt werden, doch sie können gar nicht verborgen bleiben.

(3) Wir haben Jesus betrachtet, wie er ein Wunder tut, den Taubstummen, an dem er das Wunder tut, und die Leute, die es überall herumerzählen. Dabei sind uns in der Erzählung aus dem Markusevangelium ein paar Stellen aufgefallen, die uns seltsam erschienen. Deshalb sollten wir uns noch jemanden ansehen, der in der Erzählung eine Rolle spielt, und zwar den Erzähler selber, den Evangelisten Markus. Er kommt zwar in seiner Geschichte nicht persönlich vor. Von ihm stammt sie jedoch, und vermutlich hat er sich etwas dabei gedacht, dass er sie so und nicht anders erzählt.

Stellen wir uns für einen Moment vor, Markus plant, die Erzählung zu verfilmen, und wendet sich mit dieser Idee an einen Filmproduzenten. Voraussichtlich hätte der Filmproduzent ein paar Verbesserungsvorschläge. „Schon der Anfang deiner Geschichte taugt nichts für einen Film“, würde er etwa sagen. „Langweile die Zuschauer bloß nicht mit irgendwelchen Wegbeschreibungen.“ Das leuchtet Markus ein. In Geographie kennt er sich ohnehin nicht besonders gut aus. Der Anfang des Films wird also geändert. „Und soll dein Jesus wirklich so ein Zauberdoktor sein?“, fragt der Produzent weiter. „Einer, der dem Kranken in den Ohren bohrt und ihm seine Spucke auf die Zunge schmiert?“ Nein, das ist wirklich zu eklig und muss ebenfalls geändert werden. „Und dieser Taubstumme – freut er sich nicht, als Jesus ihn heilt? Am besten erfindest du für ihn einen ausführlichen Lebenslauf. Erst ein ganz armer Teufel, dann der glücklichste Mensch auf der Welt. So etwas gefällt dem Kinopublikum. Vergiss nicht, eine Liebesgeschichte einzubauen.“ Markus verspricht, sein Möglichstes zu tun. „Und das Ende“, sagt der Filmproduzent noch,  „das Ende geht gar nicht. Was denkt sich Jesus bloß dabei, dass niemand über die Sache reden soll? Deshalb tut er doch Wunder: damit alle merken, was für ein toller Kerl er ist.“

Spätestens jetzt hat Markus einige Einwände. Was der Filmproduzent von ihm verlangt, ist überhaupt nicht mehr seine Erzählung. Als Drehbuch eignet sie sich vielleicht nicht. Als Erzählung jedoch findet Markus sie nach wie vor ganz in Ordnung. Schließlich hat er sich etwas dabei gedacht. Auf den Lebenslauf des Taubstummen kann man gut und gern verzichten. Man versteht auch so, wie isoliert und benachteiligt der Mann sein muss. Ihm eine Liebesgeschichte anzudichten, wäre erst recht überflüssig. Es genügt, dass der Kranke am Ende hören und richtig reden kann. Vor allem aber glaubt Markus nicht, dass Jesus Wunder tut, um dadurch populär zu werden. Deswegen erzählt der Evangelist ja, dass Jesus den Taubstummen beiseite nimmt, bevor er ihn heilt, und dass er das Wunder geheim halten möchte: weil Jesus viel mehr ist als ein toller Kerl, der die ungewöhnlichsten Kunststücke kann. Nicht das Wunder ist die Hauptsache in der Erzählung, sondern wer Jesus wirklich ist und was er für uns bedeutet.

Damit sind wir bei der letzten Personengruppe, die in der Erzählung vorkommt: bei ihren Hörerinnen und Hörern; bei uns also, liebe Gemeinde. Wir kommen am Schluss der Erzählung vor.

(4) Die Menschen im Gebiet der Zehn Städte, wo sich das Wunder ereignet, können das, was dort geschehen ist, nicht für sich behalten. Jesus hat ihnen zwar verboten, darüber zu reden, aber die Menschen sind viel zu erschrocken und zu aufgeregt, um sich um das Verbot zu kümmern. Was sie von dem Wunder erzählen, fasst der Evangelist Markus im letzten Satz der Erzählung zusammen: „Er hat alles wohl gemacht,“ sagen die Menschen demnach; „die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.“ Das ist nicht einfach eine Kurzfassung der vorangegangenen Geschichte. Das ist ein Zitat aus der Bibel, aus dem Buch Jesaja.

Die Bewohner der Zehn Städte sind Heiden. Woher sie das Buch Jesaja kennen, verrät uns der Evangelist nicht. Das muss er auch nicht, denn hier geht es nicht mehr um die Personen innerhalb der Geschichte. Mit seinem letzten Satz wendet sich der Erzähler an uns Hörerinnen und Hörer. Wir sind zwar ebenfalls Heiden, jedenfalls die meisten von uns, nämlich keine Juden. Aber das Buch Jesaja steht auch in unserer christlichen Bibel, und wir können die Stelle, die Markus zitiert, darin nachlesen. Genau das sollen wir tun, möchte der Evangelist. Dann merken wir, dass in seiner Erzählung auch von uns die Rede ist. Nicht das Wunder ist darin die Hauptsache, haben wir schon festgestellt. Markus erzählt, wer Jesus wirklich ist und was er für uns bedeutet. Das zeigt sich vor allem im letzten Satz, dem Jesaja-Zitat: „Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.“ Werfen wir daher einen Blick in das Buch des Propheten Jesaja.

Der Prophet schildert, was das Volk Israel von Gott zu erwarten hat, wenn er es aus der Gefangenschaft befreit. Dann werden ganz viele Wunder geschehen, schreibt Jesaja. Nicht nur die Tauben und Stummen macht Gott gesund, auch die Blinden und die Lahmen – alle Kranken. Die Wüste wird fruchtbar. Reißende Tiere wird es dort nicht mehr geben. Schmerz und Seufzen sind zu Ende. Diese ganze Aufzählung steckt dahinter, wenn uns der Evangelist Markus von Jesus sagt: „Er hat alles wohl gemacht.“ Denn in Jesus Christus ist der Gott Israels zu uns gekommen und auch zu unserem Gott geworden. Auch wir können uns freuen, wie viel wir von ihm zu erwarten haben. Die ganze Welt wird neu.

Mit diesem Versprechen endet die Wundererzählung aus dem Markusevangelium, die uns so seltsam erschien. Seltsam bleibt sie und muss sie bleiben, eine ganz und gar erstaunliche Erzählung, weil sie nicht nur von dem einen Wunder handelt, das Jesus an dem Taubstummen tut, sondern zugleich davon, was er für uns alle tut.

(Die Jesaja-Stelle, auf die sich Markus bezieht, steht Jes 35,5ff. Als Sekundärliteratur habe ich verwendet: Ludger Schenke, Das Markusevangelium. Literarische Eigenart – Text und Kommentierung, Stuttgart 2005. Zum Predigttext vgl. dort S.190f.)

Perikope
23.08.2015
7, 31-37

Die Brücke trägt - Predigt zu Markus 7,31-37 von Martin Schmid

Die Brücke trägt - Predigt zu Markus 7,31-37 von Martin Schmid
7, 31-37

Und als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Effata!, das heißt: Tu dich auf! Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, sie sollten’s niemandem sagen. Je mehr er’s aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend. (Mk. 7, 31-37)

Liebe Gemeinde!

Im Gebiet von Tyrus und Sidon hatte sich Jesus aufgehalten. Das waren phönizische Städte, das war Ausland für ihn und lag jenseits der Grenzen des Landes. Viele werden zwar seine Sprache verstanden haben. Aber zuhause war er dort nicht. Es wehte dort ein anderer Wind. Und dann kam er an den See, der für manche „Galiläisches Meer“ heißt, für andere „See Genezareth“; mal muss den einen, mal muss den anderen erklärt werden, was gemeint ist. Doch blieb er nicht etwa in Kapernaum oder in sonst einem der vertrauten Orte am See, sondern ging hinüber ins Gebiet der Zehn Städte. Das liegt am östlichen Seeufer und war schon wieder eine Art Fremde, war heidnisch durchsetzt und den Frommen deshalb verdächtig. Konnte Jesus sich dort verständlich machen?  Sein Aramäisch zumindest musste man manchen erst übersetzen.

Der Behinderte, dessen Gehör geschädigt war, kannte das längst. Nie hatte man ihn richtig verstanden, soweit er zurückdenken konnte. Man nannte ihn den Stammler. Er wiederum war ständig am Deuten und Übersetzen und Ablesen von den Lippen. Die Leute versuchten es bei ihm, wenn sie gutwillig waren, mit der Zeichensprache. Auch er selbst bemühte sich, auf diese Weise eine Brücke zu schlagen zu seinen Mitmenschen. Einfach war es nie. Nun kamen wieder welche zu ihm und bedeuteten ihm, er müsse unbedingt mitkommen. Er wird gezögert haben, und es könnte dann wieder von ihm geheißen haben, er sei so misstrauisch. Irgendwie brachten sie ihn trotzdem zu Jesus. Und Jesus baten sie mit allerlei Gesten und dringlich hochgezogenen Augenbrauen, er möge den Stammler hier behandeln, den Gehörlosen. Die Hände solle er ihm auflegen. Und zeigten ihm wohl ihre eigenen Hände und legten sie sich selbst wohl auf Ohren und Mund, damit er verstand.

Da nahm ihn Jesus beiseite. Er musste dazu nicht viel sagen. Er musste ihm nur den Arm um die Schultern legen.

So standen sie beieinander. Jesus legte ihm die Finger in die Ohren, in das eine, dann in das andere. Darauf hieß er ihn die Zunge herausstrecken. Und mit seinem Speichel berührte er die Zunge des Behinderten. Auch dass Jesus jetzt zum Himmel aufblickte, wird der Stammler gesehen und dass Jesus seufzte, wird er gespürt haben. Mit dem Seufzen kannte er sich aus. Die Lippen Jesu bildeten darauf ein „e“ und ein „ff“. Das war nicht schwer abzulesen und auch nicht schwer zu verstehen. Es war aramäisch, war der Anfang von „Effata“ und bedeutete „Tu dich auf!“ Seine Ohren taten sich auf. Seine Zunge begann sich zu regen. Er redete. Richtig. - Über eine Dichterin, Hilde Domin, hat man nach ihrem Tod geschrieben: „Vielleicht hat sie in Gedanken auf einer Fähre gewohnt, ständige Überfahrt. Sie hat uns viele kleine Fähren hinterlassen ..“ Eine Fähre ist die Verbindung zwischen zwei Ufern. Wenn wir richtig reden können, entsteht eine Verbindung. Da werfen wir etwas zum Mitmenschen hinüber „wie ein Tau von einem Schiff ans Land“. Wenn wir richtig reden können, kommen wir an bei unserem Mitmenschen, wir können bei ihm landen. In dieser glücklichen Lage war nun der Mensch, dessen Verbindungen immer behindert gewesen waren, solange er nicht richtig reden und nicht richtig hören konnte.

Nicht wirklich glücklich aber wurden die, denen man die Geschichte seiner Heilung erzählte. Die Sache mit dem Speichel des Heilands auf der Zunge des Behinderten – eigentlich ein bisschen peinlich, fanden manche. Sogar die Evangelisten des Neuen Testaments scheinen das so empfunden zu haben; keiner von ihnen, weder Matthäus noch Lukas noch Johannes, übernahm diese Heilungsgeschichte aus dem Markus-Evangelium. Auch die Ohrenöffnung mit den Fingern mag ihnen seltsam erschienen sein. Vergessen wurde die Geschichte trotzdem nicht. Zumal sie im Gottesdienst seit je einen starken Widerhall fand, in den Gebeten und Liedern, aber auch auf den Kanzeln. „Den Tauben öffne das Gehör“, „Tu auf den Mund zum Lobe dein“, „Öffn‘ uns die Ohren und das Herz“, „Öffne meine Ohren, Heiliger Geist, öffne mein Herz“ so und so ähnlich tönte und tönt es durch die ganze Christenheit und durch ihre Gottesdienste von den Lippen der Beter, von den Lippen der Prediger, von den Lippen der Choräle singenden Gemeinde. Dass man nicht richtig hört und dass man eigentlich nur stammeln kann -  die Erfahrung jenes Einzelnen, dem Jesus geholfen hat, ist eine Erfahrung der vielen, die sich zum Gottesdienst versammeln oder es eben aus solchen Gründen nicht mehr tun.

Im Gottesdienst wiederholen sich aber bisweilen gerade auch die glücklichen Erfahrungen, von denen diese Heilungsgeschichte berichtet. Weil es dort geschehen kann, dass Jesus einen, der sich müht mit Singen, Beten, Zuhören, auf einmal ein wenig auf die Seite nimmt und ihm den Arm um die Schultern legt.

Man müsse dem Volk aufs Maul sehen, hat auch Martin Luther allen nahegelegt, die versuchen, Worte der Heiligen Schrift zu dolmetschen und mit dem Bibelwort bei ihren Mitmenschen zu landen. Denn noch die Ausleger haben es nötig, von denen zu lernen, die nicht recht hören können. Gerade die zu predigen, zu übersetzen, auszulegen haben, dürfen keinesfalls auf die Stammler heruntersehen. Vielmehr sind sie nach Luthers Meinung selbst darauf angewiesen, anderen „aufs Maul zu sehen“.

Und Jesus war nun so weit gegangen, einen solchen Stammler beiseite zu nehmen, ganz für sich. Denn mit solchen ist er verbunden. Mit solchen seufzt er. Für sie übersetzt er seinen Ruf „Effata“ in eine Sprache, welche auch die Belasteten verstehen.

Jesus Christus ist ein Übersetzer. Nicht nur von einem Ufer des Sees Genezareth zum andern setzt er über, sondern auch von einer Seite des Lebens in eine andere, nämlich von dort, wo man Gott ferne zu sein scheint, dorthin, wo man ihm nahe kommt.

In sein Übersetzen ist das ganze Leben Jesu hineingezeichnet. Am Ende seines Lebens fasste er selbst diesen Grundzug seines Lebens zusammen, als er ein Stück Brot nahm, dieses signierte mit den Worten „das ist mein Leib“ und es über alle Abgründe hinweg hinüberstreckte zu den Erschrockenen, die um ihn waren. Und als er danach mit einem Becher Wein das gleiche tat, indem er auch den mit den Worten „das ist mein Blut“ hinüber reichte, ja, hinüber setzte zu den Belasteten und ihre Lippen damit netzte.

Manchen war’s peinlich und ist es heute noch, wenn da von Mund zu Mund etwas zu ihnen kommt, von Lippe zu Lippe und direkt auf die Zunge. Für andere ist es wie ein Brief, den sie behutsam öffnen wollen und zu entziffern versuchen. Und wie schön, wenn der Gruß lesbar wird und der Sinn der Botschaft sich allmählich erschließt!

Es ist eine Ruf-Geschichte, mit der wir es heute zu tun haben, die Geschichte einer Berufung. Sie ruft noch immer.

Aber wir rufen ja auch. Wir rufen, wenn wir uns kleiden: wirst du mich sehen? Wir rufen, wenn wir uns abmühen: wirst du’s bemerken? Wir rufen, wenn wir lieben: wirst du’s erwidern? Wir rufen, wenn wir uns verstecken: wirst du mich finden? Wir rufen vor allem und zu allererst, wenn wir beten: wirst du mich hören? Nun nahm Jesus aber diesen Belasteten beiseite. Und das war, als wäre er es, der ruft, als wäre er es, der nun, feierlich gesprochen, einen Ruf nach ihm aussendet. Und nicht nur nach ihm. Weshalb wir, die sonst rufen, uns dann vielleicht zu antworten getrauen, besonders wenn wir beten. Wir hören den Wind, wir hören all die Dinge, die sein Rufen behindern,  das Wehen der Zeit, das Ticken der Uhren, das ewige Rauschen der Wellen, die über den Sand laufen. Und getrauen uns, wenn wir beten, trotz unserm eigenen Rufen und zugleich mit unserem Rufen zu sagen: Ja! Ja, ich hab was gehört. Ja, es kam bei mir etwas an.

Manchmal ist unser Rufen nur noch ein Seufzen. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen. Dann betet es in uns wie von selbst. Es seufzt aus uns. Und das gleicht wohl dem Ruf „hol über!“, mit dem man einstmals den Fährmann gerufen hat, dass er abstößt vom anderen Ufer des Flusses und den Wanderer hinüber setzt. Auch Jesus hat geseufzt, den Arm um die Schultern des Behinderten gelegt. Und zugleich sagte er „Tu dich auf!“ und blickte zum Himmel. Die Evangelien erzählen, der Himmel habe sich schon aufgetan, als Jesus einst am Jordan stand und von Johannes getauft wurde. Nun tat sich der Himmel auf über einem, der nicht hören konnte, der das vielleicht noch nie gekonnt hatte. Nun baute ihm Jesus eine Himmelsbrücke. Und immer, wenn wir versammelt sind in seinem Namen, kann sich das wiederholen. Die Baumeister wollten es deutlich machen, als sie himmlische Bögen in den Kirchen errichteten und Kuppeln über den Kirchenraum wölbten. Die Sänger und Musiker wollen es jedes Mal zeigen, wenn sie die Glaubenden wie unter einem Zelt von Tönen sammeln. Das Brot und der Wein und das Wort, die ausgeteilt werden im Namen Jesu, bringen es uns nahe: Wir müssen nicht leben wie unter einem verschlossenen Himmel. Eine Brücke ist gebaut. Es geht herüber und hinüber: Ich höre, du hörst; ich rede, du sprichst; ich seufze, du verstehst; ich nehme, du gibst; ich versuche, du lässt es gelten; ich gehe und wundere mich, dass die Brücke trägt. Ja, sage ich, ein wenig stammelnd, er hat alles wohl gemacht: die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend. Amen.

Perikope
23.08.2015
7, 31-37

Predigt zu Markus 7, 31-37 von Hans-Hermann Jantzen

Predigt zu Markus 7, 31-37 von Hans-Hermann Jantzen
7, 31-37

Und als Jesus wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte.

Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege.

Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hephata!, das heißt: Tu dich auf!

Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig.

Und er gebot ihnen, sie sollten’s niemandem sagen. Je mehr er’s aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus.

Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht. Die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.

(Mk. 7, 31-37)

Liebe Gemeinde,

manchmal verwischen sich unsere Wahrnehmungen. Orte und Worte gehen ineinander über. So geht es mir mit dem Schlüsselwort unserer Predigtgeschichte: „Hephata!“ Viele Häuser der Diakonie tragen diesen merkwürdigen Namen. Ursprünglich ist das jedoch kein Ort, sondern ein Wort. Wir haben es eben im Evangelium gehört: Jesus spricht dieses Wort aus, mit einem tiefen Seufzer und einem inständigen Blick zum Himmel, als er dem Taubstummen im wahrsten Sinn des Wortes „in den Ohren liegt“. „Hephata: Tu dich auf!“ Ein Wort; ja mehr als das: ein vollmächtiger Befehl an die Mächte, die diesem geplagten Menschen die Ohren verstopfen und die Zunge fesseln.

Wir wissen das: Wer von Geburt an nichts hören kann, lernt auch nicht sprechen. Der hat keinen Anteil an der menschlichsten aller Kommunikationsformen, an der Sprache. Auch unter uns leben viele gehörlose Mitmenschen. Wir versuchen, ihnen in unserer Kirche Heimat zu geben, indem wir Seelsorger in der Gebärdensprache ausbilden. Auf dem Kirchentag in Stuttgart im letzten Juni habe ich wieder sehr eindrücklich erlebt, wie bei Vorträgen und Gottesdiensten ein Dolmetscher oder eine Dolmetscherin die gesprochenen Worte zeitgleich in Gebärden übersetzte. Man konnte der Gruppe der Gehörlosen anmerken, dass sie sich dadurch in die Gemeinde hineingenommen fühlten.

Hephata! Für viele Menschen ist dieses öffnende Wort zum Ort geworden, zu einem Ort, an dem sie erfahren dürfen: trotz unserer Behinderung sind wir geliebt und angenommen! Auch mit unserer Einschränkung haben wir Anteil am Leben, an dem Leben, das Gott uns zugedacht hat.

Hephata: kein Ort, sondern ein Wort. Und dabei beginnt die aufregende Episode im Markusevangelium mit einer ganzen Reihe von Orten: Jesus kommt von Tyrus, im heutigen Libanon am Mittelmeer gelegen, und zieht über Sidon, noch weiter nördlich an der Küste, vorbei am See Genezareth in das Gebiet der sog. Zehn Städte (Dekapolis) östlich des Jordan im heutigen Syrien (V. 31). Eine etwas unsinnige Reiseroute, die, wenn Sie sie auf der Landkarte nachzeichnen, eine merkwürdige Zickzacklinie ergibt. Das wäre so, als würden wir sagen: Und als Jesus fortging aus Ostfriesland, kam er über Cuxhaven an die Müritz und weiter in die Lüneburger Heide. Markus hatte offenbar keine besonders gute Ortskenntnis. Aber es kam ihm auch gar nicht auf geografische Genauigkeit an. Seine Botschaft ist eine andere: das Evangelium, das öffnende, befreiende Wort von der Liebe Gottes hängt nicht im luftleeren Raum. Es ereignet sich immer „vor Ort“. Es braucht einen konkreten Ort, um auf Erden anzukommen und erfahrbar zu werden.

Eine pikante kleine Beobachtung am Rande: Die Gegend um Tyrus und Sidon galt genau wie die Dekapolis zurzeit Jesu als heidnisches Gebiet. Die Menschen dort waren dem Glauben gegenüber nicht besonders aufgeschlossen. Gerade hier will sich das Wort ereignen und beheimaten. Manchmal kommt eben auch der Glaube zu den Menschen und nicht nur Menschen zum Glauben.

Vom Ort zum Wort. So könnten wir den Weg bezeichnen, den Markus in dieser Geschichte mit uns geht. Vom Ort zum Wort; von der feindseligen, ablehnenden Gegend zur heilsamen Mitte. Von der „fremden Heimat Kirche“ zum öffnenden Wort Gottes. Mensch geworden in Jesus von Nazareth.

Der nächste Schritt auf diesem Weg zieht den Kreis enger und nimmt einen einzelnen konkreten Menschen in den Blick. Wenn es um den Glauben geht, geht es immer auch um den einzelnen, nicht nur um eine gesellschaftliche Atmosphäre, um eine kirchenfeindliche oder kirchenfreundliche Haltung. (V. 32.33a: Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war… Und er nahm ihn aus der Menge beiseite.)

Der Taubstumme lebt in seiner eigenen verschlossenen Welt. Er ist darauf angewiesen, dass sich das Wort zu ihm auf den Weg macht, damit sich in seinem Leben etwas öffnen kann. Er braucht wohlmeinende Menschen, die ihn auf diesem Weg an die Hand nehmen.

Was jetzt folgt, ist höchst dramatisch. In dem Geschehen zwischen Jesus und dem Taubstummen geht es hart zur Sache. Kein sanftes therapeutisches Handeln, wie es die Leute offenbar von anderen charismatischen Wunderheilern kannten und nun auch von Jesus erwarteten: „Sie baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege“. Es ist vielmehr ein regelrechter Kampf; ein Ringen mit den Mächten, die einen Menschen quälen und kaputt machen können; die ihn hör- und sprachunfähig machen. Nicht durch Energiefluss, nicht durch die Übertragung geistiger Kräfte mittels Handauflegung dringt Jesus in die Welt des Kranken vor, sondern mit großer Kraftanstrengung. Der heilende Messias bei Markus ist „ein schwer atmender ärztlicher Handwerker“ (Johanna Haberer in: GPM 2015, S. 391). Luthers deutsche Übersetzung: „Er legte ihm die Finger in die Ohren“ ist eigentlich zu harmlos. Wörtlich muss es heißen: „Er stieß ihm die Finger in die Ohren“. Fast gewaltsam durchbricht Jesus die Barrieren, die den Zugang des Wortes in die geschlossene Welt des Taubstummen bisher verhinderten. Jesus spuckt in die Hände und berührt auch die Zunge des Kranken. Vermutlich ist die deutsche Übersetzung auch hier zu sanft. Eine ganze Reihe von alten Handschriften bezeugt die drastischere Lesart: Jesus „spuckte aus“ – angewidert von den lebenszerstörenden Mächten. Ich glaube, dies ist die sinnlichste Heilungsgeschichte im ganzen Neuen Testament.

„Und er sah zum Himmel auf und seufzte...“ Jesus handelt als Bittender. Seine Vollmacht ist eine von Gott im Gebet empfangene Macht. Was jetzt geschehen wird, hat mit Gott zu tun. Es geht nicht nur um körperliche Hilfe. Auch das Verhältnis zwischen Gott und Mensch soll neu werden. Das heilende Wort kann nur zum Menschen kommen, wenn seine Verbindung zu Gott wieder hergestellt wird. Heilung und Heil gehören zusammen.

Mit einem modernen Begriff bezeichnen wir das heute als „ganzheitliche Hilfe“. Vor allem in der Diakonie betonen wir das gern. Es geht uns um Leib und Seele der uns anvertrauten Menschen. Werden wir diesem Anspruch gerecht? Oder bleibt nicht die Seele im Wettlauf um Pflegeminuten und abrechnungsfähige Leistungen oft auf der Strecke? Ich befürchte, als Mitarbeiter einer Diakoniestation müsste Jesus vor der Einsatzleiterin rechtfertigen, warum er sich so viel Zeit für einen einzelnen Patienten nimmt. „Und er sah zum Himmel auf und seufzte...“

„Hephata!“ Da ist es endlich, das entscheidende, das lösende Wort. Der Boden ist bereitet. „Hephata!“ Und es wirkt! (V. 35: Sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge löste sich.) Wenn ein Wort erst einmal ausgesprochen ist, breitet es sich aus, ist nicht mehr zurück zu holen. Es schafft seine eigene Wirklichkeit. Das ist schon bei unseren alltäglichen menschlichen Worten so, z.B. wenn eine Mutter ihr Kind tröstet: „Alles wird gut!“; wenn zwei Liebende sich ins Ohr flüstern „Ich liebe dich!“; oder auch wenn einer eine Drohung ausstößt: „Das wirst du mir büßen!“ Wie viel mehr dann bei diesem Wort Jesu: „Hephata!“ Das ist kein Zauberwort, kein „Simsalabim“. Es ist ein machtvolles, ein vollmächtiges Wort, das die Wirklichkeit des Taubstummen total verändert. Auf die neue Wahrnehmungs-fähigkeit mit den Ohren folgt so­gleich seine Sprachfähigkeit. Der in sich selbst eingesperrte Mensch wird wieder kommunikationsfähig, wenn Gottes Wort ihn erreicht. Er wird wieder Mensch. „Und er redete richtig.“ Nicht aus eigener Kraft, sondern als gelöster, als erlöster Mensch antwortet er auf das „Hephata!“ -

Und was ist mit dem Wunder? Vielleicht fragen Sie sich das schon die ganze Zeit. Vielleicht haben Sie das Gefühl, ich hätte nur mit vielen Worten die Unmöglichkeit eines solchen Wunders zugedeckt. Ich weiß, dass die meisten Zeitgenossen heute bei solchen Wundergeschichten ein Unbehagen empfinden. Mir geht es nicht anders. Wir sind befangen in unserer eindimensionalen naturwissenschaftlichen Weltsicht. Aber schon ein Blick über den westlichen Tellerrand lehrt uns, dass Menschen in Indien, Afrika oder Lateinamerika ganz anders empfinden. Glaubensheilungen kommen vor und haben durchaus Platz in ihrem Denken.

Vor 17 Jahren habe ich in Südindien eine ähnliche Erfahrung gemacht. Zusammen mit einem Kollegen besuchte ich die ev.-luth. Kirche Zum Barmherzigen Samariter in Andhra Pradesh. In einem See hatten wir etwa 60 Menschen im Alter von 16 bis 66 Jahren getauft. Alle Täuflinge waren bereits wieder ans Ufer gestiegen, da bekam eine junge Frau einen Anfall. Sie verkrampfte sich, schlug um sich und stieß unartikulierte Schreie aus. Ich werde nie vergessen, wie die Ältesten der Gemeinde die Frau packten und lautstark beteten. Ein regelrechter Kampf, bis die Krämpfe der Frau sich lösten und sie ganz ruhig wurde.

Auch in den biblischen Wundererzählungen geht es nicht darum, die Naturgesetze außer Kraft zu setzen. Heilung und Heil vollziehen sich innerhalb des vertrauten Weltbildes. Von daher wäre es eine Engführung, unsere Predigtgeschichte nur als Bericht über eine erfolgreiche körperliche Heilung zu sehen. Als solcher würde er nur Enttäuschungen hervorrufen. Bei vielen Menschen bleibt ja die Behinderung oder die Krankheit, trotz intensiven Betens. Auch Jesus hat nicht alle gesund gemacht.

Der Horizont ist viel weiter gesteckt. Der Klang des Hephata hat sich ausgebreitet. Nicht nur der Taubstumme ist durch ihn verändert und neu geworden; auch die Umstehenden werden durch ihn erreicht, mitten im heidnischen Gebiet, in der Gottesferne.  Gottes Wort öffnet die Ohren und löst die Zunge. Mehr noch: es eröff-net Lebensraum – in der menschlichen Gemeinschaft, in der ich lebe, und in meiner Beziehung zu Gott. Ist das nicht das viel größere Wunder? Es öffnet den Himmel über mir, damit ich mich meines Lebens auf der Erde freuen kann. So weitet sich die Wirkung dieses Wortes noch einmal und erinnert an den neuen Himmel und die neue Erde, die Gott verheißen hat. Der Lobpreis am Schluss schlägt den Bogen von der ersten zur neuen Schöpfung: „Er hat alles wohl gemacht. Die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.“

Hephata: ein langer Weg vom Ort zum Wort und wieder zurück zum Ort. Am Ende ist die Frage, ob es sich nun um ein Wort oder um einen Ort handelt, überflüssig. Gottes befreiende Liebe kommt zu uns im Wort und ereignet sich vor Ort. Es eröffnet neue Räume. Klangräume. Lebensräume. Handlungsräume. Spielräume. Wie im Himmel, so auf Erden. Dafür bürgt Jesus Christus, das Fleisch gewordene Wort Gottes.

Hephata: das ist eine Ermutigung für uns als christliche Gemeinde, dem öffnenden und lösenden Wort Gottes mehr zuzutrauen! Gottes Wort macht uns kommunikationsfähig, hör- und sprachfähig. Es will unser Schweigen brechen und unsere Zunge lösen, dass wir in sein Lob einstimmen und es weiter verbreiten.

Das meint mehr als schöne Gottesdienste feiern. Das meint auch, in einer gottlosen Welt denen in den Ohren liegen, die Menschen unterdrücken, sie aus der Gemeinschaft ausgrenzen oder ihr Leid ausnutzen, um daran zu verdienen. Das fängt hier im eigenen Land an, wenn wir uns z.B. in Kirche und Diakonie dafür stark machen, dass Alte, Kranke und Sterbende menschenwürdig gepflegt und begleitet werden. Oder wenn wir Gesicht zeigen gegen rechtsextreme Parolen, alle Fremden aus unserm Land fernzuhalten. Und das ist da nicht zu Ende, wo wir uns für eine offene und menschliche europäische Flüchtlingspolitik einsetzen und an einer Willkommenskultur für diejenigen mitarbeiten, die bei uns eine neue Heimat suchen. Vor kurzem hat die evangelische Kirchengemeinde Wangerooge zu einem Sommerfest für einen 20-jährigen Somali eingeladen, der seit einem Jahr im Kirchenasyl auf der Insel lebt. Ein schönes Beispiel dafür, wie Gottes liebendes und lösendes Wort seinen heilsamen Ort unter uns findet. Hephata!

Amen.

Perikope
23.08.2015
7, 31-37

KONFI-IMPULS zu Markus 7,31-37 von Stefanie Bauspieß

KONFI-IMPULS zu Markus 7,31-37 von Stefanie Bauspieß
7,31-37

1.      Heilung

Der Text handelt von einer Heilungsgeschichte. Heilung, gesund und krank sein ist ein Thema, das auch schon die Konfirmandinnen und Konfirmanden beschäftigt. Gerade für die erste Zeit im Konfirmandenjahr eignet sich dieser Text, um sich gegenseitig kennenzulernen und gruppendynamisch zu arbeiten.

2.      Aufeinander hören – Wert der Kommunikation

Als Einstieg bietet sich ein Spiel an, bei dem die Konfis sich kennenlernen und eventuell näher kommen, allerdings sollte je nach Gruppe darauf geachtet werden, dass nur so viel Nähe zugemutet wird, wie in der bestehenden Gruppe möglich ist! Denkbar ist zum Beispiel ein Hörmemory: dazu leere Überraschungseier je zweimal mit verschiedenen Sachen befüllen wie Kaffeepulver oder Körner. Diese werden ausgeteilt, es wird Zeit gegeben um aufeinander zu hören und sein Pendant zu finden. Es folgt ein gegenseitiges Interview, vielleicht nach festen Fragen. Die Konfis dürfen sich dann gegenseitig vorstellen.

3.      Bruch im Leben

Als nächstes wird der Bibeltext frei erzählt oder gemeinsam gelesen. Die Schilderung des Taubstummen kann aufnehmen, wie schwer es ist, so sein Leben zu organisieren und Menschen kennenzulernen. Gerne darf Bezug auf das eben gemachte Spiel genommen werden: „Ihr habt gemerkt, wie wichtig es ist, aufeinander zu hören, sich zuzuhören und zu erzählen. Wie gut es tut, wenn jemand mich etwas aus meinem Leben fragt! Stellt euch vor, ihr könntet das nicht!“ An dieser Stelle können Äußerungen der Konfis aufgenommen werden, wie sie sich Kontaktaufnahme vorstellen, wenn man nicht reden und sprechen kann. Gesten wie Stillezeichen (Finger vor dem Mund) können vorgestellt und erklärt werden, es ergibt sich ein Gespräch, wie Kommunikation funktioniert. Sprache und Körpersprache werden thematisiert.

Heilung durch Berührung

Im Fortgang der Erzählung berührt Jesus den Taubstummen und heilt ihn. Für Konfis ist es schwer, sich gegenseitig zu berühren, je nach Gruppe kann aber versucht werden zum Beispiel mit einer Tennisballmassage (Koppelsberger Spielkartei E06) die wohltuende Komponente von Berührung wirklich zu fühlen. Die Konfis können sich darüber austauschen und vielleicht auf ein Plakat sammeln, wie es ihnen damit ging. Aufbauend darauf kann man den Text aus den verschiedenen Blickwinkeln der einzelnen Personen beleuchten und die Konfis sammeln lassen, wie der Taubstumme sich gefühlt hat oder wie es den anderen ging, die es beobachtet haben.

4.      Gott kommt uns nahe

Zum Abschluss – möglicherweise das letzte Mal vor den Sommerferien – würde ich darauf eingehen, dass Gott uns genauso nah kommen will wie Jesus diesem Taubstummen. Wir wollen in diesem Konfijahr lernen, auf Gott und aufeinander zu hören, uns wahrzunehmen und Gott in unserem Leben wirken zu lassen. Man kann den Tennisball als Symbol nehmen: Mit so einem Ball kann man spielen, werfen, jemanden hart treffen, aber eben auch jemanden massieren und ihm etwas Gutes tun. Wir können lernen, Gott so einen Platz in unserem Leben zu geben.

Für die Predigt können diese Elemente aufgenommen werden: „elchen Stellenwert hat unsere – gelingende oder misslingende – Kommunikation? Welche Brüche gibt es in unserem Leben – im Bibeltext ist es die Taubheit und die Stummheit, das isoliert Sein. Lassen wir uns anrühren – von Gott, von den anderen; wo rühre ich andere an? Nähe und Heilung zuzulassen fällt uns nicht immer leicht und ist nicht immer nur angenehm.

Liedvorschläge: Aufstehn, aufeinander zugehn  (Das ejw-Liederbuch 151), Komm und ruh dich aus (Das ejw-Liederbuch 139), Lebensglück (Das ejw-Liederbuch 108), Wo ein Mensch Vertrauen gibt EG 638

 

Perikope
23.08.2015
7,31-37