03.12.2017 - 1. So. im Advent
Der Himmel voller Tränen - Predigt zu Offenbarung 21,1-7 von Daniela Hammelsbeck
Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss! Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst. Wer überwindet, der wird es alles ererben, und ich werde sein Gott sein und er wird mein Sohn sein. (Off 21,1-7)
Liebe Gemeinde,
„Sie ist immer noch da!“, der alte Herr traut sich kaum, das zu sagen. Der Tod seiner Frau liegt ja schon so viele Jahre zurück.
„Sie ist immer noch da, hier in der Wohnung, ich kann sie richtig spüren, und dann spreche ich mit ihr.“
Während er das erzählt, kommen ihm die Tränen. Und seine Tochter streicht ihm über das Gesicht, eine kleine zärtliche Handbewegung, und wischt die Tränen ab. Fast intim wirkt sie, diese Geste.
Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.
Das ist der intimste Moment in dem so gewaltigen Predigttext.
Denn mächtig ist sie, die Vision, die da gemalt wird.
Großformatige Bilder standen dem Johannes vor Augen – damals, als die erste Verfolgung über die christlichen Gemeinden herein brach.
Bedroht, verfolgt, bestraft, Johannes wurde verbannt auf die Insel Patmos. Dort im Exil empfing er Visionen und schrieb sie auf. Für alle die anderen, die in Bedrängnis waren, in Angst, in Verzweiflung. Auch für uns heute.
Bilder, die uns hinein schauen lassen in die Zukunft. In die Ewigkeit. In der alles ganz anders sein wird.
Siehe, ich mache alles neu.
Nicht das Alte wird repariert, da entsteht etwas völlig Neues.
Ein neuer Himmel, eine neue Erde, das himmlische Jerusalem, geschmückt wie eine Braut und vom Himmel herabkommend.
Neu, ganz neu, ganz anders wird es da sein.
Kein Hass, keine Gewalt, kein Geschrei, kein Leid, kein Schmerz, kein Tod.
Ein neuer Himmel, eine neue Erde, völlig anders als das, was wir hier erleben.
Siehe, das Alte ist vergangen.
Aber dann: diese Tränen!
Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.
Alles ist anders, aber die Tränen, die sind noch da.
Auch im neuen Himmel wird geweint.
Das verbindet uns mit unseren Toten.
Das verbindet unsere und die neue Welt.
Hier und dort, jetzt und dann.
Viele von uns hier haben Tränen vergossen in den letzten Wochen und Monaten. Haben geweint. Am Bett. Am Grab. Ganz im Verborgenen oder gemeinsam mit anderen. Still und leise oder laut und heftig.
Tränen um einen Menschen, der nun fehlt.
Tränen vor Erleichterung, weil das unerträgliche Leiden endlich vorbei ist.
Tränen, weil es so furchtbar weh tut.
Tränen der Verzweiflung: Wie soll es weiter gehen?
Tränen um versäumte Momente, um das, was nicht war und was doch hätte sein können.
Tränen, die nicht aufhören wollen zu fließen.
Tränen vielleicht auch, die noch nicht nach draußen können.
Ungeweinte Tränen.
Es ist gut, wenn wir weinen können. Tränen müssen fließen, damit der Schmerz sich nicht festsetzt. Und die Trauer nicht erstarrt. Tränen, die fließen, helfen, im Schmerz lebendig zu bleiben.
Darum ist es gut, dass auch im neuen Himmel Tränen fließen werden.
Dass auch die neue Welt etwas davon weiß, wie heilsam Tränen sein können.
Der Himmel voller Tränen – und Gott wird da sein.
Wir trauern, wir weinen. Viele Tränen sind geflossen und fließen noch.
Wir fragen: Warum? Warum dieser Tod? Wie soll es werden? Wie soll ich das schaffen?
Und die Antwort, die Gott gibt, ist vielleicht anders als wir erwarten: „Jede Träne will ich aus deinen Augen wischen!“ Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. (Jes 66,13)
Wie das wohl ist?
Wie sich das wohl anfühlt, wenn Gott mir die Tränen abwischte?
Wenn Gott mich in den Arm nähme, ganz sanft und behutsam.
Wenn er mich womöglich fragte: Warum weinst du?
Und dann kommt der Schmerz aus den Tiefen meines Herzens heraus und mit den Tränen löst sich all das, was mich so lange festgehalten hat. Nicht eine einzige Träne ginge verloren. Jede einzelne würde von Gott gesehen. Auch die ungeweinten Tränen. Und die unterdrückten.
Wie das wohl ist, wenn Gott uns über die feuchten Wangen striche?
So vertraut, so nah, so zärtlich, so liebevoll.
So zugewandt kann nur einer sein, der behutsam und vorsichtig ist.
Der um meine Verletzlichkeit weiß. Der mir wirklich nahe ist. Der sich selber berühren lässt.
Das kann keiner sein, der unberührbar ist.
Kein mächtiger König, kein Herrscher auf einem Thron.
Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen.
Gott wohnt bei uns. Gott richtet sich bei uns ein. In einer Hütte. Wörtlich steht da: in einem „Zelt“. Gott schlägt mitten unter uns sein Zelt auf. Da ist keine Mauer mehr zwischen uns. Durch eine Zeltwand kann ich sogar Atemgeräusche hören. Gottes Atem.
Und Gott hört meinen Atem. Hört mein Schluchzen, und sei es noch so leise.
Näher geht es eigentlich nicht. Näher kann mir dieser Gott nicht kommen.
Der Seher Johannes sitzt weit weg – da auf der Insel, verbannt und verzweifelt, bedrängt, traurig, voller Angst.
Von da blickt er in den neuen Himmel und auf die neue Erde. Und spürt doch ganz real, hier und jetzt, wie Gott seine Tränen abwischt. Dieser Gott, der sein Zelt nebenan aufschlägt. Und der seine verletzten Menschenkinder in den Arm nimmt.
Wir sitzen hier mit unserer Trauer, unseren Tränen, unseren Fragen: Möge es doch so sein, dass auch wir etwas davon spüren: Wie die Ewigkeit uns berührt. Wie Gottes zärtliche Hand uns über die Backe streicht.
„Sie ist immer noch da, ich kann sie richtig spüren“, sagt der alte Herr.
Manchmal sind die Menschen, die gegangen sind, einfach wieder da. Niemand ist ganz weg.
Das kann man so oder so sehen. Aber egal, wie man das sieht: Auf jeden Fall ist einer immer noch da. Und der bleibt. Und wird immer noch da sein, am Ende.
A und O, Anfang und Ende, und eben der, der alle meine Tränen abwischen wird.
Amen.
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Befreiende Tränen - Predigt zu Offenbarung 21,1-7 von Antje Marklein
Liebe Gemeinde,
wie gut ist es, weinen zu können. Tränen der Verzweiflung, Tränen der Trauer, Tränen der Wut, der Fassungslosigkeit wollen geweint werden. Auch Tränen der Einsamkeit, des Schmerzes, der Ohnmacht.
Heute denken wir an die vielen, die leben wollten. Leben, lieben, das Leben teilen, sich am Leben erfreuen und am Leben leiden.
Heute denken wir an die, die nicht mehr leben wollten, nicht mehr lieben, nicht mehr leiden, nichts mehr fühlen.
Heute denken wir an die Menschen, die nicht mehr leben konnten. Die gestorben sind, bevor das Leben richtig begonnen hat. Und die gestorben sind, weil sie in die Jahre gekommen sind.
Heute denken wir an unsere Toten.
Wie gut ist es, weinen zu können. Und sie sind kostbar, die Tränen. Und wollen geweint werden. Wer kann Tränen zurückhalten?
Unsere Tränen erzählen Geschichten. Geschichten gemeinsam gelebten Lebens, Geschichten von Träumen und Zukunft, Geschichten von Hoffnung und Freude, Geschichten von Schmerz und Verzweiflung. Unsere Tränen stellen Fragen. Warum? Warum ich? Warum jetzt? Und mit den Tränen fließen auch die Worte, die Fragen, die Gefühle. Und irgendwann gehen die Tränen aus. Oder werden getrocknet, zärtlich durch die Hand eines Menschen, der versteht. Wie kostbar sind solche Begegnungen mit mir selbst, mit meinem Schmerz. Und mit Menschen die mich trösten.
Wie gut ist es, diese Tränen nicht allein zu weinen.
Gott, sammle meinen Tränen in deinen Krug, so betet ein Mensch im Psalm (Ps 56,9). Gott, sammle meine Tränen in deinen Krug. Wer so spricht, ahnt, dass kein Mensch die tiefe Trauer heilen kann. Dass kein Mensch die Lücke schließen kann, die der Tod hinterlässt.
Gott, sammle meine Tränen in deinem Krug.
Keine Träne soll verloren gehen. Auch die kleinste Träne, die ich geweint habe, die ich noch weinen muss oder schon gar nicht mehr weinen kann – Gott soll sie sammeln, Gott soll unser Weinen zu seinem machen, unsere Tränen zu seinen Tränen. Unsere Tränen sollen nicht verloren gehen. Gott soll sie sammeln.
Wie gut ist es, diese Tränen nicht allein zu weinen.
Einmal kommt die Zeit, da wird Gott alle Tränen abwischen.
Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen. (Off 21,4)
Noch unbegreiflich, aber vielleicht zu ahnen: Es gibt eine Zeit, in der der Schmerz aufhören wird. In der Ruhe einkehrt. Und Frieden. Alle Ohnmacht hat ein Ende, alles Tun, alles Fragen und Weinen.
Es gibt eine Zeit nach dem Schmerz, eine Zeit nach der Trauer, eine Zeit nach den Tränen. Für manche von uns immer noch schwer vorstellbar. Andere spüren es schon, wenn ein Jahr vergangen ist, oder zwei. Die Tränen kommen seltener, sie gehören in den Alltag, sie kommen, und sie gehen auch. Und manche Menschen spüren Dankbarkeit. Für das, was war. Für das, was zu Ende gehen musste. Für das, was so nicht weitergehen konnte. Dankbarkeit für gemeinsame, kostbare Zeit.
Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen.
Das sagt die Bibel, in der großartigen Vision des Sehers Johannes. Ganz hinten steht es, im letzten Buch der Bibel. Mit starken gewaltigen Bildern und voller Poesie: Ein neuer Himmel, eine neue Erde, das neue Jerusalem, und Gott wohnt bei den Menschen. Gott an der Seite der Menschen. Gott der zärtlich ihre Tränen abwischt, kein Tod mehr, kein Leid noch Geschrei noch Schmerz mehr. Gott macht alles neu.
Johannes Brahms komponierte in seinem Deutschen Requiem eine ergreifende Fuge zu den Worten: „Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und gen Zion kommen mit Jauchzen; Freude, ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen und Schmerz und Seufzen wird weg müssen.“ Brahms‘ Musik kann uns in den tröstlichen Bann einer Verheißung ziehen, die Neues, ganz Neues verspricht.
Gott sagt: Siehe, ich mache alles neu.(Off 21,5b)
Was aber wird bis dahin? Was wird mit den Tränen, die noch geweint werden müssen in dunklen Nächten? Was ist mit den Tränen die noch geweint werden wollen? Wer könnte sie zurückhalten?
Was wird bis dahin? Gehen wir auf den Friedhof und an die Orte unserer Erinnerung. Lassen wir einander teilhaben an der Traurigkeit. Achten wir die Tränen derer, die weinen. Teilen wir den Schmerz. Und teilen wir auch die kostbaren Erinnerungen, die uns dankbar machen. Stehen wir beieinander in der Trauer und auch in der Zeit nach der Trauer.
Tränen haben heilende Kraft. Aus Traurigkeit wächst eine neue Energie, dem Leben zugewandt in allem Schmerz. Tränen helfen, loszulassen, was war, und sich dem zu stellen, was kommt.
(Melodie eg 16 im Hintergrund, leise)
(In die Musik hinein sprechen:) Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern; so sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern! Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein. Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.
Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt. Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt. Der sich den Erdkreis baute, der lässt den Sünder nicht. Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht. (Jochen Klepper)
(Musik geht zu Ende)
Nach heute kommt morgen. Nach dem Ewigkeitssonntag kommt der Advent. Auf dem Rückweg vom Friedhof gehen wir ins Leben, in unser Leben, das gelebt werden will. Unser Leben, unsere Zeit, unsere Endlichkeit.
„Wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein“, dichtet Jochen Klepper, kurz vor seinem Tod. Und wenn uns die Adventslieder in diesem Jahr noch im Halse stecken bleiben, hören wir sie, hören wir hin, wie traurig, wie fröhlich, wie hoffnungsvoll sie klingen.
„Wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein.“ Amen.
Inspiriert von einer Predigt zu Psalm 56,9 von Präses Annette Kurschus am 17.4.2015 /Trauerfeier im Kölner Dom)
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Gott wohnt in Hausnummer 56 - Predigt zu Offenbarung 21,1-7 von Barbara Eberhardt
Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss! Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst. Wer überwindet, der wird dies ererben, und ich werde sein Gott sein und er wird mein Sohn sein. (Off 21,1-7)
Haus Nummer 55 ist ein Reiheneckhaus. Darin wohnt Andreas mit seiner Frau und seinen beiden Kindern. Andreas ist mittelgroß, etwas rundlich um die Hüften und seine Schläfen werden grau. Er arbeitet im Außendienst bei einem großen Unternehmen. Gestern in Köln, morgen am Bodensee. Immer ist er unterwegs. Und hat das Gefühl, dass seine Seele nicht hinterherkommt. Wenn er zwischendurch einmal zuhause ist, fühlt er sich fremd. Das Familienleben läuft längst ohne ihn ab. Neulich hat er einmal angedeutet, dass er seinen Beruf hinschmeißen möchte. Irgendetwas anderes machen. Seine Frau hat gesagt: Naja, Träume haben wir alle. Andreas hat das Thema nicht mehr angeschnitten. Aber er sehnt sich. Nach etwas Neuem.
Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.
Haus Nummer 56 ist einer der Wohnblocks aus den siebziger Jahren. Im vierten Stock, zweite Wohnung rechts, wohnt Helga. Sie ist klein und zierlich und ihr weißes Haar steckt sie mit vielen kleinen Haarspängchen hoch. Sie mag diesen Wohnblock, denn da ist sie nicht allein. Früher hat sie als Bibliothekarin in einer Schulbücherei gearbeitet. Es war immer etwas los. Sie mochte die Kinder und die Kinder mochten sie. Mit vielen ehemaligen Schülerinnen und Schülern hat sie immer noch Kontakt. Manche sind schon Ende vierzig und haben selbst erwachsene Kinder. Vor acht Jahren ist Helga in den Ruhestand gegangen. Da begann sie zu sammeln. Sie interessiert sich für die Geschichte derer, die sie nie kennengelernt hat: für die Juden und Jüdinnen, die früher in der Stadt lebten und die in der Nazizeit vertrieben und deportiert wurden. Also geht Helga herum und sucht nach Informationen. Lässt sich von den Älteren Geschichten erzählen über die ehemaligen jüdischen Stadtbewohner. Sammelt alte Fotos. Neulich hat sie eine Ausstellung mit den Bildern und den Namen und Texten gemacht. Viele Menschen sind gekommen, um die Ausstellung zu sehen. Helga war glücklich. Sie hat danach gesagt: Ich weiß, dass ich die jüdischen Frauen, Männer und Kinder nicht mehr lebendig machen kann. Aber durch die Erinnerung an sie ändert sich die Stadt. Sie wird neu.
Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.
Haus Nummer 57 ist ein Altbau mit Fachwerk. Im ersten Stock wohnt Gertraud. Sie hat eine kräftige Figur und braun gefärbte Locken. 32 Jahre hat sie mit ihrem Mann dort gelebt. Dann ist er eines Tages nicht mehr von der Arbeit heimgekommen. Im Büro hatte er seiner Sekretärin gesagt, ihm sei übel und er müsse mal auf die Toilette. Dort fand man ihn dann. Leblos. Er hatte einen Herzinfarkt. Gertraud ist jetzt seit sieben Monaten allein. Die Trauer steckt tief in ihrer Seele. In der ersten Zeit ist sie kaum aus dem Haus gegangen. Ihre Geschwister haben sich um sie gekümmert. Seit einigen Wochen versucht sie es wieder. Geht allein einkaufen. Besucht eine Gedenkveranstaltung für ihren Mann. Aber immer, wenn jemand sie fragt, wie es ihr geht, kommen ihr die Tränen.
Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.
Haus Nummer 58 ist ein schmuckloser Bau aus den 1950er Jahren. An der Fassade bröckelt der Putz ab. Im zweiten Stock, unter dem Dach wohnt Mustafa. Er ist klein, rundlich, hat eine Glatze und leuchtend blaue Augen. Die blauen Augen hat er, weil seine Vorfahren Mongolen waren. So erzählt er jedenfalls. In den siebziger Jahren ist er aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Zuerst hat er als Küchenhilfe gearbeitet. Jetzt ist er Koch. Er kennt die Geheimnisse der fränkischen Küche. Sauerbraten, Schäufele, das alles hat er drauf. Er ist Mitte sechzig und würde eigentlich gern in Rente gehen. Aber das Geld reicht nicht. Er hat seine Tochter unterstützt, als sie studiert hat. Nie etwas für sich beiseitegelegt. Und viel zu wenig in die Rentenkasse einbezahlt. Er überlegt, ob er in die Türkei zurückgehen soll, weil das Leben dort billiger ist. Aber was soll er in der Türkei? Er ist seit vierzig Jahren in Deutschland und liebt die fränkische Küche. Er grübelt, aber er findet keine Lösung.
Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!
Haus Nummer 59 ist ein altes Haus aus Sandsteinen. Im Erdgeschoss ist ein Café. Es gehört Monika. Monika ist groß, blond und schlank. Sie hat als Konditorin gearbeitet. Das hat ihr nicht mehr gefallen. Immer in der Backstube, nie eigene Herrin sein. Da hat sie das Café aufgemacht. Und es läuft. Sie kommt über die Runden. Die Leute in der Straße mögen das Café, das ist schon mal die halbe Miete. Heute trinkt Andreas aus der Hausnummer 55 einen Cappuccino bei ihr. Er ist gerade von einer Außendienstfahrt zurückgekommen. Auch Helga aus der Hausnummer 56 ist da und erzählt von ihren Forschungen über die jüdische Geschichte. Mustafa aus der 58 sitzt mit einem Bier in einer Ecke, schweigt und hört zu. Und plötzlich geht die Tür auf und Gertraud kommt herein. Sie will nur schnell ein Stück Kuchen holen, sagt sie. Dann wechselt sie doch ein paar Worte mit Monika. Und mit Andreas. Und mit Helga. Und Mustafa hört zu und lächelt.
Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.
Haus Nummer 60 ist ein kleines Haus aus den 1930er Jahren. Eigentlich gar kein Haus, eher eine Bruchbude. Oder Hütte. Man weiß nicht, wer darin wohnt und ob da überhaupt einer wohnt. Ab und zu sieht man in den Fenstern Licht. Neulich hat einer gesagt: Am Ende wohnt da Gott selbst drin.
Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein.
Sie ist noch Zukunftsmusik, die Hütte Gottes bei den Menschen. Gott wischt noch nicht alle Tränen von unseren Augen. Es gibt noch Tod und Leid und Geschrei und Schmerz. Himmel und Erde sind alt. Jerusalem ist eine zerrissene Stadt.
Aber das ist schon geschehen: Gott ist unter uns. Gott mit uns – Immanuel. Gott, Mensch geworden, Fleisch von unserem Fleisch, lebt er in unseren Städten und Dörfern. Er lebt in der Hausnummer 60, der Bruchbude, von der kein Mensch weiß, wer darin wohnt. Er lebt in der 55 bei Andreas, in der 56 bei Helga, in der 57 bei Gertraud, in der 58 bei Mustafa. Er sitzt im Café von Monika in der 59. Er begegnet uns, Mensch unter Menschen, in unseren alten Städten, in der alten Welt. Hält eine Sehnsucht in uns wach nach einem neuen Himmel und einer neuen Erde. Gibt uns lebendiges Wasser. Und verspricht:
Wer überwindet, der wird dies ererben, und ich werde sein Gott sein und er wird mein Sohn sein.
Amen.
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20.11.2016 - Ewigkeitssonntag
Predigt beim Schlussgottesdienst der EKD-Synode am 3.5.2015 in Würzburg
Himmel und Musik, das geht gut zusammen, liebe Gemeinde. Die Engel, schwerelos und leicht, loben Gott mit Harfen und mit ihren Stimmen, mit ihren Engelschören. So zeichnen die Maler es seit Jahrhunderten in unsere Kirchenräume. Der Himmel ist erfüllt von Musik. Ein Ort der Kommunikation, einer hört auf den anderen. Hier herrscht kein namenloses Schweigen.
Die Menschen, die heute hier im Gottesdienst Musik machen, die vielen Hunderttausende, die sich in Deutschland in Kirchenchören, in Gospelchören, in Posaunenchören oder mit anderen Instrumenten engagieren, die Kantorinnen und Kantoren an den Orgeln, und wir selbst mit unserer kleinen Stimme singen und hören uns hinein in den Himmel. Wohl keine andere Religion hat in der von ihr geprägten Kultur solch erschütternde, solch herzerwärmende Musik hervorgebracht wie das Christentum: den strengen Kosmos der gregorianischen Chöre, die opulente Festlichkeit eines Johann Sebastian Bach, den leidbewussten Frohsinn eines Wolfgang Amadeus Mozart bis zu den Dissonanzen heutiger Komponisten. Oratorien, Passionen, Messen, Choräle. Das Christentum ist eine singende Religion.
Wenn der Seher Johannes auf Patmos davon spricht, dass Menschen und Engel im Himmel auf der Harfe spielen und Lieder singen, dann sagt er auch: Diesen Zustand der Freude, den kennt ihr, diese Luft, die prallvoll ist mit dem Lob Gottes, die atmet ihr auch! Und das liegt daran, dass das Zentrum unseres christlichen Glaubens der weltüberschreitende, todüberwindende Jubel ist. In jedem Gottesdienst feiern wir den Sieg des Lebens, die Macht der Liebe, die Rettung aus aller Verlorenheit.
Das „Lied der Überwinder“, wie es in der Lutherbibel überschrieben ist, atmet diesen Geist. In surrealen Bildern erzählt es von Menschen, die etwas überstanden und überwunden haben, worin sie unterzugehen drohten. Und hinter diesen Bildern stehen die konkreten Verfolgungserfahrungen der römischen Christen im 1. Jahrhundert nach Christus. Da ist das Tier, ein bösartiger, mächtiger Drache. Der verführt die Römerinnen und Römer dazu, ein Bild anzubeten, das Kaiserbild, als wäre der Kaiser ein Gott. Da ist die Zahl 666, Symbol für den Antichristen – eine Anspielung auf den Christenverfolger Kaiser Domitian. Die Christen verweigerten die Anbetung des Kaisers. Viele mussten dafür mit ihrem Leben bezahlen. Das alles sieht Johannes wie in einem Traum. Ein gläsernes Meer, Feuer als Zeichen für das Inferno, das hinter ihnen liegt.
Doch sie singen das „Lied des Mose, des Knechtes Gottes“. Ein Lied der Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten. Die Israeliten kommen ans Schilfmeer. Das schwer bewaffnete Heer der Verfolger rückt immer näher. Da ist kein Entrinnen. Aber dann kommen sie leichtfüßig und unbeschadet durch die Untiefen; und die schweren Panzerwagen der ägyptischen Elite-Armee bleiben stecken im Schlamm und versinken in den Sümpfen. Da singen Mose und Mirjam und Israel dies Lied: „Ich will dem Herrn singen, denn er hat eine herrliche Tat getan. Ross und Mann hat er ins Meer gestürzt...“.
Wer solche Befreiung selbst erlebt hat, kann einstimmen in dieses Lied. Eine Krise im Leben, die ausweglos schien und uns vielleicht in eine tiefe Traurigkeit gestürzt hat –aus der wir dann am Ende doch wieder herausgekommen sind, in der uns die Kraft geschenkt worden ist, wieder nach vorne zu schauen, wieder aufzustehen.
Oder die geschenkte Freiheit eines ganzen Volkes. Vor 70 Jahren haben Menschen in unserem Land erfahren, dass alles kaputt war, was ihr Leben ausmachte: Städte waren zerbombt und Fabriken zerstört. Aber auch Beziehungen, Integrität, Selbstachtung. Und dann wurde dieses Land wieder aufgebaut, schneller als man es je hätte erträumen können. Durch viel Hilfe von außen. Aber auch durch den eigenen Mut zur nüchternen Selbsterkenntnis, zum Bekenntnis der Schuld. Am Anfang viel zu zaghaft, viel zu sehr an dem Alten anknüpfend. Aber dann immer kräftiger, ernsthafter. So, dass nicht die herausgestreckte Brust, sondern der Kniefall zur größten Geste der Stärke wurde. Am Ende wurde die Versöhnung die prägende Melodie. Und frühere Feinde sind heute im gemeinsamen Europa Freunde. „Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott! Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker. Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten und deinen Namen nicht preisen?“ Wer so singt, der tut alles, dass gewonnene Versöhnung stärker ist als alle Kräfte, die zurück in kalte Kriege führen.
Und dann ist noch von einem anderen Lied die Rede: die überwunden haben, singen das „Lied des Lammes“ – heißt es da ziemlich geheimnisvoll. Jedes Mal, wenn wir Abendmahl feiern, singen wir dieses Lied des Lammes! „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt, erbarm dich unser!“ Das Lied des Lammes singt von Christus, der am Kreuz gestorben ist und die Verlorenheit der Welt, alle Traurigkeit, alle unsere menschliche Abgründigkeit mitgetragen hat. Es ist das Lied derer, die augenscheinlich auf der Verliererseite stehen. Es ist das Lied der Hoffnung, wenn es nichts mehr zu hoffen gibt.
Dieses Lied können wir singen, wenn uns das Herz schwer wird von dem, was Redini uns von seiner Heimat Syrien erzählt, von seinen Erfahrungen auf der Flucht und von seiner Angst vor der Abschiebung hier bei uns. Dieses Lied können wir auch singen, wenn wir selbst verzweifeln angesichts des nicht enden wollenden Leids durch Terror und Gewalt.
Die Verfolgten singen das Lied des Lammes und loben Gott.
Das heißt nicht, dass das, was auf der Welt geschieht, Gottes Wille ist. Es heißt nicht, dass Gott die Gewalt, die in der Welt ist, billigt oder am Ende gar dahinter steht. Dass das Lamm am Ende die Oberhand behalten wird, das heißt es! I believe in the power of the lamb, ich glaube an die Kraft des Lammes, sagte Martin Luther King in seinem gewaltfreien Kampf für die Bürgerrechte der Schwarzen in den USA. Dieser Kampf gegen Rassismus ist nicht vorbei. Aber mit der Gewaltlosigkeit des Lammes kann man ungeheuer erfolgreich sein. Davon, dass ein Schwarzer eines Tages Präsident des mächtigsten Landes der Erde werden würde, hätten die Sklaven, die im 19. Jahrhundert in den USA begonnen haben, für ihre Freiheit zu kämpfen, wohl kaum zu träumen gewagt. So stark ist die Kraft des Lammes!
Das Lied des Mose, das Lied des Lammes – das sind die Lieder, die im Himmel Bestand haben, liebe Gemeinde. Keine herausgeplärrten Triumphgesänge, sondern ein Lob, das auch die Traurigkeit und die Verzweiflung. Ein Lob, das darauf wartet, dass Gottes Macht offenbar wird. Wenn wir im vollen Bewusstsein von Tod und Gewalt in der Welt heute an Kantate Loblieder singen, dann singen wir sie im Geist der Engel.
Wenn wir gregorianisch singen, dann wissen wir, dass wir auch für die schreien müssen, die verfolgt werden, die heute bittere Not erleiden, die heute aus nackter Verzweiflung auf hoher See ihr Leben riskieren. Wenn wir Gott im Geiste der Engel loben, dann denken wir an die Erfahrungen der Befreiung, die wir selbst in unserem Leben gemacht haben. Und wir tun es stellvertretend für all jene, denen das Herz jetzt so schwer ist, dass sie Gott überhaupt nicht loben können. Wenn wir Gott so loben, dann tun wir das in dem Vertrauen, dass Gottes Macht dereinst offenbar werden wird und alle Gewalt, alles Unrecht, alle Verzweiflung ein Ende hat.
Das ist die Melodie unseres Lebens. Eine Melodie, die auf Erden den Himmel öffnet.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. AMEN
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Das Evangelium wird überleben - Predigt zu Offenbarung 12,1-6 von Christine Hubka
(Tag der unschuldigen Kinder)
Das Evangelium wird überleben
Diesem Abschnitt aus der Offenbarung haben wohl auch die Bibelfesten unter euch
bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
Ich selber hatte ihn noch nie als Predigttext.
Aber die Ordnung der Predigttexte sieht ihn für den heutigen Sonntag vor.
Machen wir uns also gemeinsam daran, diesen Bildern nachzuspüren,
die Johannes uns hier anbietet.
Er greift tief in die Schatzkiste der antiken Mythologie.
Den Adressaten dieses Rundbriefes
waren die Bilder aus der griechisch-hellenistischen Welt geläufig.
Sie haben einfach verstanden, was Johannes ihnen sagen will.
Wir müssen es Stück für Stück buchstabieren, um die Botschaft zu hören.
Ich lese aus dem Buch der Offenbarung im 12. Kapitel:
Und es erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen.
Und sie war schwanger und schrie in Kindsnöten und hatte große Qual bei der Geburt.
Und es erschien ein anderes Zeichen am Himmel, und siehe, ein großer, roter Drache, der hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Häuptern sieben Kronen, und sein Schwanz fegte den dritten Teil der Sterne des Himmels hinweg und warf sie auf die Erde. Und der Drache trat vor die Frau, die gebären sollte, damit er, wenn sie geboren hätte, ihr Kind fräße.
Und sie gebar einen Sohn, einen Knaben, der alle Völker weiden sollte mit eisernem Stabe. Und ihr Kind wurde entrückt zu Gott und seinem Thron.
Und die Frau entfloh in die Wüste, wo sie einen Ort hatte, bereitet von Gott, dass sie dort ernährt werde tausendzweihundertundsechzig Tage.
Eine Frau ist schwanger.
Sie scheint nicht irgendeine zu sein, sondern eine bedeutende. Eine vor Gott wichtige.
Sonne, Mond und Sterne huldigen ihr,
Jetzt klingelts bei den Bibelkundigen und Weihnachtsfesten unter uns:
Die schwangere Frau, das kennen wir:
Jesaja verheißt, dass eine Jungfrau schwanger wird.
Und in Bethlehem kündet ein Engel einer jungen Frau
die bevorstehende Schwangerschaft an.
Johannes denkt jedoch eher an die Kirche, an die Christenheit seiner Zeit.
Immer schon hat die bildende Kunst die Kirche als schöne Frau dargestellt.
Ein paar Jahrhunderte nach Johannes finden wir sie auf elfenbeinernen Buchdeckeln,
die das Evangelienbuch schmücken.
Zurück zur Offenbarung:
Wir werden Zeugen eines Dramas.
Die Frau, also die Kirche, und ihr Kind, das Evangelium, spielen darin die Hauptrolle.
Hier wird es richtig irdisch.
Denn die Frau durchlebt eine richtige Geburt.
Sie schreit. Sie hat Schmerzen.
Das ist anders als wir es aus den apokryphen Evangelien kennen.
Diese späten Schriften, die keinen Eingang ins Neue Testament bekommen haben,
tun so, als hätte Maria einen Wellnesstag gehabt,
als sie ihr erstes Kind geboren hat.
Wir erinnern uns: Die Kirche ist es, die hier in den Wehen liegt.
Die Frau hat geboren.
Das Evangelium, die Botschaft von Gottes Zuneigung zu allen Menschen, ist in der Welt.
Jetzt kommt dramaturgisch punktgenau ein böser Feind.
Die Frau und ihr Neugeborenes sind in höchster Gefahr.
Die Kirche und das Evangelium sind in höchster Gefahr.
Denn dieses Kind ist der Konkurrent des siebenköpfigen Drachen.
Dieser gefährdet das Evangelium.
Das Evangelium ist in Lebensgefahr.
In Todesnot.
Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort, und steure deiner Feinde Mord,
die Jesus Christus, deinen Sohn, wollen stürzen von seinem Thron.
Viele Jahrhunderte später hat Martin Luther dasselbe erlebt.
Das Ende der Mythen haben wir erreicht.
Unumkehrbar.
Das ist nicht Mythos sondern Realität.
Die Botschaft Jesu ist auch heute, auch unter uns gefährdet.
Wo Menschen in Not sind und ander, Wohlhabendere, unbewegt zusehen.
Wo der Satz: „Wir können nicht allen helfen“, locker von den Lippen fließt,
da ist die Botschaft von der Liebe Gottes in Lebensgefahr.
In Todesnot.
Hier halte ich inne. Schaue wieder, was Johannes schreibt.
Der erste Trostgedanke ist da.
Jeder Unmenschlichkeit
ist nicht irgendeine kleine, unbedeutende Begebenheit im großen Welttheater.
Jede Unmenschlichkeit hat vor Gott kosmische Bedeutung.
Die Verachtung eines einzelnen, kleinen, unbedeutenden Menschen
ist vor Gott welterschütterndes Unrecht.
Wieso ich das aus diesem Abschnitt heraus lese?
Johannes wendet sich in seinem Schreiben an die Kleinen und Unbedeutenden,
an die Verachteten seiner Zeit.
Der Drache hat
sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Häuptern sieben Kronen.
Der siebenköpfige Drache will die Botschaft von der Menschlichkeit Gottes verschlingen.
Das Evangelium des Tages hat uns durch die Bedrohung des neugeborenen Jesuskindes durch Herodes erzählt.
Das Jesuskind ist dem Mörder entkommen.
Andere Mütter hatten keinen Engel, der sie rechtzeitig gewarnt hätte.
Ihre Kinder wurden getötet.
Ich bin sicher, dass Johannes damals nicht so weit gedacht hat.
Aber ich meine, dass wir heute auch ein Stück weiter denken dürfen
als der Presbyter und Autor dieser Schrift.
Euch fallen wohl auch andere Drachenköpfe ein,
die heute Menschen hier aber auch anderswo ihren heißen Atem ins Gesicht blasen.
Nicht nur den Neugeborenen. Auch den Erwachsenen.
Wir leben in einem Land,
wo die christlichen Kirchen großes Ansehen genießen.
Und dennoch scheint mir, dass die Kirche bedroht ist.
Nicht physisch. Nicht, weil ihr das Geld ausgeht.
Nicht weil der Staat sie verfolgt, wie es zur Zeit des Johannes war.
Nicht Hunger, sondern Sattheit.
Nicht Not und Tod sondern das Vergessen,
wie unendlich zerbrechlich menschliches Leben ist.
Nicht Vertreibung sondern träge Sesshaftigkeit
bedrohen die Kirchen der westlichen Welt.
Gleichgültigkeit. Selbstzufriedenheit.
Und das Schlimmste: Der Drache hat auch Köpfe, die sich christlich gebärden.
Auch hier nur ein Stichwort zum Weiter-Denken:
PEGIDA.
Die Gefahr sind nicht die angeblich so bösen Muslime.
Den biblischen Text so zu verstehen wäre kein Missverständnis sondern Missbrauch.
Der giftige Hauch des Drachen kommt mit der Melodie von Weihnachtsliedern zu uns.
Schauen das Drama weiter an:
Der Drache spielt sich auf mit seinen vielen Häuptern und 70 Hörnern.
Und dann fürchtet er sich vor dem Evangelium, das die Gestalt eines kleinen Buben hat.
Seine einzige Möglichkeit zu wirken, ist das Wort.
Das Wort von Gottes Herrschaft auch über die Tyrannen dieser Welt.
Auch über diejenigen, die Angst und Schrecken unter den Menschen verbreiten.
Hier ist für mich der Moment, wo der Drache einen Teil seiner Großartigkeit verliert.
Hier ist der Moment, wo dieser Drache ein wenig lächerlich wirkt.
„So steht es also um dich“, möchte ich ihm und allen seinen Köpfen zurufen:
„In Wahrheit bist du gar nicht groß und stark und mächtig.
Deine momentane Kraft kommt nicht aus deiner Lebendigkeit.
Dein heißer Atem kommt daher, weil du so große Angst hast, die Macht zu verlieren.
Eigentlich brauchst du in deiner panischen Angst Windeln viel dringender als der Knabe.
Du kämpfst mit siebzig Hörnern gegen ein einziges Kind.
Eine ganze Armee gegen die Botschaft von Gottes umfassender Liebe.“
Gott rettet das Kind vor dem Zugriff des Drachen.
Gott rettet damit die Zukunft der Glaubenden, die diesen Offenbarungsbrief empfangen.
Gott rettet die Botschaft des Evangeliums durch alle Bedrohungen zu allen Zeiten.
Das ist es, was Johannes seinen bedrohten und bedrängten Mitchristen damals sagt.
Gott rettet die Zukunft – nicht nur der Kirche, sondern auch der Welt.
So höre ich die Botschaft heute.
Manch Gesangbuchvers singt seit Jahrhunderten genau dasselbe:
Befiehl du deine Wege …
Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege Lauf und Bahn …
O ja, die Zukunft der Kirche und des Evangeliums liegt noch immer
gut und warm gehalten in Gottes Hand.
Auch wenn die damals und wir heute, so wie die Frau noch auf der Erde sind.
Auch wenn die Kirche noch in der Wüste lebt, wie Johannes sagt.
Ganz gleich, ob es im wüsten Überfluss oder im Mangel ist.
Auch der Überfluss kann zur Wüste werden.
Johannes gibt an, wie lange der Zustand dauern wird:
eintausendzweihundertundsechzig Tage.
Nicht unendlich lang wird es dauern. Es wird ein Ende haben, höre ich hier
und zähle mit allen Gefangenen dieser Erde die Tage bis zur Befreiung.
So führt uns dieser Mythos, diese unwirkliche Geschichte zuletzt ganz behutsam
und tröstend in die Wirklichkeit zurück:
Lieber Mensch, lieber Hörer, liebe Hörerin, liebe Gemeinde, liebe Kirche, liebe Christenheit:
Gott weiß um eure Nöte.
Gott sieht, dass ihr bedrängt seid.
Gott wird nicht zulassen, dass das ewig dauert.
Seine Herrschaft ist unangefochten.
Der Drache kann eure Zukunft nicht fressen.
Die ist gut aufgehoben bei Gott, der seine schützende Hand über sie hält.
In der Zwischenzeit habt ihr manch Schweres zu erleben und zu erleiden.
Aber in alldem wird Gott euch beistehen und für euch sorgen.
Wenn man mitten drin steckt in den Turbulenzen,
ist es schwer, sich auf diese Botschaft einzulassen.
Aber wir haben es hier leichter als die Empfänger dieses Offenbarungsbriefes.
Wir können auf die lange Geschichte der Kirche zurücksehen.
Wir wissen bereits, aus wie viel Not Gott die Christenheit gerettet hat.
Und wenn wir im eigenen Leben zurück schauen, nur wenig Jahrzehnte zurück,
dann sind auch hier Spuren von Gottes bewahrender Nähe zu erkennen.
Genau das aber ist die Botschaft des Johannes.
Georg Neumann hat es in Versen gesagt:
Denk nicht in deiner Drangsalhitze, dass du von Gott verlassen seist.
Und dass ihm der im Schoße sitze, der sich mit stetem Glücke speist.
Die Folgezeit verändert viel und setzte jeglichem sein Ziel. (EG 369,5 – Wer nur den lieben Gott lässt walten.)
Link zur Online-Bibel
23. 11. 2014, Bad Kissingen: Zuversicht stärken
Predigt Teil I
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt! Amen.
Liebe Gemeinde,
Sollte man sein Todesdatum kennen? Sicher, für die meisten von uns ist das eine theoretische Frage.
Für einige ist sie jedoch ganz real. Wolfgang Herrndorf zum Beispiel. Als der Schriftsteller an einem unheilbaren Hirntumor erkrankte, entschloss er sich, dem Tod so viel Leben wie möglich abzutrotzen. Und schrieb in kürzester Zeit mehrere Bücher; darunter ein digitales Tagebuch . Darin schildert er sein Leben mit der tödlichen Krankheit. Und notiert an einer Stelle, es sei „wünschenswert“, ja sogar „ein Segen“, das eigene Todesdatum zu kennen. „Könnte man sich viel Quatsch ersparen“, sagt er (zitiert aus Arbeit und Struktur, 3. Auflage, Berlin 2013, S. 286.).
Aber nicht jeder hat seine Courage, dem Tod ins Auge zu sehen. Und seine Kraft, sich ihm entgegen zu stemmen. Ich habe als Klinikseelsorger Menschen erlebt, die einfach weiter gelebt haben, als sei nichts gewesen. Andere haben eine große Reise geplant. Wieder andere haben ihre Beziehungen geordnet.
Manche wurden depressiv, andere ängstlich oder wütend. Oft war in einem Menschen alles gemeinsam da: Tränen voller Trauer und Zorn.
Wie stehen Sie zu dieser Frage? Und was würden Sie tun in der verbleibenden, kostbaren Zeit? Denken wir einen Moment darüber nach.
Wie ich zu meinem Todesdatum stehe, hängt davon ab, wie ich den Tod bewerte: Als Ende meines Lebens: Schluss. Aus. Vorbei. Oder als Zwischenstation auf dem Weg in eine andere Welt?
Johannes, der Prophet, vertrat Letzteres. Wir haben eben seine Vision gehört: Es wird eine neue Welt kommen, jenseits der Todesgrenze. Schmerz und Tränen werden sich dort auflösen. Sogar der Tod verschwindet.
Eine billige Vertröstung? Oder gar Flucht aus der Wirklichkeit ? Manche mögen das so sehen.
Eine meiner Patientinnen hätte Johannes dagegen sicher zugestimmt: Wie andere auch in dieser Klinik war sie schwer krank. Eines Tages erzählte sie mir von ihrem Leidensweg. Mit einem Satz, der mich sehr verblüffte: „Herr Pfarrer, sagte sie, Sterben ist schön. Ich habe es selbst erlebt. Sterben ist schön!“ Dabei hatte sie ein fast unwirkliches Strahlen im Gesicht.
Offenbar hatte sie eine „Nahtoderfahrung“ gemacht. Mit den Umrissen des neuen Himmels und der neuen Erde vor Augen. Durch dieses Erlebnis stellte sich in ihr die tiefe Gewissheit ein, allezeit in Gottes Hand zu bleiben. Ja, mehr noch: Sie spürte, dass das Schönste und Beste erst noch kommt. Sie gewann die Gewissheit, dass Gott überall ist.
Mit Johannes gesprochen: Mitten unter den Menschen in der neuen Welt, im himmlischen Jerusalem. Und mitten unter uns Menschen im Hier und Jetzt. Weil Gott uns aus der Zukunft entgegen kommt.
Denn der, der in der Vision des Johannes auf dem himmlischen Thron sitzt, ist ja der derselbe, der unseren Boden berührt hat. Der unsere Luft atmete. Und unseren Schmerz ertrug: Jesus Christus.
Wie Christus Himmel und Erde, Diesseits und Jenseits auch heute verbindet, wird auf eindrückliche Weise an dieser Bronzeplastik sichtbar:
Astrid Wilde: Vorstellung der Plastik
1980 hat unsere Gemeinde diese Bronzeplastik des Künstlers Heinz Heiber bekommen. Sie trägt den Namen „Erlöser“. Damit ist Jesus gemeint.
Schauen Sie, wie er sich nach unten neigt, zur Erde, zum Boden hin. Als beuge er sich vor dem, der vor ihm steht, demütig und mitfühlend. Eine respektvolle Geste. Jesus würdigt unser Schicksal.
Zugleich streckt er uns die offenen Hände entgegen. Wie um zu halten oder zu trösten. Oder zu sagen: „Siehe, ich bin bei dir – ich trage das Leid mit dir.“ Sein Umhang ist wie eine Schale geöffnet, verleiht Schutz und Geborgenheit.
Gleichzeitig ist da diese Aufwärtsbewegung. Die Befreiung von all dem Bedrückenden. Sie deutet Erlösung vom Tod, Auferstehung an. Wie auch der senkrechte Kreuzesbalken die Erde mit dem Himmel verbindet.
So vereinigt diese Plastik Tod und Leben. Jesus beugt sich nieder, gibt sich hin bis in den Tod. Und zieht uns hinauf. In das neue Leben. Das gibt uns jetzt schon Zuversicht, Halt und Trost.
So spiegelt diese Plastik, was Menschen in dieser Kirche suchen und finden können: Erlösung. Darum haben wir sie „Erlöserkirche“ genannt.
Pfarrer Wolfgang Ott, Predigt Teil II
Christus, der Erlöser, hat den Tod überwunden. Er ermutigt mich, den Tod nicht ernster zu nehmen als er ist. Denn der Tod hat nicht das letzte Wort. Am Ende warten ein neuer Himmel und eine neue Erde auf mich. Dorthin holt er mich ab. Lädt mich mit offenen Armen und ausgestreckten Händen ein, der Ewigkeit ohne Furcht entgegen zu gehen.
Christus und Gottes neue Welt vor Augen macht hoffnungsvolles Leben möglich – auch wenn ich um mein Todesdatum weiß. So kann sogar in schweren Stunden vielleicht wieder ein Lächeln erblühen. Oder es gelingt, ganz im Augenblick zu leben und alles Planen und Organisieren einmal sein zu lassen. Die angestauten Tränen dürfen freien Lauf bekommen, während gleichzeitig grenzenloser Lebensmut wächst.
Mit Christus und der neuen Welt vor Augen können wir unser Leben an der „Nachbarschaft des Ewigen“ ausrichten, wie Romano Guardini einmal schrieb. Und wieder aufmerksam werden, was uns bereits hier auf Erden an schönen und wertvollen Dingen widerfährt.
Manchmal sind es gerade die kleinen Gesten, die Zuversicht und Lebensmut stärken:
Christel Schulte, Statement
Schon immer sehe ich auf Hände bei Menschen, um etwas über sie zu erfahren. Wenn jemand zu mir ins Krankenhaus kam, als es mir sehr schlecht ging, da habe ich immer sofort die Hände ergriffen.
Ich wusste später, wer mich besucht hatte, obwohl ich zum Zeitpunkt des Besuchs gar nicht bei Bewusstsein war. Ich wusste es allein deshalb, weil ich Kontakt mit den Händen hatte.
Mein Bruder, meine Nichte, meine Freundinnen, die Seelsorgerin, alle habe ich an den Händen erkannt. Und da waren die Hände des Pflegepersonals.
Auch sie stehen für mich für Halt und Trost, für all das, was man in Krankheitszeiten am meisten braucht. Menschliche Hände, die mich gehalten und getröstet haben, wurden mir so auch zum Zeichen. Für Gottes Nähe.
Pfarrer Wolfgang Ott, Predigt Teil III
Menschliche Hände werden zum Zeichen für Gottes Nähe. Wie wohltuend und heilsam können solche Begegnungen sein! Man muss dafür nicht immer topfit sein wie das Pflegepersonal. Zeichen für Gottes Nähe geben auch Menschen wie Herr Rausch. Er begleitet Menschen in der Klinik, die ähnlich wie er damals, kraftlos und erschöpft sind. Frau Sattes-Müller spricht Worte und Gebete für jene, denen die Krankheit ihre Sprache verschlagen hat. Und Frau Schultes besucht Menschen, die wie sie im Rollstuhl sitzen, und spricht mit ihnen auf Augenhöhe.
Bei vielen Patienten stellt sich das Leben wieder ein. Sie genesen von ihrer Krankheit. Oder es geht ihnen wenigstens besser, wenn sie die Klinik verlassen. Vielleicht sogar mit einer anderen Einstellung zu ihren persönlichen Grenzen und zum Tod.
Andere werden jedoch nicht mehr gesund. Aber bei manchen von ihnen wird ihre Seele heil. Und sie können trotz ihres nahen Todes zuversichtlich in die Zukunft schauen. Und dankbar auf ihr Leben zurück.
Darin erinnern sie mich an meine Mutter. Heute vor genau 16 Jahren ist sie viel zu früh verstorben. Ich stelle mir vor, wie sie vom neuen Himmel aus auf uns und unsere Erde blickt, erlöst und friedvoll. Ihr oft verhärmtes Gesicht konnte hoffnungsvoll strahlen, wenn sie eines ihrer liebsten Kirchenlieder sang: „In dir ist Freude in allem Leide, o du süßer Jesu Christ.
Schauen Sie auf Christus. Denken Sie an sein Versprechen und stimmen Sie mit uns ein, wenn wir dieses Lied nun singen.
Amen.