Nicht allein in der Nacht - Predigt zu Römer 13,8-14 von Hans Uwe Hüllweg

Nicht allein in der Nacht - Predigt zu Römer 13,8-14 von Hans Uwe Hüllweg
13,8-14

Nicht allein in der Nacht

„In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine…“ So, liebe Gemeinde, lautete einmal ein überaus erfolgreicher Hit, gesungen von Marika Rökk, Peter Alexander und anderen Showgrößen in den fünfziger Jahren und neuerdings auch von einer der erfolgreichsten deutschen Popgruppen, den „Prinzen“. In diesem Song geht es natürlich um die Liebe, aber der Text hat auch darüber hinaus eine psychologische Dimension. Die Nacht hat nämlich eine besondere Bedeutung in unserem Leben. Die meisten Menschen schlafen sicherlich oder versuchen es; aber viele müssen auch arbeiten, im Krankenhaus und bei der Bahn, in den Kraftwerken, bei der Polizei oder auch hier im Seniorenstift.

Und manch einer fürchtet sich, abends etwa durch den Park oder das nicht so gut beleumundete Viertel zu gehen, weil manchmal Gestalten im Dunkeln tatsächlich oder vermeintlich ihr Unwesen treiben, das das Licht des Tages scheuen muss. Da ist es besser, jemanden bei sich zu haben.

„In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine“ – in dieser Zeile schwingen unterschwellig unsichtbare, doch höchst reale Gefahren und ebenso zwar irreale, aber doch sicht- und spürbare Alpträume mit.

Und wer nicht so einfach in den Tag hinein lebt, wer bewusst über sein Leben nachdenkt, wird manchmal das Gefühl nicht los: „Der Tag ist vorgerückt, die Nacht kommt näher.“ Mit jedem Sonnenuntergang wird unser Leben kürzer, auch mit jedem Geburtstag, den wir feiern, wobei niemand weiß, ob es nicht der letzte ist. Einmal wird die Sonne nur noch eine Handbreit über unserem Lebenshorizont stehen, und wir wissen nicht, wann das sein wird. Morgen schon? Oder in vielen Jahren?

Schon die Jüngeren spüren das Altern. Auch wenn die Statistik uns weismacht, dass man sich erst mit etwa 35-40 Jahren, also wenn ungefähr die Hälfte des Leben nach unserer regulären Lebenserwartung verstrichen ist, mit dem Tode bewusst auseinanderzusetzen beginnt - er ist ja schon allgegenwärtig in seinen Vorboten. Viele setzen sich heftig zur Wehr gegen das Altern: Die Kosmetikindustrie stellt Salben und Wässerchen her gegen die Falten und verdient viel Geld damit. Die einen vergießen Schweiß in den Fitness-Studios, die anderen joggen um den See, und die wenigstens die Optik jung halten wollen, legen sich auf die Sonnenbank.

Im Grund wissen wir aber: Gegen das Älterwerden ist nun mal kein Kraut gewachsen. Der Tag rückt vor, die Nacht näher, und in der Nacht wird der Mensch, ob er will oder nicht, alleine sein. Das ist, bei nüchterner Betrachtung, unser Leben.

Dagegen aber erhebt Paulus seine Stimme. Er behauptet das genaue Gegenteil, und seine Worte klingen wie ein Fanfarenstoß: „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist herbeigekommen, es ist Zeit aufzustehen…“

Natürlich ist Paulus kein Phantast. Er kennt sich im Leben aus. Er redet nicht einfach so daher. Und er hat sicherlich auch schon einmal im Wasserspiegel des Brunnens sein Gesicht gesehen, an dem die Spuren des Älterwerdens nicht vorübergegangen sein dürften.

Aber er lässt sich nicht verwirren und sich schon gar keine Angst einjagen. Mit jedem Tag, der vergeht, so ist er überzeugt, wird der Abstand zwischen mir und Christus kleiner. Es geht nicht bergab, sondern bergauf mit mir. Die Nacht brauche ich nicht zu fürchten, denn ich bin schon am Tag nicht alleine. Jesus Christus geht mit mir, jeden Schritt, den ich mache. Nach Gottes Zeitplan werde ich nicht älter, sondern jünger.

Nun können wir nicht erwarten, dass das jeder dem Apostel abnimmt. Auch das Mitfeiern des Gottesdienstes heute, am 1. Advent, bietet uns dafür keine Garantie. Die Skeptiker, die es möglicherweise ja auch unter uns gibt, werden sich fragen, ob das nicht einige Nummern zu groß ist angesichts einer Realität, die uns doch immer wieder in die finstere Wirklichkeit zurückholt. Terror in Europa, Krieg in Ost und Süd, Flüchtlingsstrom in unser Land, dazu mancherlei individuelle Sorgen und Ängste – wen soll das alles kalt lassen?

Doch unser Glaube ist immer einige Nummern zu groß. Wir greifen mit unseren Überzeugungen immer über die Wirklichkeit hinaus. Wollten wir das nicht, wäre unser Glaube arm. Denn Gottes Wirklichkeit, das soll uns im Advent wieder zu Bewusstsein kommen, ist immer einige Nummern größer als unsere.

Nach menschlichen Maßstäben sollte Gott lieber im Himmel geblieben sein! Nichts wie Ärger auf dieser Erde! Die Menschen wenden sich von ihm ab, wollen „autonom” sein, d.h. ihre eigenen Gesetze machen. Der Wille Gottes kann ihnen gestohlen bleiben. Und als sich Gott schließlich aufmacht, um ein Mensch zu werden, da erwartet ihn „am Anfang der Stall und am Ende der Galgen”, wie der Rhetoriker, Philologe und Schriftsteller Walter Jens gesagt hat.

Wer an diesen Gott glaubt, der greift in der Tat über sich hinaus. Und für den ist dieser Satz dann nicht mehr so unwahrscheinlich, wie es zunächst schien: „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen”, der Tag nämlich, an dem Gott selbst in die Welt und in sein Leben tritt.

Paulus ist für mich ein beeindruckender Mann. Er redet, wie nur ein Mensch reden kann, der, wenigstens im Augenblick, völlig frei ist von Angst. Er spricht schwungvoll, mitreißend und begeisternd. Das Lied von Jochen Klepper, das wir gleich noch singen werden, versucht, diese Stimmung einzufangen:

Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern,
so sein nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern!

Auch dieses Lied schlägt nicht vor Begeisterung über die Stränge - die musikalische Stimmung in Moll, die ja als schwer und traurig gilt, bewahrt vor überschießender Fröhlichkeit, die das Bewusstsein trübt. Mir scheint, das Lied ist wie eine Hängebrücke zwischen zwei Ufern. Der Text, ganz nah bei Paulus, hängt am Ufer Gottes. Er will uns mit der Gewissheit anstecken, dass wir nicht in eine ungewisse Zukunft hineinlaufen, sondern einem Ziel entgegengehen, an dem Christus uns erwartet. Die Melodie hängt am Ufer unseres Lebens. Sie bewahrt die Bodenhaftung, hat noch ein Ohr für die dunklen Töne der Welt.

Gewiss, das Aufatmen über die schwindende Nacht und die adventliche Vorfreude auf den kommenden Tag Gottes muss auch Konsequenzen haben, und Paulus scheut sich nicht, in aller Deutlichkeit davon zu sprechen. „Lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Hader und Eifersucht”, so legt er los.

Nun brauche ich Paulus nicht in Schutz zu nehmen, etwa gegen den Verdacht, als ob er hier die alte, vergangene Werkgerechtigkeit wiederauferstehen ließe. Oder als ob er ein sauertöpfischer, stets mit erhobenem Zeigefinger herumlaufender Griesgram wäre, der das Leben nicht genießen, sondern nur verteufeln kann.

Was er dagegen meint: Wer zügellos und ausschweifend lebt, merkt meist nicht, dass der innere Antrieb dafür nicht einfach Freude am Genuss, sondern tief im Innern eigentlich der verbissene Kampf gegen den Tod ist. Wer nicht dem herangerückten Tag entgegenschaut, bleibt auf der dunklen Seite des Lebens stehen. Und in einer solchen Nacht bleibt der Mensch dann wirklich oft allein.

Das aber, so meint Paulus, haben Christen nicht nötig. Ihr Leben erfüllt sich nicht im Lebensgenuss um jeden Preis, um die Nacht zu vertreiben, sondern im kommenden Tag Gottes.

Das ist der Grund dafür, dass unser Leben nicht trostlos, sondern im Gegenteil voller Hoffnung ist. Wir leben zwar noch in der Nacht, aber sie ist schon im Schwinden, und wir sind sozusagen schon vom Licht des neuen Tages angestrahlt.

„In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine” - eigentlich könnte das ein Adventslied werden, wenn der Text so lautete:

In der Nacht ist der Mensch nicht gern allein,
und er brauchte es auch nicht zu sein.
Ein Silberstreif am Horizont zeigt an:
Gott ist im Kommen, ist schon auf der Bahn,
er kommt für uns zu einem guten End -
das ist Advent.

Na ja – da ist das Lied von Jochen Klepper sicher seriöser.

Die Nacht ist vorgedrungen,
der Tag ist nicht mehr fern!
So sei nun Lob gesungen
dem hellen Morgenstern!
Auch wer zur Nacht geweinet,
der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet
auch deine Angst und Pein.

Amen.

Einige Anregungen verdanke ich Hans-Georg Lubkoll in PastBl 12/91, S. 676ff

Lied: 16,1-5

 

Perikope
29.11.2015
13,8-14

Die Fenster bleiben rund

Die Fenster bleiben rund
3, 21-28

Herr, segne unser Reden und Hören. Amen.

Liebe Gemeinde, mögen Sie Dickschädel? – Nein? – Ich auch nicht.
Aber ich sag Ihnen was: Ich stehe hier mitten in einem Dorf voller Dickschädel!
Und ich liebe sie alle. – Die meisten von ihnen gehören zu meiner Gemeinde.

Es gibt hier ein altes Sprichwort. Das sagen die Leute heute noch:
„Die Fenster bleiben rund!“

Früher hatten ’s die Evangelischen in Österreich sehr schwer. Mit ihrem Glauben.

Nachdem sich die Reformation in weiten Teilen des Landes rasch ausgebreitet hatte, setzte nach einigen Jahrzehnten die Gegenreformation ein und mündete schließlich in Gewalt.
Die Protestanten standen plötzlich vor der Entscheidung: Glaube oder Heimat! – Entweder ich verlasse mein Heimatland oder ich werde wieder „brav“ römisch-katholisch. An die 200.000 Evangelische wurden in dieser Zeit ins Exil vertrieben.

Seit 1781 durfte man durch das „Toleranzpatent“ Josefs II. seinen evangelischen Glauben wieder leben. Unter strengen Auflagen und Einschränkungen, versteht sich.
Die Evangelischen durften z.B. keine Gebäude bauen, die einer Kirche ähnlich gesehen hätten.
So hat man „Bethäuser“ errichtet – ohne Turm, ohne Glocken, ohne Rundbogenfenster, kein Eingang zur Straße hin.
Ein solches Bethaus bauten auch unsere Naßwalder, aber sie dachten gar nicht daran, sich an alle Auflagen zu halten.
Doch die Obrigkeit kontrollierte streng …!

Und die Fenster blieben rund!
Schwemmmeister und Dorfoberhaupt Georg Hubmer aber war nicht nur berühmt für seine Durchsetzungskraft und für seinen gesunden Hausverstand. – Er war auch ein schlauer Fuchs!
Er hatte tatsächlich einen persönlichen Fürsprecher gefunden: Erzherzog Johann, des Kaisers Bruder! Der hatte ihm eine Audienz bei seiner Majestät Franz II. eingefädelt. Der Kaiser soll schließlich zu Hubmer gesagt haben: „Man lasse mir meinen Raxkönig in Ruhe!“
So blieb das bescheidene Bethaus in Naßwald das einzige mit runden Fenstern in der gesamten Donaumonarchie.

Das Bethaus konnte man übrigens bald direkt von der Straße aus betreten. Hubmer hatte nicht etwa den vorgeschriebenen Hintereingang wiederrechtlich nach vorne verlegt. Nein, er hatte einfach die Straße auf die andere Seite verlegen lassen.
Sogar die streng verbotenen Glocken konnte man schließlich läuten hören. – Natürlich nicht in einem angebauten Turm aus Stein. Ein kleines Stück weit entfernt vom Bethaus stand unversehens ein hölzernes Gerüst, von dem drei Eisenglocken erklangen. – Man musste ja schließlich ein Feuerwarnsystem haben und zu den Ortsversammlungen rufen können …
Es gibt noch etliche solcher Naßwalder Geschichten.

Ja, ich liebe diese Dickschädel.

Aber diese  Dickköpfigkeit kommt ja nicht von ungefähr.
Ohne sie hätten sie sich damals gar nicht behaupten können.
Ein buchstäblich notgedrungener „Glaubens-Dickschädel“ also, - dessen Ursprung wohl in die Zeit des Geheimprotestantismus zurückreicht.

Die Zeiten des konfessionellen Gegeneinanders in diesen Breiten sind mittlerweile längst vorbei – auch hier in Naßwald. – Gott sei Dank!
Längst ist Naßwald nicht mehr nur lutherisch bevölkert. – Konfessionsverbindende Ehen sind heute kein Problem mehr. – Die katholische Pfarrer oben in Schwarzau im Gebirge oder unten in Gloggnitz zum Beispiel sind meine Freunde. Gelegentlich feiern wir miteinander Gottesdienst.

Wozu da noch einen „Glaubens-Dickschädel? –
Bedarf es heute in unserem freien Europa mit seinem Grundrecht auf freie Religionsausübung überhaupt noch einer Standfestigkeit im Glauben.
Wenn ich Sie frage: Würden Sie für Ihren Glauben den Kopf hinhalten? – Sie würden vermutlich meine Frage gar nicht verstehen: Kopf hinhalten? Für den Glauben? Warum? Es tut mir ja keiner etwas.

Doch auch den Familien um den Raxkönig ist es ja um weit mehr gegangen als um ihren Wunsch nach runden Kirchenfenstern. Im Kern des evangelischen Glaubens ging es und geht es darum, wer vor Gott etwas zählt. Nur, wer fromm ist? Gibt es Bedingungen? Oder gilt Gottes Liebe vielleicht gerade denen, die an den gestellten Bedingungen immer wieder scheitern?  
So sieht es doch auch heute aus. In der Gesellschaft gehörst du in dem Maß dazu, wie du mithalten kannst, - solange du noch was auf deinem Bankkonto habe, solange du gesund bist.
Ich denke an alle die, die Jesus seligpreist: die geistlich arm sind, - die da Leid tragen, - die Sanftmütigen, - die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, - die Barmherzigen, - die reinen Herzens sind, - die Friedfertigen, - die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden – alle die haben auch bei uns wenig zu lachen. Die will eine Spaßgesellschaft gar nicht sehen!
Wir kennen solche seliggepriesenen Leute! Jede Menge! – manchmal gehören wir selbst zu ihnen!

Und auch Georg Hubmer war einer von ihnen. – Auch wenn manche sicher zu Recht behaupten, er sei – wie Martin Luther – einer gewesen, dem schnell einmal der Kragen platze, der mit der Faust auf den Tisch haute und derb und laut wurde.
Der aber für sich und die Seinen beschlossen hatte, ein bescheidenes und menschenwürdiges Leben zu führen.
Kinder zum Beispiel haben damals nichts gegolten. Junge, billige Arbeitskräfte waren es.
Was hat Hubmer gemacht: Er hat dafür gesorgt, dass Kinder und Erwachsene in Naßwald lesen und schreiben lernten. Das Bethaus war zugleich auch Schule! Die Löcher für die Tintenfässer in den Bankreihen der Kirche sind heute noch zu sehen. Alle sollten eine Grundbildung besitzen, sollten selbst die Bibel lesen können!
Auch darin waren die Naßwalder echte Evangelische: Protestantismus und Bildung und die Heilige Schrift in der Muttersprache gehören zusammen! Das wissen die Evangelischen heute noch. Daher ist das heurige Jahr, auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 das Jahr der Bildung in Österreich.

Hubmer hat in diesem Tal eine Krankenkasse und eine Sozialversicherung eingeführt, ein Schutzhaus für die Schulkinder gebaut.
Er hat im Glauben begriffen, dass wir Empfangende, dass wir von Gott Beschenkte sind, dass wir allein aus der Gnade Gottes leben, - die es gilt, weiterzugeben!
Er hat mit Paulus und mit Luther begriffen, dass alle die, die Jesus seligpreist, ihre Seligkeit nicht mit irgendeiner eigenen Anstrengung verdienen müssen, - nicht verdienen können!
„… und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. … So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ (Röm 4,24.28)
Diesem evangelischen Glauben bleib Hubmer treu. Für den hielt er seinen Kopf hin. Zu dessen Ehre hatten die Fenster rund bleiben müssen.
Protestantisch war er auch in seiner Überzeugung: Ich bin Gott verantwortlich und damit an mein eigenes Gewissen gebunden.
So sind die dickköpfigen Naßwalder nicht nur Gott, sondern auch sich selbst treu geblieben.

Deshalb haben sie sich auch nicht vor der habsburgischen Macht gefürchtet. Allein auf die Durchsetzung des Gesetzes hatte die staatliche Obrigkeit in Naßwald gebaut.
Aber die Jesus seligpreist, die kuschen nicht. Die folgen ihrem Gewissen, mit dem sie vor Gott bestehen wollen, - mit dem sie Mensch bleiben wollen.

All jenen, die ohne Rücksicht auf Verluste dem letzten Modeschrei nachjagen, immer höher hinaus wollen, immer weiter weg, immer mehr Action, immer mehr Spaß mit immer höherem Tempo, - denen wünsche ich, dass sie einmal einen Fuß ins alte Naßwald setzen. – Demut lernen. – Entschleunigen. – Menschengerechter zu leben beginnen. – Für sich selbst, für andere.
Ich glaube, das täte ihnen gut.
Ich wünsche ihnen, dass sie einmal auf diesem hohen Felsen stehen und von dort oben einen klaren Blick bekommen.
Was sehe ich von dort?
Von dort oben erkenne ich, dass in meinem Leben getrost auch einmal etwas hinterwäldlerisch sein darf, etwas langsamer, bedächtiger halt.
Nicht, dass die Naßwalder rückständig wären!

Die Naßwalder waren und sind bis auf den heutigen Tag alles andere. Sie sind immer noch Experten auf ihrem Gebiet, hochqualifizierte Spezialisten in der naturnahen Forstwirtschaft und im Quellschutz für die Stadt Wien. Von hier fließt das Wasser nach Wien. Die Naßwalder sind gescheit, talentiert und weltoffen. Sie schauen aufeinander. Sie schauen auch auf andere: Gerade haben sie in ihrem kleinen Dorf eine siebenköpfige irakische (oder: sunnitische?) Flüchtlingsfamilie aufgenommen! – Die Naßwalder stehen mitten im Leben.
Das Vermächtnis ihrer Vorfahren ist ihr Dickschädel.

Zusammen mit den Naßwaldern dürfen wir uns fragen:
Wofür lohnt es sich heute, seine Kraft einzusetzen, zu kämpfen, den Kopf hinzuhalten?
Wo ist mein christlicher Glaube gefordert? – Schauen Sie sich um! – Schauen Sie in die Welt! Auf das, was sie vor Ihrer Nase sehen. Und auf das, was weit hinter Ihrem Kirchturm liegt.
Und hören Sie auf Ihr Gewissen! –

Und dann entwickeln Sie Ihren persönlichen Dickkopf!

Doch um einen Dickkopf zu bilden, braucht es Bildung! – Braucht es Urteilsvermögen!
Auch da gilt es:
Weiten Sie Ihren Horizont! – Die gemütlichen Naßwalder haben‘s Ihnen vorgeführt!
Öffnen Sie sich für Neues, Fremdes, - auch und vor allem für neue und fremde Menschen! Öffnen Sie sich für die, die Jesus seligpreist!
Denn unsere Welt braucht Menschen, die den Mut haben, zu ihrem Glauben zu stehen und mit Wort und Tat das Evangelium von Jesus Christus bezeugen.

Das weist hinaus an die Schwachen und die Schwächsten dieser Welt. An die mit den leeren Händen, die Jesus seligpreist und denen Gottes bedingungslose Zuwendung gilt.
Weil wir Gnade empfangen, können wir nicht gnadenlos sein!

Wir können unseren Mund aufmachen und laut mit Paulus sprechen:
„Ich schäme mich des Evangeliums nicht;
denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht – alle, die daran glauben …“ (Röm 1,17)

Das ist es, was uns froh macht.
Das ist es, was unserer Welt ein freundliches und menschenwürdiges Gesicht verleiht.

Dafür einzutreten, wünsche ich Ihnen einen Naßwalder Dickschädel.

Amen.
 

Perikope
25.10.2015
3, 21-28

You are welcome - Predigt zur Jahreslosung nach den Anschlägen in Paris, von Jens Junginger

You are welcome - Predigt zur Jahreslosung nach den Anschlägen in Paris, von Jens Junginger
15,7

You are welcome

Weil die Losung für das Jahr 2015, nicht treffender, aktueller und herausfordender nicht lauten könnte,
angesichts des barbarischen Terroranschlags und des Geiseldramas in Paris
angesichts der  Aufmärsche gegen die angebliche Islamisierung des Abendlands
und angesichts sich ausbreitender Skepsis, Angst und Sorge unter uns allen,
rufen wir 10 Tage nach dem Beginn des neuen Jahres heute diese Losung noch einmal in Erinnerung.
Aus dieser Losung spricht die Sehnsucht und Bitte des Apostel Paulus,
im Blick auf Menschen, auf Menschengruppen,
die sich in der Stadt Rom offenbar schwer getan haben,
sich gegenseitig anzunehmen.
Wir hören, was Paulus am Ende seines Briefes an die Freunde und Glaubensgeschwister in Rom über den Losungsspruch hinaus schreibt:
(Römerbrief Kapitel 15 nach der Übersetzung der Basisbibel)

„Wir, die Starken, sind verpflichtet,                        
die Schwächen von denen mitzutragen,
die nicht so stark sind.
Es geht ja nicht darum,
was uns gefällt.
Vielmehr soll jeder von uns so handeln,
wie es seinem Mitmenschen gefällt.

…wir sollen die Hoffnung nicht aufgeben.
Dabei helfen uns die Ausdauer und die Ermutigung,
wie wir sie aus den
Heiligen Schriften gewinnen können.
Diese Ausdauer und diese Ermutigung kommt von Gott.

Daher bitte ich euch:
Nehmt einander an,
so wie
Christus euch angenommen hat,
damit die
Herrlichkeit Gottes noch größer wird.
Denn das sage ich:
Weil Gottes Zusage wahrhaftig gilt,
trat
Christus in den Dienst der Beschneidung.
[d.h. der Jude Jesus orientierte sich an den Gesetzen der Tora]
So wollte Gott das einlösen,
was er den
Stammvätern[ Abraham, Isaak und Jakob]
versprochen hat.
9Aber auch die
Heiden haben allen Grund,
Gott für sein Erbarmen zu loben.
[d.h. die Menschen aus den Völkern,
die nicht an den Gott von
Israel glauben.]
Denn in der Heiligen Schrift steht:
"Darum will ich dir danken unter den
Heiden
Deinen Namen will ich preisen mit einem Lied."

Unbekannte Gesichter                                                         
fremde Sprachen
seltsame Sitten
Mittendrin
CHRISTUS
Im Gewirr der unbekannten Laute
sein Name
in der Melodie anderer Sprachen
Gottes Lob
in den Gesten fremder Menschen
seine Liebe    
(Gottfried Heinzmann)

Liebe Gemeinde
Skepsis, Befremden Konflikte, Gräben, Spaltungen, Auseinandersetzungen, Aversionen,  das sind keine Phänomene unserer heutigen Zeit in einer globalisierten Welt, in einer multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft.
Der Apostel Paulus war intensiv damit befasst
Konflikte und Streitereien zu schlichten, zu vermitteln,
um für gegenseitigen Verständnis zu werben, Ausgleich zu schaffen,
um Frieden zu stiften, zur Solidarität aufzufordern
und die Einheit der Christengemeinden zu stärken.
Wo er nicht selbst war oder noch nicht war, wie in Rom,
bei den dortigen Glaubensgenossen,
mit ihrer ganz unterschiedlicher religiöser und sozialer Prägung,
von deren Unstimmigkeiten und Verständigungsschwierigkeiten er aber gehört hatte,
da versuchte er schriftlich Einfluss zu nehmen,  mit eindringlichen Worten, wie eben im Brief an die Römer.

Die Schar der Christusgläubigen in Rom lebte in den ungesünderen, dicht besiedelten Stadtteilen Roms - bis auf wenige Ausnahmen, in recht ärmlichen Verhältnissen.
Da war sich schon immer wieder jeder selbst der Nächste, wenn‘s um die Existenz, ums Überleben, ums tägliche Brot  ging.
Das verhinderte, dass sich alle einander annahmen.  

Und noch etwas Zweites bot Stoff für Konflikte.
In den besagten Vierteln dieser Metropole lebten Christusgläubige mit jüdischem Hintergrund und Christusgläubige, die einen anderen kulturellen oder religiösen Hintergrund hatten.
In der Sprache des Paulus Heidenchristen.
Und Paulus wurde nicht müde immer wieder zu betonen:
Alle sind von Gott angenommen,
diese Zusage Gottes gilt wahrhaftig – für alle.
Deshalb bittet er so eindringlich darum
Nehmt einander an,
so wie
Christus euch angenommen hat,
damit die
Herrlichkeit Gottes noch größer wird.

Das ist eine eindringliche Aufforderung des Apostels
religiöse, soziale und kultureller Entfremdung und gesellschaftlicher Spaltung
zu überwinden.

Da wo es in einer Gesellschaft bunter zugeht, kapseln sich Menschen – zunächst – voneinander ab und ziehen sich wie eine Schildkröte in ihren Panzer zurück.
Ein Verharren im Panzer ist für keinen förderlich – im Gegenteil.
So entstehen Isolation, Parallelwelten und Beziehungslosigkeit.
Warum verharren Menschen dort, unter diesem Panzer?
Warum fühlen sie sich zurückgesetzt, vergessen, aufgegeben oder bedroht?
Wovon sind sie enttäuscht?
Ich denke: Das sollte uns interessieren, danach müssten wir fragen. 
bei jenen,  die gegen Überfremdung und Islamisierung aufmarschieren
bei jenen, die sich mit dem Makel Migrationshintergrund als die ewigen Verlierer erleben und daher in radikale Systeme flüchten.
Diffamierung in beide Richtungen, führt zu mehr Isolation und Radikalisierung.

Nehmt einander an,
das ist ein leidenschaftlicher Aufruf, der besagt:
geht aufeinander zu, trefft euch, erzählt euch, fragt euch
was ihr denkt und glaubt und warum,
fragt euch, wie es euch geht, was euch befremdet und was ihr nicht versteht,
und sagt euch womit ihr nicht klar kommt,
was ihr euch wünscht voneinander, was ihr erwartet.
Findet heraus was euch trennt und eint.

Verharren wir in der Angst, in der Sorge in der Furcht,
fühlen sich die, die Furcht säen wollen, lateinisch: „Terror“ als Gewinner.

Bleiben wir bei uns selbst, skeptisch, ängstlich, mutmaßend, verdächtigend
und  denken Islam ist Islamismus, ist Salafismus und Islamischer Staat, so treiben wir selbst die Radikalisierung voran und zwar, gerade derer, die selbst von ihrer Religion keine Ahnung haben.
Die Jahreslosung für dieses Jahr hat eine Brisanz, die so nicht zu erwarten war. Sie trifft den Nerv. Sie ist eine Zeitansage.
Faszinierend, verlockend, spannend - eine echte Herausforderung.
Erst recht angesichts der Tatsache dass 57% der nicht muslimischen Bevölkerung in Deutschland den Islam für eher oder sehr bedrohlich halten, und angesichts von 63 Prozent, die keine Kontakte mit Muslimen haben.
Nehmt einander an! Darauf liegt eine wahrhafte Verheißung.
Das war spürbar in den Begegnungen und Gesprächen, die wir im vergangenen Jahr hatten, hier in der Kirche und in der Moschee hatten.
Auch die folgende Begegnung vermag von dieser Verheißung etwas anschaulich machen:
Ich sitze Hope (Name geändert) gegenüber
[erzählt eine Ehrenamtliche aus der Ini Asyl].
Ihr Baby hat sie an der Brust angelegt, ihr älterer Sohn spielt mit einem kleinen Spielzeugauto, das er durch den ganzen Saal chauffiert.
Wir befinden uns im Café International, es ist eigentlich kein Ort.
Das Café International ist eine Zeit – und eine Gelegenheit. Nämlich die, sich kennenzulernen sich zu begegnen, vielleicht jemanden zu treffen der die eigene Sprache spricht… .
Da ist ein großer Tisch voller Menschen aus Eritrea.
Dort sitzt etwas verloren ein Paar mit einem Kind aus Bosnien, am hinteren Tisch eine putzmuntere 11-köpfige Kinderschar mit  ihren Eltern aus Syrien.
Mein Mann sitzt an einem Tisch mit Afghanen.
Meine Tischnachbarin kommt aus Nigeria, sie strahlt mich an,
„I am so happy“! sagt sie
Endlich ist sie heil in Deutschland angekommen, nach der beschwerlichen Flucht über Land nach Libyen, dann auf einem Seelenverkäufer übers Mittelmeer.
Schwanger mit dem Baby, das jetzt an ihrer Brust liegt und friedlich nuckelt und mit ihrem kleinen Sohn, der wohl kaum lange Strecken laufen konnte. 
Wie wird sich ihr Leben in Deutschland entwickeln?
Noch ist alles neu. Sie kennt sich nicht aus, ist fasziniert von dieser anderen Kultur und glücklich endlich angekommen zu sein.
Ja, und sie will Deutsch lernen, möglichst schnell.
Ich biete ihr an, einmal in der Woche vorbei zu kommen und sie zu unterrichten.
Sie strahlt mich an „Thank you - Danke schon“ sagt sie und lacht über das ungewohnte Wort.
„Bitte schön“ sage ich, „You’re  welcome“.
Nehmt einander an
so wie
Christus euch angenommen hat,
das hat Paulus seiner eindringlichen Bitte hinzugefügt
anders gesagt:
Nehmt einander an,
so wie Christus zu spüren gegeben hat:
„you are welcome“.


Jemanden anzunehmen,
unglaublich vielen Menschen das zu spüren zu geben,
sie es  erfahren lassen
und gerade den Geringsten, den Letzten zuzusagen,
you are welcome,
darin war Jesus Christus unübertreffbar, ja einzigartig.
Auch weil er nicht darauf schaute wie Menschen kulturell religiös geprägt waren.
Dafür hat er sein Leben gegeben
doch tot zu kriegen war er und seine Botschaft nicht.
 
Wer sich wirklich zutiefst angenommen fühlt,
vermag andere anzunehmen.
das heißt im Umkehrschluss aber auch:
Wer sich nicht angenommen fühlt
nimmt auch andere ungern an.
Das wissen wir – eigentlich - und müssen uns doch immer wieder
daran erinnern lassen,
als Christen, Eltern, Pädagogen Politiker,
Ärzte, Pfleger, Sozialarbeiter als Bürger und Bürgerin.

Paulus erinnert uns : 
Angenommen … das Leben
läuft anders, als gedacht.
Angenommen … es dominieren
die Schatten und die Ablehnung.
Angenommen … der Platz
an der Sonne bleibt leer, weil
der erste Schritt aufeinander zu
so unendlich schwer fällt.
Dann hat Christus bereits
den ersten Schritt getan.
Er hat sich nicht abgewandt.
Er hat angenommen.
Ohne wenn und aber.
(Dieter Braun)

Amen


 

Perikope
18.01.2015
15,7

Predigt zu Neujahr

Predigt zu Neujahr
15,7

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus.

Nehmet einander an, wie Christus Euch angenommen hat zu Gottes Lob.


Liebe Gemeinde,

Nehmet einander an - das hört sich gut an, ist ein lohnendes Ziel. Wenn alle es anstreben würden, nicht auf Abgrenzung bedacht wären und aufhörten, die anderen zu richten; wenn die Menschen es lernen würden, sich vor der Verschiedenheit nicht zu fürchten, sondern sich an ihr zu freuen – es wäre wohl eine andere, eine bessere Welt, friedlicher. Nehmet einander an…

Ob das aber möglich ist? Die anderen anzunehmen gelingt beileibe nicht immer; und schon diejenigen, die wir lieben, können uns an unsere Grenzen bringen. Über manche Gewohnheiten regt man sich selbst nach langen Jahren noch auf; und gerade wenn man sich nahe ist, kann es geschehen, dass man so tief enttäuscht wird, dass von Annehmen keine Rede sein kann. Da will man sich nur noch zurückziehen und den anderen erst mal nicht mehr sehen und hören.

Nehmet einander an…Schon den geliebten Menschen anzunehmen ist nicht immer leicht; geschweige denn Fremde. Je größer die Distanz zu anderen Menschen ist, desto konfliktträchtiger kann es werden. So viele Menschen sind um uns herum – manchen geht man aus dem Weg, wenn es nur irgend möglich ist; dann und wann wendet man sich mit guten Gründen für immer ab. Und hinzu kommt noch, dass manche Verhaltensweisen gar nicht akzeptiert werden dürfen, und man sich dagegenstellen muss. Wenn Schwäche ausgenutzt, zum Hass aufgestachelt wird; oder die Ellenbogen ausgefahren, die Menschenrechte missachtet werden – dann kann es nicht mehr um Annahme gehen, sondern dann muss gestritten werden für das Gerechte und gegen das Böse. Nicht nur die Akzeptanz, auch die Auseinandersetzung hat ihr Recht, zumal in einem demokratischen Gemeinwesen.

Ob der Apostel naiv war, nichts gewusst hat von den alltäglichen Konflikten des Zusammenlebens, als er so mahnend-werbend schrieb?

So war es bestimmt nicht, im Gegenteil. Paulus hat in zahlreichen Konflikten gestanden; schon in den Gemeinden der ersten Christenheit gab es Gruppen, die einander fremd waren und meinten nicht miteinander auskommen zu können. Paulus hat sich immer wieder darum bemüht, trotz aller Verschiedenheit die Gemeinschaft zu erhalten, einander in versöhnter Verschiedenheit anzunehmen. Gerade in unseren Tagen, in denen Gegensätze oft unvermittelt aufeinanderprallen, lohnt es sich, auf den Apostel zu hören. In diesen Zeiten der Globalisierung sind die Entfernungen zwischen den Kontinenten kleiner geworden und es gibt keine fernen Inseln der Abgeschiedenheit mehr. Wir leben in der Einen Welt, in der es nicht länger möglich ist, sich zurückzulehnen und distanziert zuzuschauen, was anderswo geschieht. Nehmet einander an…wir hören die Mahnung am Beginn eines Jahres, in dem wiederum Flüchtlinge nach Deutschland kommen werden aus den Krisengebieten der Welt, in der Hoffnung auf Zuflucht und  die Perspektive auf ein besseres Leben. In unserer Stadt Dresden, aber nicht nur hier, fürchten manche, dass vertraute Formen des Zu-sammenlebens sich darüber verändern könnten; Menschen aus anderen Kulturen aufzunehmen erscheint als Zumutung, die Fremden als Bedrohung der eigenen Lebensweise.


Liebe Gemeinde,

aus christlicher Sicht müssen zwei Dinge unterschieden werden. Da ist die Frage, wie der Staat seine Einwanderungs- und Asylpolitik gestalten soll in einer Zeit weltweiter Wanderungsbewegungen, angesichts der furchtbaren Verbrechen des "Islamischen Staates" in Syrien und Irak und der Vertreibung der Christen. Darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein und über die konkreten Fragen muss gestritten werden. Über die Aufnahme von Flüchtlingen aber gibt es nichts zu streiten, dazu ist der Staat verpflichtet. Wer anderes sagt, stellt sich gegen das Grundgesetz und mehr noch: der leugnet ein Gebot Christi und trifft auf den Widerstand der Kirche, die sei¬nen Namen trägt.

Das andere, für uns Christenmenschen und eine Gottesdienstgemeinde Entscheidende, ist das Liebesgebot Jesu – es gilt ausnahmslos allen Menschen, mit denen wir in unserem Land das Leben teilen. Wir begegnen ihnen im Geist der Nächsten-liebe und zuerst den Schwachen. Das Zeugnis der Heiligen Schrift ist völlig klar und gerade erst in den Gottesdiensten an Weihnachten haben wir wiederum gehört, dass die Heilige Familie vor Verfolgung flüchten musste und Aufnahme fand (Matthäus 2, 13ff).

Wie gut, dass sich in diesen Tagen Menschen um die Flüchtlinge in unserem Land bemühen; dass Freiwillig-Ehrenamtliche Patenschaften für Familien übernehmen, oder Asylbewerber in der Nachbarschaft willkommen heißen und ihnen helfen unser Land und unser Leben zu verstehen. Das sind Werke der Barmherzigkeit, die dem Vorbild Jesu folgen. Er hat ja unmissverständlich gesagt, dass wir in den Schwachen, den Geringsten ihm selbst begegnen (Matthäus 25, 43.45). Daran hat sich schon der Apostel Paulus in den Konflikten orientiert, die ihn beschäftigten, und darum hat er gemahnt: Nehmet einander an, wie Christus Euch angenommen hat Paulus argumentiert: Weil Christus für Euch das Entscheidende getan, darum han-delt wie Er. Der Apostel spricht die Mitte, das Zentrum des Glaubens an: Christus hat uns angenommen, sich buchstäblich in uns hineinversetzt und mehr noch, er hat un¬ser Leben geteilt; ist ein Mensch geworden, wie wir es sind, und hat uns so den Weg zu Gott eröffnet. Er ist auf Erden kommen arm, dass er unser sich erbarm, haben wir soeben aus dem Weihnachtsoratorium gehört. Also, sagt Paulus, nehmt um Gottes willen den Impuls auf, der mit Christus in die Welt gekommen ist! Seht auf Ihn und ergreift die Hoffnung, die Er stiftet, damit es gut werden kann und das Leben gelingt!

Martin Luther hat Gott einmal als einen "Backofen voller Liebe zu uns" beschrieben. Das ist ein wunderbares Bild: Die Wärme strahlt aus, erfüllt den Raum und kann das Eis von unseren Herzen wegtauen. Wir werden geliebt und geben weiter, was wir empfangen haben. Liebe ist die Grundlage für das Zusammenleben – wo auch immer wir das Leben mit anderen teilen. Schon das Familienleben fordert die Bereitschaft heraus, sich in den anderen hineinzuversetzen und ihn zu verstehen. Nicht leichter wird es, wenn es um Mitmenschen am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft geht; und zu einer Herausforderung kann die Begegnung mit Fremdem und Unverständlichem werden. Flüchtlinge aus Syrien sollen in der leerstehenden Schule im Wohngebiet einziehen: fremde Menschen mit einer fremden Religion, fremder Kleidung, fremden Gewohnheiten. Ob es gelingt, Befürchtungen zu überwinden, Verständnis für ihre Not und die Fluchtgründe aufzubringen, willkommen zu sagen? Ob es gelingt, soweit es an uns ist, sie anzunehmen?

Liebe Gemeinde,

wir vertrauen auf den, der uns angenommen hat: Jesus Christus. Er wird uns helfen gegen Ängste und Vorbehalte und in seinem Geist Brücken zu bauen. Als es in einer sächsischen Kleinstadt kürzlich zu Konflikten um ein neu errichtetes Asylbewerberheim kam, versuchten Christen zu vermitteln. Sie ließen sich leiten von Christus, der die Menschen geliebt hat bis an das Kreuz. Die Vermittlungsversuche in seinem Zeichen waren erfolgreich und es zog wieder Frieden ein in der kleinen Stadt.

Einander anzunehmen ist nicht leicht. Aber im Hören auf Gottes Wort, um Christi willen wird es möglich. Nehmet einander an, wie Christus Euch angenommen hat zu Gottes Lob.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Perikope
01.01.2015
15,7

Entdeckerfreude -Predigt zu Römer 15,7 von Claudia Krüger

Entdeckerfreude -Predigt zu Römer 15,7 von Claudia Krüger
15,7

Entdeckerfreude

„Nehmt einander an wie Christus euch angenommen hat zur Ehre Gottes.“

„Alle sind weg, keiner hat für mich Zeit,  und aussehen tu´ ich schrecklich, schau´ mich mal an! Am Ende werde ich noch ein MOF!“ Sie erntete für diese Klage nichts als Heiterkeit und musste dann selbst mitlachen, denn dieses aufgeweckte hübsche kontaktfreudige junge Mädchen wird niemals Gefahr laufen, ein „MOF“ zu werden.  Es ist schon einige Jahre her, seit ich diesen schrecklichen Begriff zum ersten Mal von meiner Tochter gehört habe: „MOF!“ Das bedeutet nichts anderes als „Mensch ohne Freunde.“

Und die gibt es ja leider häufig. Ganz schnell wird da jemand in der Schulklasse zum Außenseiter, mit dem keiner sich abgibt und erst recht keiner sich in der Freizeit verabreden will. Einen Grund für unser ausgrenzendes Verhalten finden wir schnell - sei es das Aussehen, sei es die vermeintliche Eitelkeit oder die fremde Herkunft – ganz schnell wird jemand ins Abseits befördert, denn viel rascher finden wir an Menschen etwas Negatives, als dass wir liebevoll nach dem Liebenswerten unseres Gegenübers forschten!

Auch hier in unserer Gemeinschaft im Pflegeheim (in der Gemeinde) gibt es Menschen, die überaus beliebt sind, die man wertschätzt, mit denen man gerne am Tisch sitzt und sich angeregt unterhält. Und es gibt andere, die man lieber meidet – aus vielerlei Gründen, meistens jedoch ganz banalen.

Lebt ein Mensch gar mit Behinderungen, so ist es, wie ich jüngst der Zeitung entnommen habe, immer noch die Regel, dass Betriebe sich von der Verpflichtung freikaufen, ihnen einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen, der ihnen von Rechts wegen zusteht.

Auch in der Gemeinde in Rom war es nicht anders. Streit gab es dort, der sich an harmlosen Fragen entzündet hatte. Darf man aufgrund der Speisevorschriften ein bestimmtes Fleisch essen oder nicht? Darf man Wein trinken oder nicht, oder muss man bestimmte Festtage einhalten? „Streitet nicht über Meinungen!“, mahnt der Apostel seine Gemeinde. „Lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander.“ Denn es geht doch um viel wesentlichere Dinge, nämlich um das, was Gott selbst wichtig ist und das Handeln der Menschen bestimmen soll: „Im Reich Gottes zählt nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im dem Heiligen Geist.“

Und so mahnt er im Blick auf das angemessene Verhalten der Menschen in der Gemeinde, sie sollten das Unvermögen der Anderen mittragen und nicht Gefallen an sich selbst haben, vielmehr: „Jeder (und jede) von uns lebe so, dass er seinem Nächsten gefalle zum Guten und zur Erbauung.“

 „Denn auch Christus hatte nicht Gefallen an sich selbst“, sondern er hat Demütigungen auf sich genommen. Ihm gemäß sollen die Menschen leben, wozu uns Gott Geduld und Trost geben möge, zum Lobe Gottes.

„Darum nehmt einander an wie Christus euch angenommen hat zur Ehre Gottes.“

Schauen wir uns einmal vorsichtig um, dann fällt uns das gar nicht so leicht, wenn wir ehrlich sind. Schon die Wahl des Sitzplatzes verrät ja mitunter viel über unsere Sympathie oder Antipathie. Manch eine würden wir gerne zum Kaffee einladen und finden stets ein freundliches Wort und einen wertschätzenden Blick,  mit anderen aber wollen wir eigentlich nichts zu tun haben. Zu fremd, zu eingebildet, zu merkwürdig, zu schwach, zu unangenehm, zu…- erschreckend, wie viele Gründe wir sofort finden!

Nein, es ist nicht so einfach, eine wertschätzende tolerante Gemeinschaft zu leben, auch nicht in der Gemeinschaft der Christen!

Und auch in der eigenen Familie fällt das mitunter schwer, denken wir nur an die Spannungen zurück, die sich in den meisten Familien um die Weihnachtstage verdichten. Familie pur, mit all den mehr oder weniger erfreulichen Eigenschaften und Verhaltensweisen, die die Versammelten so mit sich bringen: Ecken und Kanten, Schrulliges und Exzentrisches, Langweiliges aber Gottseidank auch enorm Liebenswertes, Geduld, Großzügigkeit, Humor, Versöhnliches, Charmantes und Verbindendes.

Die Jahreslosung für dieses neue Jahr ist in meinen Augen eine enorme Herausforderung an unsere Toleranz und unsere Menschenliebe. Sie fordert uns heraus, die Augen füreinander zu öffnen, ohne dass uns ständig unsere Vorurteile in den Blick geraten. Sie will uns dazu herausfordern, mit hell wachem Verstand nach dem Willen unseres Gottes zu fragen.

Und der ist hier ja verblüffend eindeutig!

Liebe Gemeinde, das neue Jahr könnte ein Jahr des unermüdlichen Einübens von Toleranz und Großzügigkeit werden!

Nun heißt das freilich nicht, dass wir duldsam alles ertragen und widerspruchslos hinnehmen sollen, oder womöglich Unrecht ertragen müssten. Da gilt es weiterhin vehement zu widersprechen und dem Unrecht zu wehren.

Aber den Menschen als Menschen sollen wir annehmen und als geliebtes Geschöpf Gottes, als Ebenbild Gottes erkennen, „zur Ehre Gottes“. Denn hinter der Ehre Gottes, der Doxa, die wir einem Menschen entgegenbringen sollten, verbirgt sich ja auch die Herrlichkeit Gottes, von deren Glanz der Mensch wiederum ein Bild und Abglanz ist.

Christus, der Gottessohn, war sich nicht zu schade, auf seine Hoheit zu verzichten, ja, er kam ganz herab in unsere irdische, allzu irdische Welt. Er wurde Mensch, uns Menschen zugute- die ärmliche Krippe im Stall wurde zum Zeichen seiner Gottheit. Mit äußerster Hingabe und Liebe wandte er sich den Menschen zu, kam zu uns bis auf Augenhöhe von Hirten und kleinen Frauen.

Auch dem erwachsenen Christus war keiner je zu gering, zu eigensinnig, zu unwürdig, bei keinem gab er jemals die Hoffnung auf.

Er suchte den skrupellosen Betrüger auf und setzte sich zu ihm an seinen Tisch. Er gab ihm Würde zurück und die Fähigkeit, seine Fehler zu erkennen und einen neuen ehrlichen Weg einzuschlagen.

Er liebte die schwarzen Schafe und auch die schrägen Vögel, die Engstirnigen und die Anstrengenden.  Bei den Trauernden war er zu Gast und tröstete sie.

Dem Petrus, dem Fels, der sich hoffnungslos in seiner Treue überschätzt hatte, gab er einen neuen verantwortungsvollen Auftrag: „Weide meine Schafe!“

Den Besessenen und Kranken brachte er Heilung, den Verlorenen ging er so lange nach mit äußerster Hingabe, bis sie in seinen Armen Geborgenheit fanden und aus dieser Geborgenheit heraus wieder frei und hoffnungsvoll leben konnten.

Christus ging in seiner Hingabe bis zum Äußersten. Auf dass wir Menschen niemals verloren gehen und auch die letzte Finsternis nicht ohne Licht bleibt.

Liebe Gemeinde,

je mehr wir uns selbst als Geschöpfe Gottes erfahren, voller Würde und unendlich geliebt, umso mehr können wir unsere eigenen Begabungen entdecken und entfalten.

Und umso mehr können wir auch anderen Menschen mit Liebe und Wertschätzung begegnen und uns erfreuen an ihren vielfältigen Begabungen und liebenswerten Eigenwilligkeiten.

Vielleicht können wir uns sogar als die Gemeinschaft der von Gott Geliebten und Tolerierten, ja manchmal auch mühsam von Gott Ertragenen erkennen!

Wer sich wirklich zutiefst geliebt fühlt, der braucht sich nicht in großem Geltungsbedürfnis permanent hervor tun und muss auch nicht immer im Lampenlicht stehen, sondern der-  oder diejenige strahlt aus sich selbst! Und wie! Wahre Größe muss sich nicht krampfhaft recken und strecken, sondern erweist sich einfach als großartig und übrigens auch als großzügig!

Früher war ich häufig mit meiner Familie zum Wandern unterwegs. Gelegentlich entdeckten wir wunderbare Versteinerungen dort oben in der kargen Gegend der Schwäbischen Alb, inmitten von grau-beigen Steinen. Mit der Zeit wurde der Blick schärfer, so dass wir immer mehr dieser faszinierenden Fossilien entdeckten: Kleine Schnecken der Vorzeit, versteinerte Seeigel, Haifischzähne. Und wenn man besonders geduldig suchte, dann fand man mitunter einen zunächst unscheinbaren Stein, der sich aber beim Umdrehen glänzend präsentierte – eine Steindruse, deren Inneres nur so glitzerte und funkelte. Hielt man sie ans Licht, so entfaltete sie eine einzigartige Schönheit.

So muss auch mancher Zeitgenosse behutsam entdeckt werden und zeigt vielleicht erst einmal nur ein graues Gesicht. Wird er oder sie aber nicht achtlos weggekickt, sondern ganz geduldig mit Liebe gehalten, so kann er oder sie mit einem Mal eine unglaubliche Schönheit entwickeln.

Erst vor kurzem habe ich in einer Radiosendung zur Hirnforschung erfahren, dass bei einem anderen Menschen Endorphine ausgeschüttet werden, wenn man ihm mit Lächeln und Freundlichkeit begegnet.

Solch liebevolles Entdecken des anderen Menschen, mit großer Neugier, Ausdauer, Idealismus und Entdeckerfreude, gibt Gott, dem Schöpfer allen Lebens die Ehre!

Nicht nur die Prachtvollen, Intelligentesten und Schönsten dieser Zeit sind von Gott geliebt, sondern auch und gerade die, die sich erst unter einem zweiten liebevollen Blick in ihrer Schönheit entfalten. Dann aber wird möglich, was Eugen Drewermann einmal als das Wichtigste im Leben bezeichnet hat:

Es ist das Wichtigste, was wir im Leben lernen können:
Das eigene Wesen zu finden und ihm treu zu bleiben.
Allein darauf kommt es an,
und nur auf diese Weise dienen wir Gott ganz:
dass wir begreifen, wer wir selber sind,
und den Mut gewinnen, uns selber zu leben.
Denn es gibt Melodien,
es gibt Worte, es gibt Bilder, es gibt Gesänge,
die nur in uns, in unserer Seele schlummern,
und es bildet die zentrale Aufgabe unseres Lebens,
sie auszusagen und auszusingen.
Einzig zu diesem Zwecke sind wir gemacht,
und keine Aufgabe ist wichtiger, als herauszufinden,
welch ein Reichtum in uns liegt.
Erst dann wird unser Herz ganz,
erst dann wird unsere Seele weit,
erst dann wird unser Denken stark.
Und erst mit allen Kräften, die in uns angelegt sind,
dienen und preisen wir unseren Schöpfer,
wie er es verdient.    

Vielleicht könnten wir unsere Verschiedenheit als große Bereicherung erfahren, wie das ja auch in zahlreichen Bildern zur Jahreslosung zum Ausdruck kommt.

So hat die Künstlerin, Stefanie Bahlinger, das Motiv eines bunten Flickenteppichs gewählt. Ganz unterschiedliche kleine Flicken sind da großzügig aneinander genäht – Schriften in unterschiedlichen Sprachen neben Melodien und unzähligen bunten Farben und fantasievollen Mustern. Sie alle zusammen bilden ein großes wunderbares Kunstwerk.

Auf einem anderen Bild fassen sich die unterschiedlichsten Menschen an den Händen und betrachten gemeinsam einen strahlenden rot und gelb leuchtenden Horizont.

  „Darum nehmt einander an wie Christus euch angenommen hat zur Ehre Gottes.“

Würden wir also in der Vielfalt der Menschen die Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen erkennen und würden wir uns darüber von Herzen freuen, dann würde das

wahrhaftig Gott zur Ehre gereichen!

Das wäre das überschwänglichste Lob, das wir ihm entgegenbringen könnten!

Dem, dem wir doch in Wirklichkeit alles zu verdanken haben, auch unser eigenes Dasein und Sosein.

Wenn alle das übten, ein ganzes Jahr lang und darüber hinaus, mit unermüdlichem Fleiß und Idealismus, dann sähe die Welt im neuen Jahr freundlicher aus!

Übrigens: wir müssen es ja nicht allein aus unserer eigenen Kraft schaffen, sondern dürfen uns inspirieren lassen vom Heiligen Geist, der uns umweht und begleitet und uns mitunter auch kräftig vorantreiben kann!

So möchte ich Ihnen zuletzt und zu diesem neuen Jahr noch einen Anstoß mitgeben, den „Anstoß zum Frieden“ von Hanns Dieter Hüsch:

ANSTOSS ZUM FRIEDEN
Stellt die Meinungen ein
Dass die Liebe gedeiht
Lasst die Liebe blühen
Dass der Frieden wächst
Lasst den Frieden in Euer Herz
Dass die Menschen erlöster aussehen
Befreit den Menschen
Damit er von den Ansichten lässt
Und die Meinungen einstellt
Und sagen kann
Ich bin für Dich
Und nicht gegen Dich
Ich bin mit Dir
Und nicht vor Dir oder nach Dir
Ich bin neben Dir und nicht über Dir
Ich bin bei Dir
Auch wenn Du gegen mich bist
Lasst uns Gottes versammelte Großzügigkeiten werden
Und seine Artisten sein
Die Welt überwinden
Nicht mit Leichtigkeit gewiss
Aber mit Zuversicht
Geduld und Freundlichkeit
Lasst uns Nachsicht üben
Wo andere den Schlussstrich ziehen
Lasst uns spielerisch auftreten
Wo andere mit dem Fuß aufstampfen
Lasst uns Feinde in Freunde verwandeln

Viele sagen
Das sei ihnen unmöglich
Andre sagen
Das entspräche nicht ihrem gesunden Menschenverstand
Es kann auch nicht unserem Verstande entsprechen
Es kann nur der Liebe Gottes entsprungen sein
Und ist ein Geschenk außerhalb unserer Reichweite,
Außerhalb der Geschichte
Öffnen wir unsere Augen und unsere Herzen und
nehmen wir endlich das Geschenk an
Es ist dies unsere einzige Chance Weltfrieden zu machen
und allen Menschen ein Wohlgefallen zu bereiten

Amen.

 

Perikope
01.01.2015
15,7

Predigt zu Römer 15,7 von Winfried Klotz

Predigt zu Römer 15,7 von Winfried Klotz
15,7

Der Apostel Paulus schreibt an die Gemeinde in Rom:

„(Darum) Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.“

Liebe Gemeinde!

Einfach und klar ist die Botschaft der Jahreslosung 2015, aber wer ein wenig Lebens- und Gemeindeerfahrung hat, weiß, wie groß die Aufgabe ist, zu der sie auffordert.

Nehmt einander an! Mit ein wenig Liebe, so meinen manche, ist das doch kein Problem. Man muss sich einfach einen Ruck geben und auf den anderen zugehen und schon ist die nötige Einheit hergestellt. – Schön, wenn‘s so einfach ist! Meistens ist es mit der Einheit zwischen Christen und Gemeinden schwieriger.

Um es im Bild zu sagen: Wir spielen jeder sein Instrument in einem großen Orchester, wir spielen nicht immer schön, aber was weit schwieriger ist, wir spielen oft ohne auf den Klang und die Melodie der anderen Instrumente zu hören. Wir halten unsere Melodie und unser Instrument für das wirklich wichtige und bestimmen den Gesamtklang danach. Wenn unser Spiel schön klingt, dann muss das doch gut und richtig sein! Der Dirigent am Pult mag wedeln wie er will, ich halte mich nach meinem persönlichen Geschmack. Und meine Noten habe ich so umgeschrieben, wie ich sie spielen will und kann.

Es kann natürlich auch anders sein: eine Gruppe, sagen wir mal die Blechbläser, haben sich zusammengetan unter dem Motto: Wir sind das Orchester! Nun spielen sie so laut und eigenwillig, dass kein anderes Instrument mehr zu hören ist.

Oder noch anders: Der Dirigent am Pult hat einen so langen Taktstock, dass er jedes Orchestermitglied damit erreichen kann. Er schlägt seinen Stab jedem um die Ohren, der nicht seinen Weisungen folgt. Ich weiß, hier nähere ich mich stark der Karikatur; aber gibt es nicht auch in der christlichen Gemeinde manchmal tyrannisches Verhalten eines Einzelnen?

Nun gut, ich brauche das Bild nicht weiter auszumalen; wer Phantasie hat, kann es ja gerne gemäß eigenen Erfahrungen gestalten und dann vergnügt oder grimmig betrachten.

Nun kann man natürlich auch sagen, das ist doch egal, wie jeder spielt. Jeder geht in sein Zimmer und spielt für sich allein, dann ist das alles kein Problem. Wir brauchen kein Orchester und kein gemeinsames Spiel. Wir sind eben Individualisten, für was ein Zusammenspiel und ein wohltuender Gesamtklang? Oder, um Klartext zu sprechen: Für was Gemeinde Jesu Christi und Gemeinschaft der Christen? Die Gemeinschaft der Heiligen, die wir im Glaubensbekenntnis bekennen, die kann ja dann im Himmel geschehen. Hier auf der Erde geht jeder seinen Weg, glaubt jeder wie er kann und will, schließt jeder sich mit denen zusammen, die ihm passen.

Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob, schreibt der Apostel Paulus. Es ist für ihn undenkbar, dass die, die durch Jesus Christus erlöst und Gottes Volk geworden sind, nun jeder seinen Weg geht. Es ist für ihn undenkbar, dass Christen ohne Gemeinschaft miteinander leben. Zentrum der christlichen Gemeinde ist doch das gemeinsame Lob Gottes! Diese fröhliche, manchmal auch klagende Hinwendung des Herzens zu Gott, in der wir bekennen: Du, Gott, bist mein Schöpfer, in Jesus Erlöser, im Heiligen Geist Lebendigmacher! Du hast uns und diese Welt in Deiner Hand. Dir vertrauen wir uns an. Wie kann da jeder seinen eigenen Weg gehen und für sich bleiben? Wie kann da einer gegen den anderen stehen, oder Gruppen in der Gemeinde für sich beanspruchen allein die rechte Gemeinde zu sein?

Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob. Zentrum der Gemeinschaft der Christen ist Gottes Lob. Jesus Christus hat uns dazu frei gemacht, indem er uns angenommen hat. Er ist Vorbild dafür, wie wir einander annehmen sollen, aber noch mehr: Jesus hat nicht nur mit Zöllner und Sündern gegessen und getrunken, er hat in seinem Sterben und Auferstehen die Brücke gebaut über den Abgrund von Sünde und Tod, so dass wir wirklich Gott loben und anbeten können. Deshalb: Nehmt einander an!

Die Christenheit, so scheint mir, hängt in weiten Teilen fest in ihrer Kirchlichkeit. Sie verwendet viel Zeit, Kraft und Geld auf die Erhaltung von Strukturen. Überkommenes muss fortgeschrieben werden, gesellschaftlicher Einfluss gesichert. Ach würde diese Christenheit doch beherzigen, dass ihr Zentrum Gottes Lob ist und wir dazu durch Jesus angenommen und frei gemacht sind! Meine Erfahrung ist: wir sind nicht nur zum Lob Gottes befreit, sondern Lob und Anbetung Gottes machen uns auch frei. Wir gewinnen den Weg in die Zukunft nicht durch Kreisen um uns selbst, so belastend manches sein mag, sondern gerade im gemeinsamen Lob Gottes werden wir frei gemacht für die nächsten Schritte. Ich wünsche mir Gemeinden und Christen, die sich nicht in eine Kirchlichkeit einengen lassen, sondern die den Mund aufmachen- zum Lob Gottes, weil ER uns in Jesus Christus angenommen hat. So geschieht doch Erneuerung der Kirche.

Nehmt einander an! Vielleicht meint jemand, damit ist ja alles in Butter! Kräftiges Singen und Beten löst alle Probleme. JEIN! das kommt auf die Haltung an. Nämlich ob mein Singen und Beten wirklich aus der Liebe zu Gott und meinen Nächsten kommt. Und ich nun auch die manchmal schwere Aufgabe annehme, den anzunehmen, der nach meinem Eindruck so anders, so schräg, so ärgerlich ist. Der nicht so ordentlich ist wie ich, oder auch schrecklich pedantisch. Der den Gottesdienst mit traditioneller Liturgie braucht, oder aber lieber ein spontaneres Singen und Beten. Der die Bibel nicht für ein unfehlbares Buch hält, oder auch umgekehrt, der überzeugt ist von der wortwörtlichen Eingebung der Hl. Schrift durch den Heiligen Geist und deshalb ihrer Irrtumslosigkeit. Was bedeutet es für unsere geistlichen Erkenntnisse, dass wir von Jesus Christus ergriffen und angenommen sind und deshalb in gleicher Weise Töchter und Söhne Gottes? Sind dann noch Grabenkriege und grundsätzliche Verurteilungen möglich?

Eine Regel scheint mir für das Annehmen untereinander grundlegend zu sein: Die, die sich in einer Position der Stärke befinden, haben die Aufgabe, die Schwachen in ihrem Unvermögen zu tragen. Es gibt in der christlichen Gemeinde kein Herrschaftsprinzip, weder der Mächtigere noch der Klügere noch der Glaubensstärkere hat Recht. Es gibt aber ein Dienstprinzip: Wer Macht hat, wer klug ist, wer einen starken Glauben hat, der diene damit dem Schwachen, Unvermögenden, Bedürftigen, Zweifelnden. Es gibt in der christlichen Gemeinde kein selbstgefälliges „Wir haben‘s“. Wer die Wahrheit Gottes, die Jesus Christus ist, erkannt hat, dessen Ausweis ist, dass er in Liebe diese Wahrheit bezeugt. Und das diese Liebe auch dazu bereit macht, für Jesus Christus zu leiden. Selbst wenn ich die Dinge wirklich richtig sehe und in der mir durch Christus geschenkten Freiheit gebrauche,- im Hintergrund unseres Wortes steht ja die Auseinandersetzung zwischen Juden – und Heidenchristen darüber, was Christen erlaubt ist zu essen und welche Feiertage sie halten müssen, - bin ich nicht dazu berechtigt den, der die Dinge eng sieht, fertig zu machen. Und umgekehrt ist es mir nicht erlaubt, dem die Gemeinschaft aufzukündigen, der aus dem Vertrauen auf Jesus Christus sich nicht nach meinen Regeln verhält. Nehmt einander an, d. h. billigt dem anderen zu, dass auch er zu Jesus Christus gehört. Was und wo Gemeinde Jesu Christi ist entscheidet sich nur daran, ob sie glaubt und in Liebe bezeugt, dass Jesus Christus ihr Herr ist.

Zum Schluss: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.“ Es sind manchmal gar nicht die großen Streitfragen, sondern die kleinen alltäglichen Ärgernisse, die die Einheit belasten. Da hat einer immer recht, da trödelt einer immer rum, da ist einer, der sich nicht an Absprachen hält, ein anderer schwätzt gerne hinten rum…

Ob wir es schaffen, liebevoll einander zu korrigieren? Ob wir bereit sind Ermahnung anzunehmen? Haben wir die Größe die Schwester, den Bruder um Vergebung zu bitten? Daran hängt viel, auch das gemeinsame, ungehinderte Lob Gottes. Amen.

Perikope
01.01.2015
15,7

Predigt zu Römer 15,7 von Rainer Kopisch

Predigt zu Römer 15,7 von Rainer Kopisch
15,7

"Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob."

Damit haben wir, liebe Gemeinde, den Wahlspruch des kommenden Jahres.
Es ist nicht unsere Wahl sondern eine Wahl der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen. Sie hat in einem geordneten Diskussionsprozess jeweils zwei Textvorschläge der 24 Mitgliedsorganisationen bedacht und dann am Ende aus zwei Texten einen mit Mehrheit zur Jahreslosung gewählt.

Wir wollen diese Wahl auf die Botschaft hin prüfen, die bei uns ankommt.

Nehmt einander an!
Paulus hat das im Schlussteil seines Briefes an die Gemeinde in Rom geschrieben. Die Gemeinde in Rom bestand aus Judenchristen und Heidenchristen.
Paulus hat sich darin auch besonders an die Judenchristen gewandt, um sie zu bitten, von ihrem Bedürfnis nach besonderen Regeln aus der jüdischen Tradition für das Leben in der Gemeinde Abstand zu nehmen, da er diese nicht für so heilsnotwendig hielt, dass sie auch die Heidenchristen auferlegt werden müssten.
Als heilsnotwendig hat Paulus viel mehr angesehen, einander anzunehmen.
Für Paulus ist das eine natürliche selbstverständliche Umsetzung der Liebe Gottes zu uns  Menschen, wenn wir uns als die von Gott Geliebten erkennen.
Die Umsetzung dieser Erkenntnis in eigenes Tun wird uns allerdings nur gelingen, wenn wir uns zur Klarheit eines eigenen Willens und einer eigenen Verantwortung entscheiden.

wie Christus euch angenommen hat zum Lobe Gottes.

Sie werden jetzt wahrscheinlich stutzen und sich fragen: Weshalb betont er diesen Halbsatz so, dass die Aussage deutlich wird, Christus hat uns zum Lobe Gottes angenommen?
Ich sage ihnen gleich die Antwort.
Diese Aussage lässt Sie fühlen, dass hier mit Text etwas nicht stimmt.
Der Theologe Ernst Dietzfelbinger hat sich die Arbeit gemacht hat, unter die griechischen Worte des Neuen Testamentes jeweils die deutsche Übersetzung zu schreiben. Diese sogenannte Interlinearübersetzung ist Theologen beim Blick in den griechischen Urtext eine große Hilfe.
Seine wortwörtliche Übersetzung unseres Textes heißt:
Nehmt an einander, wie auch Christus angenommen hat euch zur Ehre Gottes.
So stehen die Worte nacheinander im griechischen Text.
Es wird ihnen auffallen, dass hier als Übersetzung eines griechischen Wortes Ehre statt Lob steht. Könnte als zutreffende Übersetzung noch etwas anderes stehen, was uns unmittelbar als sinnvoll einleuchtet?
Ein Blick in den „Kittel“, ein ausführliches, mehrbändiges Lexikon zum griechischen Neuen Testament, könnte uns helfen. Hier sind griechische Worte ihrer Bedeutung und ihrem Bedeutungswandel nach wissenschaftlich sorgfältig aufgeführt und übersetzt. Wir erhalten hier die Möglichkeit, eine der eigenen Meinung und Verantwortung entsprechende Übersetzung zu wählen.
Als Geschenk unserer Bemühungen finden wir einen Vorschlag zum Verständnis unserer Textstelle Römer 15,7: wie Gott (bzw Christus) jedes Glied der Kirche in seine volle Gemeinschaft aufgenommen hat, so bezieht einander ein in euren christlichen Lebenskreis ohne jeden Vorbehalt (der aus der Verschiedenheit religiöser Sitte entspringen könnte). Der Exeget und Übersetzer gibt uns damit einen wichtigen Hinweis darauf, was Paulus der Gemeinde in Rom schreiben wollte.
Das griechische Wort δόξα, das die Luther-Übersetzung mit Lob und Dietzfelbinger mit Ehre übersetzt, kann nach den Übersetzungsangeboten des Lexikons für das Wort, das Paulus gebraucht, auch die Bedeutung Glanz und Herrlichkeit im Zusammenhang mit Gott annehmen. Das entspricht auch dem Übersetzungsvorschlag des Lexikons in dem Sinne der Annahme in die volle Gemeinschaft Gottes. Wer wollte daran zweifeln, in Gottes Gemeinschaft Glanz und Herrlichkeit zu erleben.

Es gibt bei Matthäus im 17. Kapitel die Geschichte von der Verklärung Jesu. Da sehen drei auserwählte Jünger, Petrus, Jakobus und Johannes, Jesus in einem göttlichen Glanz:
Sein Angesicht leuchtete wie die Sonne und seine Kleider wurden weiß wie das Licht.
Eine lichte Wolke schwebt über allen und aus der Wolke ist eine Stimme zu hören:
„Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören.“

Wohlgemerkt, hier ist die Verklärung Jesu berichtet. Den anwesenden Jüngern ist der Glanz und die Herrlichkeit Gottes am irdischen Jesus gezeigt worden. In der Parallele zum Römertext zeigen sich die enge Beziehung Gottes zu Jesus und die Annahme der drei Jünger in die göttliche Gemeinschaft.

Ich übersetze also die Jahreslosung 2015 in anderen Worten:
Nehmt einander an,
wie Christus euch angenommen hat in den Glanz und die Herrlichkeit Gottes.

Ihnen wird sofort der Lobpreis aus dem Vater-unser-Gebet einfallen:
dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Sie werden auch spüren, dass jetzt diese Kraft in den Text der Losung gekommen ist.

Paulus stellt fest, dass Christus uns in das Reich Gottes aufgenommen hat. Er sagt damit, dass wir kraft dieser Annahme in das Reich Gottes, zu seiner Kraft und Herrlichkeit in Ewigkeit, auch Anteil an der Fülle der Liebe Gottes bekommen.
Diese Liebe Gottes geschieht mit einer unbeschreiblichen Barmherzigkeit und Freude. Sie wird nur denen erlebbar, die diese Liebe Gottes in ihr Leben hineinlassen.
Das Geheimnis der Erlebbarkeit ist, dass wir sie nur in der Stärke und Kraft erleben, in der wir sie selbst weitergeben. Die Freude an der Liebe entsteht durch das Gefühl ihres Fließens. Dies ist keine Theorie sondern die Beschreibung gelebter Wirklichkeit

Unser Wille zur Tat ist gefragt.
Es reicht nicht aus, wenn wir Menschen nur sagen: „Gott liebt dich.“ Wenn Menschen die Kraft der Liebe nicht an und durch uns erleben, werden sie unseren Worten nicht glauben.
Kennen sie erlebbare Zeichen der Liebe Gottes?
Es sind auch so kleine Zeichen wie das Geschenk eines Lächelns, ein vertrauensvoller Blick aus offenen Augen. Es sind die Zeichen des Anfangs.
Wir wissen, dass wir Liebe nur lernen können, wo Liebe zwischen den Menschen erlebbar ist. Bis wir in die Fülle der Liebe Gottes kommen, ist es oft ein lebenslanger Weg.

Unsere menschliche Natur kann uns mit fremden Menschen zusammenführen und uns so füreinander einnehmen lassen, dass wir in den Stand der Verliebtheit fallen. Dieser Zustand von Verliebtheit wird von Kennern der menschlichen Seele als ein Zustand von besonderer Wahrnehmung erkannt. Er geht einher mit einer eingeschränkten Wahrnehmung der Wirklichkeit, mit einem Bewusstseinszustand, der uns Menschen wie in den Himmel hebt, der uns selbst größte Schwierigkeiten als überwindlich erscheinen lässt. Wir verfügen über Energien wie kaum sonst im Leben. Unsere Selbsteinschätzung lässt uns über größere Kräfte verfügen, als wir sie uns sonst zutrauen.
Wenn wir uns dann sicher sind, dass wir für das Leben miteinander bestimmt sind, lässt dieser Zustand nach und wir haben die Aufgabe, mit- und aneinander zu lernen, wie tragfähige Liebe zwischen zwei Menschen im täglichen Leben aussieht.
Gott hat uns als Schöpfer so gedacht. Niemand kann behaupten, dass Gott kein einfallsreicher Schöpfer ist. In dieser Verliebtheit lernen wir die Natur der Liebe im Schnellverfahren kennen. Später werden wir im tägliche Miteinander nach und nach so viele Seiten der Liebe lernen können, dass Gott seine Freude an uns hat. Dabei kann uns die Erinnerung an das Gefühl verliebt zu sein eine große Hilfe werden.

Der Horizont unserer Jahreslosung reicht weit über die Grenzen von  Gemeinde oder Kirche hinaus. Er ist der Horizont der Liebe Gottes.

Es ist die Schöpfung Gottes, der seine Liebe gilt und zu der wir in Freiheit aufgerufen sind. Wir können eine große Trauer und Betroffenheit in unsere Gefühle bekommen, wenn wir den Zustand der Erde und der Welt, in der wir leben, wirklich sehen.

Die Frage, warum Gott das zulässt, ist die falsche Frage. Die richtige Frage ist, warum es Gott zulässt, dass wir Menschen die Schöpfung Gottes mitsamt der Erde ruinieren und warum er es zulässt, dass wir Menschen Elend und Kriege in der Welt zulassen.

Die Antwort ist, dass Gott uns Menschen die Freiheit gibt, unserer Verantwortung für diese Welt nachzukommen oder es zu unterlassen. Wenn wir es unterlassen, werden wir die Liebe Gottes nicht kennenlernen und einer Welt des Todes verfallen bleiben. Wenn wir uns aber zur Verantwortung entscheiden, läßt uns Gott mit dieser Verantwortung nicht allein. Er schenkt uns die Kraft seiner Liebe. Das Zeichen dieser Liebe sind die Freude, wenn wir sie in Taten umsetzen und die Freiheit, die wir den Menschen lassen, die unsere Hilfe annehmen.
In der Zeit um Weihnachten wird der Film „Der kleine Lord“ im Fernsehprogramm gezeigt. Wer wissen will, wie einander annehmen und Liebe im Miteinander der Menschen geschehen kann, kann es beim Ansehen dieses Films bis in die Gefühle hinein erleben.
Vor Weihnachten pflegt die Zeitschrift „Stern“ die Gewohnheit, eine Ausgabe thematisch auf Weihnachten auszurichten. In diesem Jahr war es das Thema Vergebung. Die Barmherzigkeit der Liebe Gottes ereignet sich da, wo Menschen denen vergeben, die an ihnen schuldig geworden sind. „Die Kraft der Vergebung“ ist der Sterntitel. Der Untertitel lautet: Sieben Menschen, sieben Geschichten: Wie gut es unseren Seelen tut, wenn wir anderen verzeihen.
Wir beten in der fünften Bitte des Vaterunsers: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“ Wir wissen um unsere Anfälligkeit, durch Lieblosigkeit aneinander schuldig zu werden. Dadurch entsteht ein Zustand, der uns voneinander trennt. Aus diesem Zustand führt nur Vergebung.
Gott ist uns in Christus damit in Vorleistung gegangen. Darauf macht uns die Jahreslosung aufmerksam.
Er hat uns in sein Reich angenommen und uns damit den Glanz und die Herrlichkeit eröffnet. Unsere Schuld schmilzt wie Schnee unter der warmen Sonne der barmherzigen Liebe Gottes. Das passiert nicht automatisch ohne uns. Es ereignet sich, wenn wir dies auch wollen, indem wir uns aktiv mit einem Ja in den Prozess des Annehmens begeben.
Nehmt einander an, wie auch Christus euch angenommen hat in den Glanz und die Herrlichkeit Gottes.

Wenn Sie sich 2015 vornehmen, mehr für die Liebe Gottes unter den Menschen zu tun, kann das liebevolle Annehmen von Menschen in Ihre Gemeinschaft ein Schwerpunkt werden.
Das ist ein steter Prozess einer wachsenden Gemeinschaft, deren Mitglieder wissen, was Gottes Liebe ist. Es bedarf andauernder Bemühungen, denn Liebe zeigt sich im Tun.

Bitternötig hat unsere Republik Ihre Bemühungen als Bürger und Bürgerinnen auch im Hinblick auf die fremden Menschen, die in unser Land kommen und Hilfe suchen.
Es gilt mitzureden gegen Fremdenfeindlichkeit und Lieblosigkeit unter uns Menschen.
 
Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat in den Glanz und die Herrlichkeit Gottes. Vielleicht ist meine Übersetzung der vollen Gemeinschaft mit Gott mit diesen Worten ein Zeichen von Verliebtheit in Gott, aber für mich ist die Gewissheit unbestritten, dass Christus uns das Reich Gottes eröffnet hat.
Ich wünsche ihnen einen schöpferischen und liebevollen Umgang mit der Jahreslosung 2015.

Amen



 

Perikope
01.01.2015
15,7

Predigt zu Römer 15,7 von Bert Hitzegrad

Predigt zu Römer 15,7 von Bert Hitzegrad
15,7

Liebe Gemeinde am ersten Tag des Neuen Jahres!

Wie sind Sie ins Neue Jahr gekommen? Sekt oder Selters, laut oder leise, Fernseher oder Freundeskreis? Die Mentalitäten und Bedürfnisse zum Jahreswechsel sind ja ganz unterschiedlich. Die einen möchten mit Paukenschlag und Raketendonner das letzte Jahr verabschieden, die anderen brauchen Ruhe, um vielleicht am Ende des Jahres doch noch ihren Frieden zu finden, Frieden mit einem Jahr, das oft friedlos und für manch einen auch freudlos daher kam. Brauchen Sie die strahlend bunten Raketen am Nachthimmel, die überschäumen vor Freude über ein neues Jahr – 2015? Oder ist die Freude eher verhalten bei Ihnen, weil alle Zukunft grau und trübe ist und jeder der 365 Tage noch farblos daher kommt? Haben Sie um 0.00 Uhr gleich ihre erste SMS im neuen Jahr verschickt? „Alles Gute für Euch im Neuen Jahr! Ich hoffe, wir sehen uns …!“ Oder vielleicht waren Sie gleich bei den Nachbarn! „Ein frohes Neues Jahr!“ Und dann wurde angestoßen auf das Jahr 2015. Gute Wünsche. Herzliche Umarmungen. Vertraute Menschen – wir sind gemeinsam unterwegs als Wanderer durch die Zeit … Oder haben Sie doch versucht zu schlafen? Um 22.00 Uhr ist es Zeit fürs Bett. Es ist ja doch eine Nacht wie jede andere. Und mit dem neuen Tag und dem neuen Jahr fängt ein altes Lied von vorne an …

Wie sind Sie ins Neue Jahr gekommen? Sind Sie „Typ Laut“ oder „Leise“, „Typ Euphorisch“ oder „Pessimistisch“? Diese Nacht und der erste Tag im Jahr offenbaren schon einige der Unterschiede, die uns ausmachen und bestimmen. Und wir wissen und wir ahnen, dass die Unterschiede noch weit größer sind als die Art und Weise, wie wir den Jahreswechsel begehen.

Jeder darf auf seine Weise feiern? Oder? Darf jeder auch auf seine Weise leben, glauben, denken, fühlen, beten?

Mit jedem Jahr legt sich ein weiterer Jahresring um unser Leben und schenkt ganz individuelle Erfahrungen, die uns trennen – aber sicherlich auch immer ein Stück verbinden. Das Jahr 2014 haben wir verlassen mit den Bildern von Dresden – den Demonstrationen gegen eine „Islamisierung des Abendlandes“.  Sechs Buchstaben mussten wir lernen, die für eine neue Intoleranz in unserem Land stehen, die latente Ängste von Bürgerinnen und Bürgern aussprechen und die selbst Angst machen – PEGIDA = „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“.  Demonstrationen wieder an einem Montagabend. Vor 25 Jahren hieß es: „Wir sind das Volk!“ Nun möchte dieses Volk für sich bleiben - Menschenmengen drängen sich im Osten wieder auf die Straßen: „Ich will einfach, dass Sachsen so bleibt wie es ist!“, sagte einer der Demonstranten in die Mikrophone der Journalisten. Die Motivation in der Masse mitzulaufen sind unterschiedlich, doch die Ängste vor dem Anderen, dem Fremden, dem Unbekannten scheint groß zu sein.

Ängste, die uns auch am Anfang eines neuen Jahres begleiten, weil Fremdes und Unbekanntes auf uns zu kommt. Schlucken wir sie mit einem Glas Sekt hinunter? Überdecken wir die Sorgen mit einem Feuerwerk der Hoffnung? Oder ziehen wir die Decke über den Kopf und vertrauen: Morgen wird alles besser?

Wie ein Ruf in die Ängste vor Überfremdung und in die Klagen, dass immer mehr und mehr Asylsuchende nach Deutschland kommen, klingen da die Worte der Jahreslosung 2015. Die Ermahnung an die Gemeinde in Rom vor 2000 Jahren hat nichts an Relevanz verloren: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.“ (Röm 15,7)

„Nehmt einander an“ heißt ja nicht, dass Unterschiede und Andersartigkeit geleugnet werden. Nein, vielmehr - sie werden wahrgenommen. Aber bis zum „Annehmen“ und Tolerieren ist da ein weiter Schritt. Sogar in der christlichen Gemeinde. Und die war zu Zeiten des Apostels nicht weniger bunt gemischt als heute. Es herrschten damals unterschiedliche Meinungen über die richtige Art und Weise als Christ zu leben. Die Konflikte kamen vor allem durch die unterschiedlichen Prägungen. Es gab diejenigen, die sich vom Judentum zum Christentum bekehrt hatten – so wie Paulus selbst. Und es gab die andere Gruppe, in Rom sicherlich eine weitaus größere, die ihre Wurzeln ganz woanders hatten. Kulte, Verehrungen, Religionen im römischen Staat. Wie lebte man nun den neuen, den christlichen Lebensstil? Galten die alten Gebote und Vorschriften des strengen Judentums? Oder gab es durch die neue Freiheit in Christus eine totale Liberalisierung? Die Frage nach Sekt oder Selters auch in der christlichen Gemeinde. Doch der je eigene Stil wurde nicht akzeptiert, sondern verurteilt, verhöhnt, verachtet … Dass das eine Gemeinschaft, sogar die „Gemeinde in Jesus Christus“  sprengen kann, ist offenkundig.  Paulus muss handeln, muss mahnen, muss warnen – und er muss erinnern. „Seid ihr nicht alle selbst von Gott angenommen?“ Das ist für ihn der fundamentale Grund für Toleranz und Akzeptanz - dass jeder und jede in der Gemeinde es schon selbst erfahren hat – von Christus angenommen zu sein. In der Taufe, die alle verbindet, ist dieses „Ja“ zu jedem und jeder gesprochen worden – egal welcher Herkunft, Hautfarbe oder mit wie viel Schuld und Scheitern. Gott hat die Schwachen aufgerichtet und den Starken die Hand zum Frieden gereicht. Also: Tut es wie er!

Und wie er es getan hat, zieht sich durch so viele Erzählungen des Neuen Testamentes, die für uns so wichtig, so elementar geworden sind. Menschen, die auf der Suche waren, so wie wir am Anfang eines neuen Jahres, wie so viele in diesem Land, die sich nach einem neuen Miteinander in unserer Gesellschaft sehnen. Menschen begegneten Jesus von Nazareth und sie wurden verändert. So wie der Mann auf dem Maulbeerbaum. Kinder lieben diese Geschichte, weil auch er klein von Statur war, aber nicht dumm, er wusste sich zu helfen. Auch in seinem Job wusste er das: als Zöllner nahm Zachäus mehr Geld als üblich und steckte den Überschuss in die eigene Tasche. Kein Wunder, dass er gemieden, wenig geachtet wurde. Und dann macht er sich lächerlich – klettert auf einen Baum, um diesen Jesus zu sehen. Und der lächelt, er verlacht nicht, er lächelt und lädt sich ein zu diesem Mann, den alle mieden. Er nimmt ihn an: klein und mies, verachtet und verhöhnt. Und bei diesem Besuch wird Zachäus ein anderer: Er bleibt Zöllner, aber er teilt und gibt zurück, was unrechtmäßig war. Der Arm Gottes, der einen Menschen umfängt, lässt seine Hände öffnen für andere … Annahme verändert.                      

Und Annahme schenkt Leben: Das erfährt die Frau, die sie zu ihm bringen. Eine Frau, beim Ehebruch ertappt. Nach den Regeln der jüdischen Religion ein klarer Fall: Hinrichtung durch Steinigung. Das ist kein Urteil von Menschen, das ist Gottesurteil. Und was sagt Jesus, der Gottessohn? Was sagt der, für den schon das Begehren eines anderen Partners Ehebruch ist …? Er greift nicht zum Stein und auch nicht zur Moralpredigt. Er setzt dort an, wo jeder Mensch verletzlich ist – bei der eigenen Schuld. Weil niemand ohne Schuld ist, ergreift auch keiner den Stein. Das Leben dieser Frau ist gerettet. Ihre Schuld ist offenkundig, doch sie erhält eine neue Chance. Die wird sie nutzen.

Menschen, die Jesus begegneten und von ihm geachtet, respektiert und angenommen wussten. Sie haben von ihm einen liebevollen, einen respektvollen Blick gelernt. Sollten sie nicht mit diesem Blick nun ihren Mitmenschen begegnen? Sollten Sie nicht die Chance nutzen, die sie selbst erhalten haben?

Mit Gottes „Ja“ zu uns hat Gott sich vorbehaltlos und liebevoll uns zugewendet. An unseren Fehler müssen wir nicht zerbrechen, unsere Schuld erdrückt uns nicht, unsere Ängste und Sorgen müssen wir nicht allein tragen. Wir sind angenommen, wir können uns selbst so annehmen wie wir sind. Wir dürfen den aufrechten Gang wagen, weil Gott uns aufrichtet und auf den Weg des Lebens führt. Wir dürfen es erleben. Sollten wir nicht allein deshalb schon den Anderen, den Fremden, den, der bei uns Zuflucht und neue Perspektiven sucht, mit diesem liebe- und respektvollen Blick begegnen – eine Chance für ein neues, ein besseres Leben?

Es gibt ja nicht nur PEGIDA und Dresden. Es gibt auch Köln und andere Städte, wo Menschen auf die Straße gehen für ein buntes, für ein vielfältiges und farbenfrohes Miteinander. Sie bilden Menschenketten, reichen einander die Hände und nehmen sich an und halten sich fest, weil nichts und niemand sie trennen soll. Es ist gut und wichtig, dass durch die Nachrichten auch diese Bilder laufen. Und sie machen auch weltweit deutlich, dass in Deutschland nicht wieder eine braune Mehrheit die Meinung bestimmt. Aber noch wichtiger sind die kleinen, die unspektakulären Aktionen. Da bilden sich runde Tische in den Kommunen und man überlegt miteinander wie man eine „Willkommenskultur“ schaffen kann. Hier meldet sich einer und bietet an, Asylbewerber auf ihren Gängen zu den Behörden zu begleiten. Eine pensionierte Lehrererin organisiert spontan einen Sprachkurs. Eine Kirchengemeinde öffnet am Sonnabend das Gemeindehaus für ein Internationales Café. In Rostock, das 1992 die hässliche Fratze der Ausländerfeindlichkeit zeigte und wo Flüchtlingsunterkünfte in Flammen aufgingen, gibt es einen „interkulturellen Garten“, den Rostocker und Flüchtlinge gemeinsam bearbeiten. Dort keimt viel an Hoffnung und Miteinander auf. In Köln wird ein „Willkommensfest“ gefeiert noch bevor das Heim, das weitere Flüchtlinge aufnehmen soll, fertiggestellt ist. Und im feinen Hamburg-Harvestehude führt eine Rechtsanwältin nicht eine Klage gegen die Stadt, weil ein Wohnheim direkt in die noble Gegend gesetzt wird, sondern sie gründet den Verein „Flüchtlingshilfe Harvestehude“. Und sie findet viele Mitstreiter. Es gibt sie, die Stimmen, die nicht skandieren „Ausländer raus“. Der Chor wird größer und lauter, der ruft: „Willkommen in Deutschland“.

Menschen rücken zusammen, versuchen zu verstehen und helfen ganz konkret. Und die, die dieses Willkommen erleben, spüren, dass sie angenommen werden, dass sie zur Ruhe kommen dürfen. Und irgendwann werden sie dann ganz angekommen sein nach Flucht und Vertreibung, nach Krieg und Gewalt.

Die Jahreslosung, die mahnenden Worte des Paulus sehen darin nicht nur reine Menschenliebe, sondern das geschieht auch zu Gottes Lob und Ehre. Ein Dreiklang also, der seinen Grundton von der Liebe Christus bekommt, der uns vorbehaltlos annimmt. Der zweite Ton bringt die Beziehung zu den Menschen, die mit mir unterwegs sind, zum Schwingen. Und schließlich öffnet sich der Klang zum Himmel und ehrt den, der die Menschen in seiner Vielfalt geschaffen hat. Für viele, die die neuen Töne des Willkommens anstimmen, wäre dieser Klang wohl eine Überfrachtung und Überforderung. Die praktische Hilfe, die sie leisten, leisten sie für die Menschen, für deren inneren und äußeren Frieden.  „Zu Gottes Lob“ ist eine Dimension, die da wenig hinein passt. Eher wird gefragt: „Warum lässt Gott das Elend zu? Warum müssen Familien ihre Heimat verlassen? Warum hält Gott nicht wenigsten schützend seine Hände über die Kindern – die können doch nichts dafür …?“

Doch Gott durchkreuzt diese Fragen – mit dem Kreuz und dem Tod seines eigenen Sohn. Er ist selbst an der Seite der Verfolgten, der Leidenden und Sterbenden. Er nimmt sie nicht nur an, die Menschen, die Unrecht erleiden, er nimmt ihr Schicksal auf sich, um neues Leben, neue Hoffnung, neue Perspektiven zu schenken. Mit ihm bricht schon ein Stück des Friedens an, nach dem wir uns und die ganze Welt sich sehnen.

Deshalb ist konkrete Hilfe für uns, die wir uns von Christus angenommen wissen, immer mehr als ein Zeichen der Mitmenschlichkeit. In jedem Hände reichen, in jeder Umarmung, in jeder Tat, in  jedem Wort, das sagt „Herrzlich willkommen!“ bricht dieser Friede an. Es ist Gottes Vision einer neuen Erde und eines neuen Himmels, wo keine Träne, kein Schmerz und kein Leid mehr sein wird. Wo es gelingt, diesen Frieden zu versprühen, sind wir der Zukunft ein Stück näher - und unserem Gott selbst. Denn wir stimmen seinen Lobgesang an, den Engelsvers, der uns von Weihnachten noch nachweht: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden …“

Dann wäre es auch keine große Überraschung, wenn wir in diesem neuen Jahr Gott tatsächlich begegneten, so wie wir es uns wünschen und beten und singen: „Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag …!“ (D. Bonhoeffer). Denn wir begegnen ihm im Angesicht des Mannes aus Syrien, der Frau aus dem Iran, der Familie aus Afghanistan. Und auch in der Nachbarschaft ist er zu finden – in der Familie, die von Hartz IV lebt und mit denen keiner Kontakt sucht in der Straße hat. Gott ist plötzlich ganz nahe, wo wir uns hinwenden und zuwenden, wo Leben gelingt und Chancen geschenkt werden.

Da liegen 365 Tage vor uns. Tage, an denen Leben gelingen kann, an denen Möglichkeiten offen stehen, an denen Gott uns begegnen will.

Wir haben das Jahr 2015 begrüßt – jeder auf seine Weise, laut oder leise, einsam oder gemeinsam. Und nun sind wir unterwegs als Weggefährten durch die Zeit. Und immer wieder neue, immer wieder andere werden sich dazugesellen, manche müssen wir zurücklassen. Deshalb betreten wir die unbekannten Wege des neuen Jahres nicht nur voll Freude, sondern auch mit Wehmut und Angst. Doch nicht die Funken der Raketen und der Knall der Böller wird uns diese Angst nehmen, sondern das Vertrauen, dass Gott selbst an unserer Seite ist. Und wir können anderen die Furcht abnehmen, wo wir ihnen mit Gottes Liebe begegnen. Der Dreiklang dieser Liebe hat ein längeres Echo als der Krach der Silvesternacht. Und in seiner Schönheit erklingt er schon wie im Himmel.

„Nehmt einander an“ – wir brauchen dieses starke Wort in einem Jahr, das zeigen wird, ob es gelingt, fremde Menschen in unserem Land anzunehmen und willkommen zu heißen. Oder ob wir die Mitmenschlichkeit einer ganzen Gesellschaft verlieren. Reichen Sie doch einander die Hände – hier und jetzt im Gottesdienst und fangen Sie damit an. Hier in der Kirche, hier in der Bankreihe mag es noch ganz einfach sein. Aber dann machen Sie weiter, auch draußen, in der Nachbarschaft, bei denen, die anderes sind, anders aussehen, anders leben, beten, glauben. Machen Sie es nicht nur heute, am ersten Tag des Jahres, sondern auch am zweiten und dritten, und im Sommer und im Herbst. Und dann verspreche ich Ihnen: Das wird ein gutes Jahr! Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus zum ewigen Leben. Amen.

Perikope
01.01.2015
15,7

Predigt zu Römer 11,25-32 von Luise Stribrny de Estrada

Predigt zu Römer 11,25-32 von Luise Stribrny de Estrada
11,25-32

Liebe Schwestern und liebe Brüder!

Heute ist Israelsonntag. Wenn ich „Israel“ höre, steigen verschiedene Assoziationen auf: Ich denke an die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern, die wir in den letzten Wochen erleben. Ein neuer Höhepunkt in dieser Auseinandersetzung um Land, auf dem beide Seiten einigermaßen sicher leben möchten. Unlösbar scheint diese Verstrickung der beiden Nachbarn, die sich immer wieder in Kriegen und Terroranschlägen Bahn bricht. Israel. Da ist die belastete Geschichte, die Deutschland und Israel miteinander teilen, die geprägt ist von der Verfolgung und Ermordung von sechs Millionen Juden in der Zeit des Nationalsozialismus. Fast 70 Jahre sind seitdem vergangen, diejenigen, die diese Zeit bewusst miterlebt haben, werden weniger. Aber es bleibt die Geschichte der Schuld, aus der eine Verantwortung für uns heute Lebende erwächst, der wir uns als Deutsche stellen müssen.

Israel, Gottes auserwähltes Volk, spielt im Ersten Testament, das wir das Alte nennen, die entscheidende Rolle – und ebenso im Zweiten, dem Neuen Testament. Oft wurden das Erste und das Zweite Testament einander gegenübergestellt und behauptet: Im Ersten würde Gott als rächender Gott geschildert, im Zweiten stelle Jesus Gott als liebenden und barmherzigen vor. Das Alte Testament sei durch das Neue überholt und überboten. Das Christentum habe das Judentum „modernisiert“ und weiterentwickelt, das Judentum sei auf einer primitiveren Stufe stehen geblieben. Warum existiert der jüdische Glaube überhaupt noch weiter, wird dann gefragt, wo es doch jetzt das Christentum gibt, das viel besser ist? Eigentlich müssten sich alle Juden zum christlichen Glauben bekehren!

Diese Frage beschäftigte auch den Apostel Paulus vor knapp 2.000 Jahren. Er selbst war als Jude geboren worden und zunächst ein glühender Verfechter seines Glaubens, dann aber war ihm Christus erschienen, und er hatte sich zu ihm bekehrt und taufen lassen. Paulus wundert sich, dass seine jüdischen Glaubensgeschwister es ihm nicht nachtun und Christen werden. Es macht ihm zu schaffen, dass es ihm nicht gelingt, sie für den neuen Glauben zu gewinnen. Er fragt sich: Warum existieren Juden und Christen nebeneinander? Warum bekehren sich nicht alle Juden zum Christentum?

Paulus ringt mit dieser Frage im Brief an die Gemeinde in Rom. Er findet eine Antwort, die er der Gemeinde in folgenden Worten beschreibt:

Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist; und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.«

Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.                                            (Römer 11,25-32)

Sehr deutlich wird, dass es Gott ist, der handelt. Er handelt an beiden, an Juden und Christen. In Bezug auf Israel gilt, dass Gott nichts zurücknimmt von dem, was er versprochen hat. Er hat Israel die Thora gegeben, er hat mit seinem Volk einen Bund geschlossen, er hat ihm verheißen, den Erlöser zu senden, den Messias. Israel bleibt erwählt, obwohl es das Evangelium von Jesus Christus nicht annimmt. Ganz Israel wird gerettet werden – nicht nur diejenigen, die sich zu Christus bekehren. Gott hat einen eigenen Weg mit den Juden, genauso wie er einen eigenen Weg mit den Christen hat. Das ist sein Geheimnis. Beide bleiben angewiesen auf Gottes Barmherzigkeit.

„Haltet euch nicht selbst für klug!“, schreibt Paulus den Christen ins Stammbuch. „Glaubt nicht, dass ihr den einzig richtigen Weg zu Gott gefunden habt. Gott ist größer als ihr denkt. Er lässt zu, dass es zwei verschiedene Wege gibt, um zu ihm zu kommen, zwei verschiedene Wege zum Reich Gottes, die nebeneinander bestehen, Judentum und Christentum.“ Paulus ermahnt uns damit, die Arroganz aufzugeben, die wir Christen so oft in der Vergangenheit den Juden gegenüber an den Tag gelegt haben. Wir wissen nicht besser als die Juden, wie man zu Gott kommt, wir haben ihnen nichts voraus. Wir wissen nur, dass Jesus Christus uns den Weg zu Gott zeigt.

Wie können wir die Beziehung zu den Juden umschreiben ohne uns einzubilden, wir seien ihnen überlegen? Paulus findet ein Bild, er vergleicht Juden und Christen mit einem Ölbaum: Der Ölbaum ist der jüdische Glaube, er ist fest verwurzelt in der Erde. Neben die natürlichen Zweige, die aus dem Ölbaum wachsen, werden andere Zweige eingepfropft, das sind die Christen. Sie nähren sich von der gleichen Wurzel wie die ersten Zweige und werden von ihr getragen. Damit macht Paulus deutlich, dass wir vom jüdischen Glauben leben und ohne ihn nicht existieren würden.

Wir leben vom jüdischen Glauben… Woran zeigt sich das? Die Hebräische Bibel ist unser Altes Testament. Alle Versuche von Splittergruppen, dieses Erste Testament für überholt zu erklären und über Bord zu werfen, hat die Kirche erfolgreich abgewendet. Es gehört ebenso wie das Neue Testament in unsere Bibel hinein. Wir glauben, wie die Juden an einen Gott. Alles, was Jesu über Gott, seinen Vater sagt, findet sich auch im jüdischen Glauben und in den jüdischen Schriften. Jesus akzentuiert neu, greift andere Aussagen über Gott auf als seine jüdischen Gesprächspartner, spitzt zu, aber er bleibt dabei im jüdischen Glauben beheimatet. Wir haben als Evangelium gehört, wie ein Schriftgelehrter Jesus nach dem höchsten Gebot fragt. Jesus antwortet ihm mit zwei Zitaten aus dem Ersten Testament: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften« (5. Mose 6,4-5). Und »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). Hier wird deutlich, wie sehr Jesus im Judentum verankert ist und nicht darüber hinausgeht. Er bleibt Jude bis zu seinem Tod und hat nicht vorgehabt, einen neuen Glauben zu gründen. Die ersten, die sich Christen nannten, gab es erst Jahre nach Jesus Tod, als deutlich wurde, dass nicht alle Juden Jesus als ihren Messias annehmen würden.

Jesus, der Messias. Damit sind wir beim Knackpunkt angelangt. An dieser Frage scheiden sich die Geister, hier werden sich Christen und Juden nicht einig. „Nein, Jesus kann nicht der Messias sein, auf den wir warten“, sagen die Juden. Er hat ja das Reich Gottes nicht aufgerichtet.“ „Doch“, erwidern die Christen, „in ihm und in seinem Tun ist das Reich Gottes schon aufgeschienen und Menschen haben erfahren, dass Blinde sehen und Lahme gehen. Wenn er einst wiederkommt, wird er die ganze Welt verändern, so dass alle es erleben.“

Es gibt dazu eine chassidische Geschichte:

Ein christlicher Priester und ein jüdischer Rabbi haben lange darüber gestritten, ob der Menschensohn schon gekommen sei. Da beendet der Rabbi die Diskussion, indem er dem Priester den Rücken zukehrt und aus dem Fenster schaut. „Warum redest du nicht weiter?“, fragt der Priester nach einer Weile. „Ich schaue in die Weite hinaus“, antwortet der Rabbi. „Warum?“ „Ich prüfe, ob der Messias schon gekommen ist, ob der Säugling gefahrlos mit der Giftschlange spielt (Jes.11,8), ob Wolf und Lamm sich liebevoll umarmen (Jes. 11,6; 65,25), ob die Schwerter zu Pflugscharen geschmiedet sind (Jes. 2,4), ob alle satt werden und niemand stirbt, bevor er die Hundert erreicht hat (Jes. 65,20-23).“

Recht hat der Rabbi! Die Erfüllung all dieser prophetischen Verheißungen steht noch aus: Kriege finden weiterhin statt und Menschen sterben zu früh. Leid und Geschrei und Klage gehen weiter, und wir fragen uns angesichts dessen: Warum lässt Gott das zu? Wir sollten uns besser direkt an Gott wenden und ihm klagen, was uns niederdrückt: „Warum verhinderst du nicht, dass Menschen bei einem Unfall umkommen? Warum tust du nichts dagegen, dass Eltern ihr Kind beweinen müssen, das vor ihnen gestorben ist? Warum setzt du diesen sinnlosen Kriegen kein Ende, die immer von neuem ausbrechen? Wo bleibt das Reich, das du uns versprochen hast?“

Die Begegnung mit dem jüdischen Glauben kann uns sensibel machen für das, was noch nicht erfüllt ist. Sie kann uns daran hindern, vorschnell zu behaupten: Alles ist gut, weil Gott für uns sorgt und mit uns geht. Ja, das stimmt – aber daneben gibt es Vieles, was im Argen liegt. Wir haben kleine Stücke des Guten in unserer Hand, wir freuen uns über das Schöne und Gelungene, das Gott uns schenkt. Aber wir sollten die Bruchstücke nicht für das Ganze halten und uns nicht einrichten in unserer kleinen, einigermaßen heilen Welt. Die Juden mit ihrer Überzeugung, dass der Messias erst kommen muss, um die Welt zu einem guten Ort zu machen, an dem alle in Frieden leben können, fordern uns auf, genau hinzusehen. Sie können für uns Christen zu Anwälten der Wirklichkeit werden und uns daran erinnern, dass Gott diese Welt von Grund auf verändern wird, wenn er kommt.

Lasst uns zusammen mit unseren jüdischen Geschwistern darauf warten, dass Gott kommt. Dann werden die Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet. Keiner wird mehr lernen, Krieg zu führen. Gott wird alle Tränen abwischen. Und der Tod wird nicht mehr sein.

Darauf hoffen wir.

Amen.

Perikope
24.08.2014
11,25-32