Predigt zu Markus 16,1-8 von Ralph Hochschild

Predigt zu Markus 16,1-8 von Ralph Hochschild
16,1-8

1Und als der Sabbat vergangen war, kauften Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um hinzugehen und ihn zu salben. 2Und sie kamen zum Grab am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging. 3Und sie sprachen untereinander: Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür? 4Und sie sahen hin und wurden gewahr, dass der Stein weggewälzt war; denn er war sehr groß.5Und sie gingen hinein in das Grab und sahen einen Jüngling zur rechten Hand sitzen, der hatte ein langes weißes Gewand an, und sie entsetzten sich. 6Er aber sprach zu ihnen: Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier. Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten. 7Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat. 8Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemandem etwas; denn sie fürchteten sich.

Herr segne unser Reden und Hören. Amen.

Liebe Gemeinde,

“denn sie fürchteten sich”. Ein scharfer Kontrast, dieser letzte Satz, zu unserer österlichen Gestimmtheit. “Denn sie fürchteten sich”. Ein deutlicher Kontrast zu unserem fröhlichen Grüßen und Singen, dem festlichen Läuten und Lachen, all dem liturgisch inszenierten Jubilieren und Jauchzen. “Denn sie fürchteten sich”. Ein irritierender Kontrast, der uns spüren lässt, wie verwirrend dieses Ostererlebnis für die ersten Zeuginnen der Auferstehung gewesen sein muss.

Es ist noch still, an jenem Morgen nach dem Sabbattage. Noch hält der Karfreitag seine schwere Hand über die Gemüter und Seelen der Jünger Jesu. Verzagte Stille nach der Flucht, trügerische Friedhofsruhe, die laut in ihnen ruft: “Alles war vergebens”.

Es ist noch still in den Herzen der drei Frauen, als sie sich auf den Weg machen. Sie sind nicht geflohen. Sie haben ihn am Kreuz gesehen. Sie haben erspäht, wo er ins Grab gelegt wurde. Und nun möchten sie ihm noch einmal nahe sein. Denn sein Tod ist ihnen so nahe wie jeder Tod eines geliebten Menschen, des Mannes, der Tochter, des Sohnes, der Frau, eines Freundes, der Eltern. Wo das Leben so aus den Fugen gerät, der Verlust quält und die richtigen Worte fehlen, hilft oft ein Tun. Und so folgen sie ihrer frommen Intuition, machen sie sich auf den Weg, um ihm noch einmal nahe zu sein, um ihn zu salben. In der Frühe, nach der durchweinten Nacht, in der Zeit, in der so viele Beter die Hilfe Gottes erfahren, voll Vertrauen auf die Wirksamkeit des alten Rituals. Noch einmal etwas von der Liebe zurückgeben, die er geschenkt hatte. Im Geruch der Aromen schmecken und riechen, wie der Hauch des Todes eben nicht die Erinnerung an eine gute Zeit, die Freundschaft, an die gemeinsamen Hoffnungen zerstören kann. Vielleicht so, wie wir in schön gepflegten Gräbern Verbundenheit und Dankbarkeit zeigen, in der erwachenden Natur ein Zeichen sehen, wie das Leben nach den Wintern unseres Lebens weitergehen und gelingen kann.

Es ist noch still auf dem Weg zu seinem Grab. “Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür?” Wer macht möglich, dass wir richtig trauern können? Wer macht möglich, dass wir noch einmal unsere Liebe zeigen können? Wer macht möglich, dass nach dem Abschied unser Leben weitergehen kann. Wer wälzt den Stein der Angst von unseren Herzen? Wer wälzt den Stein der Trauer vor unserem Lachen weg? Noch sind sie ganz bei sich und ihren Sorgen. Noch sind sie ganz in ihrer Welt, mit beiden Beinen auf dieser Erde, die Augen traurig auf den Boden gesenkt. Sie spüren: Mit unsern Kräften kommen wir nicht an das erhoffte Ziel.

“Und sie sahen hin und wurden gewahr, dass der Stein weggewälzt war.” Eben ratlos blicken sie jetzt nach vorn: Das Grab ist offen, der Weg ist frei, aber: Der Liebe, die sie zeigen wollten, der ist der lebendige Gott zuvorgekommen. “Er ist auferstanden, er ist nicht hier.” Am Ort des Todes und Vergehens erfahren sie vom neuen Leben. Ein junger Mann, im strahlend weißen Gewand, der Farbe des neuen Lebens macht es bekannt: “Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier.”

Es ist, als verlören sie den Boden unter ihren Füßen. Das kann nicht sein. Denn: Wer gescheitert ist, hat endgültig verloren, wer verurteilt ist, muss ohnmächtig leiden, wer gestorben ist, der bleibt im Grab - das ist die Welt, die sie kennen, das ist die Welt, in der sie leben, so ist das Leben, mit dem sie sich abgefunden haben. Aber jetzt wird es anders. Jetzt begegnen sie dem lebendigen Gott, der sagt: Jesus, der Gescheiterte, er ist der Lebendige, der neues Leben schenkt, Jesus, der Gekreuzigte, er ist der Mächtige, der seine Liebe schenkt, Jesus, der Begrabene, er hat den Tod besiegt und schenkt Euch eine Zukunft, die ihr nicht zu träumen gewagt habt. Das ist zu begreifen! Ein scharfer Kontrast zu jeder Welterfahrung, ein deutlicher Kontrast zu ihren Erwartungen, eine tiefe Irritation ihrer Intuition, die sich fromm und gottesfürchtig in den Abschied fügen wollte. Aber: Er ist auferstanden, er ist nicht hier.

“Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen.” Viele biblische Geschichten erzählen davon. “Furcht und Zittern” erschüttern Menschen immer wieder, wenn sie Gott begegnen. Denn eine Begegnung mit Gott bringt vertraute Gewissheiten in Wanken, erschüttert unsere Welt, die wir uns zurechtgelegt haben, unsere vertraute Welt, in der wir uns ganz intuitiv zurechtfinden. Nun brauchen sie Zeit. Nun müssen die Frauen sich zurechtfinden. Sie müssen wieder auf die Beine kommen, Worte und Bilder für das Erlebte finden, diese neue Erfahrung mit ihrem alten Leben verbinden, sie muss einen Platz in ihrem Glauben finden - und sie müssen sich auf die Beine machen: “Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat.” Ein neuer Anfang, ein neuer Auftrag und das Versprechen: Ihr seid nicht mehr allein! Jesus Christus, der Auferstandene geht euch voran. Ein neuer Anfang - auch für die Jünger, auch für, die die geflohen sind, auch für die, die Jesus verleugnet haben, auch für die, die Jesus im Stich gelassen haben.

“Denn sie fürchteten sich”. So endet kein Buch und ein Evangelium schon gar nicht. “Denn sie fürchteten sich” - das ist als Schlusssatz kaum zu ertragen. Zumal, wenn wir als Bibelleser wissen: Die Frauen haben ihre Furcht und ihr Zittern überwunden. Die Jünger sind dem Auferstandenen begegnet. Sie haben ihn erkannt. Und doch hat Markus sein “Evangelium Jesu Christi” mit diesen Worten enden lassen. “Denn sie fürchteten sich”. Kein Wunder, dass einige Schreiber des Neuen Testaments eigene Schlüsse und Ostererzählungen an dieses Ende hinzugefügt haben. Zurecht. Denn ich glaube, sie haben die Absicht des Markus gut verstanden. Denn mit diesem offenen Schluss lädt er uns ein: Zieht eigene Schlüsse aus diesem Evangelium! Erzählt mit Eurem Leben einen eigenen Schluss des Evangeliums! Erzählt, wo ihr eure Furcht und euer Zittern überwunden habt! Erzählt, wo ihr die Liebe Gottes in eurem Leben gespürt habt! Berichtet, wo eure Auferstehungshoffnung die Karfreitagsgedanken vertrieben hat! Erzählt, wie ihr erkannt habt: Der Herr ist auferstanden. Er geht uns voran. Wie den Jüngern. Wie den Frauen. Amen.

 

Perikope
05.04.2015
16,1-8

Aufstehen zu Ostern - Predigt zu Markus 16,1-8 von Margot Runge

Aufstehen zu Ostern - Predigt zu Markus 16,1-8 von Margot Runge
16,1-8

Aufstehen zu Ostern

(Die Osterkerze leuchtet noch nicht.
Der übliche Gottesdienstablauf ist verändert.)

Begrüßung

Ich begrüße Sie heute am Ostermorgen in der Jacobikirche mit dem alten Osterruf: Jesus ist auferstanden – er ist wahrhaftig auferstanden.

Ostern beginnt das große Aufstehen. Heute ist der Ablauf anders als sonst. Die Predigt kommt am Anfang, das Abendmahl gleich nach dem Evangelium. Heute ist alles ein wenig anders. Denn Ostern gerät der gewohnte Ablauf der Dinge durcheinander.
So sind wir’s gewohnt: Was zu Fall kommt, bleibt liegen. Wer obenauf ist, triumphiert. Was tot ist, bleibt tot. Gott wirbelt unsere Ordnung gehörig durcheinander.
Heute geht es ums Auferstehen, ums Aufstehen. Heute geht es ans Aufstehen – und wir sind dabei. Lassen Sie uns singen: Wir wollen alle fröhlich sein.

Lied: EG 100, Psalm

Auf-er-stehen?

Gott rüttelt an der Ordnung der Dinge und ver-rückt sie. Deshalb passieren zu Ostern auch lauter verrückte Sachen. Schwerbewaffnete Sicherheitskräfte fallen wie vom Blitz getroffen zu Boden, obwohl niemand auf sie geschossen hat.  Leute haben Erscheinungen und behaupten, sie  wären real. Zwei Leute gehen in ein Dorf und kehren wieder um. Tote stehen auf.

Aufstehen, auferstehen, das ist im Neuen Testament dasselbe Wort (anhistemi).*  Menschen stehen auf, nachdem sie gegessen haben, wenn sie krank waren oder wenn sie zu einer Reise aufbrechen. Aufstehen, das ist ein Alltagswort.
Mit diesem Wort beschreibt die Bibel, wie Menschen heil werden. Die kranke Schwiegermutter des Petrus steht auf oder der Gelähmte, die Tochter des Jairus oder Maria, die um ihren toten Bruder Lazarus trauert und hört, daß Jesus kommt: Sie steht schnell auf und geht ihm entgegen.  Und mit diesem Wort erzählt die Bibel, was zu Ostern passiert: Jesus steht auf. 
Wir sagen meistens „auferstehen“. In der Kirche schieben wir eine Silbe in das Alltagswort und trennen es von dem, was wir täglich erleben. Aus „aufstehen“ wird „auferstehen“ und aus „aufwecken“ „auferweckt“.

Aber in der Bibel gehört es zusammen. Es ist dieselbe Erfahrung, die sich durch die ganze Bibel zieht: Gottes Lebenskraft reicht über unsere Grenzen hinaus, selbst dorthin, wo Tod und Ausweglosigkeit und Gewalt regieren. Die Bibel erzählt, wie Menschen immer wieder aufgestanden sind. Sie macht uns Mut, daß auch wir uns von dieser Kraft anstecken und uns in sie hineinziehen lassen. Rose Ausländer schreibt in einem Gedicht:

Auferstehung

Vor seiner Geburt
war Jesus
auferstanden

Sterben gilt
nicht für Gott und
seine Kinder
Wir sind Auferstandene
vor unserer Geburt

Jesus ist aufgestanden. Vom Tod, gegen den Tod. Die Mächtigen, die ihn „ermordet haben, behalten nicht das letzte Wort.“ **
Ostern beginnt das große Aufstehen. Aber wie ist aufstehen?

Aufrichten (in völliger Stille)

Eine Frau hockt völlig zusammengekauert neben der Osterkerze und richtet sich sehr, sehr langsam auf, bis sie schließlich die Arme nach oben ausstreckt.
Danach entzündet sie die Osterkerze.

Ostern beginnt das große Aufstehen. Aber wie ist aufstehen?

Erfahrungen des Aufstehens

Verschiedene Gemeindemitglieder erzählen von Menschen, die aufgestanden sind (möglichst auf die eigene Gemeinde hin aktualisieren).

Jede Erfahrung endet mit  dem Satz „Ich bin aufgestanden“. Danach wird jeweils eine Kerze an der Osterkerze angezündet.

Heute Morgen war ich zum Osterspaziergang auf der Moltkewarte. Um 5.45 Uhr haben wir uns getroffen. Das Aufstehen war schrecklich. Ich frage ich mich jedes Jahr: Warum schlafe ich nicht gemütlich aus am Ostersonntag? Warum tue ich mir das an?  Doch wenn wir auf der Moltkewarte angekommen sind, sage ich jedes Mal: es lohnt sich und es ist sehr schön. Ich bin aufgestanden.

Ich bin Samuel Müller, Superintendent und Stadtchronist. Im 30-jährigen Krieg sollte ein Lokalpolitiker – der Oberaufseher Jacob Grünthal - hier mit militärischen Ehren beigesetzt werden. Sogar seine Kriegsfahne sollten vorangetragen werden. Ich habe mich geweigert. Kriegsfahnen und Personenkult haben in der Kirche nichts zu suchen. Doch seine Verwandten haben ihren Einfluß geltend gemacht. Bis zur Landesregierung sind sie gegangen. Ich habe mich gewehrt, aber ich mußte klein beigeben. Auf dem Epitaph kniet er in voller Rüstung unter dem Kreuz. Trotzdem, ich bin dagegen aufgestanden.

Ich bin der Gelähmte aus der Bibel. Freunde habe mich zu Jesus getragen. Ich konnte überhaupt nicht mehr laufen, nur liegen. Jesus hat zu mir gesagt: Steh auf, nimm dein Bett und geh. So bin ich aufgestanden.

Ich bin Erich Gubalke und war  in den 1920-er Jahren Pfarrer an der Ulrichskirche. Ich habe mir Gedanken zur Nutzung des Gemeindehauses gemacht. Nur Bibelstunden fand ich zu wenig. Ich fand, die Kirche soll sich auch sozial engagieren. Ich habe zwei alte Eisenbahnwaggons für obdachlose Familien im Hof aufgestellt. Dann habe ich den Kindergarten gegründet. 1933 wurde mir die Pfarrstelle entzogen, denn in meiner Zeitschrift „Die Unruhe“ habe ich vor dem Nationalsozialismus gewarnt. Ich bin aufgestanden.

Ich bin Alban Hess. Ich habe die Sankt-Michael-Buchhandlung gegründet. Doch das Buch von Adolf Hitler, „Mein Kampf“, ging nicht über meine Ladentheke. Stattdessen habe ich die Bekennende Kirche in Sangerhausen gegründet. Mehrere Jahre saß ich im Gefängnis und im KZ Buchenwald. Auch in der DDR wurde ich mehrmals inhaftiert, weil ich öffentlich für freie Wahlen eingetreten bin. Ich bin aufgestanden.

Ich war im letzten Jahr schwer krank. Ganz plötzlich habe ich die Diagnose bekommen: Du hast Krebs. Von einem Tag auf den anderen war alles anders: Untersuchungen, Krankenhaus, Chemotherapie. Ich habe alle Kräfte verloren und oft auch meinen Mut. Es hat lange gedauert, bis ich mich erholt habe. Aber jetzt bin ich aufgestanden.

Meinen Namen kennt bis heute niemand, nicht einmal die Staatssicherheit. Als in den 80-er Jahren Atomraketen auf beiden Seiten der Grenze aufgestellt wurden, wurde auch in Sangerhausen über das Bibelwort „Schwerter zu Pflugscharen“ diskutiert. Ich habe mir heimlich weiße Farbe und einen Malerpinsel organisiert. In einer Nacht- und Nebelaktion habe ich auf dem Markt am Haus Nr. 11 einen Spruch aus der kirchlichen Friedensbewegung angebracht: „Frieden schaffen ohne Waffen  -  in Ost und West“.
Die Staatssicherheit hat am Morgen sofort den Markt abgesperrt und den Spruch übermalt. Niemand sollte ihn sehen. Dann haben sie unzählige Leute befragt. Aber es ist nie herausgekommen. Frieden schaffen ohne Waffen in Ost und West, dafür bin ich aufgestanden.

Ich bin Maria aus Magdala. Wir Frauen haben uns am Ostersonntag zeitig zum Grab aufgemacht. So wurden wir zu ersten Zeuginnen von Ostern. Jesus ist nicht bei den Toten. Jesus ist aufgestanden.

Evangelium Markus 16,1-8
(Wenn es üblich ist, kann sich die Gemeinde an dieser Stelle das Osterlicht weitergeben.)
 

Lied: Wir wollen aufstehn, aufeinander zugehn, voneinander lernen, miteinander umzugehn (Clemens Bittlinger)

Die Gemeinde steht auf: Feier des Abendmahls

* Glossar zum Verb „kum“ / „anhistemi“ in der Bibel in gerechter Sprache,,Gütersloh 2011 (Taschenausgabe), 1814

** Claudia Janssen: Endlich lebendig. Die Kraft der Auferstehung erfahren. Vortrag am 29.3.2014 beim Norddeutschen Forum Feministische Theologie

Perikope
05.04.2015
16,1-8

Predigt zu Markus 16,1-8 von Rainer Stahl

Predigt zu Markus 16,1-8 von Rainer Stahl
16,1-8

Liebe Leserin, lieber Leser,
liebe Schwestern und Brüder,

je länger ich über das kommende Osterfest – diese Predigt wurde natürlich vor Ostern verfasst – und diesen Bibeltext meditiere, desto mehr wird mir ein gravierender Unterschied zwischen uns, die wir diesen Bericht heute lesen und hören, und den drei Frauen deutlich, die die menschlichen Akteuerinnen dieses Berichts sind:

Wir gehen mit unseren Vorkenntnissen und Erwartungen auf Ostern zu. Wir setzen uns vielleicht schon zum 55. Male mehr oder weniger bewusst der Botschaft dieses Festes aus. Das wievielte Osterfest ist es für Sie, das Sie bewusst erleben? Für uns ist die Botschaft des „jungen Mannes“ nicht überraschend sondern das Erwartete: „Aufgestanden ist er / auferstanden ist er; nicht ist er hier!“ Für uns sind der Anfang und das Ende dieser Erzählung überraschend und verwunderlich, ja: verstörend.

Dass am ersten Arbeitstag der Woche – was dann später für uns Christen der arbeitsfreie Sonntag werden wird, war und ist in der jüdischen Kultur zur Zeit Jesu und auch heute der erste Arbeitstag der Woche und war in der damaligen römischen Gesellschaft einer der ununterbrochen aneinander gereihten Arbeitstage, aus deren immer gleicher Abfolge nur religiöse Feste herausragten –, dass am ersten Arbeitstag der Woche schon vor Sonnenaufgang für die Einbalsamierung eines Toten spezifische Spezereien eingekauft werden konnten! Gab es damals keine Ladenöffnungszeiten? Was waren das für eine Kultur und Gesellschaft?

Dass die Aussage, der „Gekreuzigte“ sei nicht da – auf dieser Kennzeichnung liegt Gewicht, dass Jesus aus Nazaret gekreuzigt worden war –, „Zittern und Entsetzen“ hervorruft, eine Angstreaktion auslöst, gerade nicht Freude, Begeisterung und neue Hoffnung!

Für die drei Frauen ist ihr gesellschaftliches Umfeld natürlich selbstverständlich, ohne es zu hinterfragen. Und dazu gehörte damals, dass Tote wohlhabender Bevölkerungsschichten – arme Familien haben ihre Toten einfach in ein Tuch gehüllt, in ein Erdgrab gelegt und über sie Erde geschaufelt – fest in Tücher gewickelt, wobei das Gesicht gesondert abgedeckt wurde, und auf die Liege eines Felsengrabes gelegt wurden, wo sie verwesen konnten, bis dann über ein Jahr später ihre Knochen eingesammelt und in einen extra Knochenkasten, ein ossuarium, gelegt wurden, auf das manchmal der Name der Person eingeritzt wurde, deren Knochen eingelegt worden waren – das ossuarium des Hohenpriesters Kajafas ist archäologisch gesichert! Den ersten Schritt dieses Prozesses wollten die Frauen durchführen. Das war schmerzliche, aber selbstverständliche Realität.

Und es ist für sie – das darf ich so schreiben – selbstverständlich, dass die Aussage, der Gekreuzigte lebe, verstörend, entsetzend ist. Bleiben wir einmal kurz bei dieser Aussage und lassen sie trotz aller „Gewöhnung“ an Ostern an uns heran: Stellen wir uns vor, über eine Person, zu der wir starke emotionale Bindungen hatten und deren Tod wir innerlich zu verarbeiten beginnen, werde gesagt: sie lebe. Aber verbunden mit der Aussage: „Nicht hier.“ Ohne, dass wir sie sehen, sollen wir die Aussage, sie sei nicht mehr tot sondern „aufgestanden“ / „auferstanden“, als hilfreich empfinden. Werden wir eine solche Aussage nicht auch als irritierende, als entsetzlich verstehen?

Und nun kommt noch etwas hinzu: Die Frauen funktionieren im Sinne der ihnen anerzogenen Tradition, aber sie werden zu einer ganz neuen und überraschenden Aktivität aufgefordert: Sie sollen diese alles verändernde Nachricht weitergeben und eine Bewegung, eine Wanderschaft aus der Lethargie der Trauer und der Angst auslösen, die nach „Galiläa“ führen soll, denn dort werde man den Auferstanden „sehen“. Zwar heißt es, dass er sogar „vorangehen“ werde. Aber „sehen“ werde man ihn erst am Ziel, in „Galiläa“.

Ist es da nicht verständlich, dass die Frauen mit „Zittern und Entsetzen“ reagieren? Wo sie nach unserer Stundenzählung erst seit etwa 38 Stunden mit dem Bewusstsein umgehen, dass Jesus tot ist! Könnten wir anders reagieren?

Das also ist das Entscheidende dieses Berichts und das ist zugleich das Entscheidende unseres Osterfestes im Jahr 2015:

Dass wir uns in unserem Glaubensleben, dass wir uns als Gemeinde, dass wir uns als christliche Familie oder christliche Gruppe auf einen Weg stellen lassen, der nach „Galiläa“ führt, auf dem der Auferstandene vorangeht, ohne, dass wir ihn „sehen“, an dessen Ziel aber die Begegnung mit dem Auferstandenen stehen wird. Das Geheimnis von Ostern liegt zwischen einem „ist“ und einem „wird“: „Er ist auferstanden!“ Und: „Dort wird er sich sehen lassen!“

Die Auferstehungsbotschaft gibt es nur als etwas „Gehörtes“: „Er ist auferstanden!“ Da heißt es, sich ganz im Sinne und Verstehen Martin Luthers an Worte zu klammern, Worten zu vertrauen, Worten zu glauben. Ohne jede andere Sicherheit. Gerade – und das ist hier ganz entscheidend – ohne Bild. Zu Ostern gibt es nichts zu „sehen“. Alle Auferstehungsbilder, die sich die Christenheit doch gemalt und entworfen hat, sind – neutestamentlich bewertet - unangemessen und falsch.

Aber am Ziel des Weges, der zu Ostern beginnt, in „Galiläa“, werden wir „sehen“, ihn „sehen“. Das ist mein Wunsch für mich und für Sie!

Wo ist „Galiläa“? Genau genommen weiß ich es nicht. Aber ich hoffe, dass es sich mir nach meinem irdischen Tod öffnen wird. Und vielleicht gibt es schon in der Gemeinschaft der Kirche ahnungsvolle Erlebnisse dieses „Galiläa“. Aber das wird Thema von morgen sein.[1]

Amen.

„Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne bei Christus Jesus, unserem Herrn!“



[1]   Vgl. Göttinger Predigten im Internet zu Lukas 24,13-35 am 6.4.2015.

 

Perikope
05.04.2015
16,1-8

Predigt zu Markus 16,1-8 von Jochen Riepe

Predigt zu Markus 16,1-8 von Jochen Riepe
16,1-8

I

‚Zurück an den Anfang‘ , das , liebe Gemeinde, ist Ostern. Gott hat den ersten Schritt getan und gesagt  : ‘Ich liebe, ich will , daß du bist‘.*  Halleluja. Der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden. Halleluja.

II

Ein Waffenstillstand zwischen verfeindeten Parteien gleicht einem Kartenhaus , das auf Erdbebengebiet gebaut wurde. ‚Jeder minimale Stoß kann es zum Einsturz bringen‘**. Mit großer Spannung haben wir in den vergangenen Monaten die  Bemühungen um einen Frieden in der Ostukraine verfolgt . Würden die Parteien sich an einen Tisch setzen ? Würden sie die Absprachen des Minsker Abkommens umsetzen  und zumindest die schweren Waffen zurückziehen? Oder lauert hinter den Worten der Diplomaten und Politiker  ein so großes Mißtrauen , daß jeder Rückzug von neuen Provokationen oder von einer erneuten einseitigen Interessensicherung begleitet wird ? ‚Ich weiche nicht einen Millimeter , bevor du nicht …‘  Der russische Präsident brachte es  vor 14 Jahren vor dem Bundestag auf den Punkt : ‚In Wirklichkeit haben wir immer noch nicht gelernt , einander zu vertrauen‘.

III

‚Jesus aber schrie laut und verschied‘ (Mk 15,37).  Wir erinnern uns : Die Evangelien hatten berichtet , daß im Augenblick des Todes Jesu der Vorhang im Tempel zerriß  und ‚eine Finsternis über das ganze Land kam‘(15,33).  Die Ereignisse von Karfreitag liegen nun schon wieder drei Tage zurück und vielleicht hat sich mancher in Jerusalem mit der Frage gequält : Wie kann es nach diesem Tod  einfach so weitergehen? Auch der Tod Jesu ein Ereignis, über das die alles nichtende Zeit weggehen wird ? Hätte die Welt nicht stehenbleiben und  Gott buchstäblich ‚dreinschlagen‘  und Rache an seinen Feinden üben müssen ? Drei Tage ist das jetzt her . Nach dem Sabbat , früh am ersten Tag der Woche , fast noch im Schutze der Dunkelheit, machen sich die Jüngerinnen auf den Weg , den Leichnam zu salben und finden – ein leeres Grab. ‚Er ist nicht hier. Er ist auferweckt worden‘.

IV

Der Osterbericht des Markus-Evangeliums ist kurz und bescheiden, eher andeutend, zurückgenommen. Natürlich : Die Frauen sind entsetzt ob der Störung der Totenruhe , ob dieser unverständlichen Worte , die ein sonderbarer Jüngling sagt … aber wir als Leser oder Hörer mögen heute so fragen : Ist das die göttliche Antwort auf jene Vernichtungsaktion , die ‚Juden und Heiden‘ –als Repräsentanten einer  gewalttätigen , mörderischen und selbstmörderischen  Menschheit – am ‚Sohn Gottes‘ vollzogen haben  ? Ein leeres Grab . Ein ‚Hohlraum‘ gleichsam.  Vielleicht kommen uns auch seltsame Ahnungen : Gott selbst hätte den Leib des Gekreuzigten , des an unserer Stelle Gerichteten,  zu sich , in seine Ewigkeit , genommen … der Vater den Sohn eben in dieser ‚Rück-Nahme‘ seine große Liebe und Treue gezeigt : ‚Ich liebe, ich will, daß du bist … Ich will nicht ohne dich ,‘meinen lieben Sohn‘ sein …‘  Aber was gewinnt Gott damit ? Mit diesem ‚Opfer‘, diesem ‚loser‘? ‘Soll er ihn doch holen‘ , mögen die Spötter sagen, ‚er wird schon sehen, was er davon hat…‘

V

Waffenstillstand. Frieden schließen. Vertrauen aufbauen. Ja, einer muß den Anfang machen , den ersten Schritt tun und sich mit seinen Panzern zurückziehen … ‚Ist er der Christus , der König von Israel, so steige er vom Kreuz‘ … ja, und was ? Schlage um sich ? Ginge ihnen an die Gurgel ? Schlüge ihnen auf’s Maul und riefe die Legionen seines Vaters?   Spott. Verhöhnung. Beschämung … und dann ein leeres Grab .  Wo liegt die Kraft , die ‚Vollmacht‘ in der Erniedrigung und Ohnmacht Jesu ? Die christliche Phantasie stellt sich die Ereignisse von Karfreitag und Ostern gern nach dem Modell : vorläufige Niederlage und endgültiger Sieg vor. Am Ende triumphiert Gott über seine Feinde und zieht als Sieger durch’s Tor ein . Aber kann so Versöhnung werden , ‚Frieden mit Gott‘ (Röm 5,1)? Würde ein solcher erzwungener Friede den kleinsten Erdstoß bestehen ? Die Diplomaten warnen. Das Markus-Evangelium – das Evangelium vom gekreuzigten Gottessohn – mutet uns einen scheuen Gedanken zu : Gott ,der Richter und Herr der Welt,  nimmt sich zurück. Der Leib Jesu ist bei ihm . ‚Sehet die Stätte, da er gelegen hat‘. Wir, die wir den Christus nicht ertragen konnten , die wir ihn schmähten und töteten – wir werden verschont von jedem Gegenschlag. Das ist Gottes Treue, seine  Feindesliebe , seine große Geduld, die seinen Zorn einklammert (Röm 3,26), sein Verzicht auf Rache . Der Sohn wird in des Vaters Verborgenheit eingehen . ‚Gott will verlieren, damit der Mensch gewinne. Sicheres Heil für den Menschen, sichere Gefahr für Gott selber‘***.

VI

Einer hat den Anfang gemacht  , das ,liebe Gemeinde, ist Ostern . Gott sagt zu dieser feindseligen und verfeindeten Menschheit : ‚Ich liebe, ich will , daß du bist‘.  Bei den Diplomaten kann man dies ja lernen : Wenn dieser grundlegende , alles neu machende Satz , wenn diese Anerkennung des Seins des anderen nicht gelingt oder  nicht glaubwürdig geschieht , bleibt alles beim Alten. Mißtrauen oder auch Rachedurst und Angst um das Eigene machen jeden Ausgleich kaputt . Die entsetzten Frauen am Grabe verstehen das noch nicht. Wir haben Distanz und können in der Grabeshöhle  die Stimme des ‚Interpreten‘ , die Stimme des Gottesboten, vernehmen und ,ja , das Heilsame dieser  neuen Tat Gottes erahnen. Nicht in Jerusalem , nicht am Grabe sollen sie bleiben und es gegebenenfalls zur Pilgerstätte  oder zum Fanal der Jesus-Jünger in der Konkurrenz  um den erinnerungsstärksten Helden  machen . Nein , so wahr Gott lebendig ist  , ist auch Jesus lebendig und  in der Kraft des Geistes wird er sich dort zeigen  und erweisen , wo alles begonnen hat. Zurück an den Anfang , nach Galiläa , in die Provinz … Das ist soz. die Verheißung einer unendlichen Fülle , die aus dem Hohlraum des Jerusalemer Grabes im Garten des Josef von Arimathia  ersteht : ‚Dort werdet ihr ihn sehen‘.

VII

Ich sagte es : Der Osterbericht des Markus ist kurz , zurückgenommen , andeutend , aber das kennen wir ja  : In der Andeutung kann mehr liegen als in der Ausführlichkeit. Entspricht der Evangelist nicht  so der lebendigen Dezenz Gottes ? Seiner Versöhnungstat  , seiner Friedenserklärung  , die sanft und unscheinbar daherkommt und es riskiert , getreten und mißachtet zu werden ? Galiläa, Nazareth , ein kleines Nest , der See, einfache Fischer, Kapernaum – mit Ostern werden all diese Orte , Namen , Menschen  Zeichen des Anfangs – ‚wie Morgenluft‘.  Zeichen für jene Geisteskraft  , die im Rückzug Jesu , in seiner ‚Erhöhung zu Gott‘ (Joh 12,32) wohnt und die nur darauf wartet , in uns zu wirken. Im Gekreuzigten hat Gott gleichsam von uns  , uns frei-gelassen, aber er hat uns nicht fallen gelassen.  Der auferweckte Gottessohn wird uns begegnen , zu seiner Freiheit erwecken und wir werden ihm in Freiheit entsprechen.

VIII

Einer muß den Anfang machen. Vertrauen braucht den Mut zum Risiko.  ‚Ich liebe, ich will, daß du bist‘. Möge der Lebensatem , möge die galiläische Morgenluft diese Welt erfüllen : ‚Juden und Heiden‘ , Palästinenser und Israelis, Russen und Ukrainer, Deutsche und Griechen… Mögen wir einander in der Ferne und in der Nähe das – wie die Diplomaten sagen würden – das Existenzrecht ein-räumen ,indem wir unsere Ansprüche und Forderungen  zurücknehmen oder begrenzen  . Friede sei mit euch!

Halleluja. Der Gekreuzigte wurde auferweckt. Halleluja.

*‘Amo volo ut sis‘ (Augustinus ?)                                ** so die SZ vom 26.2.15 ,S.4

*** K. Barth, KD II/2,S.177 

 

Perikope
05.04.2015
16,1-8

Es geht auch ohne Herrschaft - Predigt zu Markus 10,35-45 von Dieter Splinter

Es geht auch ohne Herrschaft - Predigt zu Markus 10,35-45 von Dieter Splinter
10,35-45

Es geht auch ohne Herrschaft

Da gingen zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sprachen: Meister, wir wollen, dass du für uns tust, um was wir dich bitten werden. Er sprach: Was wollt ihr, dass ich für euch tue? Sie sprachen zu ihm: Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde? Sie sprachen zu ihm; Ja, das können wir. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde; zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das steht mir nicht zu, euch zu geben; sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist.
Und als das die Zehn hörten; wurden die unwillig über Jakobus und Johannes. Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist unter euch nicht: sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.

I.

Liebe Gemeinde !

Es geht auch ohne Herrschaft. Das ist die Botschaft der Worte Jesu. Wir erleben es anders. Wir erleben, dass die einen über die anderen herrschen. Unsere Erfahrung ist zudem: Ohne Herrschaft geht es nicht. Ein Staat will regiert, eine Stadt verwaltet, eine Kirchengemeinde geleitet sein. Dafür braucht es Männer und Frauen, die das tun. Sie tragen Verantwortung. In einer Demokratie haben sie ihre Ämter auf Zeit inne. Ihre Macht wird dadurch begrenzt. Sie können abgewählt werden. Doch das ist keineswegs überall selbstverständlich. So führen uns die täglichen Nachrichten immer wieder Zustände wie zur Zeit Jesu vor Augen: „Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an.“

Jesus weiß, von wem er da spricht. Bekanntlich ist zu seiner Zeit Pontius Pilatus der römische Statthalter in Palästina. Palästina galt in Rom als Unruheprovinz. Pontius Pilatus hatte sich in der römischen Provinz Germania  als Statthalter einen Namen gemacht, weil er hart durchgegriffen hatte. Er schien darum dem Kaiser in Rom der richtige Mann für die Unruheprovinz Palästina zu sein. Er sollte dort für Ruhe und Ordnung sorgen. Er tat es mit eiserner Hand und brutaler Gewalt. Er veranlasste in kurzer Zeit hunderte von Kreuzigungen. Auch die Kreuzigung Jesu war darunter.

Wie gesagt: In zahlreichen Ländern kommen uns heutzutage die Zustände ganz ähnlich vor wie zur Zeit Jesu. Machthaber unterdrücken Volksgruppen oder ganze Völker mit brutaler Gewalt. Fast täglich wird uns das in den Nachrichten vor Augen geführt. Wir Deutschen haben selber vor nicht allzu langer Zeit zwei Diktaturen auf deutschem Boden erlebt. Umso dankbarer sind wir für einen Staat, in dem Macht und Herrschaft demokratisch legitimiert werden müssen. Doch auch in einer Demokratie muss es Macht und Herrschaft geben, damit das Gemeinwesen funktioniert.

II.

Jesus sieht das anders. Es geht auch ohne Herrschaft. Seine Worte widersprechen unserer Erfahrung. Für uns ist es selbstverständlich, dass es Herrschaft und Macht geben muss. Diese Erfahrung teilen zwei Jünger Jesu mit uns: die Brüder Jakobus und Johannes. Sie wollen, dass Jesus ihrer Forderung nachkommt: „Meister, wir wollen, dass du für uns tust, um was wir dich bitten werden.“ Und das fordern sie: „Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit.“  Die Brüder Jakobus und Johannes wollen mit Jesus im Himmel herrschen. Sie wollen mit ihm am Ende der Zeiten über die Völker zu Gericht sitzen. Sie meinen ein Anrecht darauf zu haben. Schließlich sind sie zum Martyrium bereit. Daraus leiten sie ihren Anspruch auf ihre Mitregentschaft im Himmel ab. Leistung muss sich lohnen, so meinen die beiden Brüder. Auch und gerade dann, wenn es um das Eintreten für den Glauben an Jesus Christus geht.

Der aber meint: Der von den beiden Brüdern eingeforderte Lohn im Himmel wird denen zuteil, für den er bestimmt ist. Auf Erden ist es anders. Da hängen Macht und Leistung zusammen. Wer etwa in einer Firma durch besondere Leistungen auffällt, der klettert auf der Karriereleiter nach oben. Je höher er kommt, desto mehr Macht hat er. Wer etwas leistet, kann mehr Macht bekommen. Die Jünger Jakobus und Johannes übertragen diese irdische Erfahrung auf ihren Lohnanspruch im Himmel. Sie sind bereit ihr Leben für Jesus Christus hinzugeben. Wir wissen, dass die beiden tatsächlich den Märtyrertod gestorben sind. Sie erklären sich dazu bereit und wollen dafür dereinst belohnt werden.

Doch der enttäuscht sie. Für Märtyrer gibt es nicht automatisch einen besseren Platz im Himmel. Das veranlasst Jakobus und Johannes aber nicht dazu, ihren Entschluss rückgängig zu machen. Das hängt mit dem zusammen, was Jesus danach zu allen Jüngern sagt. Er sagt es aber nicht nur, sondern er wird seinen Worten gemäß handeln. Das wird schließlich dazu führen, dass wir von ihm - und nur von ihm – bekennen, was Jakobus und Johannes gerne ebenso für sich in Anspruch genommen hätten: „...aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten.“

III.

Bevor es aber soweit ist, muss Jesus diesen seinen Worten Taten folgen lassen: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“

Ein Lösegeld wird zum Loskauf verlangt. Wenn etwa jemand in Geiselhaft genommen wird, dann wird eine Summe für den Freikauf festgesetzt. Oder es kommt vor, dass jemand sich für den in Geiselhaft Befindlichen als Geisel anbietet. Er kauft so den Gefangenen frei.

Was uns sozusagen immer wieder in Geiselhaft nehmen kann, ist etwas, was wir eigentlich gar nicht wollen: nur auf unseren Vorteil bedacht zu sein. Immer wieder geschieht es, dass wir wie darin gefangen sind. Und: wir können uns selber daraus nicht befreien. Keine eigene Anstrengung kann uns daraus loskaufen. Doch Jesus Christus tut es. Er tut es für uns. Er lässt sich für uns im Garten Gethsemane gefangennehmen. Er lässt sich für uns zum Opfer am Kreuz machen und gibt sein Leben für uns hin. Um es mit den Worten eines alten Gesangbuchliedes zu sagen: „... dass er für uns geopfert würd, trug unsere Sünde schwere Bürd wohl an dem Kreuze lange.“ (EG 76, 1; Wochenlied)

Viele haben damit heutzutage Schwierigkeiten. Gleichwohl steckt dahinter eine Erfahrung, die ebenso zu unserem Leben gehört wie die Erfahrung, dass es ohne Herrschaft nicht geht. Diese andere Erfahrung sagt: Ein neues, ein anderes Leben ist ohne Opfer nicht möglich. Eltern wissen das nur zu genau. Aus Liebe zu ihren Kindern  sind sie bereit, große Opfer auf sich zu nehmen. Und in der Tat: Davon, dass hoffentlich jemand für uns bereit ist, immer wieder große und kleine Opfer zu bringen, leben wir unser ganzes Leben lang. Wir leben immer wieder davon, dass Menschen, die uns lieben, für uns Opfer bringen, Verzicht üben. Neues und befreites Leben braucht immer Hingabe.

IV.

Es geht auch ohne Herrschaft. Wer „von der Sünde schwere Bürd“ freigekauft worden ist, kann nun seinerseits so frei sein, mit den Herrschaftsansprüchen dieser Welt anders umzugehen. In den Worten Jesu hört sich das so an: „... wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.“ In der Gemeinde, in der Kirche Jesu Christi soll also anders miteinander umgegangen werden als wir es gemeinhin in dieser Welt erfahren. Statt der Durchsetzung durch Macht, soll es ums Dienen gehen, statt Herrschaft der einen über die anderen, soll es um Hingabe gehen.

Wir wissen, dass dieser Anspruch in Kirche und Gemeinde immer wieder in Frage gestellt wird. Durch aufopferungsvolle Hingabe kann unterschwellig auch sehr viel Macht ausgeübt werden. Und Hanns Lilje, einst stellvertretender Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche Deutschlands, hat den Willen zur Herrschaft, den es eben auch in unserer Kirche gibt, einmal in diese Worte gefasst: „Alle wollen in der Kirche dienen – am liebsten in leitender Stellung.“

Und doch gibt es in den Gemeinden und in den Diensten und Werken der Kirche  immer wieder Menschen, die dem Wort Jesu „wer unter euch groß sein will, der soll euer Diener sein“ sehr nahe kommen. Mir steht etwa der Kirchenälteste (Presbyter) vor Augen, der trotz vielfältiger Beanspruchung im Beruf, im Besuchsdienst und der Gemeindeleitung mitwirkt. Ich denke an die Prädikantinnen und Prädikanten, die die Verkündigung in den Gemeinden bereichern und ohne die in manchen Gegenden Gottesdienste ausfallen müssten. Ich denke an die Kolleginnen und Kollegen im Pfarrberuf, die sich mit viel Einsatz, Ideen und Herzblut um ihre Gemeinden kümmern. Ich denke an die Ehrenamtlichen, die in Krankenhäusern und Altenpflegeheimen in der Seelsorge mitwirken. Und besonders denke ich an eine Frau aus der Gemeinde, in der ich lange Jahre Pfarrer war. Sie war nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mit ihrem Mann aus Rumänien nach Deutschland gekommen. In Rumänien hatte sie sechs Kinder großgezogen und hart in der Landwirtschaft gearbeitet. Hier in Deutschland pflegte sie zunächst ihre Mutter; dann später ihren Mann, der an Alzheimer erkrankte und sie am Ende gar nicht mehr erkannte. Dennoch nahm sie am Gemeindeleben teil und hatte für andere immer ein aufbauendes Wort aus der Bibel oder dem Gesangbuch parat.

V.

Geht es auch ohne Herrschaft? In dieser Welt wird immer Herrschaft und Macht ausgeübt werden. Doch Dank Jesu Christi hat die christliche Gemeinde noch eine anderen Blick auf das Miteinander. Christen dienen der Welt mit den Taten der Liebe. So, und nur so, sind und bleiben wir das, was Jesus uns zugesagt hat: Salz der Erde und Licht der Welt.

Amen.

 

Perikope
22.03.2015
10,35-45

Wo ist der beste Platz für mich?- Predigt zu Markus 10,35-45 von Anke Fasse

Wo ist der beste Platz für mich?- Predigt zu Markus 10,35-45 von Anke Fasse
10,35-45

Wo ist der beste Platz für mich?

Liebe Gemeinde,

wo werde ich sitzen? Jedes Jahr wenn nach den Ferien die Schule wieder beginnt, macht sich unser Jüngster darüber viele Gedanken. Wo er denn in der Klasse sitzen will und warum, neben wem und neben wem nicht so gern … und wie er dieses Ziel erreichen könnte, denn letztendlich entscheidet das ja nicht er, sondern die Klassenlehrerin. All diese Fragen und Gedanken beschäftigen uns dann bei der ein oder anderen Mahlzeit am Familientisch.

Die Platzverteilung ist eine wichtige Frage nicht nur bei den Schülern, sondern wohl auch im Lehrerzimmer, in anderen Kollegien, in (Kirchen-)Vorständen oder bei ganz anderen Veranstaltungen.

Dieses Gespräch hörte ich vor ein paar Tagen mit an: „ Wie war es denn gestern Abend?“ „Ja, war schon ganz nett, aber wir hatten einfach blöde Plätze. Die reservierten Plätze waren schon weg, so dass wir mit irgendwem zusammen am Tisch waren, den wir gar nicht kannten. Sehen konnten wir auch nicht wirklich gut und die Gespräche waren auch recht mühsam…. Hätten wir einen anderen Platz bekommen, wäre es bestimmt ein schönes Fest gewesen.“

Es gäbe sicher noch viele andere Beispiele, die ausdrücken, wie wichtig der eigene Platz ist. So Vieles hängt damit zusammen, die gefühlte Wertschätzung, der Blickwinkel, die angenehmen und interessanten Nachbarn. Vom Platz hängt es ab, wie ich mich fühle in der Schulklasse, bei einem Fest, im Kollegium, bei einem Konzert, im Gottesdienst ….

Und so stelle ich die Frage noch umfassender: Welchen Platz im Leben habe ich? Gibt es da Unterschiede? Mein Platz in der Familie? Im Beruf? In der Kirche und im Glauben? Im kulturell-sozialen Leben? Im Freundeskreis? Und dann: Welchen Platz wünsche ich mir? Und schließlich: Was tue ich dafür?

Auch für die Jünger Jesu war die Platzfrage eine entscheidende. Die Jünger Jakobus und Johannes lösen sich aus der Gruppe der Jünger heraus. Ich stelle mir vor, sie sind auf dem Weg Richtung Jerusalem. Gerade hatte Jesus allen Jüngern zum dritten Mal von seinem bevorstehenden Leiden und dem Weg, der folgt, erzählt. Und diese beiden nehmen das nun zum Anlass Jeus direkt mit einer konkreten Bitte anzusprechen: „Meister, wir wollen, dass du für uns tust, um was wir dich bitten werden.“ Er sprach zu ihnen: „Was wollt ihr, dass ich für euch tue?“ Sie sagten: „Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit:“

Ganz klar sagen die beiden, was sie wollen. Aus dem Markusevangelium wissen wir, dass die beiden Brüder sind, Söhne eines Fischers. Sie gehörten innerhalb der Jünger zu den engsten Vertrauten von Jesus. Sie waren bei den ersten, die Jesus überhaupt berufen hat. Sie waren, zusammen mit Petrus, dabei als Jesus sich ihnen auf dem Berg offenbarte. Sie sahen ihn in strahlendem Licht  als Sohn Gottes. Welch besonderes, exquisites Erlebnis, dass nur sie zusammen mit Jesus hatten. Und aus dem weiteren Verlauf des Evangeliums wissen wir, dass wiederum sie es sein werden, die mit Jesus im Garten Gethsemane ausharren.

Eine besondere Nähe gab es also schon zwischen diesen Jüngern und Jesus. Aber rechtfertigt das ihren Vorstoß, ja ihre Forderung nach Bevorzugung, die über dieses Leben hinausgeht? Ihre Bitte nach einem besonderen Platz im Himmelreich? „Zur Rechten und zur Linken in deiner Herrlichkeit!“

Was macht Jesus nun mit dieser Bitte um besondere Platzreservierungen?

„Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, und euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde?“ Sie sprachen zu ihm: „Ja, das können wir.“ Jesus aber sprach zu ihnen:“ Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde; zu sitzen aber zu meiner Rechten und zu meiner Linken, das steht mir nicht zu, euch zu geben, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist.“
Jesus weist ihre Bitte ganz klar zurück. Erstens ist es nicht seine Sache, besondere Plätze zu vergeben. Und zweitens, wird jeder den Platz bekommen, der ihm zusteht. Fertig!

Aber erledigt ist das Gespräch damit nicht, denn die anderen Jünger haben natürlich davon mitbekommen und ärgern sich über den Vorstoß von Johannes und Jakobus.

Und da das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes.

Diese beiden haben schon so oft eine besondere Rolle gespielt. Warum denn jetzt noch mehr? Und dann gerade so? Sind sie nicht alle zwölf der besondere Kreis der Apostel um Jesus herum? Warum soll es da Sonderplätze geben. Nein, so ohne weiteres können die anderen Jünger das nicht akzeptieren. Auch sie hätten gern einen guten Platz. Sonderrollen, Sondergenehmigungen und Vordrängeln kommen einfach nicht gut an. Das ist ja schon bei der Schlange beim Einkauf oder bei Behördengängen so. Um wieviel mehr dann bei solch entscheidenden Fragen, wie dem Sitzplatz im Himmelreich?!

Es knistert also in der Luft in der Jüngerschar um Jesus. Jesus nun nutzt die Situation und ruft alle, nicht nur die zehn und auch nicht nur Jakobus und Johannes, nein alle, zusammen und redet Klartext mit ihnen. Aber wahrscheinlich ganz anders als sie alle sich das gedacht und erwartet haben:

„Ihr wisset, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will,  der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“

Das ist die Antwort Jesu. Eine Antwort, die die üblichen menschlichen Maßstäbe auf den Kopf stellt, ja umdreht. Bei Jesus und für das Reich Gottes gelten andere Maßstäbe. In der Welt, in der Politik und im Alltag ist es wohl eher so, dass die, die Macht haben, diese auch zeigen und andere ihre Macht und ihren Einfluss spüren lassen. Oft durch unschöne, unterdrückerische Methoden. Die Jüngerschaft spürte das am Römischen Reich. Auch bei uns heute sind die Nachrichten davon voll. Aber so ist es bei Jesus nicht: wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will,  der soll aller Knecht sein.

Jesus setzt andere, neue Maßstäbe. Er stellt die bisherigen auf den Kopf. Nicht nur für sich selbst und für das Reich Gottes, sondern er sagt: So -–wie in der Welt – ist es bei euch nicht, wer groß sein will, der soll euer Diener sein. Wer einen besonders guten Platz haben will, der lasse all die anderen vor und sorge dafür, dass sie es gut haben. Und diese neuen Maßstäbe holt er nicht aus der hohlen Hand, sondern sie spiegeln seine Predigten, sein Handeln, sein Leben wieder. Jesus ging auf Zachäus zu, der Zöllner, der nicht angesehen war und sich auf den Baum verkrochen hatte. Ihn sieht er an, in sein Haus geht er, ihm gibt er einen guten Platz. Die Ehebrecherin, vom Gesetz und von vielen anderen abgestempelt und dem Todesurteil übergeben. Jesus guckt neu, eröffnet neue Räume und Wege, schenkt neues Leben. Er heilt, macht satt an Leib und Seele. Aber anders. Mit neuen Maßstäben. Und genau deswegen sind die Jünger ja bei ihm, folgen ihm nach, vertrauen ihm, hoffen auf ihn. Jesus guckt nicht in erster Linie nach denen, die oben stehen, die angesagt sind, denen es gut geht. Nein, ganz im Gegenteil.

Jesus schenkt neues Leben, immer wieder, aber nicht einfach so, indem er die besten Plätze zuweist. Jesus schenkt neues Leben in der Nachfolge und dazu gehört ein Stichwort DIENEN. Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein.

Demnach ginge es in der Klasse nicht darum, dass ich den besten Platz habe, sondern, dass die anderen einen möglichst guten Platz haben und selbstverständlich würde ich dafür sorgen. Gleiches gilt für das Fest, zu dem ich eingeladen bin. Nicht mein Platz ist entscheidend, sondern der, der anderen. Das bedeutet dann: Mein Platz im Leben ist gut und richtig, wenn ich dabei über den Tellerrand hinausschaue und nicht meine Interessen in den Vordergrund stelle, sondern mich um den und die andere sorge und mich für unsere Welt einsetze. Ein großer Anspruch. Ob ich dem gerecht werden kann?

Ich blicke auf Jesus: Jesu Leben ist ein dienendes Leben, das in die Freiheit führt. Mit Leiden, mit Qualen, mit Angst und Gottverlassenheit. Mit Schmerzen und Todesangst am Kreuz. So weit ging Jesu Dienst an uns. Ohne diesen Dienst an uns, ohne seinen Weg durch Leiden und Kreuz hindurch, hätte es keinen Ostermorgen gegeben. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“

Jesu Leben, ist ein dienendes Leben, das zeigt: Jeder hat seinen Platz, denn jeder ist geliebt von Gott.  Und so ist es nicht nötig, weder für Jakobus und Johannes, noch für uns, um die besten Plätze irgendwo zu kämpfen, geschweige denn bei Gott. Bei ihm haben wir alle unsere Plätze, ohne Rangordnung. Er sieht uns alle an. Er vergisst keinen. Das lässt uns aufatmen. Das schenkt Freiheit und Sicherheit. Und ich spüre:  Ich selbst habe da meinen Platz, wo ich mich einsetzen kann für die Sache Jesu, für andere, für unsere Welt. Das ist der beste Platz, und sicher ganz nah bei Gott.

Natürlich weiß ich, dass mir das nicht immer gelingt. Und dann hilft der Blick auf den menschlichen Jesus selbst, der auch Zweifel hatte und manchmal mit begrenzten Kräften sich von all den Menschen zurückgezogen hat. Und ich denke daran, dass Gott sich die Menschen ausgesucht hat als seine Kinder und Werkzeuge, in aller Fehlbarkeit, in aller Schönheit und Kreativität, mit allen Fähigkeiten. Und so wünsche ich uns Vertrauen zum Dienst in dieser Welt, denn das ist unser Platz  - bis ER uns eines Tages in seiner Ewigkeit willkommen heißen wird. Amen

 

Perikope
22.03.2015
10,35-45

Predigt zu Markus 10,35-45 von Hans Joachim Schliep

Predigt zu Markus 10,35-45 von Hans Joachim Schliep
10,35-45

35Da gingen zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sprachen: »Meister, wir wollen, dass du für uns tust, um was wir dich bitten werden.« 36Er sprach zu ihnen: »Was wollt ihr, dass ich für euch tue?« 37Sie sprachen zu ihm: »Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit.« 38Jesus aber sprach zu ihnen: »Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde?« 39Sie sprachen zu ihm: »Ja, das können wir.« Jesus aber sprach zu ihnen: »Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde; 40zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das steht mir nicht zu, euch zu geben, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist.«

41Und als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes. 42Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: »Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. 43Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; 44und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. 45Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.«

Liebe Gemeinde!

[1] Das Evangelium ist u-topisch. Es hat keinen Ort in dieser Welt, jedenfalls keinen festen. Wir begegnen seinen Spuren, doch es ist weiter als wir sind. Udo Jürgens hat gesungen: „Wir sollten uns schon heut’ / die Töne borgen / von einem morgigen Akkord!“ Doch wird es jemals gelingen, die Herrscher vom Herrschen und die Mächtigen von der Gewalt abzubringen, sie aus dem Irrtum zu befreien, nur groß sein zu können, wenn sie andere klein halten? Oder ist das bloß ›Herz-Jesu-Anarchismus‹: »Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.«?

Gestern vor 50 Jahren, am 21. März 1965,1 begann der dritte Marsch von Selma nach Montgomery im US-Staat Alabama, der am 25. März mit einem Konzert von Joan Baez, Harry Belafonte, Sammy Davis jr., Bob Dylan endete. Der erste Versuch der afro-amerikanischen Bevölkerung der Kleinstadt Selma, am 7. März durch einen Marsch in die Hauptstadt Montgomery ihr Recht auf ungehinderte Eintragung in die Wählerliste durchzusetzen, wurde von der Polizei brutal niedergeknüppelt. Dieses dramatische Geschehen zeigt der Film „Selma“. Ich erinnere mich besonders an eine Szene beim zweiten Marsch am 9. März. Diesmal ist der Bürgerrechtler Martin Luther King mit dabei. Als die Demonstranten auf der Brücke über den Alabama River auf die schwer bewaffnete Polizei zugehen, gibt diese unerwartet den Weg frei. Vernünftige Einsicht oder ein Hinterhalt? Martin Luther King stoppt den Marsch, kniet auf der Brücke nieder, betet und kehrt um. Zögernd folgen ihm die demonstrierenden Frauen und Männer. Nachher streiten sie heftig. Wollte King nicht in eine Falle tappen? Ist er ein Opportunist, der dem Verlangen weißer Kongressabgeordneter nach Ruhe folgte? Oder ein Taktiker, der ein neues Wahlrechtsgesetz zugunsten der Afro-Amerikaner nicht gefährden will? Ich meine, in diesem erstaunlichen Verzicht auf eine machtvolle Demonstration noch ein anderes Motiv, ein Kernprinzip der gewaltlosen Bürgerrechtsbewegung („Civil Rights Movement“) erkennen zu sollen: Martin Luther King will die Siegerpose vermeiden. Er will keine Gewinner und Verlierer, kein neues Machtgefälle, das nur das bisherige Elend mit anderen Vorzeichen fortsetzt!

Vorher wurde im Film eine nächtliche Szene gespielt, in der Martin Luther King, von Selbstzweifeln und Ängsten geplagt, nach langen inneren Ausweichversuchen zu dem Schluss kommt, den ich so in Erinnerung habe: „Das Leben eines Menschen erfüllt sich erst dann, wenn er bereit ist, es für die Rechte seiner Lieben hinzugeben.“ Mit diesem oft variierten Grundsatz gab er kraft seiner Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden, die sich an Jesu Botschaft vom Reich Gottes entzündet hatte, aller Welt zu verstehen: Zur rechten Gesinnung gehört der unbedingte Einsatz für Rechtsverhältnisse, die Macht als bloße Herrschaft von Menschen über Menschen ausschließen und jeder Willkür ein Ende setzen.

[2] Spuren, Lichtpunkte des Evangeliums, die umso deutlicher zeigen, wie weit voraus es uns ist. Wer sich darauf, wer sich auf Jesus Christus einlässt, borgt sich die Töne von einem morgigen Akkord. Lassen Sie uns, um schon weit vor dem Festsaal nach dieser Musik tanzen zu können, genauer hören auf die Verse 35 bis 45 im Evangelium nach Markus:

Wer ›Markus‹ ist, bleibt uns unbekannt. Er schreibt ein Griechisch, das auf Hebräisch als Muttersprache schließen lässt. Wahrscheinlich für Christen, die einmal Juden waren. Aber um auch von Griechen und Römern verstanden zu werden, erklärt er jüdische Ausdrücke und Riten. Hat er sein Evangelium in Rom verfasst oder in Syrien? Die Forschung ist uneins. Eines aber ist klar: Das Evangelium nach Markus ist an Menschen gerichtet, die Herrschergewalt erlitten haben, vielleicht am eigenen Leib: die Pogrome des Kaisers Nero. Jedenfalls ist auch für die frühe Christenheit das Jahr 70 nach Christus ein Trauma: die völlige Zerstörung und Plünderung Jerusalems, die Schändung und Zertrümmerung des Tempels, von dem bis heute nur die sog. ›Klagemauer‹ steht. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen dem Evangelium nach Markus und dem triumphalen Einzug des Kaisers Vespasian und seines Sohnes Titus in Rom im Jahr 71. Zur Siegesfeier werden die Beutestücke aus dem Jerusalemer Tempel durch die Straßen getragen. Das Volk, das sich im Siegerglanz sonnt, huldigt der Macht. Die meisten Juden aber müssen ihr Auskommen in der Diaspora suchen und dort, in der Zerstreuung, eine besondere Steuer bezahlen. Die Christen gelten als jüdische Sekte. Diese Verbundenheit zerbricht, als der staatliche Schutz verlorengeht. Nun müssen Juden wie Christen, ganz auf sich selbst gestellt, eine jeweils eigene Identität ausbilden.

Dann brechen elementare Fragen auf: Wird unser Glaube der Bedrängnis standhalten? Wo müssen und wie können wir Widerstand leisten? Welche innere Ordnung soll in unseren Gemeinden gelten? Ist das Gottesreich in ferne Zukunft gerückt oder spielt es hinein in die Gegenwart?

Den späteren Ärger der zehn anderen Jesusjünger teile ich nicht. In meiner Sicht stellen Jakobus und Johannes eine ganz wichtige Frage: die nach der Macht. In der Kirche schieben wir sie gerne beiseite. Wo wir aber die Macht vergessen, sind wir schnell auf sie versessen. Zudem hat die Machtfrage einen existentiellen Hintergrund. Denn zum Leben ermächtigt, haben wir alle teil an der Macht zum Sein. Niemand von uns ist ganz ohne Macht. Da kann ich nachvollziehen, dass Jakobus und Johannes wissen wollen, wie es im Reich Gottes sein wird. Und sie artikulieren ihren Anspruch offen heraus: Sie begehren die beiden Ehrenplätze. Denn wer zur Rechten und zur Linken des Höchsten sitzt, erstrahlt selbst in Siegerglanz und Machtfülle. Wie bei den kaiserlichen Triumphzügen. So ist es in der Geschichte immer gewesen, besonders in Diktaturen, sogar in Demokratien soll es vorkommen. Es ist zugleich die existentielle Frage nach Lebenserfüllung: Hat mein Leben Sinn? Werde ich anerkannt mit dem, was ich getan und unterlassen habe?

Auf solche Lebensfragen geht Jesus bereitwillig ein. Er hat sie ja selbst hervorgelockt. Denn als Jakobus und Johannes an ihn herantreten, erklärt er, tun zu wollen, was er könne. Aber er macht sie darauf aufmerksam, dass sein Machtgebrauch ein anderer ist. Diejenigen gebrauchen ihre Macht falsch, die andere in die Knie zwingen. Wer andere verletzt, ist nicht mächtig, sondern gibt nur die eigenen Verletzungen weiter. Wer andere verachtet, hat keine wirkliche Selbstachtung. Wer sich durch solches Machtgebaren verwirklichen will, wird sein Leben verwirken. Darum stellte Jesus schon vorher auf eine ähnliche Frage aus dem Jüngerkreis ein Kind in die Mitte (Mk 9,33-37): »Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt nicht mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.« Immer wieder optiert Jesus für die Kleinen und Armen, die Verachteten und Gescheiterten. Und kündigt seinen eigenen Leidensweg an, zum dritten Mal unmittelbar vor der Frage von Jakobus und Johannes (Mk 10,32-34). Noch davor hat er Kinder gesegnet (Mk 10,13-16). Sind Kinder besser als Erwachsene, Kleine besser als Große, Ohnmächtige besser als Mächtige, Gescheiterte besser als Erfolgreiche? Nein, nur sind eben alle Kinder Gottes! Also von Gott ermächtigt, ein eigener Mensch zu sein. Wer so ermächtigt ist zum selbstständigen Leben, ist weder wehrloses Objekt des Handelns anderer noch muss er auf der Kommandobrücke des Lebensschiffes stehen, sondern kann dort sein, wo die schweren Ruder gehen.

Dazu sind Jakobus und Johannes bereit. Bereit, den Passionsweg Jesu mitzugehen. So akzeptieren sie sich selbst als ›pathische Existenzen‹, als verletzliche, hinfällige, ergänzungsbedürftige Wesen. Bis dahin reicht ja auch unsere Einsicht, wenn wir genau hinschauen auf die immer engeren Grenzen im Fortgang unseres Lebens, bis wir uns in der Demenz gnädig selbst vergessen dürfen. Doch schnell schleicht sich ein Missverständnis ein, das gerade so versessen darauf macht, im Machtgefüge irgendwann ganz oben zu stehen. Der Kelch und die Taufe als Zeichen für Hingabe und Todesangst sind keine Tauschmittel, sie sind bar jeder Belohnung. Das Reich Gottes lässt sich nicht verdienen, es kennt weder Kompensation noch Äquivalent wie wir in unserer Finanz- und Warenwelt. Denn die Gottesbeziehung ist Gnade - und Gnade ist das, was kommt, ohne geschuldet zu sein. Glaube, Hoffnung, Liebe sind eben kein geldwertes Tauschgeschäft. Der Glaube - ja, er ist Lebensermächtigung. Aber er ist kein Machtverhältnis, in dem im günstigen Fall die jeweiligen Stärken ausbalanciert werden oder im ungünstigen Fall der Stärkere sich im Recht wähnt, nur weil er die Macht hat. Darum hat im Glauben, darum hat im Reich Gottes: im ungeteilten Gottesverhältnis jede Gewalt ihr Recht verloren. Sie rechnet mit Siegern und Besiegten. Sie offenbart die Schwäche derjenigen, die mit Druck und Propaganda ihre Herrschaft sichern wollen. Dagegen entlarvt Jesus, dass die real Herrschenden nur Geltungsansprüche haben, keine wahre Geltung. Ein geradezu subversiver Zug des Evangeliums! Jesus will die Hierarchien des Herrschens ersetzen durch die ›Herrschaft Gottes‹: durch den Verzicht auf alle Herrschsucht und Gewalt. So erkennen wir an Jesu Lebenshingabe: Was aus Glaube, Hoffnung und Liebe kommt, hat die Macht, sein eigener Lohn zu sein!

Darum ist es jetzt weder an der Zeit noch Jesu Aufgabe, irgendwelche Rangplätze zu vergeben: Zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das steht mir nicht zu, euch zu geben, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist. Bitte denke niemand an Vorherbestimmung! Es ist damit nur gesagt, dass im Blick auf das Reich Gottes keine Voraussagen möglich sind, sondern eine einzige Zusage gilt: Es ist Platz für alle Kleinen, für die also, die die Gnade annehmen als das Ungeschuldete und Nichtkäufliche. Und die kraft dieser Gnade es unterlassen, ihre Macht auszuspielen und Gewalt auszuüben.

Hierin sehe ich die eigentliche Herausforderung dieses Evangeliums: die Herausforderung zu einem Perspektivwechsel, der mit dem Bild „klein statt groß“ nur angedeutet ist. Wie radikal der sein muss, erkenne ich an den Jüngern. In ihrem Neid und Zorn auf Jakobus und Johannes sind sie noch der alten Herrschaftsideologie verhaftet. Sie denken weiterhin in den Hierarchien von Rang und Namen. Also steht ihnen noch bevor zu erkennen, was vom Fundament ihres Glaubens her schon „Sache ist“: »Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.« Da eilt Jesus einmal mehr seiner Kirche weit voraus, wenn er den Perspektivwechsel „klein statt groß“ als vollzogen feststellt. Zugleich ist er ganz bei uns. Denn durch Jesus Christus sind wir allemal schon, was wir noch werden sollen. Er ist jetzt schon unsere Zukunft, weil er mit diesem Perspektivwechsel längst ernst gemacht hat: »Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.«

Meint für viele etwa nur für einige? Es meint Alle. Das griechische Wort „Viele“ (polýs) steht für die Fülle, die unüberbietbar alles umfasst. Ist mit Lösegeld (lýtron) etwa eine Sühneleistung gemeint? Das Opfer- und Sühne-Denken hat hier keinen Platz. Einzig darum geht es, dass Menschen mit dem, was sie haben, eintreten für das, was anderen fehlt. Jesus tut es mit seinem ganzen Leben. Er gibt »sein Leben … als Lösegeld« nicht an Gott, sondern von Gottes Nähe erfüllt für die Menschen. So bestimmt er von Gottes Gegenwelt her die Gegenwart seiner Gemeinde. So ist Jesu Lebenseinsatz Ausdruck seines Glaubens, seiner Hoffnung, seiner Liebe. Das ist wahre Bürgschaft, dort ist echte Stellvertretung, wo jemand sich für jemanden einsetzt, ohne diese Person zu ersetzen. Vom Ersetzen keine Spur! Denn wer an die Stelle des leibeigenen Knechtes tritt, will ja dessen Freiheit, dessen selbstständiges Leben! Vom Ersetzen wirklich keine Spur! Denn wer noch die Geringsten neu in ihre Gotteskindschaft einsetzt, ermächtigt sie damit aufs Neue zum Leben! Darum bedeutet »Diener« und »Knecht aller sein« weder Selbstverkleinerung noch Sklavengeist, sondern in der Begegnung mit anderen Menschen die gemeinsame Ermächtigung zum Leben auszubilden in gegenseitiger Anerkennung und Achtung, auf Augenhöhe, jenseits des bekannten Machtgefälles und der berechnenden Tauschverhältnisse.

Indes: Jesu Lebenshingabe lässt mich eine Liebe erblicken, die mein Fassungsvermögen übersteigt. Auch die Jünger, wie sie Markus schildert, standen fassungslos vor seiner Botschaft, seine Passion werde kein Scheitern sein, das alle Hoffnung zunichte macht, sondern der tiefste Ausdruck seiner liebenden Gemeinschaft mit ihnen, Grund und Kraft der christlichen Gemeinde. Grund und Kraft, die durch jede Bedrängnis hindurchträgt. Indem wir unsere letzten psychischen und sozialen Ressourcen mobilisieren? Nein! Indem wir uns von einer Liebe finden lassen, die sich dem Tod aussetzt, ihm den letzten Stachel nimmt, ihn nicht das letzte Wort Gottes sein lässt! Gleichwohl wage ich kaum nachzusprechen, was mir Jesus mit seinem Weg ans Kreuz sagt: Liebe aus Glaube und Hoffnung ist bereit, den Tod auf sich zu nehmen. 

[3] Liebe Gemeinde, was ich kaum aussprechen kann - viele christliche Märtyrerinnen und Märtyrer haben es so erfahren. Es gibt sie weltweit wieder. Zigtausende. Besonders unter dem Terror der IS-Banden. Menschen, deren Leben früh abgebrochen wurde, waren auch Dietrich Bonhoeffer, Dag Hammarskjöld, Martin Luther King. Diese Vorbilder geben zugleich die Richtung an für die Konsequenzen von Markus 10 Verse 35 bis 45, die persönlichen und die politischen. Denn Markus will zwar kein Christentum, das nach Art der Zeloten gewaltsame Aufstände anzettelt, sondern das gewaltlosen Widerstand bevorzugt. Aber er will auch keinen vergeistigten, nur auf das Innerliche gerichteten Glauben. Ohnehin will der wahre innere Friede den äußeren. Auch darum profiliert Markus die Jesus-Gestalt als kritisches Gegenüber zu den römischen Triumphatoren. Denn Jesu wunderbare Taten, die den Menschen wieder auf die Beine bringen, sind das Gegenmodell zu den herrscherlichen Versuchen, das abhängige Volk durch Brot und Spiele zu besänftigen, damit die eigene Macht erhalten bleibt.

▷ Ohne Macht keine Gesellschaft, kein Staat. Aber nur mit zivilisierter Macht, die durch Wahl verliehen, auf Zeit befristet und öffentlich kontrolliert wird.

▷ Ohne Macht auch keine Kirche. Aber dann keine verschwiegene, sondern eine transparente, kritisierbare Macht. Nach meiner Wahrnehmung sind die Hierarchien in unserer Kirche flach. Das müssen sie auch sein und immer wieder werden. Denn Kirche soll sich nach Jesu Willen von Gesellschaft unterscheiden, ihr kritisches Ferment sein.

▷ Aus staatspolitischen Gründen bin ich gegen einen Laizismus. Denn im Sinne positiver Religionsfreiheit muss der Staat der Religion seiner Bürgerinnen und Bürger Freiräume garantieren. Doch stellen wir uns darauf ein, dass das alte Staatskirchenrecht umgebildet werden wird zu einem Religionsverfassungsrecht, das anderen Religionen denselben Schutz wie uns gewährt. Allerdings, noch als ›Volkskirche in der Minderheit‹ befinden wir uns in einer Ausnahmesituation. Sind wir bereit, Kirche auch ohne jede weitere Absicherung und ohne äußere Machtstützen zu sein? Nirgendwo ist der Kirche verheißen, es werde ihr gut gehen. Verheißen ist ihr nur, sie werde auskommen mit ein paar Nägeln an der Wand, die schon ein Kreuz bilden.

▷ Das Evangelium ist eine soziale Botschaft. Es hat einen subversiven Zug zum Egalitären. Es ist eine Option für die Armen. Es verlangt, den Skandal zu beseitigen, dass zuerst und vor allem die ärmsten Länder die Folgen des Klimawandels tragen. Was kommt auf uns zu? Angesichts unseres Ressourcenverbrauchs stellt sich für uns die Frage anders: Was kommt uns überhaupt noch zu?

▷ Nun spreche ich noch eine Entwicklung an, an der bereits intensiv gearbeitet wird und die unsere bisherigen Denkmuster über den Haufen werfen könnte: Nach Meinung vieler seriöser Wissenschaftler befinden wir uns längst im Erdzeitalter des ›Anthropozän‹. Denn der Mensch wirkt an der Evolution des Lebens selbst mit. Dabei richten sich die Utopien nicht mehr auf politische Befreiung von Macht und Ausbeutung, sondern auf eine Befreiung von den Bindungen der Menschennatur. Die ›Synthetische Biologie‹ schickt sich an, Organismen zu schaffen, die bisher noch unbekannt sind. Die Robotik setzt auf ›Künstliche Intelligenz‹, die sich selbst steuernde und erneuernde Systeme schafft. Die ›Converging Technologies‹ genannte Verbindung von Nano-, Bio- und Informationstechnologie mit den Neurowissenschaften (NBIC) wird zu einer weiteren enormen Lebensverlängerung führen. Der Entwicklungschef von Google, Ray Kurzweil,2 sieht ab dem Jahr 2045 (!) eine neue ›Singularität‹ nahen, in der der Transhumanismus den Humanismus in Richtung auf einen optimierten Menschen überwindet. Einen Menschen mit höherer Intelligenz in gesteigerter Transzendenz, die das Biologische hinter sich lässt, der Unendlichkeit und dem Friedensideal näher kommt. Das explosionsartige Wachstum der Evolution führe zur Befreiung des Denkens und sei ein durch und durch spirituelles Unternehmen, der Sieg des Geistes über die Materie. Wir haben es also mit der Ankündigung und dem Anspruch zu tun, die Menschheit werde in naher Zukunft einen Riesensprung in der technologischen, moralischen und spirituellen Evolution machen. Werden damit Jesu Aussagen zu Macht und Gewalt, die wir heute bedacht haben, überholt sein? Wird das Evangelium endlich einen festen Ort bekommen? Nun, sollte es so kommen, stellen sich dennoch Fragen: Wie kann die dann noch gewaltigere Kluft zwischen Vermögenden und Unvermögenden mit all den internationalen politischen Verwerfungen wieder geschlossen werden? Wie gehen wir mit Konstrukten um, die wir so mit Informationen ausgestattet haben, dass sie menschenähnliche Emotionen haben, für die die Frage nach Tradition und Religion, Herkunft und Glaube aber keine Plausibilität mehr hat? In welcher Schärfe wird sich dann die Frage nach Macht und Gewalt stellen? Wird gerade der Transhumanismus, der mir von Jesu Botschaft ganz weit weg zu sein scheint, eine rigorose Moral benötigen, die aber keine humane mehr ist, weil lückenlose Überwachung und genaueste Befolgung von Regeln an die Stelle von Freiheit tritt? Wenn, wovon Transhumanisten überzeugt sind, Endlichkeit verschwindet und es keine Sünde mehr geben darf, dann wird wohl erst recht gelten: Gnade uns Gott!  

[4] Das Evangelium ist u-topisch. Es ist da, doch es eilt uns voraus. Es sucht Menschen, die ihm nachfolgen. Es schafft sich eine Kirche, die Trost-, Hoffnungs- und Widerstandsgemeinschaft ist. Wollen wir dazu gehören? Wir sind frei, eine neue Welt im Sinne der Reich-Gottes-Botschaft Jesu nicht für so wichtig zu halten, weil wir zu sehr an der alten hängen. Aber nähmen wir dann uns selbst noch ernst, die wir in jeder Nacht auf einen neuen Morgen hoffen? Zu dieser Hoffnung gehört der Blick über uns selbst hinaus. „Nur derjenige hofft existentiell aufrichtig in seinem Leben auf etwas,“ schreibt Holm Tetens, Philosoph an der Berliner Freien Universität, in seinem Buch ›Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie‹, „der so viel wie eben möglich bereits hier und jetzt von dem vorwegzunehmen versucht, was er für die Zukunft endgültig und uneingeschränkt erwartet. Wer hofft, dass Gott nichts und niemanden in der Welt endgültig verloren gegeben hat, der versucht, seinen Mitmenschen genau so jetzt schon zu begegnen.“3 Und das, füge ich hinzu, kann nur geschehen in der Macht der Liebe, mit der Gott uns alle Morgen erweckt. Amen.

 

Anmerkungen:

1 Es sei auf weitere Daten hingewiesen:

· Am 21. März 1685, vor 330 Jahren, wurde Johann Sebastian Bach geboren.

· Am 21. März 1960, vor 75 Jahren, fand das Massaker in Sharpeville/Südafrika statt, bei dem 69 friedlich gegen das Apartheids-Regime demonstrierende schwarze Bürgerinnen und Bürger von der Polizei erschossen wurden. Deshalb wurde der 21. März zum ›Internationalen Tag gegen des Rassismus‹ ausgerufen.

· Genau am 22. März 1903 wurde Jochen Klepper geboren, dessen Lied “Er weckt mich alle Morgen…” (EG 455) ich als Eingangslied empfehle und das im letzten Satz der Predigt anklingen soll.

2 Ray Kurzweil: Menschheit 2.0: Die Singularität naht, Berlin 2014. Siehe auch das Schlusskapitel in Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit, Stuttgart 2013; sowie Jens Jessen: Der neue Mensch, ZEIT ONLINE vom 29.12.2014 (www.zeit.de/2014/52/jahresrückblick-2014>).

3 Holm Tetens: Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, Stuttgart 2015. Vgl. Volker Gerhardt: Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, 3. Aufl., München 2015.

 

Perikope
22.03.2015
10,35-45

Predigt zu Markus 10,35-45 von Martin M. Penzoldt

Predigt zu Markus 10,35-45 von Martin M. Penzoldt
10,35-45

“Eine Kultur, die alle Opfertraditionen verloren hat,
hat ein zentrales Merkmal der Humanität verloren.“ (V. Hösle)

35 Da gingen zu Jesus: Jakobus und Johannes,
   die Söhne des Zebedäus, und sprachen:
   Meister, wir wollen, dass du uns tust,
   was wir dich bitten werden.
36 Er sprach zu ihnen:
   Was wollt ihr, dass ich euch tue?
37 Sie sprachen: Gib uns,
   dass wir sitzen einer zu deiner Rechten
   und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit.
38 Jesus aber sprach zu ihnen:
   Ihr wisset nicht, was ihr bittet.
   Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke,
   oder euch taufen lassen mit der Taufe,
   mit der ich getauft werde?
39 Sie sprachen zu ihm: Ja, das können wir.
   Jesus aber sprach zu ihnen:
   Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke
   und getauft werden mit der Taufe, mit ich getauft werde;
40 zu sitzen aber zu meiner Rechten und zu meiner Linken,
   steht mir nicht zu, euch zu geben,
   sondern das wird denen zuteil,
   für die es bestimmt ist.  
41 Und da dass die Zehn hörten
   wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes.
42 Da rief Jesus sie [die Jünger] zu sich und sprach zu ihnen:
   Ihr wisset, die als Herrscher gelten,    
   halten ihre Völker nieder
   und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an.
43 Aber so ist es unter euch nicht;
   sondern wer groß sein will unter euch,
   der soll euer Diener sein;
44 und wer unter euch will der Erste sein,
   der sei aller Knecht.
45 Denn auch des Menschen Sohn ist nicht gekommen,
   dass er sich dienen lasse,
   sondern dass er diene und
   sein Leben gebe als Lösegeld (zu einer Erlösung) für viele.

Liebe Gemeinde!

I.
Zur Rechten und zur Linken wollen die beiden Jünger sitzen,
wie im Hofstaat eines Königs „die Ersten des Reiches“.
Und die anderen Jünger? Sie  werden sofort eifersüchtig,
weil sie Angst haben selbst zu kurz zu kommen.
Sie fürchten auf nachgeordnete Plätze verwiesen zu werden.
So ist das also mit uns Christenmenschen, von Anbeginn.
Auch wir Frommen wollen profitieren:
die von Rechts, die Linken und die von der Mitte:
Alle wollen profitieren. Es ist so tief menschlich.

Als Kleinkinder wollen wir auf dem Schoß der Mutter thronen:
allein - und mit ungeteilter Aufmerksamkeit bedacht werden.
Als Jugendliche wollen wir auf dem Schulhof das Sagen haben
und als erste in die Mannschaft gewählt werden,
am liebsten von allen heiß beneidet.
Wenn später ein guter Posten vergeben wird,
vorbei an verdienten Kollegen,
wenn Delegationen zusammengestellt werden,
wenn gar Frauen plötzlich in höhere Ränge einrücken:
Da gibt es Gerangel, da werden Interessen sichtbar.

Interessen, die man nicht so offen zeigt,
die man eben gerne - wie die beiden Jünger - gesondert sondiert.
Man wird ja mal fragen dürfen…
Aber schon wird das Gespräch ganz grundsätzlich:

   Ihr wisset, die als Herrscher gelten,     
   halten ihre Völker nieder
   und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an.
   Aber so ist es unter euch nicht...


Herrschaftsverhältnisse kommen zur Sprache:
hier die Herren und dort die Knechte,
beide unentrinnbar verbunden durch das Machtgefälle,
durch den Zwang, der die Welt durchherrscht
und alle zu Herren oder Knechten macht:
Ohne Knecht kein Herr, ohne Herren kein Knechte.
Jesus bringt die Frage auf den Punkt, trifft ins Herz:

"In Wahrheit geht es um die Macht,
die tiefste der Bewegkräfte in uns.
Tiefer als die Ehre, tiefer als die Begierden,
tiefer als der Stolz - und tiefer als die Liebe,
sitzt die Gier in uns, alles zu haben,
alles zu erraffen und nichts herzugeben,
die Kiefer in die Macht hinein zuschlagen,
sich in ihr zu verbeißen und sie nicht mehr loszulassen,
zuzubeißen und nicht mehr loszulassen."(Urquart als Prime Minister)

Wenn ich Sie jetzt so friedlich und aufgeschlossen vor mir sehe,
dann muss ich solche Schilderungen für übertrieben halten.
Wenn ich aber die gerichtlichen Auseinandersetzungen von Nachbarn,
oder gar Erbstreitigkeiten erlebe,
dann zeigt sich ein anderes Gesicht: Verbissenheit und Angst.
Ein württembergischer Prälat hat gesagt,
er habe in vielen Situationen helfen können,
aber bei einem Streit ums Erbe, da habe er noch nie schlichten können.

II.
Woher der sichere Blick Jesu tief ins Herzen der Menschen?
Wir wissen von dem Leben Jesu nicht all zu viel.
Es ist völlig eingegangen in sein Werk.
Aber es gibt doch einige Durchblicke
und einer betrifft die Frage nach seinem Verhältnis zur Macht
in der Versuchungsgeschichte:

"Wiederum führte ihn der Teufel mit sich
auf einen sehr hohen Berg
und zeigte ihm alle Reiche der Welt
und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm:
Das alles will ich dir geben,
so du niederfällst und mich anbetest.
Da sprach Jesus zu ihm:
Hebe dich weg von mir, Satan!
Denn es steht geschrieben: du sollst anbeten Gott,
deinen Herrn und ihm allein dienen." (Mt 4,8ff)

Vorausgeht die Geschichte von seiner Taufe (Mt 3),
Jesus, ein Unbekannter auftauchend aus der namenslosen Menge,
wird sich seiner Sendung bewusst:
Er erfuhr, dass er Gottes Sohn sei.

Es ist wirklich aufschlussreich,
dass Jesus keineswegs sofort wusste,
wozu ihn seine Sendung berief.
Er brauchte eine längere Einsamkeit,
um die Horizonte seines Lebens
und damit seiner Berufung abzutasten.
Aus dem, was er abgelehnt hat auf dem Berge,
wird deutlich wozu er sich entschied.

Wer in seinen Gedanken mit ihm den höchsten Berg besteigt,
um von dort oben aus die Reiche der Welt
und ihre Herrlichkeit zu sehen:
Heere, Flotten, blaue Meere und große Städte,
glücklich jubelndes Volk und gebeugte Rücken,
dazu die Befehle der Herren über Leben und Tod,
die mit einem Federzug Leben vernichten und Provinzen beglücken,
an deren Lippen Krieg und Frieden hängen;
das Wetterleuchten der Bomben am Horizont,
Gefangene und Verstümmelte und Leichen;
Gold und Öl und Hegemonie liegt uns zu Füßen -
wer diese Phantasie besitzt, weiß worum es geht.

In diesem Augenblick auf der Berghöhe war die Frage noch offen,
ob Jesus: Cäsar werden sollte oder - Christus.
Welches Königreich - das war noch offen.
Sein Verhältnis zur Macht ist also positiv bestimmt
Es ist nicht das Ressentiment des zu kurz Gekommenen.
Jesus stand vor Pilatus nicht anders,
als er im Kreise der Fischer stand,
natürlich, frei, überlegen, seines Wertes gewiss.
Jesu souveräner Verzicht auf weltliche Macht geschieht
ohne Neidinstinkt und Minderwertigkeitsgefühle.
Er ging seinen Weg gelassen.
Er wusste wer er war und er wusste wer sie waren, die weltlichen Herren.

42b Ihr wisset (es heißt), dass  die weltlichen Fürsten
    ihre Völker niederhalten
    und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt.


Das konstatiert Jesus ohne Kommentar – fast lapidar.
Und er spricht nicht vom Rausch der Macht, sondern vom Zwang.
Er sagt auch nicht etwa, dass diese weltliche Macht vom Teufel sei,
doch er sagt: „Aber“ und mahnt „Unter euch - nicht so“:

43  A b e r  so soll es nicht sein unter euch;
    sondern wer groß sein will unter euch,
    der sei euer Diener;
44  und wer unter euch will der Erste sein,
    der sei aller Knecht.


Wir können wirklich nicht hingehen und behaupten,
dass Jesus sich darüber nicht klar ausgesprochen habe:
"Selig sind die Sanftmütigen,
denn sie werden das Erdreich besitzen." (Mt 5,5)

Das ist das Umkehrprinzip.
"Es sei denn, dass ihr euch umkehrt und werdet wie die Kinder,
so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ (Mt 18,3)


Die Antwort Jesu hat Gewicht.
Sie weist Jakobus und Johannes nicht zurück,
sie sagt nur: ihr wisst nicht Bescheid.
Das Umkehrprinzip gilt für Jesus, und es gilt auch für die Jünger.
Der beste Jünger ist, der bereit ist,
auf Ruhm, Ehre und Macht zu verzichten.
Die Niedrigkeit kennzeichnet den höchsten Rang.
Das ist paradox: Macht in der Ohnmacht, Würde in der Niedrigkeit.
Es soll vor allen für die Kirche und für die Kirche in der Welt gelten.

III   Umkehrprinzip in der Kirche

Bringt uns das weiter in Strukturfragen?
Für die Verfassung der Kirche, für ein künftiges Kirchenrecht
gab es große Entwürfe nach 1945 (Scheuner, Wolf).
Sie wollten ein spezifisches Kirchenrecht vom Evangelium herleiten,
aber in der Praxis liegt da nicht der Unterschied.
Man redet gern vom Dienst in der Kirche,
aber erreicht man wirklich die Problemzone?
Unfähigkeit darf sich nicht hinter "dienen" verstecken.
Auch in der Kirche gilt: gut gemeint, ist das Gegenteil von gut.

Jesus: Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke,
   oder euch taufen lassen mit der Taufe,
   mit der ich getauft werde?
 Sie sprachen zu ihm: Ja, das können wir.


Was sie wirklich können, tritt nicht viel später zu Tage.
Während Jesus in Gethsemane in Todesangst bittet,
der Kelch des Todes möge an ihm vorbeigehen,
können dieselben Jünger, nicht einmal wach bleiben (Mk 14,33f).
Und nicht sie, die Jünger, sondern zwei Verbrecher sind es,
die in der entscheidenden Stunde bei ihm sind:
zu seiner Rechten und zu seiner Linken (Mk 15,27).

Seitdem weiß die Kirche, oder könnte es zumindest wissen,
dass es nicht genügt ihre Würdenträger dem Dienst zu verpflichten.
Mit dem Petrusamt gab es dann einen obersten Stellvertreter Christi auf Erden,
der sich dann Diener aller Diener Christen nennen konnte -
das garantiert, wie wir nach zweitausend Jahren wissen,
keine andere Form von Macht in der Kirche als die in der Welt.

Mit Jesus (und Paulus!) wissen wir, dass alle äußere Ordnung nicht hilft, ja, dass die Kirche immer wieder zurückfällt in Machtbetrieb und Eitelkeit und Irrwege.
Asmussen: „Wir meinen, dass in der christlichen Gemeinde
eine bischöfliche Verfassung und eine presbyteriale Verfassung sein kann.
Wir sind aber auch überzeugt, dass in der christlichen Gemeinde
sowohl unter der bischöflichen Verfassung als auch unter der presbyterialen Verfassung der Teufel zur Herrschaft kommen kann.“

Es bedarf einer immer neuen Balance zwischen
dem Erwählungsglauben der Jünger und ihrem Sündenbewusstsein,
zwischen selbstbewussten Stolz und umsichtiger Demut,
zwischen der christlichen Freiheit über alle Dinge und Menschen und
der christlichen Freiheit zum Dienst an allen Dingen und Menschen.
Es ist ein Wunder, dass die Jünger mit ihrer blinden Selbstüberschätzung
nicht mitsamt der Kirche zugrunde gegangen sind.

Nicht nur der Teufel, wie es in einer Legende heißt,
könnte auf die Idee kommen immer neu zu fragen:
„Mit diesen Menschen willst du das Reich Gottes bauen?
Mit diesen unverständigen Fischern,
den treulosen, überheblichen und selbstgefälligen Aposteln?“
Jesus: „Ja, ich habe keine anderen.“

IV Das Umkehrprinzip im Verhältnis von Kirche und Welt

Und diese Jüngerschar lebt nicht nur in neuen Verhältnissen unter sich,
sondern mitten in der Welt und zugleich im Gegenüber zur Welt:
Sie sind der „Gottesstaat“ mit ihren Tugenden, wie Augustinus formuliert hat,
inmitten von dem menschlichem Staat aus ihren Untugenden.
Und beide sind „in dieser Weltzeit ineinander verworren und vermischt.“
Niemand kann vollends sicher sein,
ob er Bürger des Gottesstaates oder des weltliches Staates ist.
Im Zustand der Vermischung gehört es zu den Aufgaben der Christen,
an einem Gemeinwesen mitzuarbeiten, das als Gleichnis für den Gottesstaat gilt.
Auch der irdische Staat und - die von Augustinus noch nicht in Blick genommene - Staatengemeinschaft muss sich an der Vision vom Gottesstaat,
von einem Reich der neuen Ordnung, des ewigen Friedens, der ewigen Gerechtigkeit, der ewigen Wahrheit und des ewigen Genusses messen lassen.
Solange die Pilgerschaft der Christen zum Gottesstaat anhält,
haben sich die Christen um die irdischen Verhältnisse zu bekümmern.

Die Reformatoren haben Augustinus spannungsvolles Ineinander
von Mitarbeit am irdischen Gemeinwesen
und Hoffnung auf das Reich Gottes als Reich des ewigen Friedens
und vollendeter Gerechtigkeit wieder entdeckt:
Die Kirche ist nicht einfach der Welt überlegen:
„Ihr habt die Probleme, wir haben die Moral.“
Die offiziellen Stellungnahmen der Kirchen (z.B. zum Frieden)
spiegeln dieses gesteigerte Bewusstsein allmählich.
Luther betonte die selbstständige Würde des irdischen Gemeinwesens.
Das erhoffte Reich ewigen Friedens und vollendeter Gerechtigkeit
wurde zu einer machtvollen Vision,
die die Pilgerväter auf dem Weg von alten Europa nach Amerika tief beeinflusste – bis heute.
Amerika wurde – wie Chesterton sagt - die „Nation mit der Seele einer Kirche“
Daher stammt Amerikas weltpolitische Mission,
das Böse in der Welt zu bekämpfen mit einem manchmal geradezu manichäischem Weltbild: hier die Guten, dort die Bösen.
Freilich droht es die Balance zwischen Erwählungsglaube und Sündenbewusstsein, zwischen Stolz und Selbstkritik
immer wieder zu verlieren und muss sich neu besinnen.
Aber ohne die christliche Vision von einem Reich
vollkommenen Friedens und vollkommener Gerechtigkeit,
so schon Augustinus, mutieren Staaten zu großen Räuberbanden. 
Es genügt der Weg von Recht und Rechtstaatlichkeit allein nicht.

V  Das Opfer
Darum zuletzt: das Kreuz.
Wenn alles durchmessen ist, jede Macht, jede Karriere, jede Ideologie,
auch der Rechtsweg
dann gibt es immer noch Entwicklung: den Dienst, die Demut.
Nicht als Haltung der Schwachen, sondern als letzten Weg der Starken...

45  ...auch des Menschen Sohn ist nicht gekommen,
    dass er sich dienen lasse,
    sondern dass er diene und
    gebe sein Leben zu seiner Erlösung für viele.


Der Gottesknecht wird mit seinem Leid den Vielen Gerechtigkeit schaffen (Jes 53,10f.).
Matthäus hat diese Verheißung in einem Bild aufgenommen:
„Viele werden kommen von Osten und von Westen,
und mit Abraham und mit Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen.“ (8,11)
Diese Vielen sind sie alle, die Menschen der Menschheitsgeschichte.
Das ist ein unsere Vorstellungskraft weit überbietendes Bild.
Da sitzen nicht zwei neben Jesus in allernächster Nähe
und darum herum verblasst alles, nein,
hier sitzen alle mit ihm und den Erzvätern zu Tisch.
Die Auffassung von Sünde und Sühne als Mengen,
die miteinander zu verrechnen sind,
ist  abgelöst von einem ganz neuen Glauben:
Das Kreuz Jesu Christi wiegt alle Sünde der Welt auf.
Gottes Vergebung ist grenzenlos und unermesslich.

Die machtvolle Autorität Christi zählt gerade da,
wo er uns lehrt, uns zurückzunehmen.
An ihm sieht die Welt einen Menschen,
der andere Menschen nach sich zieht, indem er sie freilässt.
Sein unschuldsvolles Leben, sein Tod an unserer Schuld
und die Kraft seiner Auferweckung durch Gott
stößt der Menschheit das Tor zur Erlösung auf.
Alles Regelwerk der Menschen zur Bändigung der Macht,
aller Tauschwert unseres Reichtums,
das Kosten-Nutzenkalkül von Geben und Nehmen des Händlers,
aller Utilitarismus, kann nicht die Dimension erreichen,
in der ein Mensch dem anderen vergibt,
ihm hilft, ihn pflegt, ihm Obhut gewährt.
Vom kleinsten Akt der Fürsorge, über jede Art von Liebesverhältnis
bis zu jeder Form von Sicherung leben wir in Asymmetrien.
In der Tiefe der Frage nach der Macht scheint das Opfer auf,
ohne das kein Glaube - und keine Humanität möglich wären. Amen

Lesung: Mt 4,1-11

 

Perikope
22.03.2015
10,35-45

Ein unmoralisches Anliegen - Predigt zu Markus 10,35-45 von Inke Raabe

Ein unmoralisches Anliegen - Predigt zu Markus 10,35-45 von Inke Raabe
10,35-45

Ein unmoralisches Anliegen

Markus 10, 35 bis 45 (Evangelium des Sonntags)
Da gingen zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sprachen: Meister, wir wollen, dass du für uns tust, um was wir dich bitten werden. Er sprach zu ihnen: Was wollt ihr, dass ich für euch tue? Sie sprachen zu ihm: Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde? Sie sprachen zu ihm: Ja, das können wir. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde; zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das steht mir nicht zu, euch zu geben, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist.
Und als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes. Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.


Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde! „Ein unmoralisches Angebot“ – so heißt ein amerikanischer Spielfilm aus dem Jahr 1993. Dieses unmoralisches Angebot erreicht das junge Ehepaar David und Diana, er ist Architekt, sie Immobilienmaklerin, erfolgsverwöhnt, die beiden, gutaussehend, vielleicht sogar ein bisschen glamourös. Umso schwerer ist es für sie, mit der Schuldenkrise zurecht zu kommen, in die sie plötzlich geraten. Für die Schlüsselszene spielt in der Villa des Milliardärs John Cage, der die beiden zu sich eingeladen hat.
„Sie haben etwas, was ich nicht habe“, sagt Cage zu David mit Blick auf dessen wunderschöne Frau, der damals 31-jährigen Demi Moore, bei einem unverfänglichen Spiel Pool-Billard.
„Man kann halt nicht alles für Geld kaufen“, entgegnet David, „es gibt eben Grenzen.“
„Nicht viele“, erwidert Gage, gespielt vom unvergleichlichen Robert Redford mit smarter Coolness und einem Hauch Arroganz. „Nehmen wir an“, sagt er, „nehmen wir an, ich böte Ihnen eine Million Dollar für eine Nacht mit Ihrer Frau.“ Regie und Kameraführung sind großartig in diesem Moment. Sekunden verharren sie auf den Gesichtern von Diana und Dave. Empörung spiegelt sich in ihnen. Abscheu und Widerwillen, „So eine Nacht geht schnell vorbei, und das Geld reicht für ein ganzes Leben“, sagt Cage, während die schwarze Kugel mit der Acht über das Feld rollt.
David und Diana sind sich einig. „Der Teufel soll Sie holen“, sagen sie übereinstimmend. Aber man sieht in ihren Gesichtern, dass das Böse längst seine Saat ausgeworfen hat und dass das unmoralische Angebot des Amerikaners nicht ins Leere gehen wird.

Von einer, wenn auch nicht so anrüchigen, jedoch ebenso verwerflichen Anfrage erzählt unser heutiger Predigttext aus dem Markus-Evangelium.
Die Jünger sind schon eine Zeitlang mit Jesus unterwegs. Sie haben viel gehört vom Reich Gottes. Sie haben alles aufgegeben für den Mann aus Nazareth: ihre Familien, ihre Berufe, ihr Zuhause. Nun sind sie unterwegs nach Jerusalem, und immer wieder deutet Jesus an, dass das für ihn und seine irdische Mission das Ende bedeuten könnte. Die Jünger haben Angst, sie haben Angst um ihn - und um sich selbst.
Lassen Sie mich in Gedanken die Szene verfilmen.
Es ist ein langer Tag für Jesus und seine Jünger gewesen. Sie sind nur langsam vorangekommen, immer wieder haben Menschen sie aufgehalten und Jesus um seinen Segen und um seinen Rat gebeten. Es ist spät geworden, die Nacht ist lau, sie schlagen unterwegs ihre Decken auf und entzünden ein Feuer am Wegesrand. Leise lassen sie in kleinen Gruppen den Tag Revue passieren.

Langsam verstummen die Gespräche, einer nach dem anderen schläft ein. Nur Jesus und die Söhne des Zebedäus, sie heißen Jakobus und Johannes, sitzen noch am Feuer und stochern nachdenklich in der Glut. Die Kamera hält lange auf die Gesichter der Brüder. Sie schielen immer mal wieder zu den Schlafenden hinüber. Ihnen liegt etwas auf dem Herzen, die Spannung ist greifbar. Wir sehen Jesus. Konzentriert wirkt er. Abwartend. „Na los, raus mit der Sprache“, denken wir, die Zuschauer, „was ist los, was wollt ihr?“ Schließlich beginnt einer der Beiden. „Du Jesus, wir hätten da mal eine Bitte an dich.“ „Gerne“, sagt Jesus, „was kann ich für euch tun?“ Und dann rücken sie heraus mit ihrer zutiefst unmoralischen Anfrage: „Wir möchten gerne, wenn dein Himmelreich kommt, die beiden besten Plätze haben, links und rechts neben dir in deiner Herrlichkeit.“
In Jesu Gesicht bewegt sich nichts. Konzentriert ist er und still. Der Regisseur inszeniert die Szene sorgsam und klug. Er will, dass wir, die Zuschauenden die Emotion, die Empörung, den Ärger in uns selber spüren. Dann schwenkt die Kamera auf die Jünger und landet schließlich auf dem einem, der sich schlafend stellt und der das unmoralische Anliegen der Zebedaiden mithört. Seine Lippen pressen sich aufeinander, Zorn und Enttäuschung stehen in seinen Augen, die er nun erwartungsvoll auf Jesus richtet.

Jakobus und Johannes - Jesus hat sie nicht zufällig als Jünger ausgewählt, er braucht sie für seinen Heilsplan. Sie sind starke Persönlichkeiten: Ja, sie können den Kelch des Leides trinken, den Jesus trinken wird. Ja, sie können die Taufe in den Tod ertragen, die Jesus ertragen wird. Sie sind bereit, für die Sache Jesu zu sterben. In der Bibel tragen sie den Beinamen „Donnersöhne“: Die Geschwister sind emotional, ein bisschen aufbrausend, (Lk 9, 7ff), engagiert, vielleicht sogar Leitfiguren. Jesus hält große Stücke auf sie, nimmt sie sogar mit auf den Berg der Verklärung (Mk 9, 2ff). Vielleicht ist ihnen das zu Kopf gestiegen. Die Bitte der Zebedaiden ist unmoralisch: Sie wollen bevorzugt werden, sie wollen sich ihre Plätze sichern. Sie denken an sich, nicht an die Gemeinschaft, nicht an den Nächsten. Sie sollten es besser wissen. Sie sollten wissen, dass ihr Anliegen vermessen ist.

Lassen Sie mich auf das unmoralische Angebot des Anfangs zurückkommen. Menschen kann man nicht kaufen, Liebe ist nicht erwerblich. Das Ehepaar im Film ist sich einig. Aber sie beschließen: Wir sind stark genug, wir schaffen das. Er kriegt seine Nacht, wir seine Millionen. Meinen Körper kann er haben, meine Seele bekommt er nie. Sie irren sich. Mit dieser einen Nacht ziehen Misstrauen, Angst und Verzweiflung in ihre Ehe ein. Der Riss lässt sich nicht kitten.  Das unmoralische Angebot hat an den Festen dessen, was alle drei für unerschütterliche Wahrheit hielten, gerüttelt. Es wird deutlich: Moral ist mehr als eine Frage der Sittlichkeit. Moral ist der Schutzwall vor dem Abgrund der eigenen Begierden.

Die unmoralische Anfrage der Zebedaiden lässt uns in ihren seelischen Abgrund blicken: Johannes und Jakobus wollen Macht. Anerkennung. Ruhm. Sie wollen ihre Namen in den Geschichtsbüchern lesen. Sie wollen etwas bedeuten in dieser und in der kommenden Welt. Dafür verletzen sie den Verhaltenscodex unter den Jüngern, hintergehen ihre Mitbrüder, fallen den anderen in den Rücken. Und die reagieren sehr ärgerlich, als sie davon hören. Die Zebedaiden erinnern mich in ihrem maßlosen Ehrgeiz an Al Kaidha-Kämpfer und Selbstmord-Attentäter. 72 Jungfrauen am Ende und ein der Lobpreis als Märtyrer – sie sind bereit, dafür zu sterben und andere mit in den Tod zu reißen.

Was sind Ihre, was sind meine Abgründe? Was treibt uns eigentlich an, was führt uns in Versuchung? Es gibt verzweifelt Chronisch-Kranke, die sich auf das unmoralische Angebot von Organspenden aus armen Ländern einlassen. Die einen kämpfen mit unerlaubten Mitteln um sportliche Siege, andere tun dasselbe für ihren Arbeitsplatz. Manche Mutter würde für ihr Kind ihre Seele verkaufen. Bei Matthäus ist es übrigens die Mutter der Zebedaiden, die das unmoralische Anliegen an Jesus richtet. Unmoralische Angebote versprechen Jugend, Blicke in die Zukunft, Kontakt zu unseren verstorbenen Liebsten. In jeder und jedem von uns lauern Abgründe, in denen die unmoralischen Angebote des Bösen fruchtbare Böden finden. Und der Humus, der die Saat gedeihen lässt, ist Angst oder unstillbare Sehnsucht. Es ist nicht sinnvoll, die Wälle einzureißen, die uns vom Abgrund trennen.

Jesus sieht, was den Jüngern verborgen bleibt. Er sieht Jakobus und Johannes ins Herz so wie er uns ins Herz sieht. Und er sieht in ihren Abgrund: Da ist wohl ihre Liebe zu ihm, aber auch ihre Liebe zueinander, aber es Liebe in ihrer verletzlichen und eifernden Form, Liebe, die besitzen und für sich allein haben will. Da ist die Angst, zu sterben. Zu sterben und dass es dann so sein könnte, als hätte es sie nie gegeben. Jesus sieht das – und versteht. Darum reagiert er so unbegreiflich milde auf das unmoralische Anliegen der beiden Brüder. Milde und doch deutlich. „Es steht mir nicht zu, euch Plätze im Himmel zuzuweisen“, sagt er schließlich, fast als habe er Mitleid mit ihnen.
 „Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an“, erklärt er später den Jüngern und macht ihnen ein anderes, ein befreiendes, lebensrettendes Angebot. „Ihr sollt miteinander anders umgehen“, sagt er. „Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.“ Macht es wie ich, sagt er. Ich diene, und ich gebe mein Leben als Lösegeld für viele.

Jesus bietet nicht Reichtum, Macht und Geld, er bietet Erlösung an. Erlösung vom Sund, Errettung vor den inneren Abgründen, Sinnstiftung über den Tod hinaus. Er geht als Beispiel voran, geht den guten Weg mit allen Konsequenzen, damit auch wir ihn gehen können ohne Furcht.
Jesus bietet ein neues, ein anderes Leben an. Und das ist kein unmoralisches Angebot, das am Ende mehr nimmt als es gibt. Das ist keine Nacht mit dem Teufel, der alle Liebe zerstört. Es ist kein kurzes Schillern im Rampenlicht von Ruhm und Macht. Jesus bietet Liebe an, die verschwenderische Hingabe ist. Er bietet den Jüngern und uns einen Platz im Himmel: Es ist der Platz neben dem Nächsten, der Not leidet. Wer der Erste sein will, der mache sich selbst zum Diener. Wem das gelingt, der sitzt hier wie dort neben Jesus, zu seiner Rechten oder zu seiner Linken, ganz in seiner Nähe - neben dem, der sein Leben als Lösegeld gab für uns.
 

Perikope
22.03.2015
10,35-45

Predigt zu Markus 12, 1-12 von Gabriele Arnold

Predigt zu Markus 12, 1-12 von Gabriele Arnold
12,1-12

Liebe Gemeinde.

Haben wir da eben richtig gehört? Gott ist gegangen. Er überlässt seine Erde, seinen Weinberg, seine Menschen sich selber. Das Bild vom Weinberg und Gott als dem Besitzer des Weinbergs ist ein uraltes Bild und Jesus greift diese Bild auf, ja vielmehr er spitzt es in atemberaubender Weise zu. Gott ist außer Landes. Alles hat er vorher bestens eingerichtet. Er hat den Weinberg bebaut, einen Zaun darum gezogen, einen Turm gebaut von dem man aus den Überblick behalten kann. „Siehe es war alles sehr gut.“ Die Luft war sauber, die Flüsse rein, das Gezwitscher der Vögel wie immer und die Ozonschicht in Ordnung. „Und siehe es war sehr gut.“ Ein Mann, eine Frau und später zwei Kinder, Kain und Abel. Der Garten Eden. Und Gott ging außer Landes Und dann??

Atemberaubend wie Jesus unsere Dauer Fragen beantwortet und unsere Sicherheiten auf den Kopf stellt. Unsere Dauerfrage und unsere versteckte Daueranklage. „Wenn es dich Gott gäbe, dann hättest du doch ….

oder „Wo bist Du, Gott?“ „Wie kannst du das zulassen?“

Aber: Gott ist fort. Außer Landes, eine Welt ohne Gott. Und folglich kann auch das Böse in der Welt nicht von ihm kommen.

Nicht von Gott kommt das Unheil, der Verrat, der Todschlag.

Der Weinberg war bestens in Schuss.

 Sie nahmen ihn und schlugen ihn und schickten ihn mit leeren Händen nach Hause?

Die Pächter sind es die Unheil und Blutvergießen bringen.

Kain, der den Abel erschlug als sie dem fernen Gott ein Opfer darbrachten. Sinnbild für alles Weitere, was an Schrecken die Erde erfüllt

Dem schlugen sie auf den Kopf und schmähten ihn

An der U- Bahn Haltestelle. Alles geht ganz schnell, hier ein Tritt und da noch einer und noch einer und keiner greift ein

Und den töteten sie

Feuersturm in Dresden, Bomben über Coventry, das Gas aus den Schornsteinen in Auschwitz

Dem schlugen sie auf dem Kopf und schmähten ihn

Raus mit dem Asylflüchtlingen, das Boot ist voll, Deutschland den Deutschen

Den töteten sie und viele andere, die einen  schlugen sie,  die anderen töteten sie

Kopenhagen, Paris, Ukraine, Syrien, Libanon, Israel, Palästina, Afghanistan.

Wir haben nichts gelernt. Gar nichts. Der Weinberg war bestens in Schuss. Und nicht genug damit dass wir einander umbringen wo immer es geht, wir beschädigen den Weinberg nach besten Kräften, der Zaun ist zertrampelt, die Ozonschicht zerrissen, der Turm in Stücken.  Wir haben den Überblick verloren über das Ende und den Anfang des Lebens, die Weinstöcke genetisch verändert, Trauben in Hülle und Fülle mehr als man essen kann  für die einen, nichts als dürres Holz für die anderen.

Da hatte er noch einen, seinen geliebten Sohn; den sandte er als Letzten auch zu ihnen und sagte sich: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein! Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg.

Gott kann es nicht lassen. Er kann uns nicht lassen. Er hält es nicht aus in der Ferne. Er hält es nicht länger aus zu zu sehen wie sein Weinberg verheert wird, wie die Menschen Opfer von Gewalt und Gräueltat werden. Er hält es nicht aus. Es hält ihn nicht länger in der Ferne. Er macht sich auf. In seinem Sohn. Im Sohn kommt er selber. Vater und Sohn nicht zu trennen. Gott macht sich auf.

Und wird getötet. Getötet wie Abel. Getötet wie die Abermillionen auf den Schlachtfeldern, die Ermordeten in KZ und Gulags, die niemals aufzählbar vielen Opfer von häuslicher Gewalt von Mord und Todschlag.

Heute hören wir diese Geschichte. Heute in der Passionszeit. Heute wenn der bunte Trubel der Narretei hinter uns liegt. Heute wenn wir beklommen wieder den Berg Golgatha vor Augen haben auf den wir in den nächsten Wochen unaufhaltsam hinzugehen müssen.

Gott stirbt wie all die Opfer, deren Blut den Boden des Weinbergs seit Menschengedenken getränkt hat. Auf Golgatha ist Gott zurück in seinem Weinberg und stirbt.

Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben.

Habt ihr denn nicht dieses Schriftwort gelesen (Psalm 118,22-23): »Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen«?

Nein liebe Gemeinde. Zum Glück irrt der Verfasser des Markusevangeliums an dieser Stelle. Der Herr des Weinbergs hat uns den Weinberg nicht weggenommen. Es sind noch immer die geleichen Menschen wie seit Adam und Eva, wie seit Kain und Abel. Aber der Herr des Weinbergs hat ein Machtwort gesprochen. Er hat die Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Der tot am Kreuz hing hat nicht verloren sondern gewonnen. Die Pächter konnten ihn töten, beseitigen konnten sie ihn nicht. Der verworfene Eckstein ist zum Fundament geworden. Zum Fundament einer neuen Welt. Zum Fundament einer neuen Verheißung. Zum Fundament einer neuen Beziehung. Der Gott, der am Kreuz zurückgekehrt ist in seinen Weinberg, der wird ihn nie wieder verlassen. Sie konnten ihn töten. Aber sie konnten ihm das Leben nicht rauben.

Sein' Raub der Tod mußt geben her, / das Leben siegt und ward ihm Herr, / zerstöret ist nun all sein Macht. / Christ hat das Leben wiederbracht. / Halleluja. (Erschienen ist der herrlich Tag)

An Ostern, in ein paar Wochen werden wir das hier singen und glauben tun wir es schon heute. Das Leben siegt über den Tod. Gott über die Vernichtung. Der Glaube über die Barbarei, die Hoffnung über die Depression. Gott geht nicht fort. Er bleibt bei uns in allen Schrecken, in allen Ängsten in allem Todeswüten. Am Ende werden es alle sehen. Das Leben siegt und den zahllosen Toten wird Leben gegeben. Und deswegen dürften wir den Weinberg weiter bebauen. Denn der Gott des Lebens wohnt unter uns und manchmal aber achten wir das nicht gering gelingt es uns heute schon gute Pächter des Weinbergs zu sein. Im Gottes Namen. Im Namen des Lebens. Amen

Perikope
01.03.2015
12,1-12