Was wirklich seltsam ist - Predigt zu Markus 7, 31-37 von Martin Schewe
Was wirklich seltsam ist
Das Markusevangelium erzählt von Jesus:
„Und als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Tu dich auf! Und sogleich taten sich seine Ohren auf und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, sie sollten’s niemandem sagen. Je mehr er’s aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.“
Soweit die Erzählung aus dem Markusevangelium, liebe Gemeinde. Ich schlage vor, wir sehen uns die Personen, die in der Erzählung vorkommen, noch einmal genau an. Zuerst Jesus.
(1) Jesus befindet sich auf der Reise. Die Erzählung beginnt mit einer Beschreibung der Reiseroute. Wenn Sie die Ortsangaben auf der Landkarte nachgucken – vorn in Ihrer Bibel finden Sie wahrscheinlich eine –, werden Sie feststellen: Entweder nimmt Jesus einen Riesenumweg, oder der Evangelist Markus kennt sich in der Geographie Palästinas nicht besonders gut aus. Im Einzelnen scheint es auf die Ortsangaben nicht weiter anzukommen. Nur das Ziel, zu dem die Wanderung führt, könnte wichtig sein: das Gebiet der Zehn Städte. Es liegt im Ostjordanland. Dort war Jesus im Markusevangelium schon einmal und hat ein spektakuläres Wunder getan. Warum er zurückkehrt, erfahren wir nicht. Darauf scheint es ebenfalls nicht anzukommen. Die Einheimischen können sich aber offenbar an Jesus erinnern, denn sie bringen wieder einen Hilfsbedürftigen zu ihm. Wichtig könnte daran sein, dass die Bewohner der Zehn Städte Heiden sind, also keine Juden. Trotzdem erwarten sie von dem Juden Jesus, dass er den Taubstummen heilt.
Er soll ihm die Hand auflegen, bitten sie. Doch was Jesus tut, bekommen die Leute nicht mit. Er führt den Taubstummen nämlich fort. Was dann passiert, ist seltsam. Die Wunderheilungen, von denen das Markusevangelium zuvor erzählt hat, klangen so, als fielen sie Jesus ganz leicht. Oft genügte ihm ein einziger Satz, ein bloßer Befehl, und der Kranke war gesund. Bei dem Taubstummen dagegen muss sich Jesus richtig anstrengen. Nachdem er ihn beiseite genommen hat, fort von den Leuten, nimmt er eine Art medizinischer Behandlung vor. Jesus steckt dem Patienten die Finger in die Ohren und benetzt ihm die Zunge mit Speichel. Der Speichel von Jesus ist gemeint, auch wenn uns das unappetitlich vorkommt. Aber so dürften sich die Menschen in der Antike einen Wunderarzt vorgestellt haben: jemanden, der geheimnisvolle Riten praktiziert und magische Berührungen beherrscht. An dieser Stelle der Erzählung wirkt Jesus wie ein solcher Zauberer.
Weiter heißt es, dass er zum Himmel aufblickt und seufzt. Das soll wohl heißen, dass er um Beistand von oben bittet und daraufhin ein Heilgeist über ihn kommt. Dann sagt Jesus: „Hefata!“ Das ist Aramäisch, doch der Evangelist kommt uns zur Hilfe und übersetzt, was Jesus dem Taubstummen befiehlt. „Hefata!“ heißt: „Tu dich auf!“ Damit ist die Behandlung abgeschlossen.
(2) Wir wollten uns die Personen genau ansehen, die in der Erzählung vorkommen. Von dem Taubstummen haben wir bisher nicht viel erfahren. Wir erfahren auch jetzt nicht viel von ihm, und das ist wieder seltsam.
Dass der Kranke nicht selber zu Jesus geht und um Hilfe bittet, sondern zu ihm gebracht werden muss, hängt mit seiner Krankheit zusammen. Als Taubstummer wird er von Jesus noch nie etwas gehört haben. Was Jesus mit ihm anstellt, lässt er widerstandslos über sich ergehen. Dann befiehlt ihm Jesus: „Tu dich auf!“ Auch das kann ein Gehörloser eigentlich nicht verstehen. In diesem Fall allerdings doch. Denn der Erzähler fährt fort: „Sogleich taten sich seine Ohren auf und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig.“ Das ist alles. Danach wird der Geheilte nicht mehr erwähnt. Dass er auf einmal richtig redet, ist wichtig, weil es beweist, dass der Kranke tatsächlich gesund geworden ist. Aber was er sagt – ob er sich bei Jesus bedankt oder Gott lobt, wie es sich in einer anständigen Wundergeschichte gehört –, bleibt offen. Falls der Evangelist darauf hinauswill, dass der Geheilte von nun an die Taten und Worte Jesu weitererzählt, deutet Markus es nur an.
Dafür lässt er die Leute wieder auftreten, die den Taubstummen zu Jesus gebracht haben. Von ihnen haben wir schon gehört, dass sie Heiden sind, keine Juden. Trotzdem erwarten sie, dass Jesus dem Taubstummen hilft. Das Wunder selbst erleben die Leute nicht mit. Es spielt sich ausschließlich zwischen Jesus und dem Kranken ab. Umso eifriger sprechen die anderen hinterher davon. Das ist wohl die seltsamste Stelle in der Erzählung: Als Jesus verbietet, über die Sache zu reden, spricht sie sich erst recht herum. Im Markusevangelium passiert das häufig. Jesus möchte nicht, dass seine Wunder bekannt werden, doch sie können gar nicht verborgen bleiben.
(3) Wir haben Jesus betrachtet, wie er ein Wunder tut, den Taubstummen, an dem er das Wunder tut, und die Leute, die es überall herumerzählen. Dabei sind uns in der Erzählung aus dem Markusevangelium ein paar Stellen aufgefallen, die uns seltsam erschienen. Deshalb sollten wir uns noch jemanden ansehen, der in der Erzählung eine Rolle spielt, und zwar den Erzähler selber, den Evangelisten Markus. Er kommt zwar in seiner Geschichte nicht persönlich vor. Von ihm stammt sie jedoch, und vermutlich hat er sich etwas dabei gedacht, dass er sie so und nicht anders erzählt.
Stellen wir uns für einen Moment vor, Markus plant, die Erzählung zu verfilmen, und wendet sich mit dieser Idee an einen Filmproduzenten. Voraussichtlich hätte der Filmproduzent ein paar Verbesserungsvorschläge. „Schon der Anfang deiner Geschichte taugt nichts für einen Film“, würde er etwa sagen. „Langweile die Zuschauer bloß nicht mit irgendwelchen Wegbeschreibungen.“ Das leuchtet Markus ein. In Geographie kennt er sich ohnehin nicht besonders gut aus. Der Anfang des Films wird also geändert. „Und soll dein Jesus wirklich so ein Zauberdoktor sein?“, fragt der Produzent weiter. „Einer, der dem Kranken in den Ohren bohrt und ihm seine Spucke auf die Zunge schmiert?“ Nein, das ist wirklich zu eklig und muss ebenfalls geändert werden. „Und dieser Taubstumme – freut er sich nicht, als Jesus ihn heilt? Am besten erfindest du für ihn einen ausführlichen Lebenslauf. Erst ein ganz armer Teufel, dann der glücklichste Mensch auf der Welt. So etwas gefällt dem Kinopublikum. Vergiss nicht, eine Liebesgeschichte einzubauen.“ Markus verspricht, sein Möglichstes zu tun. „Und das Ende“, sagt der Filmproduzent noch, „das Ende geht gar nicht. Was denkt sich Jesus bloß dabei, dass niemand über die Sache reden soll? Deshalb tut er doch Wunder: damit alle merken, was für ein toller Kerl er ist.“
Spätestens jetzt hat Markus einige Einwände. Was der Filmproduzent von ihm verlangt, ist überhaupt nicht mehr seine Erzählung. Als Drehbuch eignet sie sich vielleicht nicht. Als Erzählung jedoch findet Markus sie nach wie vor ganz in Ordnung. Schließlich hat er sich etwas dabei gedacht. Auf den Lebenslauf des Taubstummen kann man gut und gern verzichten. Man versteht auch so, wie isoliert und benachteiligt der Mann sein muss. Ihm eine Liebesgeschichte anzudichten, wäre erst recht überflüssig. Es genügt, dass der Kranke am Ende hören und richtig reden kann. Vor allem aber glaubt Markus nicht, dass Jesus Wunder tut, um dadurch populär zu werden. Deswegen erzählt der Evangelist ja, dass Jesus den Taubstummen beiseite nimmt, bevor er ihn heilt, und dass er das Wunder geheim halten möchte: weil Jesus viel mehr ist als ein toller Kerl, der die ungewöhnlichsten Kunststücke kann. Nicht das Wunder ist die Hauptsache in der Erzählung, sondern wer Jesus wirklich ist und was er für uns bedeutet.
Damit sind wir bei der letzten Personengruppe, die in der Erzählung vorkommt: bei ihren Hörerinnen und Hörern; bei uns also, liebe Gemeinde. Wir kommen am Schluss der Erzählung vor.
(4) Die Menschen im Gebiet der Zehn Städte, wo sich das Wunder ereignet, können das, was dort geschehen ist, nicht für sich behalten. Jesus hat ihnen zwar verboten, darüber zu reden, aber die Menschen sind viel zu erschrocken und zu aufgeregt, um sich um das Verbot zu kümmern. Was sie von dem Wunder erzählen, fasst der Evangelist Markus im letzten Satz der Erzählung zusammen: „Er hat alles wohl gemacht,“ sagen die Menschen demnach; „die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.“ Das ist nicht einfach eine Kurzfassung der vorangegangenen Geschichte. Das ist ein Zitat aus der Bibel, aus dem Buch Jesaja.
Die Bewohner der Zehn Städte sind Heiden. Woher sie das Buch Jesaja kennen, verrät uns der Evangelist nicht. Das muss er auch nicht, denn hier geht es nicht mehr um die Personen innerhalb der Geschichte. Mit seinem letzten Satz wendet sich der Erzähler an uns Hörerinnen und Hörer. Wir sind zwar ebenfalls Heiden, jedenfalls die meisten von uns, nämlich keine Juden. Aber das Buch Jesaja steht auch in unserer christlichen Bibel, und wir können die Stelle, die Markus zitiert, darin nachlesen. Genau das sollen wir tun, möchte der Evangelist. Dann merken wir, dass in seiner Erzählung auch von uns die Rede ist. Nicht das Wunder ist darin die Hauptsache, haben wir schon festgestellt. Markus erzählt, wer Jesus wirklich ist und was er für uns bedeutet. Das zeigt sich vor allem im letzten Satz, dem Jesaja-Zitat: „Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.“ Werfen wir daher einen Blick in das Buch des Propheten Jesaja.
Der Prophet schildert, was das Volk Israel von Gott zu erwarten hat, wenn er es aus der Gefangenschaft befreit. Dann werden ganz viele Wunder geschehen, schreibt Jesaja. Nicht nur die Tauben und Stummen macht Gott gesund, auch die Blinden und die Lahmen – alle Kranken. Die Wüste wird fruchtbar. Reißende Tiere wird es dort nicht mehr geben. Schmerz und Seufzen sind zu Ende. Diese ganze Aufzählung steckt dahinter, wenn uns der Evangelist Markus von Jesus sagt: „Er hat alles wohl gemacht.“ Denn in Jesus Christus ist der Gott Israels zu uns gekommen und auch zu unserem Gott geworden. Auch wir können uns freuen, wie viel wir von ihm zu erwarten haben. Die ganze Welt wird neu.
Mit diesem Versprechen endet die Wundererzählung aus dem Markusevangelium, die uns so seltsam erschien. Seltsam bleibt sie und muss sie bleiben, eine ganz und gar erstaunliche Erzählung, weil sie nicht nur von dem einen Wunder handelt, das Jesus an dem Taubstummen tut, sondern zugleich davon, was er für uns alle tut.
(Die Jesaja-Stelle, auf die sich Markus bezieht, steht Jes 35,5ff. Als Sekundärliteratur habe ich verwendet: Ludger Schenke, Das Markusevangelium. Literarische Eigenart – Text und Kommentierung, Stuttgart 2005. Zum Predigttext vgl. dort S.190f.)
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Die Brücke trägt - Predigt zu Markus 7,31-37 von Martin Schmid
Und als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Effata!, das heißt: Tu dich auf! Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, sie sollten’s niemandem sagen. Je mehr er’s aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend. (Mk. 7, 31-37)
Liebe Gemeinde!
Im Gebiet von Tyrus und Sidon hatte sich Jesus aufgehalten. Das waren phönizische Städte, das war Ausland für ihn und lag jenseits der Grenzen des Landes. Viele werden zwar seine Sprache verstanden haben. Aber zuhause war er dort nicht. Es wehte dort ein anderer Wind. Und dann kam er an den See, der für manche „Galiläisches Meer“ heißt, für andere „See Genezareth“; mal muss den einen, mal muss den anderen erklärt werden, was gemeint ist. Doch blieb er nicht etwa in Kapernaum oder in sonst einem der vertrauten Orte am See, sondern ging hinüber ins Gebiet der Zehn Städte. Das liegt am östlichen Seeufer und war schon wieder eine Art Fremde, war heidnisch durchsetzt und den Frommen deshalb verdächtig. Konnte Jesus sich dort verständlich machen? Sein Aramäisch zumindest musste man manchen erst übersetzen.
Der Behinderte, dessen Gehör geschädigt war, kannte das längst. Nie hatte man ihn richtig verstanden, soweit er zurückdenken konnte. Man nannte ihn den Stammler. Er wiederum war ständig am Deuten und Übersetzen und Ablesen von den Lippen. Die Leute versuchten es bei ihm, wenn sie gutwillig waren, mit der Zeichensprache. Auch er selbst bemühte sich, auf diese Weise eine Brücke zu schlagen zu seinen Mitmenschen. Einfach war es nie. Nun kamen wieder welche zu ihm und bedeuteten ihm, er müsse unbedingt mitkommen. Er wird gezögert haben, und es könnte dann wieder von ihm geheißen haben, er sei so misstrauisch. Irgendwie brachten sie ihn trotzdem zu Jesus. Und Jesus baten sie mit allerlei Gesten und dringlich hochgezogenen Augenbrauen, er möge den Stammler hier behandeln, den Gehörlosen. Die Hände solle er ihm auflegen. Und zeigten ihm wohl ihre eigenen Hände und legten sie sich selbst wohl auf Ohren und Mund, damit er verstand.
Da nahm ihn Jesus beiseite. Er musste dazu nicht viel sagen. Er musste ihm nur den Arm um die Schultern legen.
So standen sie beieinander. Jesus legte ihm die Finger in die Ohren, in das eine, dann in das andere. Darauf hieß er ihn die Zunge herausstrecken. Und mit seinem Speichel berührte er die Zunge des Behinderten. Auch dass Jesus jetzt zum Himmel aufblickte, wird der Stammler gesehen und dass Jesus seufzte, wird er gespürt haben. Mit dem Seufzen kannte er sich aus. Die Lippen Jesu bildeten darauf ein „e“ und ein „ff“. Das war nicht schwer abzulesen und auch nicht schwer zu verstehen. Es war aramäisch, war der Anfang von „Effata“ und bedeutete „Tu dich auf!“ Seine Ohren taten sich auf. Seine Zunge begann sich zu regen. Er redete. Richtig. - Über eine Dichterin, Hilde Domin, hat man nach ihrem Tod geschrieben: „Vielleicht hat sie in Gedanken auf einer Fähre gewohnt, ständige Überfahrt. Sie hat uns viele kleine Fähren hinterlassen ..“ Eine Fähre ist die Verbindung zwischen zwei Ufern. Wenn wir richtig reden können, entsteht eine Verbindung. Da werfen wir etwas zum Mitmenschen hinüber „wie ein Tau von einem Schiff ans Land“. Wenn wir richtig reden können, kommen wir an bei unserem Mitmenschen, wir können bei ihm landen. In dieser glücklichen Lage war nun der Mensch, dessen Verbindungen immer behindert gewesen waren, solange er nicht richtig reden und nicht richtig hören konnte.
Nicht wirklich glücklich aber wurden die, denen man die Geschichte seiner Heilung erzählte. Die Sache mit dem Speichel des Heilands auf der Zunge des Behinderten – eigentlich ein bisschen peinlich, fanden manche. Sogar die Evangelisten des Neuen Testaments scheinen das so empfunden zu haben; keiner von ihnen, weder Matthäus noch Lukas noch Johannes, übernahm diese Heilungsgeschichte aus dem Markus-Evangelium. Auch die Ohrenöffnung mit den Fingern mag ihnen seltsam erschienen sein. Vergessen wurde die Geschichte trotzdem nicht. Zumal sie im Gottesdienst seit je einen starken Widerhall fand, in den Gebeten und Liedern, aber auch auf den Kanzeln. „Den Tauben öffne das Gehör“, „Tu auf den Mund zum Lobe dein“, „Öffn‘ uns die Ohren und das Herz“, „Öffne meine Ohren, Heiliger Geist, öffne mein Herz“ so und so ähnlich tönte und tönt es durch die ganze Christenheit und durch ihre Gottesdienste von den Lippen der Beter, von den Lippen der Prediger, von den Lippen der Choräle singenden Gemeinde. Dass man nicht richtig hört und dass man eigentlich nur stammeln kann - die Erfahrung jenes Einzelnen, dem Jesus geholfen hat, ist eine Erfahrung der vielen, die sich zum Gottesdienst versammeln oder es eben aus solchen Gründen nicht mehr tun.
Im Gottesdienst wiederholen sich aber bisweilen gerade auch die glücklichen Erfahrungen, von denen diese Heilungsgeschichte berichtet. Weil es dort geschehen kann, dass Jesus einen, der sich müht mit Singen, Beten, Zuhören, auf einmal ein wenig auf die Seite nimmt und ihm den Arm um die Schultern legt.
Man müsse dem Volk aufs Maul sehen, hat auch Martin Luther allen nahegelegt, die versuchen, Worte der Heiligen Schrift zu dolmetschen und mit dem Bibelwort bei ihren Mitmenschen zu landen. Denn noch die Ausleger haben es nötig, von denen zu lernen, die nicht recht hören können. Gerade die zu predigen, zu übersetzen, auszulegen haben, dürfen keinesfalls auf die Stammler heruntersehen. Vielmehr sind sie nach Luthers Meinung selbst darauf angewiesen, anderen „aufs Maul zu sehen“.
Und Jesus war nun so weit gegangen, einen solchen Stammler beiseite zu nehmen, ganz für sich. Denn mit solchen ist er verbunden. Mit solchen seufzt er. Für sie übersetzt er seinen Ruf „Effata“ in eine Sprache, welche auch die Belasteten verstehen.
Jesus Christus ist ein Übersetzer. Nicht nur von einem Ufer des Sees Genezareth zum andern setzt er über, sondern auch von einer Seite des Lebens in eine andere, nämlich von dort, wo man Gott ferne zu sein scheint, dorthin, wo man ihm nahe kommt.
In sein Übersetzen ist das ganze Leben Jesu hineingezeichnet. Am Ende seines Lebens fasste er selbst diesen Grundzug seines Lebens zusammen, als er ein Stück Brot nahm, dieses signierte mit den Worten „das ist mein Leib“ und es über alle Abgründe hinweg hinüberstreckte zu den Erschrockenen, die um ihn waren. Und als er danach mit einem Becher Wein das gleiche tat, indem er auch den mit den Worten „das ist mein Blut“ hinüber reichte, ja, hinüber setzte zu den Belasteten und ihre Lippen damit netzte.
Manchen war’s peinlich und ist es heute noch, wenn da von Mund zu Mund etwas zu ihnen kommt, von Lippe zu Lippe und direkt auf die Zunge. Für andere ist es wie ein Brief, den sie behutsam öffnen wollen und zu entziffern versuchen. Und wie schön, wenn der Gruß lesbar wird und der Sinn der Botschaft sich allmählich erschließt!
Es ist eine Ruf-Geschichte, mit der wir es heute zu tun haben, die Geschichte einer Berufung. Sie ruft noch immer.
Aber wir rufen ja auch. Wir rufen, wenn wir uns kleiden: wirst du mich sehen? Wir rufen, wenn wir uns abmühen: wirst du’s bemerken? Wir rufen, wenn wir lieben: wirst du’s erwidern? Wir rufen, wenn wir uns verstecken: wirst du mich finden? Wir rufen vor allem und zu allererst, wenn wir beten: wirst du mich hören? Nun nahm Jesus aber diesen Belasteten beiseite. Und das war, als wäre er es, der ruft, als wäre er es, der nun, feierlich gesprochen, einen Ruf nach ihm aussendet. Und nicht nur nach ihm. Weshalb wir, die sonst rufen, uns dann vielleicht zu antworten getrauen, besonders wenn wir beten. Wir hören den Wind, wir hören all die Dinge, die sein Rufen behindern, das Wehen der Zeit, das Ticken der Uhren, das ewige Rauschen der Wellen, die über den Sand laufen. Und getrauen uns, wenn wir beten, trotz unserm eigenen Rufen und zugleich mit unserem Rufen zu sagen: Ja! Ja, ich hab was gehört. Ja, es kam bei mir etwas an.
Manchmal ist unser Rufen nur noch ein Seufzen. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen. Dann betet es in uns wie von selbst. Es seufzt aus uns. Und das gleicht wohl dem Ruf „hol über!“, mit dem man einstmals den Fährmann gerufen hat, dass er abstößt vom anderen Ufer des Flusses und den Wanderer hinüber setzt. Auch Jesus hat geseufzt, den Arm um die Schultern des Behinderten gelegt. Und zugleich sagte er „Tu dich auf!“ und blickte zum Himmel. Die Evangelien erzählen, der Himmel habe sich schon aufgetan, als Jesus einst am Jordan stand und von Johannes getauft wurde. Nun tat sich der Himmel auf über einem, der nicht hören konnte, der das vielleicht noch nie gekonnt hatte. Nun baute ihm Jesus eine Himmelsbrücke. Und immer, wenn wir versammelt sind in seinem Namen, kann sich das wiederholen. Die Baumeister wollten es deutlich machen, als sie himmlische Bögen in den Kirchen errichteten und Kuppeln über den Kirchenraum wölbten. Die Sänger und Musiker wollen es jedes Mal zeigen, wenn sie die Glaubenden wie unter einem Zelt von Tönen sammeln. Das Brot und der Wein und das Wort, die ausgeteilt werden im Namen Jesu, bringen es uns nahe: Wir müssen nicht leben wie unter einem verschlossenen Himmel. Eine Brücke ist gebaut. Es geht herüber und hinüber: Ich höre, du hörst; ich rede, du sprichst; ich seufze, du verstehst; ich nehme, du gibst; ich versuche, du lässt es gelten; ich gehe und wundere mich, dass die Brücke trägt. Ja, sage ich, ein wenig stammelnd, er hat alles wohl gemacht: die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend. Amen.
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Predigt zu Markus 7, 31-37 von Hans-Hermann Jantzen
Und als Jesus wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte.
Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege.
Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hephata!, das heißt: Tu dich auf!
Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig.
Und er gebot ihnen, sie sollten’s niemandem sagen. Je mehr er’s aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus.
Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht. Die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.
(Mk. 7, 31-37)
Liebe Gemeinde,
manchmal verwischen sich unsere Wahrnehmungen. Orte und Worte gehen ineinander über. So geht es mir mit dem Schlüsselwort unserer Predigtgeschichte: „Hephata!“ Viele Häuser der Diakonie tragen diesen merkwürdigen Namen. Ursprünglich ist das jedoch kein Ort, sondern ein Wort. Wir haben es eben im Evangelium gehört: Jesus spricht dieses Wort aus, mit einem tiefen Seufzer und einem inständigen Blick zum Himmel, als er dem Taubstummen im wahrsten Sinn des Wortes „in den Ohren liegt“. „Hephata: Tu dich auf!“ Ein Wort; ja mehr als das: ein vollmächtiger Befehl an die Mächte, die diesem geplagten Menschen die Ohren verstopfen und die Zunge fesseln.
Wir wissen das: Wer von Geburt an nichts hören kann, lernt auch nicht sprechen. Der hat keinen Anteil an der menschlichsten aller Kommunikationsformen, an der Sprache. Auch unter uns leben viele gehörlose Mitmenschen. Wir versuchen, ihnen in unserer Kirche Heimat zu geben, indem wir Seelsorger in der Gebärdensprache ausbilden. Auf dem Kirchentag in Stuttgart im letzten Juni habe ich wieder sehr eindrücklich erlebt, wie bei Vorträgen und Gottesdiensten ein Dolmetscher oder eine Dolmetscherin die gesprochenen Worte zeitgleich in Gebärden übersetzte. Man konnte der Gruppe der Gehörlosen anmerken, dass sie sich dadurch in die Gemeinde hineingenommen fühlten.
Hephata! Für viele Menschen ist dieses öffnende Wort zum Ort geworden, zu einem Ort, an dem sie erfahren dürfen: trotz unserer Behinderung sind wir geliebt und angenommen! Auch mit unserer Einschränkung haben wir Anteil am Leben, an dem Leben, das Gott uns zugedacht hat.
Hephata: kein Ort, sondern ein Wort. Und dabei beginnt die aufregende Episode im Markusevangelium mit einer ganzen Reihe von Orten: Jesus kommt von Tyrus, im heutigen Libanon am Mittelmeer gelegen, und zieht über Sidon, noch weiter nördlich an der Küste, vorbei am See Genezareth in das Gebiet der sog. Zehn Städte (Dekapolis) östlich des Jordan im heutigen Syrien (V. 31). Eine etwas unsinnige Reiseroute, die, wenn Sie sie auf der Landkarte nachzeichnen, eine merkwürdige Zickzacklinie ergibt. Das wäre so, als würden wir sagen: Und als Jesus fortging aus Ostfriesland, kam er über Cuxhaven an die Müritz und weiter in die Lüneburger Heide. Markus hatte offenbar keine besonders gute Ortskenntnis. Aber es kam ihm auch gar nicht auf geografische Genauigkeit an. Seine Botschaft ist eine andere: das Evangelium, das öffnende, befreiende Wort von der Liebe Gottes hängt nicht im luftleeren Raum. Es ereignet sich immer „vor Ort“. Es braucht einen konkreten Ort, um auf Erden anzukommen und erfahrbar zu werden.
Eine pikante kleine Beobachtung am Rande: Die Gegend um Tyrus und Sidon galt genau wie die Dekapolis zurzeit Jesu als heidnisches Gebiet. Die Menschen dort waren dem Glauben gegenüber nicht besonders aufgeschlossen. Gerade hier will sich das Wort ereignen und beheimaten. Manchmal kommt eben auch der Glaube zu den Menschen und nicht nur Menschen zum Glauben.
Vom Ort zum Wort. So könnten wir den Weg bezeichnen, den Markus in dieser Geschichte mit uns geht. Vom Ort zum Wort; von der feindseligen, ablehnenden Gegend zur heilsamen Mitte. Von der „fremden Heimat Kirche“ zum öffnenden Wort Gottes. Mensch geworden in Jesus von Nazareth.
Der nächste Schritt auf diesem Weg zieht den Kreis enger und nimmt einen einzelnen konkreten Menschen in den Blick. Wenn es um den Glauben geht, geht es immer auch um den einzelnen, nicht nur um eine gesellschaftliche Atmosphäre, um eine kirchenfeindliche oder kirchenfreundliche Haltung. (V. 32.33a: Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war… Und er nahm ihn aus der Menge beiseite.)
Der Taubstumme lebt in seiner eigenen verschlossenen Welt. Er ist darauf angewiesen, dass sich das Wort zu ihm auf den Weg macht, damit sich in seinem Leben etwas öffnen kann. Er braucht wohlmeinende Menschen, die ihn auf diesem Weg an die Hand nehmen.
Was jetzt folgt, ist höchst dramatisch. In dem Geschehen zwischen Jesus und dem Taubstummen geht es hart zur Sache. Kein sanftes therapeutisches Handeln, wie es die Leute offenbar von anderen charismatischen Wunderheilern kannten und nun auch von Jesus erwarteten: „Sie baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege“. Es ist vielmehr ein regelrechter Kampf; ein Ringen mit den Mächten, die einen Menschen quälen und kaputt machen können; die ihn hör- und sprachunfähig machen. Nicht durch Energiefluss, nicht durch die Übertragung geistiger Kräfte mittels Handauflegung dringt Jesus in die Welt des Kranken vor, sondern mit großer Kraftanstrengung. Der heilende Messias bei Markus ist „ein schwer atmender ärztlicher Handwerker“ (Johanna Haberer in: GPM 2015, S. 391). Luthers deutsche Übersetzung: „Er legte ihm die Finger in die Ohren“ ist eigentlich zu harmlos. Wörtlich muss es heißen: „Er stieß ihm die Finger in die Ohren“. Fast gewaltsam durchbricht Jesus die Barrieren, die den Zugang des Wortes in die geschlossene Welt des Taubstummen bisher verhinderten. Jesus spuckt in die Hände und berührt auch die Zunge des Kranken. Vermutlich ist die deutsche Übersetzung auch hier zu sanft. Eine ganze Reihe von alten Handschriften bezeugt die drastischere Lesart: Jesus „spuckte aus“ – angewidert von den lebenszerstörenden Mächten. Ich glaube, dies ist die sinnlichste Heilungsgeschichte im ganzen Neuen Testament.
„Und er sah zum Himmel auf und seufzte...“ Jesus handelt als Bittender. Seine Vollmacht ist eine von Gott im Gebet empfangene Macht. Was jetzt geschehen wird, hat mit Gott zu tun. Es geht nicht nur um körperliche Hilfe. Auch das Verhältnis zwischen Gott und Mensch soll neu werden. Das heilende Wort kann nur zum Menschen kommen, wenn seine Verbindung zu Gott wieder hergestellt wird. Heilung und Heil gehören zusammen.
Mit einem modernen Begriff bezeichnen wir das heute als „ganzheitliche Hilfe“. Vor allem in der Diakonie betonen wir das gern. Es geht uns um Leib und Seele der uns anvertrauten Menschen. Werden wir diesem Anspruch gerecht? Oder bleibt nicht die Seele im Wettlauf um Pflegeminuten und abrechnungsfähige Leistungen oft auf der Strecke? Ich befürchte, als Mitarbeiter einer Diakoniestation müsste Jesus vor der Einsatzleiterin rechtfertigen, warum er sich so viel Zeit für einen einzelnen Patienten nimmt. „Und er sah zum Himmel auf und seufzte...“
„Hephata!“ Da ist es endlich, das entscheidende, das lösende Wort. Der Boden ist bereitet. „Hephata!“ Und es wirkt! (V. 35: Sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge löste sich.) Wenn ein Wort erst einmal ausgesprochen ist, breitet es sich aus, ist nicht mehr zurück zu holen. Es schafft seine eigene Wirklichkeit. Das ist schon bei unseren alltäglichen menschlichen Worten so, z.B. wenn eine Mutter ihr Kind tröstet: „Alles wird gut!“; wenn zwei Liebende sich ins Ohr flüstern „Ich liebe dich!“; oder auch wenn einer eine Drohung ausstößt: „Das wirst du mir büßen!“ Wie viel mehr dann bei diesem Wort Jesu: „Hephata!“ Das ist kein Zauberwort, kein „Simsalabim“. Es ist ein machtvolles, ein vollmächtiges Wort, das die Wirklichkeit des Taubstummen total verändert. Auf die neue Wahrnehmungs-fähigkeit mit den Ohren folgt sogleich seine Sprachfähigkeit. Der in sich selbst eingesperrte Mensch wird wieder kommunikationsfähig, wenn Gottes Wort ihn erreicht. Er wird wieder Mensch. „Und er redete richtig.“ Nicht aus eigener Kraft, sondern als gelöster, als erlöster Mensch antwortet er auf das „Hephata!“ -
Und was ist mit dem Wunder? Vielleicht fragen Sie sich das schon die ganze Zeit. Vielleicht haben Sie das Gefühl, ich hätte nur mit vielen Worten die Unmöglichkeit eines solchen Wunders zugedeckt. Ich weiß, dass die meisten Zeitgenossen heute bei solchen Wundergeschichten ein Unbehagen empfinden. Mir geht es nicht anders. Wir sind befangen in unserer eindimensionalen naturwissenschaftlichen Weltsicht. Aber schon ein Blick über den westlichen Tellerrand lehrt uns, dass Menschen in Indien, Afrika oder Lateinamerika ganz anders empfinden. Glaubensheilungen kommen vor und haben durchaus Platz in ihrem Denken.
Vor 17 Jahren habe ich in Südindien eine ähnliche Erfahrung gemacht. Zusammen mit einem Kollegen besuchte ich die ev.-luth. Kirche Zum Barmherzigen Samariter in Andhra Pradesh. In einem See hatten wir etwa 60 Menschen im Alter von 16 bis 66 Jahren getauft. Alle Täuflinge waren bereits wieder ans Ufer gestiegen, da bekam eine junge Frau einen Anfall. Sie verkrampfte sich, schlug um sich und stieß unartikulierte Schreie aus. Ich werde nie vergessen, wie die Ältesten der Gemeinde die Frau packten und lautstark beteten. Ein regelrechter Kampf, bis die Krämpfe der Frau sich lösten und sie ganz ruhig wurde.
Auch in den biblischen Wundererzählungen geht es nicht darum, die Naturgesetze außer Kraft zu setzen. Heilung und Heil vollziehen sich innerhalb des vertrauten Weltbildes. Von daher wäre es eine Engführung, unsere Predigtgeschichte nur als Bericht über eine erfolgreiche körperliche Heilung zu sehen. Als solcher würde er nur Enttäuschungen hervorrufen. Bei vielen Menschen bleibt ja die Behinderung oder die Krankheit, trotz intensiven Betens. Auch Jesus hat nicht alle gesund gemacht.
Der Horizont ist viel weiter gesteckt. Der Klang des Hephata hat sich ausgebreitet. Nicht nur der Taubstumme ist durch ihn verändert und neu geworden; auch die Umstehenden werden durch ihn erreicht, mitten im heidnischen Gebiet, in der Gottesferne. Gottes Wort öffnet die Ohren und löst die Zunge. Mehr noch: es eröff-net Lebensraum – in der menschlichen Gemeinschaft, in der ich lebe, und in meiner Beziehung zu Gott. Ist das nicht das viel größere Wunder? Es öffnet den Himmel über mir, damit ich mich meines Lebens auf der Erde freuen kann. So weitet sich die Wirkung dieses Wortes noch einmal und erinnert an den neuen Himmel und die neue Erde, die Gott verheißen hat. Der Lobpreis am Schluss schlägt den Bogen von der ersten zur neuen Schöpfung: „Er hat alles wohl gemacht. Die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.“ –
Hephata: ein langer Weg vom Ort zum Wort und wieder zurück zum Ort. Am Ende ist die Frage, ob es sich nun um ein Wort oder um einen Ort handelt, überflüssig. Gottes befreiende Liebe kommt zu uns im Wort und ereignet sich vor Ort. Es eröffnet neue Räume. Klangräume. Lebensräume. Handlungsräume. Spielräume. Wie im Himmel, so auf Erden. Dafür bürgt Jesus Christus, das Fleisch gewordene Wort Gottes.
Hephata: das ist eine Ermutigung für uns als christliche Gemeinde, dem öffnenden und lösenden Wort Gottes mehr zuzutrauen! Gottes Wort macht uns kommunikationsfähig, hör- und sprachfähig. Es will unser Schweigen brechen und unsere Zunge lösen, dass wir in sein Lob einstimmen und es weiter verbreiten.
Das meint mehr als schöne Gottesdienste feiern. Das meint auch, in einer gottlosen Welt denen in den Ohren liegen, die Menschen unterdrücken, sie aus der Gemeinschaft ausgrenzen oder ihr Leid ausnutzen, um daran zu verdienen. Das fängt hier im eigenen Land an, wenn wir uns z.B. in Kirche und Diakonie dafür stark machen, dass Alte, Kranke und Sterbende menschenwürdig gepflegt und begleitet werden. Oder wenn wir Gesicht zeigen gegen rechtsextreme Parolen, alle Fremden aus unserm Land fernzuhalten. Und das ist da nicht zu Ende, wo wir uns für eine offene und menschliche europäische Flüchtlingspolitik einsetzen und an einer Willkommenskultur für diejenigen mitarbeiten, die bei uns eine neue Heimat suchen. Vor kurzem hat die evangelische Kirchengemeinde Wangerooge zu einem Sommerfest für einen 20-jährigen Somali eingeladen, der seit einem Jahr im Kirchenasyl auf der Insel lebt. Ein schönes Beispiel dafür, wie Gottes liebendes und lösendes Wort seinen heilsamen Ort unter uns findet. Hephata!
Amen.
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KONFI-IMPULS zu Markus 7,31-37 von Stefanie Bauspieß
1. Heilung
Der Text handelt von einer Heilungsgeschichte. Heilung, gesund und krank sein ist ein Thema, das auch schon die Konfirmandinnen und Konfirmanden beschäftigt. Gerade für die erste Zeit im Konfirmandenjahr eignet sich dieser Text, um sich gegenseitig kennenzulernen und gruppendynamisch zu arbeiten.
2. Aufeinander hören – Wert der Kommunikation
Als Einstieg bietet sich ein Spiel an, bei dem die Konfis sich kennenlernen und eventuell näher kommen, allerdings sollte je nach Gruppe darauf geachtet werden, dass nur so viel Nähe zugemutet wird, wie in der bestehenden Gruppe möglich ist! Denkbar ist zum Beispiel ein Hörmemory: dazu leere Überraschungseier je zweimal mit verschiedenen Sachen befüllen wie Kaffeepulver oder Körner. Diese werden ausgeteilt, es wird Zeit gegeben um aufeinander zu hören und sein Pendant zu finden. Es folgt ein gegenseitiges Interview, vielleicht nach festen Fragen. Die Konfis dürfen sich dann gegenseitig vorstellen.
3. Bruch im Leben
Als nächstes wird der Bibeltext frei erzählt oder gemeinsam gelesen. Die Schilderung des Taubstummen kann aufnehmen, wie schwer es ist, so sein Leben zu organisieren und Menschen kennenzulernen. Gerne darf Bezug auf das eben gemachte Spiel genommen werden: „Ihr habt gemerkt, wie wichtig es ist, aufeinander zu hören, sich zuzuhören und zu erzählen. Wie gut es tut, wenn jemand mich etwas aus meinem Leben fragt! Stellt euch vor, ihr könntet das nicht!“ An dieser Stelle können Äußerungen der Konfis aufgenommen werden, wie sie sich Kontaktaufnahme vorstellen, wenn man nicht reden und sprechen kann. Gesten wie Stillezeichen (Finger vor dem Mund) können vorgestellt und erklärt werden, es ergibt sich ein Gespräch, wie Kommunikation funktioniert. Sprache und Körpersprache werden thematisiert.
Heilung durch Berührung
Im Fortgang der Erzählung berührt Jesus den Taubstummen und heilt ihn. Für Konfis ist es schwer, sich gegenseitig zu berühren, je nach Gruppe kann aber versucht werden zum Beispiel mit einer Tennisballmassage (Koppelsberger Spielkartei E06) die wohltuende Komponente von Berührung wirklich zu fühlen. Die Konfis können sich darüber austauschen und vielleicht auf ein Plakat sammeln, wie es ihnen damit ging. Aufbauend darauf kann man den Text aus den verschiedenen Blickwinkeln der einzelnen Personen beleuchten und die Konfis sammeln lassen, wie der Taubstumme sich gefühlt hat oder wie es den anderen ging, die es beobachtet haben.
4. Gott kommt uns nahe
Zum Abschluss – möglicherweise das letzte Mal vor den Sommerferien – würde ich darauf eingehen, dass Gott uns genauso nah kommen will wie Jesus diesem Taubstummen. Wir wollen in diesem Konfijahr lernen, auf Gott und aufeinander zu hören, uns wahrzunehmen und Gott in unserem Leben wirken zu lassen. Man kann den Tennisball als Symbol nehmen: Mit so einem Ball kann man spielen, werfen, jemanden hart treffen, aber eben auch jemanden massieren und ihm etwas Gutes tun. Wir können lernen, Gott so einen Platz in unserem Leben zu geben.
Für die Predigt können diese Elemente aufgenommen werden: „elchen Stellenwert hat unsere – gelingende oder misslingende – Kommunikation? Welche Brüche gibt es in unserem Leben – im Bibeltext ist es die Taubheit und die Stummheit, das isoliert Sein. Lassen wir uns anrühren – von Gott, von den anderen; wo rühre ich andere an? Nähe und Heilung zuzulassen fällt uns nicht immer leicht und ist nicht immer nur angenehm.
Liedvorschläge: Aufstehn, aufeinander zugehn (Das ejw-Liederbuch 151), Komm und ruh dich aus (Das ejw-Liederbuch 139), Lebensglück (Das ejw-Liederbuch 108), Wo ein Mensch Vertrauen gibt EG 638
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Hier habe ich eine Lobby! - Predigt zu Markus 7,31-37 von Jens Junginger
Hier habe ich eine Lobby!
Liebe Gemeinde,
ich höre jetzt wieder deutlich besser.
Ich höre einzelne Stimmen aus diffusem Stimmengewirr heraus oder wenn mir jemand leise etwas ins Ohr flüstert.
Das Gezwitscher der Vögel und andere Geräusche höre ich wieder deutlich lauter:
vorbeifahrende Autos, Flugzeuge, allgemeinen Stadtlärm.
So wie es die normal Hörenden auch wahrnehmen.
Das ist nicht nur angenehm.
Das Hörgerät in meinem linken Ohr macht all das möglich.
Es hat mich geöffnet, auch für die feinen und leisen Töne meiner Mitmenschen.
Genial ist, dass wir heute solche technischen Hilfsmittel haben.
Erstaunlich, dass sich manche davor zieren, sich Ihrer Schwerhörigkeit zu stellen.
Man sieht‘s wirklich kaum, sagt man mir.
„Effata“ ist das Wort, mit dem ich diese Erfahrung beschreiben möchte.
Ein seltsames, befremdliches, unverständliches Wort. Es heißt „öffne dich“!
Wie komme ich dazu es zu verwenden?
Ich möchte Ihnen dazu eine biblische Geschichte vorlesen.
Nachzulesen ist sie im Markusevangelium, Kapitel 7, in den Versen 31 bis 37.
Ich lese die Geschichte nach der Übersetzung der Basisbibel:
31Danach verließ Jesus die Gegend von Tyrus wieder.
Er kam über Sidon zum See von Galiläa,
mitten ins Gebiet der Zehn Städte.
32Da brachten Leute einen Taubstummen zu ihm.
Sie baten Jesus:
»Leg ihm deine Hand auf.«
33Und Jesus führte ihn ein Stück
von der Volksmenge weg.
Er legte seine Finger in die Ohren des Taubstummen
und berührte dessen Zunge mit Speichel.
34Dann blickte er zum Himmel auf,
seufzte und sagte zu ihm: »Effata!«
Das heißt: »Öffne dich!«
35Und sofort öffneten sich seine Ohren,
seine Zunge löste sich
und er konnte normal sprechen.
36Und Jesus schärfte ihnen ein,
nichts davon weiterzuerzählen.
Aber je mehr er darauf bestand,
desto mehr machten sie es bekannt.
37Die Leute gerieten außer sich vor Staunen
und sagten:
»Wie gut ist alles, was er getan hat.
Er macht,
dass die Tauben hören
und dass die Stummen reden können.«
Liebe Gemeinde,
zwischen Nicht-hören und Stumm-bleiben besteht ein unmittelbarer Zusammenhang.
Das Unvermögen eines vierjährigen Mädchens, die nicht richtig sprechen konnte, weil sie, wie sich herausstellen sollte, die Worte nie richtig vernommen hatte, hat vor einigen Jahren ihre Mutter veranlasst, das Kind untersuchen zu lassen
Es stellte sich heraus:
Das Nicht- hören hat das Sprechen verhindert. Gehörlosigkeit macht stumm.
Hören ist das erste und letzte Tun von uns Menschen.
Wer auf die Welt kommt, kennt die Stimme seiner Mutter längst.
Wer im Sterben liegt hört was um ihn herum geschieht. Wenn wir gerade mal 0,9 Millimeter groß sind wachsen uns Ohren. Ab dem 135. Tag hat die Innenohrschnecke (Cochlea) ihre definitive Größe erreicht und wird nicht mehr wachsen.[1]
In einem Brief seiner gerade verstorbenen Mutter, den mir der Sohn, ein Musiker, zeigte,
las ich, dass der schon als Baby mit der Klaviermusik seines Opas aufgewachsen ist.
Die Frage, wie er zur Musik kam, hatte sich damit erledigt.
Was wir unbewusst schon früh hören, prägt uns.
Wenn wir jedoch nichts hören bleibt uns ein wesentlicher Teil der Welt versperrt.
Man ist außen vor.
Taubstumme, heute sagen wir „Gehörlose“ gibt es in unserer westlichen Welt immer weniger. Gehörlose Babys erhalten schon früh Implantate. Wir haben unglaubliche technische Möglichkeiten. Die Gebärdensprache ist selbstverständlicher geworden. Gehörlose kommunizieren öffentlich.
Zur Zeit Jesu – und noch viele weitere Jahrhunderte lang - war das noch anders.
Ziemlich anders.
Man hatte die Hilfsmittel nicht. Aber nicht nur das.
Menschen mit jeglicher Art körperlicher und seelischer Einschränkungen galten als nicht vollwertige Menschen, sondern als von der Natur, den Göttern oder von Gott bestrafte Menschen. Sie waren eine Last und eine Belästigung für die Allgemeinheit.
Sie waren tabu.
In vielen Teilen der Welt ist das heute noch so. Inklusion fängt auch bei uns gerade erst so langsam an.
Manche haben einen starken Überlebenswillen, aller Ablehnung und Ausgrenzung zum Trotz.
Manche schaffen das aber nicht, oder nicht mehr.
Sie haben längst resigniert.
Bei dem Menschen in der Geschichte scheint es auch so gewesen zu sein.
Leute haben ihn zu Jesus gebracht. Erstaunlich und mutig war das von ihnen:
„Leg ihm die Hand auf, baten sie.“
Er war die einzige und letzte Hoffnung.
Jugendliche die von Auslandsaufenthalten bei christlichen Partnerkirchen etwa in Indien zurückkehren, sind erstaunt und erschrocken zugleich.
Weil sie dort erlebt haben, dass Gehörlose, wie auch andre schwache, behinderte Menschen in den dortigen Mehrheitsgesellschaften nichts gelten, keine Beachtung, geschweige denn Hilfe bekommen, ja, dass es als ein Tabu gilt, sich mit ihnen abzugeben.
Sie haben erlebt, nur in christlichen Einrichtungen sind sie willkommen. Die sind ihr letzte Hoffnung. Warum?
Die Effata-Geschichte ist einer der Auslöser gewesen für das christliche Engagement für Menschen mit körperlich, psychisch, seelisch, geistig oder sozial bedingter Beeinträchtigungen.
Hier haben die Menschen Anerkennung ihrer menschliche Würde, Stärkung und Förderung erlebt.
In diesem Geist hat im 18. Jahrhundert Samuel Heinicke in Hamburg Gehörlose unterrichtet um sie von dem Ruf zu befreien, sie seien nicht bildbar und geistig verkümmert.
Das war ein weiterer Schritt der Öffnung, der Gehörlosen und der Gesellschaft.[2]
Und es ist diese biblische Szene, die erste Anstöße gab:
Jesus blickt zum Himmel, während er seinen Finger ins Ohr des Menschen legt, als suche er nach einem Durchgang. Bei besonders schweren, seelisch oder körperlich Kraft fordernden Herausforderungen, bei denen wir auf zusätzliche Kraft von außen angewiesen sind blicken auch wir unbewusst, mit einem Seufzen, nach oben.
Jesus seufzt. Er gibt sich ganz und gar hin, so weit, dass er die Flüssigkeit seines eigenen Sprachorgans zum Einsatz bringt. Ein Zeichen engster Vertraulichkeit.
Jesus lässt sich in einem Maß auf einen Menschen ein, wie es tiefer kaum möglich ist.
Sinnliche konkreter, krasser, außergewöhnlicher geht es nicht.
So dicht, so Körper- und Seelennah sind heute am ehesten nur enge Familienangehörige, Ärzte und Pflegekräfte, Sozialarbeiter, Erziehrinnen, Psychologen und Therapeuten an Menschen dran.
Liebe Gemeinde
So nahe dran sein an Menschen, sich- hinwenden, berühren und heilendes Befähigen das erwartet und erhofft sich die Gesellschaft heute von der Kirche. Es ist ihr Ursprung.
Schauen wir genauer hin, wo genau sich diese Heilung des Taubstummen ereignet:
Jesus hält sich in der Diaspora auf, im Bereich der zehn Städte, abseits des jüdischen Kernlands, in der religiösen Fremde.
Sein Ruf hat sich aber bis dort herumgesprochen.
Auch da, oder vielleicht gerade da, hat man ganz besondere Erwartungen an ihn.
Man setzt Hoffnung auf ihn, auf den Messias, auf individuelles Heil und Heilung.
Vielleicht auch auf noch mehr, auf ein besseres Leben und bessere Zeiten.
In der Fremde ist Jesus unterwegs.
Liebe Gemeinde!
Ich halte diesen Ortshinweis für bedenkenswert.
Wir Christen, die christlichen Kirchen, befinden uns heute auch in der Fremde.
Fulbert Steffensky sprach auf dem Tuttlinger Kirchentag von der „Kirche im Exil.“
In Stuttgart sind noch etwa 50 Christen.
In Tuttlingen sind es noch etwa 2/3, mit abnehmender Tendenz. Deutschlandweit sinkt die Anbindung an die Kirchen.
Viele haben ein indifferentes Verhältnis zur Kirche.
Andererseits fällt auf, da, wo die Kirche im Sinne Jesu, helfend, zuwendende, berührend, helfend, aufrichtend, mit anwaltschaftlichem Engagement auftritt und als glaubwürdig und authentisch erlebt wird, wie im Bereich der Diakonie oder jetzt in der Flüchtlingsarbeit, da erfreut sie sich einer überaus hohen Akzeptanz und Zustimmung. [3]
Das heißt es dann: Die tun was für die Menschen. Die kümmern sich.
Die schrecken auch nicht zurück, wie Jesus selbst es tat, den Finger in die Wunden zu legen und sich auch mal nicht so ganz sittengemäß zu verhalten und auf Probleme hinzuweisen.
Jesus wendet sich im wahrsten Sinne der Wörter mit Herz Mund und Hand dem Stummen und Gehörlosen zu. Und seine Zunge löste sich und die Ohren öffneten sich. Effata !
Es ist Sinnbild für das diakonische Handeln der Kirchen.
Es ist sogar zum Name von diakonischen Einrichtungen geworden.
Effata ! Wo das geschieht ist Kirche, in der Seelsorge, in Beratungen, Fördermaßnahmen, in diakonischen Einrichtungen.
Diese Geschichte lässt auch uns aufhorchen und achtsam werden, für die Verstummten und für die, die keine Ansprache mehr haben und mitten unter uns leben. Für Frauen und Männer, alte Menschen, Kinder und Jugendliche, die auf Grund einschlägiger, schleichender, tief in die Seele reichender negativer und traumatischer Erfahrungen taub und stumm geworden sind,
Die vier jährige Samira fällt im Kindergarten nicht auf. Sie ist still. Sie macht sich nicht bemerkbar. Man könnte auch sagen, sie ist lieb, zu lieb, sagt die Erzieherin.
Sie und ihre Familie sind geflohen.
Samira braucht professionelle Hilfe, ein ganz besonderes Einfühlungsvermögen und Förderung, damit sich ihre Zunge löst?
Adam hingegen hört überhaupt nicht, wenn man ihm Regeln setzen will. Nein, er ist nicht einfach ungezogen. Es kommt nichts an bei ihm. Er ist irgendwie taub, auch seine Laute sind nicht identifizierbar.
Eine Kirche in der Fremde, eine Kirche in der Nachfolge Jesu Christi ist gerufen wieder näher dran zu sein an den Menschen um uns und diakonischer zu werden.
Jesus ist es nicht gelungen, sein Engagement geheim zu halten. Das überrascht nicht.
Auch wir brauchen solches Engagement nicht verschämt bescheiden geheim zu halten.
Und wenn ein vormals verstummter und taub gewordener nach der guten Erfahrung in einer evangelischen Einrichtung aus tiefstem Herzen sagen kann:
Hier habe ich eine Lobby. Hier geht es mir gut!
dann bringt das zum Ausdruck, wie sich christlich motiviertes Helfen auszuwirken vermag.
Damit brauchen wir uns als diakonische Kirche auch nicht zu einer gesellschaftlich nützlichen sozialen Wärmestube degradieren zu lassen.
Und eine Gesellschaft, der Staat und die Politik kann sich nicht damit begnügen, den Kirchen in der Diakonie die Rolle zuzuschreiben: Gut das ihr euch um die Bedürftigen kümmert, macht das, dann müssen wir es weniger tun und können sparen.
Die individuelle Zuwendung, Beratung und Förderung ist unabdingbar. Und sie geschieht.
Aber das allein reicht nicht hin. Da steht noch etwas aus
Und als Kirche sind wir beauftragt mit dafür Sorge zu tragen, dass das Reich Gottes besser wachsen kann, im Himmel wie auf Erden und dass es für mehr Menschen spürbarer und erlebbarer wird.
Herbei arbeiten, herbei lieben oder herbei fordern lässt es sich nicht.
Doch haben wir den Auftrag uns auf den Weg zu machen, und darauf hinzuweisen,
dass man von den reichen Einnahmen mehr dafür verwenden kann,
dafür dass die Verschlossenen, Abgetauchten, Verstummten und Abgestumpften und Taub gewordenen wieder befähigt werden und Kraft bekommen, an einem guten Leben teilzuhaben und teil zu nehmen.
Als Kirche Jesu Christi bleiben wir begnadet und befähigt, gerade in der Fremde, im Exil,aus dem Hören zu reden und zu handeln, auf das in der Bach'schen Matthäuspassion gesungene Wort Gottes:
Er hat uns allen wohltuend
Dem Blinden gab er das Gesicht
Die Lahmen macht er gehend
Er sagt uns Seins Vaters Wort
Er trieb die Teufel fort
Betrübte hat er aufgericht'
Er nahm die Sünder auf und an
Sonst hat mein Jesus nichts getan.[4]
Amen
[1] Vgl Sabine Rückert, Die Erhörte, in die Zeit 34/2004. Zitiert in: Göttinger Predigtmeditationen 69, S. 390, von Johanna Haberer.
[2] Johanna Haberer in: Göttinger Predigtmeditationen, S. 394
[3] Gerhard Wegner, Religiöse Kommunikation und Kirchenbindung. Ende des liberalen Paradigmas? Leipzig 2015 S.7ff
[4] zit. a.a.O. S. 395
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Der Trauerstein - Predigt zu Markus 16,1-8 von Luise Stribrny de Estrada
Der Trauerstein
Liebe Schwestern und Brüder!
„Als der Sabbat vergangen war, kauften Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um hinzugehen und ihn zu salben. Und sie kamen zum Grab am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging. Und sie sprachen untereinander: Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür? Und sie sahen hin und wurden gewahr, dass der Stein weggewälzt war; denn er war sehr groß.
Und sie gingen hinein in das Grab und sahen einen Jüngling zur rechten Hand sitzen, der hatte ein langes weißes Gewand an, und sie entsetzten sich. Er aber sprach zu ihnen: Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier. Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten. Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat. Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemandem etwas; denn sie fürchteten sich.“
(Markus 16,1-8)
Die Trauer ist in ihr Leben eingebrochen. Die Zeit steht still, keine Bewegung mehr. Sie können nichts mehr ändern, alles, was gewesen ist, ist vorbei. Es hat seinen Sinn verloren. Zukunft gibt es nicht mehr. Es bleibt als einziges der letzte Liebesdienst: Seinen Körper noch einmal zu salben, seine Nähe zu suchen, ihm zum letzten Mal etwas Gutes zu tun. Vielleicht ist das wichtiger für sie, die Überlebenden, als für ihn, der tot ist und davon nichts mehr spürt. So gehen die drei Frauen als der Ruhetag vorbei ist, zu seinem Grab.
Langsam gehen sie, denn auf ihrer Seele lastet der Stein. Sie sprechen kaum miteinander, jede ist in sich selbst verschlossen, mit ihren Gedanken allein. Sie fühlen sich versteinert, erstarrt, so dass kaum etwas sie erreicht und in ihr Bewusstsein vordringt. Felsenschwer liegt die Trauer auf ihnen und droht sie zu ersticken. Die Tür zum Leben ist verschlossen, verschlossen durch einen riesigen Stein. Hart und kantig ist er, sie stoßen sich an ihm und kommen doch nicht über ihn hinweg: Jesus ist tot. Das ist die brutale Wirklichkeit, und keine Macht der Welt wird sie ändern. Der Stein, der sie niederdrückt, ist nicht zu bewegen.
Wird trotzdem jemand versuchen, den Stein weg zu wälzen? Sie selbst können es nicht, zu sehr sind sie in ihrer Trauer gefangen. Sie können sich nicht helfen. Wenn der Stein von seinem Platz weggerollt werden soll, muss es ein anderer tun, einer, der von aussen kommt. Jemand, den die Trauer nicht hat erstarren lassen. Wenn etwas in Bewegung kommen wird, dann nur durch einen, der mehr sieht als sie, denen die Trauer den Blick verstellt. „Wer wälzt uns den Stein von der Tür?“, fragen sie. Aber sind sie schon so weit, dass sie es ertragen, wenn er verrückt wird?
Doch ein anderer hat für sie entschieden. Der Stein ist schon weggewälzt, als sie zum Grab kommen. Der Stein wird nicht mehr gebraucht. Als sie zaghaft in das Grab hineingehen, verwundert, aber doch um herauszufinden, was geschehen ist, treffen sie auf einen Jüngling. Er hat eine Botschaft für sie und wird darüber zum Engel, den ein Anderer geschickt hat: „Jesus von Nazareth ist auferstanden, er ist nicht hier. Jesus lebt!“ - Gott hat sich nicht mit der Trauer abgefunden, er hat den Tod seines Sohnes nicht ertragen können und nicht ertragen wollen. Er hat sich von dem Stein des Todes nicht den Zugang zum Leben versperren lassen. Seine Liebe hat das Grab von innen aufgerissen und neues Leben aus ihm herausgesetzt. Sie hat in Bewegung gebracht, was ans Ende gekommen und erstarrt war.
Mit Entsetzen reagieren die Frauen. Darauf waren sie nicht vorbereitet, das hatten sie nicht erwartet. Sie sind in ihrer Trauer gefangen, sie können nicht glauben, dass sie überflüssig geworden sein soll.
Alles, wofür sie in den letzten Jahren gelebt hatten, war durch diesen Tod erschüttert worden, nun wollen sie sich wenigstens an diese tödliche Realität halten, auch wenn sie hart und schwer ist. Sie wollten den Leichnam ihres Meisters noch einmal liebkosen, das letzte Greifbare, was von ihm geblieben war - und nun ist er nicht mehr da!
Von neuem wird ihre Gewissheit in Frage gestellt: Was, ein Toter soll nicht mehr tot sein? Was bedeutet das, für ihn, für uns? Nein, das kann nicht wahr sein, denkt Maria, die Mutter, die vor Jahren starb, ist wirklich tot und ihr Gebein ist heute zu Staub zerfallen. Und ebenso das Kind, das ich im dritten Jahr verlor. Sollte denn mit diesem Tod alles auf den Kopf gestellt werden? Das ist nicht auszuhalten, zu viel wird uns auf einmal zugemutet. - Die Frauen zittern und geraten in Panik, die Furcht hat von ihnen Besitz ergriffen. Nichts wie weg hier, von diesem unheimlichen Ort, wo nie Dagewesenes Wirklichkeit geworden ist. Wo die Toten nicht mehr tot sind...
Maria und die anderen Frauen fliehen. Sie können nicht glauben, was sie gehört und gesehen haben, unvorstellbar ist es. Sie ertragen den Gedanken nicht, dass mit Jesus etwas anderes geschehen ist, als sie sich vorgestellt hatten. Sie schweigen und sprechen mit keinem darüber, zu groß ist ihre Angst vor dem Nicht-Tod.
Dabei hat der Engel ihnen einen Auftrag zugetraut: Den Jüngern zu erzählen, dass Jesus ihnen in Galiläa begegnen wird, damit sie alle dorthin gehen. Die Frauen sollen nicht beim Grab stehen bleiben, sondern von ihm weggehen und weitersagen, was dort geschehen ist. Der Engel jagt sie in‘s Leben zurück, das nun von innen heraus neu geworden ist. Er, nein Gott, will, dass sie sich dem stellen und anders weiterleben. Aber die Frauen schaffen es nicht, den Auftrag auszurichten. Die Furcht ist stärker.
Das wird sich erst ändern, als einige ihrer Freunde mit eigenen Augen den Auferstandenen sehen und Jesus in ihm wiedererkennen: Petrus und Johannes, und dann die beiden anderen auf dem Weg nach Emmaus. Als sie davon hören, wagen es auch die drei Frauen, die am frühen Morgen als erste zum Grab gegangen waren, von dem zu sprechen, was sie erlebt haben, und die Botschaft des Engels zu verkünden, dass Jesus in Galiläa auf sie wartet.
Manchmal wandern wir in den Spuren der Frauen, dann geht es uns wie ihnen. Wir versinken in unserer Trauer und erstarren in ihr. Der Stein versperrt den Zugang zu neuem Leben. Wir wollen ihn nicht anrühren, auch weil wir uns selbst schützen müssen. Aber dann bewegt ihn ein anderer. - So ging es Hanna, deren Loblied wir im Alten Testament hören. Jahrelang hatte sie keine Kinder bekommen können, so dass die andern Frauen sich über sie lustig machten und auf sie herabsahen. Sie weinte und war verzweifelt. Nachdem sie lange und leidenschaftlich gebetet hatte, erhörte Gott sie endlich, und sie wurde schwanger. Ein Wunder war ihr geschehen, auf das sie schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Neues Leben war möglich geworden, in ihr und für sie. Das öffnet ihr den Mund: „Mein Herz ist voll Freude über den Herrn, große Kraft gibt mir der Herr. Weit öffnet sich mein Mund gegen meine Feinde; denn ich freue mich über deine Hilfe“, so singt sie. Hanna - die Geschichte einer Auferstehung.
Da ist einem anderen der liebste Mensch gestorben, und er ist allein. Die Trauer hat ihn gepackt und lässt kein anderes Gefühl zu als den beißenden Schmerz. Kein Trost erreicht ihn. Alles liegt unter einem grauen Schleier, jeder Glanz ist ausgelöscht. Auch sein Leben ist vorbei, er könnte sich am besten gleich mit begraben lassen. Das geht so eine lange Zeit. Vielleicht sind die Wunden dann vernarbt, aber eine vollständige Heilung gibt es nicht. - Und dann kommt doch etwas Neues, etwas, was nicht vorgesehen war und ihn herausreißt. Etwas, das alles auf den Kopf stellt. Mag sein, es ist ein Mensch, der in sein Leben tritt, mit dem die Liebe, die schon ein Fremdwort geworden war, lebbar wird. Mag sein, er entdeckt für sich ein Aufgabe, die ihn ganz fordert, wo er gebraucht wird und unverzichtbar ist. Das Leben bekommt wieder Geschmack und Farbe. Etwas Neues hat begonnen, und er entdeckt, dass er eine Zukunft hat. Die Hoffnung hat neue Flügel bekommen.
Ein Dichter, Lothar Zenetti, berichtet so über den Stein, den ein anderer ihm vom Herzen nimmt:
Ich fragte:
wer wird mir
den Stein wegwälzen
von dem Grab
meiner Hoffnung
den Stein von meinem Herzen
diesen schweren Stein?
Mir ist ein Stein
vom Herzen genommen.
Meine Hoffnung
die ich begrub
ist auferstanden
wie er gesagt hat
er lebt er lebt
er geht mir voraus!
(Lothar Zenetti)
Lasst uns ihm hinterhergehen, hinein ins Leben!
Amen.
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Predigt zu Markus 16,1-8 von Ralph Hochschild
1Und als der Sabbat vergangen war, kauften Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um hinzugehen und ihn zu salben. 2Und sie kamen zum Grab am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging. 3Und sie sprachen untereinander: Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür? 4Und sie sahen hin und wurden gewahr, dass der Stein weggewälzt war; denn er war sehr groß.5Und sie gingen hinein in das Grab und sahen einen Jüngling zur rechten Hand sitzen, der hatte ein langes weißes Gewand an, und sie entsetzten sich. 6Er aber sprach zu ihnen: Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier. Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten. 7Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat. 8Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemandem etwas; denn sie fürchteten sich.
Herr segne unser Reden und Hören. Amen.
Liebe Gemeinde,
“denn sie fürchteten sich”. Ein scharfer Kontrast, dieser letzte Satz, zu unserer österlichen Gestimmtheit. “Denn sie fürchteten sich”. Ein deutlicher Kontrast zu unserem fröhlichen Grüßen und Singen, dem festlichen Läuten und Lachen, all dem liturgisch inszenierten Jubilieren und Jauchzen. “Denn sie fürchteten sich”. Ein irritierender Kontrast, der uns spüren lässt, wie verwirrend dieses Ostererlebnis für die ersten Zeuginnen der Auferstehung gewesen sein muss.
Es ist noch still, an jenem Morgen nach dem Sabbattage. Noch hält der Karfreitag seine schwere Hand über die Gemüter und Seelen der Jünger Jesu. Verzagte Stille nach der Flucht, trügerische Friedhofsruhe, die laut in ihnen ruft: “Alles war vergebens”.
Es ist noch still in den Herzen der drei Frauen, als sie sich auf den Weg machen. Sie sind nicht geflohen. Sie haben ihn am Kreuz gesehen. Sie haben erspäht, wo er ins Grab gelegt wurde. Und nun möchten sie ihm noch einmal nahe sein. Denn sein Tod ist ihnen so nahe wie jeder Tod eines geliebten Menschen, des Mannes, der Tochter, des Sohnes, der Frau, eines Freundes, der Eltern. Wo das Leben so aus den Fugen gerät, der Verlust quält und die richtigen Worte fehlen, hilft oft ein Tun. Und so folgen sie ihrer frommen Intuition, machen sie sich auf den Weg, um ihm noch einmal nahe zu sein, um ihn zu salben. In der Frühe, nach der durchweinten Nacht, in der Zeit, in der so viele Beter die Hilfe Gottes erfahren, voll Vertrauen auf die Wirksamkeit des alten Rituals. Noch einmal etwas von der Liebe zurückgeben, die er geschenkt hatte. Im Geruch der Aromen schmecken und riechen, wie der Hauch des Todes eben nicht die Erinnerung an eine gute Zeit, die Freundschaft, an die gemeinsamen Hoffnungen zerstören kann. Vielleicht so, wie wir in schön gepflegten Gräbern Verbundenheit und Dankbarkeit zeigen, in der erwachenden Natur ein Zeichen sehen, wie das Leben nach den Wintern unseres Lebens weitergehen und gelingen kann.
Es ist noch still auf dem Weg zu seinem Grab. “Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür?” Wer macht möglich, dass wir richtig trauern können? Wer macht möglich, dass wir noch einmal unsere Liebe zeigen können? Wer macht möglich, dass nach dem Abschied unser Leben weitergehen kann. Wer wälzt den Stein der Angst von unseren Herzen? Wer wälzt den Stein der Trauer vor unserem Lachen weg? Noch sind sie ganz bei sich und ihren Sorgen. Noch sind sie ganz in ihrer Welt, mit beiden Beinen auf dieser Erde, die Augen traurig auf den Boden gesenkt. Sie spüren: Mit unsern Kräften kommen wir nicht an das erhoffte Ziel.
“Und sie sahen hin und wurden gewahr, dass der Stein weggewälzt war.” Eben ratlos blicken sie jetzt nach vorn: Das Grab ist offen, der Weg ist frei, aber: Der Liebe, die sie zeigen wollten, der ist der lebendige Gott zuvorgekommen. “Er ist auferstanden, er ist nicht hier.” Am Ort des Todes und Vergehens erfahren sie vom neuen Leben. Ein junger Mann, im strahlend weißen Gewand, der Farbe des neuen Lebens macht es bekannt: “Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier.”
Es ist, als verlören sie den Boden unter ihren Füßen. Das kann nicht sein. Denn: Wer gescheitert ist, hat endgültig verloren, wer verurteilt ist, muss ohnmächtig leiden, wer gestorben ist, der bleibt im Grab - das ist die Welt, die sie kennen, das ist die Welt, in der sie leben, so ist das Leben, mit dem sie sich abgefunden haben. Aber jetzt wird es anders. Jetzt begegnen sie dem lebendigen Gott, der sagt: Jesus, der Gescheiterte, er ist der Lebendige, der neues Leben schenkt, Jesus, der Gekreuzigte, er ist der Mächtige, der seine Liebe schenkt, Jesus, der Begrabene, er hat den Tod besiegt und schenkt Euch eine Zukunft, die ihr nicht zu träumen gewagt habt. Das ist zu begreifen! Ein scharfer Kontrast zu jeder Welterfahrung, ein deutlicher Kontrast zu ihren Erwartungen, eine tiefe Irritation ihrer Intuition, die sich fromm und gottesfürchtig in den Abschied fügen wollte. Aber: Er ist auferstanden, er ist nicht hier.
“Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen.” Viele biblische Geschichten erzählen davon. “Furcht und Zittern” erschüttern Menschen immer wieder, wenn sie Gott begegnen. Denn eine Begegnung mit Gott bringt vertraute Gewissheiten in Wanken, erschüttert unsere Welt, die wir uns zurechtgelegt haben, unsere vertraute Welt, in der wir uns ganz intuitiv zurechtfinden. Nun brauchen sie Zeit. Nun müssen die Frauen sich zurechtfinden. Sie müssen wieder auf die Beine kommen, Worte und Bilder für das Erlebte finden, diese neue Erfahrung mit ihrem alten Leben verbinden, sie muss einen Platz in ihrem Glauben finden - und sie müssen sich auf die Beine machen: “Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat.” Ein neuer Anfang, ein neuer Auftrag und das Versprechen: Ihr seid nicht mehr allein! Jesus Christus, der Auferstandene geht euch voran. Ein neuer Anfang - auch für die Jünger, auch für, die die geflohen sind, auch für die, die Jesus verleugnet haben, auch für die, die Jesus im Stich gelassen haben.
“Denn sie fürchteten sich”. So endet kein Buch und ein Evangelium schon gar nicht. “Denn sie fürchteten sich” - das ist als Schlusssatz kaum zu ertragen. Zumal, wenn wir als Bibelleser wissen: Die Frauen haben ihre Furcht und ihr Zittern überwunden. Die Jünger sind dem Auferstandenen begegnet. Sie haben ihn erkannt. Und doch hat Markus sein “Evangelium Jesu Christi” mit diesen Worten enden lassen. “Denn sie fürchteten sich”. Kein Wunder, dass einige Schreiber des Neuen Testaments eigene Schlüsse und Ostererzählungen an dieses Ende hinzugefügt haben. Zurecht. Denn ich glaube, sie haben die Absicht des Markus gut verstanden. Denn mit diesem offenen Schluss lädt er uns ein: Zieht eigene Schlüsse aus diesem Evangelium! Erzählt mit Eurem Leben einen eigenen Schluss des Evangeliums! Erzählt, wo ihr eure Furcht und euer Zittern überwunden habt! Erzählt, wo ihr die Liebe Gottes in eurem Leben gespürt habt! Berichtet, wo eure Auferstehungshoffnung die Karfreitagsgedanken vertrieben hat! Erzählt, wie ihr erkannt habt: Der Herr ist auferstanden. Er geht uns voran. Wie den Jüngern. Wie den Frauen. Amen.
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Aufstehen zu Ostern - Predigt zu Markus 16,1-8 von Margot Runge
Aufstehen zu Ostern
(Die Osterkerze leuchtet noch nicht.
Der übliche Gottesdienstablauf ist verändert.)
Begrüßung
Ich begrüße Sie heute am Ostermorgen in der Jacobikirche mit dem alten Osterruf: Jesus ist auferstanden – er ist wahrhaftig auferstanden.
Ostern beginnt das große Aufstehen. Heute ist der Ablauf anders als sonst. Die Predigt kommt am Anfang, das Abendmahl gleich nach dem Evangelium. Heute ist alles ein wenig anders. Denn Ostern gerät der gewohnte Ablauf der Dinge durcheinander.
So sind wir’s gewohnt: Was zu Fall kommt, bleibt liegen. Wer obenauf ist, triumphiert. Was tot ist, bleibt tot. Gott wirbelt unsere Ordnung gehörig durcheinander.
Heute geht es ums Auferstehen, ums Aufstehen. Heute geht es ans Aufstehen – und wir sind dabei. Lassen Sie uns singen: Wir wollen alle fröhlich sein.
Lied: EG 100, Psalm
Auf-er-stehen?
Gott rüttelt an der Ordnung der Dinge und ver-rückt sie. Deshalb passieren zu Ostern auch lauter verrückte Sachen. Schwerbewaffnete Sicherheitskräfte fallen wie vom Blitz getroffen zu Boden, obwohl niemand auf sie geschossen hat. Leute haben Erscheinungen und behaupten, sie wären real. Zwei Leute gehen in ein Dorf und kehren wieder um. Tote stehen auf.
Aufstehen, auferstehen, das ist im Neuen Testament dasselbe Wort (anhistemi).* Menschen stehen auf, nachdem sie gegessen haben, wenn sie krank waren oder wenn sie zu einer Reise aufbrechen. Aufstehen, das ist ein Alltagswort.
Mit diesem Wort beschreibt die Bibel, wie Menschen heil werden. Die kranke Schwiegermutter des Petrus steht auf oder der Gelähmte, die Tochter des Jairus oder Maria, die um ihren toten Bruder Lazarus trauert und hört, daß Jesus kommt: Sie steht schnell auf und geht ihm entgegen. Und mit diesem Wort erzählt die Bibel, was zu Ostern passiert: Jesus steht auf.
Wir sagen meistens „auferstehen“. In der Kirche schieben wir eine Silbe in das Alltagswort und trennen es von dem, was wir täglich erleben. Aus „aufstehen“ wird „auferstehen“ und aus „aufwecken“ „auferweckt“.
Aber in der Bibel gehört es zusammen. Es ist dieselbe Erfahrung, die sich durch die ganze Bibel zieht: Gottes Lebenskraft reicht über unsere Grenzen hinaus, selbst dorthin, wo Tod und Ausweglosigkeit und Gewalt regieren. Die Bibel erzählt, wie Menschen immer wieder aufgestanden sind. Sie macht uns Mut, daß auch wir uns von dieser Kraft anstecken und uns in sie hineinziehen lassen. Rose Ausländer schreibt in einem Gedicht:
Auferstehung
Vor seiner Geburt
war Jesus
auferstanden
Sterben gilt
nicht für Gott und
seine Kinder
Wir sind Auferstandene
vor unserer Geburt
Jesus ist aufgestanden. Vom Tod, gegen den Tod. Die Mächtigen, die ihn „ermordet haben, behalten nicht das letzte Wort.“ **
Ostern beginnt das große Aufstehen. Aber wie ist aufstehen?
Aufrichten (in völliger Stille)
Eine Frau hockt völlig zusammengekauert neben der Osterkerze und richtet sich sehr, sehr langsam auf, bis sie schließlich die Arme nach oben ausstreckt.
Danach entzündet sie die Osterkerze.
Ostern beginnt das große Aufstehen. Aber wie ist aufstehen?
Erfahrungen des Aufstehens
Verschiedene Gemeindemitglieder erzählen von Menschen, die aufgestanden sind (möglichst auf die eigene Gemeinde hin aktualisieren).
Jede Erfahrung endet mit dem Satz „Ich bin aufgestanden“. Danach wird jeweils eine Kerze an der Osterkerze angezündet.
Heute Morgen war ich zum Osterspaziergang auf der Moltkewarte. Um 5.45 Uhr haben wir uns getroffen. Das Aufstehen war schrecklich. Ich frage ich mich jedes Jahr: Warum schlafe ich nicht gemütlich aus am Ostersonntag? Warum tue ich mir das an? Doch wenn wir auf der Moltkewarte angekommen sind, sage ich jedes Mal: es lohnt sich und es ist sehr schön. Ich bin aufgestanden.
Ich bin Samuel Müller, Superintendent und Stadtchronist. Im 30-jährigen Krieg sollte ein Lokalpolitiker – der Oberaufseher Jacob Grünthal - hier mit militärischen Ehren beigesetzt werden. Sogar seine Kriegsfahne sollten vorangetragen werden. Ich habe mich geweigert. Kriegsfahnen und Personenkult haben in der Kirche nichts zu suchen. Doch seine Verwandten haben ihren Einfluß geltend gemacht. Bis zur Landesregierung sind sie gegangen. Ich habe mich gewehrt, aber ich mußte klein beigeben. Auf dem Epitaph kniet er in voller Rüstung unter dem Kreuz. Trotzdem, ich bin dagegen aufgestanden.
Ich bin der Gelähmte aus der Bibel. Freunde habe mich zu Jesus getragen. Ich konnte überhaupt nicht mehr laufen, nur liegen. Jesus hat zu mir gesagt: Steh auf, nimm dein Bett und geh. So bin ich aufgestanden.
Ich bin Erich Gubalke und war in den 1920-er Jahren Pfarrer an der Ulrichskirche. Ich habe mir Gedanken zur Nutzung des Gemeindehauses gemacht. Nur Bibelstunden fand ich zu wenig. Ich fand, die Kirche soll sich auch sozial engagieren. Ich habe zwei alte Eisenbahnwaggons für obdachlose Familien im Hof aufgestellt. Dann habe ich den Kindergarten gegründet. 1933 wurde mir die Pfarrstelle entzogen, denn in meiner Zeitschrift „Die Unruhe“ habe ich vor dem Nationalsozialismus gewarnt. Ich bin aufgestanden.
Ich bin Alban Hess. Ich habe die Sankt-Michael-Buchhandlung gegründet. Doch das Buch von Adolf Hitler, „Mein Kampf“, ging nicht über meine Ladentheke. Stattdessen habe ich die Bekennende Kirche in Sangerhausen gegründet. Mehrere Jahre saß ich im Gefängnis und im KZ Buchenwald. Auch in der DDR wurde ich mehrmals inhaftiert, weil ich öffentlich für freie Wahlen eingetreten bin. Ich bin aufgestanden.
Ich war im letzten Jahr schwer krank. Ganz plötzlich habe ich die Diagnose bekommen: Du hast Krebs. Von einem Tag auf den anderen war alles anders: Untersuchungen, Krankenhaus, Chemotherapie. Ich habe alle Kräfte verloren und oft auch meinen Mut. Es hat lange gedauert, bis ich mich erholt habe. Aber jetzt bin ich aufgestanden.
Meinen Namen kennt bis heute niemand, nicht einmal die Staatssicherheit. Als in den 80-er Jahren Atomraketen auf beiden Seiten der Grenze aufgestellt wurden, wurde auch in Sangerhausen über das Bibelwort „Schwerter zu Pflugscharen“ diskutiert. Ich habe mir heimlich weiße Farbe und einen Malerpinsel organisiert. In einer Nacht- und Nebelaktion habe ich auf dem Markt am Haus Nr. 11 einen Spruch aus der kirchlichen Friedensbewegung angebracht: „Frieden schaffen ohne Waffen - in Ost und West“.
Die Staatssicherheit hat am Morgen sofort den Markt abgesperrt und den Spruch übermalt. Niemand sollte ihn sehen. Dann haben sie unzählige Leute befragt. Aber es ist nie herausgekommen. Frieden schaffen ohne Waffen in Ost und West, dafür bin ich aufgestanden.
Ich bin Maria aus Magdala. Wir Frauen haben uns am Ostersonntag zeitig zum Grab aufgemacht. So wurden wir zu ersten Zeuginnen von Ostern. Jesus ist nicht bei den Toten. Jesus ist aufgestanden.
Evangelium Markus 16,1-8
(Wenn es üblich ist, kann sich die Gemeinde an dieser Stelle das Osterlicht weitergeben.)
Lied: Wir wollen aufstehn, aufeinander zugehn, voneinander lernen, miteinander umzugehn (Clemens Bittlinger)
Die Gemeinde steht auf: Feier des Abendmahls
* Glossar zum Verb „kum“ / „anhistemi“ in der Bibel in gerechter Sprache,,Gütersloh 2011 (Taschenausgabe), 1814
** Claudia Janssen: Endlich lebendig. Die Kraft der Auferstehung erfahren. Vortrag am 29.3.2014 beim Norddeutschen Forum Feministische Theologie
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Predigt zu Markus 16,1-8 von Rainer Stahl
Liebe Leserin, lieber Leser,
liebe Schwestern und Brüder,
je länger ich über das kommende Osterfest – diese Predigt wurde natürlich vor Ostern verfasst – und diesen Bibeltext meditiere, desto mehr wird mir ein gravierender Unterschied zwischen uns, die wir diesen Bericht heute lesen und hören, und den drei Frauen deutlich, die die menschlichen Akteuerinnen dieses Berichts sind:
Wir gehen mit unseren Vorkenntnissen und Erwartungen auf Ostern zu. Wir setzen uns vielleicht schon zum 55. Male mehr oder weniger bewusst der Botschaft dieses Festes aus. Das wievielte Osterfest ist es für Sie, das Sie bewusst erleben? Für uns ist die Botschaft des „jungen Mannes“ nicht überraschend sondern das Erwartete: „Aufgestanden ist er / auferstanden ist er; nicht ist er hier!“ Für uns sind der Anfang und das Ende dieser Erzählung überraschend und verwunderlich, ja: verstörend.
Dass am ersten Arbeitstag der Woche – was dann später für uns Christen der arbeitsfreie Sonntag werden wird, war und ist in der jüdischen Kultur zur Zeit Jesu und auch heute der erste Arbeitstag der Woche und war in der damaligen römischen Gesellschaft einer der ununterbrochen aneinander gereihten Arbeitstage, aus deren immer gleicher Abfolge nur religiöse Feste herausragten –, dass am ersten Arbeitstag der Woche schon vor Sonnenaufgang für die Einbalsamierung eines Toten spezifische Spezereien eingekauft werden konnten! Gab es damals keine Ladenöffnungszeiten? Was waren das für eine Kultur und Gesellschaft?
Dass die Aussage, der „Gekreuzigte“ sei nicht da – auf dieser Kennzeichnung liegt Gewicht, dass Jesus aus Nazaret gekreuzigt worden war –, „Zittern und Entsetzen“ hervorruft, eine Angstreaktion auslöst, gerade nicht Freude, Begeisterung und neue Hoffnung!
Für die drei Frauen ist ihr gesellschaftliches Umfeld natürlich selbstverständlich, ohne es zu hinterfragen. Und dazu gehörte damals, dass Tote wohlhabender Bevölkerungsschichten – arme Familien haben ihre Toten einfach in ein Tuch gehüllt, in ein Erdgrab gelegt und über sie Erde geschaufelt – fest in Tücher gewickelt, wobei das Gesicht gesondert abgedeckt wurde, und auf die Liege eines Felsengrabes gelegt wurden, wo sie verwesen konnten, bis dann über ein Jahr später ihre Knochen eingesammelt und in einen extra Knochenkasten, ein ossuarium, gelegt wurden, auf das manchmal der Name der Person eingeritzt wurde, deren Knochen eingelegt worden waren – das ossuarium des Hohenpriesters Kajafas ist archäologisch gesichert! Den ersten Schritt dieses Prozesses wollten die Frauen durchführen. Das war schmerzliche, aber selbstverständliche Realität.
Und es ist für sie – das darf ich so schreiben – selbstverständlich, dass die Aussage, der Gekreuzigte lebe, verstörend, entsetzend ist. Bleiben wir einmal kurz bei dieser Aussage und lassen sie trotz aller „Gewöhnung“ an Ostern an uns heran: Stellen wir uns vor, über eine Person, zu der wir starke emotionale Bindungen hatten und deren Tod wir innerlich zu verarbeiten beginnen, werde gesagt: sie lebe. Aber verbunden mit der Aussage: „Nicht hier.“ Ohne, dass wir sie sehen, sollen wir die Aussage, sie sei nicht mehr tot sondern „aufgestanden“ / „auferstanden“, als hilfreich empfinden. Werden wir eine solche Aussage nicht auch als irritierende, als entsetzlich verstehen?
Und nun kommt noch etwas hinzu: Die Frauen funktionieren im Sinne der ihnen anerzogenen Tradition, aber sie werden zu einer ganz neuen und überraschenden Aktivität aufgefordert: Sie sollen diese alles verändernde Nachricht weitergeben und eine Bewegung, eine Wanderschaft aus der Lethargie der Trauer und der Angst auslösen, die nach „Galiläa“ führen soll, denn dort werde man den Auferstanden „sehen“. Zwar heißt es, dass er sogar „vorangehen“ werde. Aber „sehen“ werde man ihn erst am Ziel, in „Galiläa“.
Ist es da nicht verständlich, dass die Frauen mit „Zittern und Entsetzen“ reagieren? Wo sie nach unserer Stundenzählung erst seit etwa 38 Stunden mit dem Bewusstsein umgehen, dass Jesus tot ist! Könnten wir anders reagieren?
Das also ist das Entscheidende dieses Berichts und das ist zugleich das Entscheidende unseres Osterfestes im Jahr 2015:
Dass wir uns in unserem Glaubensleben, dass wir uns als Gemeinde, dass wir uns als christliche Familie oder christliche Gruppe auf einen Weg stellen lassen, der nach „Galiläa“ führt, auf dem der Auferstandene vorangeht, ohne, dass wir ihn „sehen“, an dessen Ziel aber die Begegnung mit dem Auferstandenen stehen wird. Das Geheimnis von Ostern liegt zwischen einem „ist“ und einem „wird“: „Er ist auferstanden!“ Und: „Dort wird er sich sehen lassen!“
Die Auferstehungsbotschaft gibt es nur als etwas „Gehörtes“: „Er ist auferstanden!“ Da heißt es, sich ganz im Sinne und Verstehen Martin Luthers an Worte zu klammern, Worten zu vertrauen, Worten zu glauben. Ohne jede andere Sicherheit. Gerade – und das ist hier ganz entscheidend – ohne Bild. Zu Ostern gibt es nichts zu „sehen“. Alle Auferstehungsbilder, die sich die Christenheit doch gemalt und entworfen hat, sind – neutestamentlich bewertet - unangemessen und falsch.
Aber am Ziel des Weges, der zu Ostern beginnt, in „Galiläa“, werden wir „sehen“, ihn „sehen“. Das ist mein Wunsch für mich und für Sie!
Wo ist „Galiläa“? Genau genommen weiß ich es nicht. Aber ich hoffe, dass es sich mir nach meinem irdischen Tod öffnen wird. Und vielleicht gibt es schon in der Gemeinschaft der Kirche ahnungsvolle Erlebnisse dieses „Galiläa“. Aber das wird Thema von morgen sein.[1]
Amen.
„Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne bei Christus Jesus, unserem Herrn!“
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Predigt zu Markus 16,1-8 von Jochen Riepe
I
‚Zurück an den Anfang‘ , das , liebe Gemeinde, ist Ostern. Gott hat den ersten Schritt getan und gesagt : ‘Ich liebe, ich will , daß du bist‘.* Halleluja. Der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden. Halleluja.
II
Ein Waffenstillstand zwischen verfeindeten Parteien gleicht einem Kartenhaus , das auf Erdbebengebiet gebaut wurde. ‚Jeder minimale Stoß kann es zum Einsturz bringen‘**. Mit großer Spannung haben wir in den vergangenen Monaten die Bemühungen um einen Frieden in der Ostukraine verfolgt . Würden die Parteien sich an einen Tisch setzen ? Würden sie die Absprachen des Minsker Abkommens umsetzen und zumindest die schweren Waffen zurückziehen? Oder lauert hinter den Worten der Diplomaten und Politiker ein so großes Mißtrauen , daß jeder Rückzug von neuen Provokationen oder von einer erneuten einseitigen Interessensicherung begleitet wird ? ‚Ich weiche nicht einen Millimeter , bevor du nicht …‘ Der russische Präsident brachte es vor 14 Jahren vor dem Bundestag auf den Punkt : ‚In Wirklichkeit haben wir immer noch nicht gelernt , einander zu vertrauen‘.
III
‚Jesus aber schrie laut und verschied‘ (Mk 15,37). Wir erinnern uns : Die Evangelien hatten berichtet , daß im Augenblick des Todes Jesu der Vorhang im Tempel zerriß und ‚eine Finsternis über das ganze Land kam‘(15,33). Die Ereignisse von Karfreitag liegen nun schon wieder drei Tage zurück und vielleicht hat sich mancher in Jerusalem mit der Frage gequält : Wie kann es nach diesem Tod einfach so weitergehen? Auch der Tod Jesu ein Ereignis, über das die alles nichtende Zeit weggehen wird ? Hätte die Welt nicht stehenbleiben und Gott buchstäblich ‚dreinschlagen‘ und Rache an seinen Feinden üben müssen ? Drei Tage ist das jetzt her . Nach dem Sabbat , früh am ersten Tag der Woche , fast noch im Schutze der Dunkelheit, machen sich die Jüngerinnen auf den Weg , den Leichnam zu salben und finden – ein leeres Grab. ‚Er ist nicht hier. Er ist auferweckt worden‘.
IV
Der Osterbericht des Markus-Evangeliums ist kurz und bescheiden, eher andeutend, zurückgenommen. Natürlich : Die Frauen sind entsetzt ob der Störung der Totenruhe , ob dieser unverständlichen Worte , die ein sonderbarer Jüngling sagt … aber wir als Leser oder Hörer mögen heute so fragen : Ist das die göttliche Antwort auf jene Vernichtungsaktion , die ‚Juden und Heiden‘ –als Repräsentanten einer gewalttätigen , mörderischen und selbstmörderischen Menschheit – am ‚Sohn Gottes‘ vollzogen haben ? Ein leeres Grab . Ein ‚Hohlraum‘ gleichsam. Vielleicht kommen uns auch seltsame Ahnungen : Gott selbst hätte den Leib des Gekreuzigten , des an unserer Stelle Gerichteten, zu sich , in seine Ewigkeit , genommen … der Vater den Sohn eben in dieser ‚Rück-Nahme‘ seine große Liebe und Treue gezeigt : ‚Ich liebe, ich will, daß du bist … Ich will nicht ohne dich ,‘meinen lieben Sohn‘ sein …‘ Aber was gewinnt Gott damit ? Mit diesem ‚Opfer‘, diesem ‚loser‘? ‘Soll er ihn doch holen‘ , mögen die Spötter sagen, ‚er wird schon sehen, was er davon hat…‘
V
Waffenstillstand. Frieden schließen. Vertrauen aufbauen. Ja, einer muß den Anfang machen , den ersten Schritt tun und sich mit seinen Panzern zurückziehen … ‚Ist er der Christus , der König von Israel, so steige er vom Kreuz‘ … ja, und was ? Schlage um sich ? Ginge ihnen an die Gurgel ? Schlüge ihnen auf’s Maul und riefe die Legionen seines Vaters? Spott. Verhöhnung. Beschämung … und dann ein leeres Grab . Wo liegt die Kraft , die ‚Vollmacht‘ in der Erniedrigung und Ohnmacht Jesu ? Die christliche Phantasie stellt sich die Ereignisse von Karfreitag und Ostern gern nach dem Modell : vorläufige Niederlage und endgültiger Sieg vor. Am Ende triumphiert Gott über seine Feinde und zieht als Sieger durch’s Tor ein . Aber kann so Versöhnung werden , ‚Frieden mit Gott‘ (Röm 5,1)? Würde ein solcher erzwungener Friede den kleinsten Erdstoß bestehen ? Die Diplomaten warnen. Das Markus-Evangelium – das Evangelium vom gekreuzigten Gottessohn – mutet uns einen scheuen Gedanken zu : Gott ,der Richter und Herr der Welt, nimmt sich zurück. Der Leib Jesu ist bei ihm . ‚Sehet die Stätte, da er gelegen hat‘. Wir, die wir den Christus nicht ertragen konnten , die wir ihn schmähten und töteten – wir werden verschont von jedem Gegenschlag. Das ist Gottes Treue, seine Feindesliebe , seine große Geduld, die seinen Zorn einklammert (Röm 3,26), sein Verzicht auf Rache . Der Sohn wird in des Vaters Verborgenheit eingehen . ‚Gott will verlieren, damit der Mensch gewinne. Sicheres Heil für den Menschen, sichere Gefahr für Gott selber‘***.
VI
Einer hat den Anfang gemacht , das ,liebe Gemeinde, ist Ostern . Gott sagt zu dieser feindseligen und verfeindeten Menschheit : ‚Ich liebe, ich will , daß du bist‘. Bei den Diplomaten kann man dies ja lernen : Wenn dieser grundlegende , alles neu machende Satz , wenn diese Anerkennung des Seins des anderen nicht gelingt oder nicht glaubwürdig geschieht , bleibt alles beim Alten. Mißtrauen oder auch Rachedurst und Angst um das Eigene machen jeden Ausgleich kaputt . Die entsetzten Frauen am Grabe verstehen das noch nicht. Wir haben Distanz und können in der Grabeshöhle die Stimme des ‚Interpreten‘ , die Stimme des Gottesboten, vernehmen und ,ja , das Heilsame dieser neuen Tat Gottes erahnen. Nicht in Jerusalem , nicht am Grabe sollen sie bleiben und es gegebenenfalls zur Pilgerstätte oder zum Fanal der Jesus-Jünger in der Konkurrenz um den erinnerungsstärksten Helden machen . Nein , so wahr Gott lebendig ist , ist auch Jesus lebendig und in der Kraft des Geistes wird er sich dort zeigen und erweisen , wo alles begonnen hat. Zurück an den Anfang , nach Galiläa , in die Provinz … Das ist soz. die Verheißung einer unendlichen Fülle , die aus dem Hohlraum des Jerusalemer Grabes im Garten des Josef von Arimathia ersteht : ‚Dort werdet ihr ihn sehen‘.
VII
Ich sagte es : Der Osterbericht des Markus ist kurz , zurückgenommen , andeutend , aber das kennen wir ja : In der Andeutung kann mehr liegen als in der Ausführlichkeit. Entspricht der Evangelist nicht so der lebendigen Dezenz Gottes ? Seiner Versöhnungstat , seiner Friedenserklärung , die sanft und unscheinbar daherkommt und es riskiert , getreten und mißachtet zu werden ? Galiläa, Nazareth , ein kleines Nest , der See, einfache Fischer, Kapernaum – mit Ostern werden all diese Orte , Namen , Menschen Zeichen des Anfangs – ‚wie Morgenluft‘. Zeichen für jene Geisteskraft , die im Rückzug Jesu , in seiner ‚Erhöhung zu Gott‘ (Joh 12,32) wohnt und die nur darauf wartet , in uns zu wirken. Im Gekreuzigten hat Gott gleichsam von uns , uns frei-gelassen, aber er hat uns nicht fallen gelassen. Der auferweckte Gottessohn wird uns begegnen , zu seiner Freiheit erwecken und wir werden ihm in Freiheit entsprechen.
VIII
Einer muß den Anfang machen. Vertrauen braucht den Mut zum Risiko. ‚Ich liebe, ich will, daß du bist‘. Möge der Lebensatem , möge die galiläische Morgenluft diese Welt erfüllen : ‚Juden und Heiden‘ , Palästinenser und Israelis, Russen und Ukrainer, Deutsche und Griechen… Mögen wir einander in der Ferne und in der Nähe das – wie die Diplomaten sagen würden – das Existenzrecht ein-räumen ,indem wir unsere Ansprüche und Forderungen zurücknehmen oder begrenzen . Friede sei mit euch!
Halleluja. Der Gekreuzigte wurde auferweckt. Halleluja.
*‘Amo volo ut sis‘ (Augustinus ?) ** so die SZ vom 26.2.15 ,S.4
*** K. Barth, KD II/2,S.177