Adventsaufforderungen – Predigt zu Römer 15,4-13 von Kathrin Oxen
Liebe Gemeinde,
die Adventszeit ist die Zeit der Aufforderungen. Es ist schwer, sich ihnen zu entziehen. Ein Einkaufsbummel, ein Blick in die Zeitung genügt. „Machen sie Wünsche wahr!“ „Lassen Sie Kinderaugen leuchten!“, „Zaubern Sie Weihnachtsstimmung!“, „Überraschen sie Ihre Lieben!“.
Diese ganze Aufforderungen und Ausrufezeichen können einem entsetzlich auf die Nerven gehen. Sie lösen bei einigen Menschen regelrechte Fluchtreflexe aus.
Wer in der Lage ist, sich den populären Adventsaufforderungen zu entziehen, ist sie aber immer noch nicht los. Auch hier, in der Gemeinde, unter den Christen, wimmelt es nur so von Adventsaufforderungen.
Ich nenne Ihnen mal die Titel einiger Stücke, die wir im Kirchenchor in der Adventszeit singen: „Singet fröhlich im Advent!“ „Freue dich, Welt!“, „Macht das Tor weit!“, „Tochter Zion, freue dich!“
Auch wir haben eben schon mit einer Aufforderung begonnen „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“. Ausrufezeichen, wohin man blickt, auch hier, kein Wunder eigentlich, denn wir haben die ganze Sache mit Weihnachten ja angefangen. Vielleicht haben wir es als Christen sogar doppelt schwer: Wir sind dem ganzen Weihnachtsrummel ausgesetzt und dazu noch unserem Anspruch, uns wirklich zu freuen über das Wunder, das Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist. Den Adventsaufforderungen kann man sich so noch schwerer entziehen.
Leider kennt auch Paulus mit uns heute keine Erbarmen: Eine große Aufforderung steht im Mittelpunkt „Nehmt einander an!“ Auch das noch, könnte man da fast denken. Eigentlich reicht es doch wirklich mit den Aufforderungen. Wer sich dieses „Nehmt einander an“ nun auch noch zu Herzen nimmt, feiert bestimmt nicht entspannter Weihnachten. Gerade im Advent, gerade in der Vorbereitung auf Weihnachten und an Weihnachten selbst wird das „Einander annehmen“ auf eine harte Probe gestellt. Gerade, wer sich richtig Mühe gibt, wird wahrscheinlich enttäuscht:
Ich schreibe zwanzig Freunden eine Karte und bekomme drei – von Leuten, denen ich nicht geschrieben habe. Das Weihnachtsessen, für das ich Stunden in der Küche verbracht habe, ist in fünfzehn Minuten gegessen und ich muss mir zum Nachtisch anhören, dass diese ganze Fresserei doch einfach furchtbar ist. Ich überreiche Geschenke, bei denen ich mir etwas gedacht, die ich liebevoll ausgesucht habe und bekomme Gutscheine, damit ich mir selbst was aussuchen kann.
Die Advents- und Weihnachtszeit kann frustierend sein, gerade für die, bei denen die Adventsaufforderungen nicht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus gehen, die es ernst meinen, die anderen wirklich eine Freude machen möchten. Von Frieden und Freude im eigenen Herzen bleibt da manchmal bis zum Heiligabend nichts übrig.
„Nehmt einander an“, so heißt die Adventsaufforderung des Paulus.
Zu unserem Glück geht dieser Satz noch weiter. Paulus bleibt nicht stehen bei einer von vielen Adventsaufforderungen. Der Satz geht auch anders weiter, als wir das formulieren würden. Es heißt nicht „Nehmt einander an und ihr werdet angenommen“ -so läuft das, wenn es gut geht, bei uns. Wenn wir spüren, dass die Mühe und die Zuwendung, die wir anderen geben, auch uns entgegengebracht wird. Viel zu oft und gerade zu Weihnachten passiert das nicht.
Der Satz des Paulus ist kein Satz, der uns aufruft, an die anderen zu denken, kein Satz, der einstimmt in das Geschrei der Adventsaufforderungen beim Einkaufsbummel und in den Werbeblöcken. Paulus ruft uns zu uns selbst und deswegen geht der Satz bei ihm anders weiter: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat“.
Es heißt nicht mehr „Nimm den anderen an, dann wirst du auch angenommen“, sondern „Du bist angenommen, darum nimm andere an“. Du bist angenommen, geliebt, getröstet und nur deswegen kannst du etwas davon weitergeben. Das Stichwort „Trost“ kommt mehrmals vor.
Im Heidelberger Katechismus, der genau wie Luthers Kleinem Katechismus als Einführung in das Wesentliche des christlichen Glaubens gedacht ist, geht es um eine einzige Frage: „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?“ Sie wird beantwortet, in dem sie von „Von des Menschen Elend“, „Von des Menschen Erlösung“ und „Von der Dankbarkeit“ spricht. So bildet der Katechismus bildet genau das ab, was Paulus hier deutlich zu machen versucht: „Nehmt einander an, weil ihr angenommen seid.“ Nicht, damit ihr angenommen werdet.
Ein Beispiel gibt es dafür. Wir gehören zu den Heiden, weil wir nicht durch Geburt zu Gottes erwähltem Volk Israel gehören. Aber Gott hat uns mit im Blick und im Glauben an Jesus Christus haben wir einen Zugang zu ihm. Wir werden angenommen. Jesus aus Nazareth, dessen Geburt wir feiern, ist die Hoffnung und die Möglichkeit für uns, dass wir als geborene Heiden zu Gottes Volk dazu kommen können. Der Spross aus der Wurzel Isais, Jesus aus Nazareth, als Sohn einer jüdischen Mutter geborener Jude, ist die Hoffnung für uns, dass wir zu dem Gott gehören können, den er seinen Vater nennt.
Wir sind angenommen durch Jesus Christus und können darum andere annehmen. Mich daran zu erinnern, dass wir Heiden waren und bedingungslos, aus Liebe angenommen worden sind, zeigt mir, wie wir mit den „Heiden“, die uns begegnen, umzugehen haben: Die anderen, die nicht glauben, die Konfessionslosen, die „religiös Indifferenten“ oder wie immer man sie nennen will. Sie annehmen in bedingungsloser Zuwendung heißt, nicht von oben herab zu denken, dass ihnen etwas fehlt. Sondern mit ehrlichem Interesse fragen, was ihnen wichtig ist in ihrem Leben. Und sehen, wo wir Gemeinsamkeiten haben.
Die Adventsaufforderung „Nehmt einander an!“ ist keine von den gewöhnlichen Aufforderungen. Sie hetzt uns nicht, sie ruft nicht dazu auf, sich um andere zu bemühen, um dadurch etwas für uns herauszuholen. Sie lenkt unseren Blick auf uns selbst, auf die Frage, wie es mit unserem Gefühl des Angenommenseins eigentlich bestellt ist. Ohne dieses Gefühl können wir nicht leben. Das Kind, das keine Annahme erfährt, wird seelisch niemals wachsen können. Der Erwachsene, der zu oft die Erfahrung macht, nicht angenommen zu sein, im Beruf, in der Partnerschaft, in der Familie, wird sich irgendwann enttäuscht und verbittert zurückziehen.
Auch in der Gemeinde leben wir davon, dass wir als die, die schon angenommen sind, andere annehmen. Das ist unsere Stärke, unsere Anziehungskraft, die sich mit dem Wort „Gemeinschaft“ nur unzureichend beschreiben lässt.
Ich glaube nicht, dass wir in der Zusammensetzung, in der wir heute hier sind, an irgendeinem anderen Ort zusammen sein könnten, dazu sind wir viel zu unterschiedlich. Aber weil wir glauben und hoffen, dass einer uns angenommen hat, können wir einander annehmen.
Das in der Adventszeit zu entdecken, dazu lädt Paulus uns ein. Das Geschrei der Adventsaufforderungen will uns mit aller Kraft nach außen lenken, auf den anderen Menschen und seine Wünsche und Bedürfnisse.
Für Paulus steht der andere an zweiter Stelle. Er ermutigt uns, zuerst ganz bei uns zu bleiben und das Geschenk zu entdecken, das uns mit der Geburt Jesu Christi gemacht ist. Aus dieser Entdeckung folgt dann, was zu Weihnachten gehört: Einander annehmen, weil wir angenommen sind, schenken, weil wir beschenkt sind, Wünsche erfüllen, weil unser Herzenswunsch nach bedingungsloser Zuwendung erfüllt worden ist.
Ohne das Innehalten und Nachsehen bei mir selbst bleibt vielleicht nicht der Gabentisch, aber mein Herz leer. „Der Gott der Hoffnung aber erfülle uns mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des heiligen Geistes.“
Amen.
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Es ist noch Nacht – Predigt zu Römer 15,4-13 von Angelika Volkmann
Es ist noch Nacht – Predigt zu Römer 15,4-13 von Angelika Volkmann
Denn was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben. Der Gott aber der Geduld und des Trostes gebe euch, dass ihr einträchtig gesinnt seid untereinander, wie es Christus Jesus entspricht, damit ihr einmütig mit einem Munde Gott lobt, den Vater unseres Herrn Jesus Christus. Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Ehre. Denn ich sage: Christus ist ein Diener der Beschneidung geworden um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, um die Verheißungen zu bestätigen, die den Vätern gegeben sind; die Heiden aber sollen Gott die Ehre geben um der Barmherzigkeit willen, wie geschrieben steht (Psalm 18,50): "Darum will ich dich loben unter den Heiden und deinem Namen singen." Und wiederum heißt es (5.Mose 32,43): "Freut euch, ihr Heiden, mit seinem Volk!" Und wiederum (Psalm 117,1): "Lobet den Herrn, alle Heiden, und preisen sollen ihn alle Völker!" Und wiederum spricht Jesaja (Jesaja 11,10): "Es wird kommen der Spross aus der Wurzel Isais, und der wird aufstehen, zu herrschen über die Völker; auf den werden die Völker hoffen." Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.
Liebe Gemeinde,
es ist noch Nacht. (Römer 13,12)
Wir streiten uns. Auch in der Kirche. Um das liebe Geld. Um Gemeindefusionen für die Zukunft. Um unsere Haltung gegenüber Flüchtlingen. Um den Segen für gleichgeschlechtlich Liebende. Und vieles mehr.
Es ist noch Nacht. Wir streiten uns. Wir verletzen uns. Wir bekämpfen uns. In den Familien, in den Kollegien, zwischen den politischen Parteien, in den kriegerischen Konflikten auf der ganzen Welt.
Oft hat nicht nur einer Recht. Meistens hat jede Seite etwas Wertvolles, wofür sie eintritt. Doch es ist schwer, das wahrzunehmen. Beim anderen wahrzunehmen, dass auch er einen Wert vertritt. Der darf nicht übergangen werden, wenn wir eine gemeinsame Lösung finden wollen. Stattdessen streiten wir abwertend und bekämpfen den anderen.
Manchmal geht es nicht darum, einen Kompromiss zu finden, der womöglich keinem gerecht wird. Manchmal geht es darum, sich gegenseitig anzunehmen, auszuhalten mit den Unterschieden.
Es ist noch Nacht. Wir streiten uns. Damals haben sie auch gestritten. Heftig sogar. Denn es geht um vieles, ja ums Ganze. In Rom. In der jungen Gemeinde der Christusgläubigen. Und Paulus schreibt ihnen diesen Brief. Er kennt den Streit. Es gibt Starke und Schwache in der Gemeinde. Es gibt die, die sich an die Tora gebunden fühlen und die, die von der Einhaltung der Speisegebote befreit sind. Juden und Menschen aus den Völkern, die an Jesus als den Messias glauben. Und wie sollen sie jetzt zusammenleben?
Paulus ist bekümmert. Gott hat die Kluft zwischen Israel und den Völkern geschlossen durch seinen Sohn Jesus Christus! Wie großartig! Gott befreit die Völker von ihren Götzen, sie haben jetzt durch Christus den Zugang zu ihm, zum Glauben an den einen und einzigen Gott - und kaum ist dieses Großartige geschehen, da tut sich eine andere Kluft auf. Israel erkennt den Messias Jesus nicht.
Nehmt einander an! ruft Paulus. Denn er erkennt: Diese Kluft ist gottgewollt. Diese Kluft ist nur von Gott selber zu überwinden. Und das Ziel, auf das Gott hinwirkt, ist Geheimnis. Nicht mit Argumenten zu erreichen. Nur visionär zu erfassen: Gott wird sich aller erbarmen! Gott selber ist alles in allem! (Römer 11,32.36)
Es ist noch Nacht. Die Welt versinkt im Streit. Wir erliegen unseren seelischen Verletzungen. Doch schenkt Gott uns Hoffnung. Wir sind nicht alleine in der Nacht der Welt. Wir haben Gottes Verheißungen – durch die Zeiten hindurch. Sie stehen in der Bibel. Sie gelten Israel, seinem ersterwählten Volk, dem Gott treu ist. Sie gelten der jungen christlichen Gemeinde in Rom. Sie gelten der Kirche heute. Gott wird sich aller erbarmen. Gott ist alles in allem. Der Gott aller Geduld und allen Trostes. Er hat es uns schriftlich gegeben. Wie einen Liebesbrief.
Es lebt sich anders, wenn ich mit einem Liebesbrief lebe. Wenn ich fühlen kann, ich bin gemeint. Jemand ist glücklich über mich. Jemand sehnt sich nach mir. Für jemanden bin ich die Wichtigste. Er denkt ständig an mich, will stündlich von mir wissen, zählt meine Tränen. Dann ist mein ganzes Leben anders. Viele Dinge sind plötzlich nicht mehr so wichtig. Ich kann nachsichtiger sein. Die Bedeutung von vielem verschiebt sich. Denn ich bin geliebt. Auch, wenn der Brief von weit her zu mir kommt. Er hat Kraft. Paulus schreibt: Durch den Trost der Schrift haben wir Hoffnung. Er meint damit das Alte Testament. Das große Buch von Gottes Barmherzigkeit. „Denn was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben.“ (V 4)
Paulus betont das Gemeinsame. Und spricht einen Segenswunsch aus: Gott gebe euch, dass ihr einträchtig gesinnt seid untereinander. Das kann man auch, wenn man unterschiedlicher Ansicht ist. Die friedliche Gesinnung Jesu Christi annehmen. Und in Vielstimmigkeit gemeinsam Gott loben, den Vater Jesu Christi. Gott loben, dessen Zuwendung jedem Menschen gilt. Gott gemeinsam loben in der willentlichen Entscheidung, andere und Andersdenkende anzunehmen.
Es ist noch Nacht. Doch wir können Gottes Lob singen. Dem hellen Morgenstern. Auch wenn wir geweint haben. Der Trost ist da.
Für den damaligen Konflikt hat Paulus eine Lösung errungen. Er erklärt der jungen christlichen Gemeinde, dass der Gott Israels an ihnen gehandelt hat. Durch Jesus Christus, seinen Sohn, können nun alle Menschen zu Gott gehören, ohne jüdisch werden zu müssen. Gott wendet sich den Völkern zu, so wie es in der Heiligen Schrift Israels steht. Und dadurch bestätigt Gott die Verheißungen, die Israel gegeben sind. Sie sind immer noch in Kraft. Genauso wie seine Treue zu seinem ersterwählten Volk. Sein Weg mit Israel und sein Weg mit der Kirche haben nebeneinander Platz. Nehmt einander an! Es ist nicht so, dass einer von euch mehr Recht hat als der andere. Beide Wege sind von Gott so gewollt.
Dann hat Paulus einen überraschenden Gedanken für die christliche Gemeinde bereit: Jesus ist ein Diener der Juden geworden. Ein Diener. Nicht ihr Herr. Christus ist der Herr über die Kirche und ein Diener der Juden. Darum soll auch die Kirche Israel dienen und nicht Israel belehren. Im Gegenteil. In Vers 8 schreibt Paulus: „Denn ich sage: Christus ist ein Diener der Juden geworden um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, um die Verheißungen zu bestätigen, die den Vätern gegeben sind.“ Z.B. dass Gott ihnen treu ist und dass Israel sein Volk ist.
Christus dient den Juden. Und parallel dazu heißt es: Die Heiden sollen Gott loben, und sich mit Israel freuen. Das begründet Paulus ganz rabbinisch mit Bibelstellen aus Tora, Schriften und Propheten:
„Freut euch, ihr Heiden, mit seinem Volk“ (5.Mose 32,43)
„Lobt den Herrn, alle Heiden, und preist ihn, alle Völker!“ (Psalm 117,1) und:
„Es wird kommen der Spross aus der Wurzel Isais und wird aufstehen, um zu herrschen über die Heiden; auf den werden die Heiden hoffen.“ (Jesaja 11,10)
Es ist noch Nacht. Aber der Morgen ist nahe. (nach Römer 13.12)
Mitten in allem Streit, mitten in allen Verletzungen, mitten in der Dunkelheit, die uns umgibt, können wir das Lob Gottes singen. Das ist unsere Aufgabe. Dazu sind wir da! Wir können das vielstimmig tun, auch wenn wir verschiedene Ansichten haben, und gemeinsam mit Israel. Wir können dadurch der Welt ein Zeichen geben, einen Hinweis, dass es Hoffnung gibt, dass es reichen Trost gibt, den uns niemand nehmen kann, wie fatal auch immer Politiker entscheiden, wie hasserfüllt auch immer Mächtige Menschenleben auslöschen, wie böse auch immer Menschen sich im Streit verhalten.
Wir können Gottes Lob singen. Es gibt Vergebung bei Gott. Gott hat sein Volk nicht vergessen. Gott hat keinen Menschen vergessen. Es kommt alles noch einmal zur Sprache. Wer Böses tut, wird sich zu verantworten haben. Wir müssen uns nicht rächen. Wir können Gott das Gericht überlassen. Durch Christus können wir uns versöhnen mit unserem Feind. Mit uns selbst. Mit den Lebensumständen. Nichts kann uns von Gottes Liebe trennen. Was auch immer geschieht, wir sind in Gottes Hand. Von ihm beschenkt können wir Frieden stiften.
Es ist noch Nacht. Doch wir stehen unter dem Segen, den Paulus uns zuspricht: Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.
Amen.
Lied nach der Predigt: EG 16 Die Nacht ist vorgedrungen
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Predigt am Reformationstag 2017 in der Wittenberger Schlosskirche
Liebe Gemeinde,
es war ein Akt der Befreiung, als der Augustinermönch Martin Luther heute vor genau 500 Jahren hier in Wittenberg, vielleicht sogar wenige Meter von hier an der Tür zu dieser Kirche, seine 95 Thesen veröffentlichte. Es war für ihn persönlich ein Akt der Befreiung. Der Befreiung von der Angst vor einem Gott, der mehr fordert als ein Mensch erfüllen kann. Der Befreiung von dem Zwang, sich sein Heil verdienen zu müssen.
Es war aber auch ein Akt der Befreiung für die Kirche. Es war ein Weckruf an seine katholische Kirche zur religiösen Erneuerung. Luther wollte keine neue Kirche gründen, sondern die Kirche Jesu Christi wieder zurück zu ihrem Herrn rufen.
Es war aber auch ein Akt der Befreiung für die Welt. Dass an die Stelle des Diktats von Macht und Geld eine neue Freiheit trete, die sich in der Liebe zeigt.
Mit Gott und der Welt hadern und aus tiefer Verzweiflung befreit werden - für Martin Luther hatten diese Worte des Paulus aus seinem Brief an die Römer, eine sehr konkrete persönliche Bedeutung: „Desgleichen hilft auch der Geist unsrer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebührt, sondern der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen.“ So haben wir es gehört.
Und nun sitzen wir hier 500 Jahre später als Menschen in einem Land, das ebenfalls mit sich ringt. Als ein Land, das so gesegnet ist wie nie zuvor. Als ein Land, das ein beeindruckendes Maß an Empathie gezeigt hat. Als ein Land, das viele Anstrengungen unternommen hat, auch moralische Anstrengungen. Und zugleich als ein Land, in dem manche sich moralisch überfordert fühlen. Als ein Land, in dem Menschen Angst haben, ihre gewohnte Welt zu verlieren, ihre Sicherheit zu verlieren. Als ein Land, das sich nach Heimat sehnt.
Als ein Land, das deswegen die reformatorische Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Gnade so dringend braucht!
Weder Obergrenzen für die Unterstützung von Menschen in Not helfen diesem Land noch moralische Durchhalteparolen. Was dieses Land braucht, ist eine neue innere Freiheit. Was dieses Land braucht, ist eine Kraft, die die Angst überwindet und die Liebe stärkt. Was dieses Land braucht, ist der Geist, der der Schwachheit aufhilft. Was dieses Land braucht, ist die Rechtfertigung allein aus Glauben und nicht aus den Werken.
Woher kann eine neue innere Freiheit kommen; und eine neue Zuversicht für unser Land in aller Unterschiedlichkeit der Lebensentwürfe und Orientierungsquellen?
Wir Christen sind auch heute viele, und die Botschaft von der Vergebung und Liebe, die uns trägt, kann auch heute noch unsere Gesellschaft mitprägen. Wir haben uns dem im zurückliegenden Jahr in einem Maße gewidmet wie selten zuvor. Wir wollten im Blick auf Martin Luther keine Heldenverehrung. Und wir haben gegenüber unseren jüdischen Brüdern und Schwestern unsere Scham über die Hetzreden Martin Luthers gegen die Juden zum Ausdruck gebracht und um Vergebung gebeten. Wir haben die Intoleranz gegenüber den Täufern und anderen damals verfolgten Gruppen beim Namen genannt. Wir haben die Herabsetzung der anderen christlichen Konfessionen als Schuld bekannt und um Vergebung gebeten. Und wir haben laut gesagt, was wir heute an ihnen lieben.
Wir haben neu verstanden, dass Christus nicht zerteilt ist und deswegen auch seine Kirche nicht länger getrennt sein darf. Und niemand soll meinen, wir ließen uns von dem Weg hin zur sichtbaren Einheit in versöhnter Verschiedenheit abbringen. Auch Rückschläge werden uns nicht davon abhalten, diesen Weg weiterzugehen. Und ich danke meinem Bruder in Christus Kardinal Reinhard Marx und allen, die sich mit ihm zusammen für die Einheit der Christen einsetzen, für allen Mut, für alle Geschwisterlichkeit, für alle Freundschaft. Und ich rufe am 500. Jahrestag der Reformation von Wittenberg aus dem Papst in Rom zu: Lieber Papst Franziskus, Bruder in Christus, wir danken Gott von Herzen für dein Zeugnis der Liebe und Barmherzigkeit, das auch für uns Protestanten ein Zeugnis für Christus ist. Wir danken für deine Zeichen der Versöhnung zwischen den Kirchen. Und wann immer du einmal hierher nach Wittenberg kommst, dann werden wir dich ein halbes Jahrtausend nach der Verbrennung der Bannbulle von ganzem Herzen willkommen heißen! Wir wollen mit Christus reden und dann mutig voranschreiten. Wir vertrauen darauf, dass der Geist unserer Schwachheit hilft!
Die Welt braucht das gemeinsame Zeugnis von Christus so dringend! Das Zeugnis, das wir als Kirchen geben können, ist kein aufdringliches Zeugnis. Auch die Kirche bleibt eine bittende Kirche. Sie weiß es nicht besser. Sie ringt und seufzt an der Seite der Menschen dieser Welt und bittet um Gottes Geist und Wegweisung. Und um seine Kraft und seinen Segen. Lasst uns mithelfen, dass unser Land spürt, wie gesegnet es ist, und: neue Zuversicht gewinnt!
Die Überzeugungen, die zum reformatorischen Kernbestand gehören, sind heute genauso wie damals segensreiche Kraftquellen für eine lebenswerte Gesellschaft.
Zentrale Glaubensüberzeugung ist das Leben allein aus Gnade. Es ist das Bewusstsein für den unendlichen Wert eines jeden Menschen. Jeder Mensch ist geschaffen zum Bilde Gottes. Keiner muss sich seine Würde erst verdienen. Nicht durch wirtschaftliche Leistung. Aber auch nicht durch moralisches Wohlverhalten. Sie ist unantastbar. Nicht dass schon die Kinder im Kindergarten fit gemacht werden für die Globalisierung, macht unsere Stärke als Land aus, sondern dass sie tief in der Seele spüren, wie kostbar ein jeder und eine jede von ihnen ist.
Als weitere Glaubensgewissheit haben die Reformatoren das alte Wort „Buße“ verwendet. Die erste der 95 Thesen ist eine These über die Buße: „Weil unser Herr und Meister Jesus Christus gesagt hat ‚Tut Buße‘, deswegen soll das ganze Leben der Gläubigen Buße sein.“ Diese Worte rufen zu einem Innehalten auf, zu einer Selbstbesinnung, zu einer Selbstdistanz, die nicht nur jedem einzelnen Menschen guttut, sondern auch einem ganzen Land. Gehen wir eigentlich in die richtige Richtung? Was ist los mit uns, wenn wir im Internet hemmungslos Hass und Hohn aufeinander ausgießen? Welches Verständnis von politischer Debatte haben wir, wenn wir nur noch einen Blick für den Splitter im Auge der anderen haben und den Balken im eigenen Auge gar nicht mehr sehen? Wo sind die blinden Flecken in unserem Selbstbild als Land, wenn wir uns als Wohltäter für die Welt sehen und kaum noch wahrnehmen, wie sehr unser Wohlstand auf Kosten anderer geschaffen wird? Die ersten Opfer des von uns verursachten Klimawandels sind genau die Menschen, die am wenigsten dazu beigetragen haben.
Ja, Buße und die daraus erwachsende Demut tut einem Land gut!
Herzstück der reformatorischen Glaubensüberzeugung ist die der Freiheit. „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ heißt die wichtigste Schrift Martin Luthers. Und Freiheit ist eines der Megathemen unserer Zeit heute. Ist Freiheit die Freiheit von jeder Verpflichtung? Ist Freiheit die Möglichkeit zwischen Tausend Optionen zu wählen? Oder ist Freiheit die innere Kraft, auch gegenüber äußeren Autoritäten seinem Gewissen zu folgen , weil nichts uns trennen kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist unserem Herrn – wie es der Apostel Paulus gesagt hat? Auch hier hilft der Geist unserer Schwachheit auf, denn: Wo der Geist der Herrn ist, da ist Freiheit! Für seine Überzeugungen einzustehen, sich nicht aus der Wut, sondern aus innerer Freiheit in die öffentlichen Debatten einzumischen, diese Haltung braucht unser Land. Diese Freiheit tut unserem Land gut!
Von diesem Ort, hier von Wittenberg, ging eine spirituelle Erneuerung aus; für Menschen in Deutschland, Europa und weltweit. Männer und Frauen. Menschen aus allen sozialen Schichten. Der heutige 500. Jahrestag der Reformation ist daher für mich ein Tag der Dankbarkeit. Dankbarkeit für die religiösen Erneuerungsimpulse, die aus der Reformation gekommen sind und bis auf den heutigen Tag ihre Wirkung entfalten. Dankbarkeit, dass aus den Konflikten und Kriegen zwischen den Konfessionen in der Vergangenheit heute Versöhnung, Verstehen, ja Freundschaft geworden ist und weiter wird. Und die Hoffnung, dass daraus auch ein Zeichen werden könnte für die Welt - für eine Welt, die von Konflikten und Spaltungen bedroht ist. Ich bitte Gott an diesem Tag, dass er uns die Kraft schenken möge, diesen Weg weiter zu gehen und uns damit das schenken möge, was für die Kirche der Zukunft das Wichtigste ist: dass wir die Liebe selbst ausstrahlen, von der wir sprechen
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
AMEN
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Dem Himmel nahekommen - Predigt zu Römer 2,1-11 von Frank Fuchs
Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest. Denn worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest. Wir wissen aber, dass Gottes Urteil zu Recht über die ergeht, die solches tun. Denkst du aber, o Mensch, der du die richtest, die solches tun, und tust auch dasselbe, dass du dem Urteil Gottes entrinnen wirst? Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut? Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet? Du aber, mit deinem verstockten und unbußfertigen Herzen, häufst dir selbst Zorn an für den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, der einem jeden geben wird nach seinen Werken: ewiges Leben denen, die in aller Geduld mit guten Werken trachten nach Herrlichkeit, Ehre und unvergänglichem Leben; Zorn und Grimm aber denen, die streitsüchtig sind und der Wahrheit nicht gehorchen, gehorchen aber der Ungerechtigkeit; Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die das Böse tun, zuerst der Juden und auch der Griechen; Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden allen denen, die das Gute tun, zuerst den Juden und ebenso den Griechen. Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott. (Röm 2,1-11)
Liebe Gemeinde,
vor 2 ½ Wochen haben wir in dieser Kirche den Reformationstag gefeiert. Der Thesenanschlag Martin Luthers war nun 499 Jahre her. Damit begann das Festjahr zum großen Jubiläum im nächsten Jahr. Aus diesem Anlass fanden in den vergangenen Wochen vier Gesprächsabende der vier christlichen Gemeinden in Babenhausen zum Thema Reformation statt. Es wurde die Frage behandelt, wie die vier christlichen Gemeinden zur Reformation stehen. Die Pfarrer und Pastoren der jeweiligen Gemeinden haben dazu einen Vortrag gehalten. Sie haben ihre Gemeinde und Kirche vorgestellt und bedacht, inwiefern sie heute reformatorischen Gedanken nahestehen. Darüber kamen wir miteinander ins Gespräch. Im Vordergrund stand das Verbindende. Aus katholischer Sicht wurde an Martin Luther wertgeschätzt, dass er den Blick wieder auf die Bibel gelenkt hat. Aus dem Blickwinkel der freien Gemeinde wurde als positiv angesehen, dass er den Glauben umfassend leben wollte, was in der Gemeinde in Gebets- und Hauskreisen geschieht. Und von Seiten der Pfingstgemeinde wurde vermerkt, dass sich Luther nach seinem Gewissen entschieden hat und damit auch dem Geist Gottes Raum geben wollte.
Unser Predigttext ruft uns heute zur Demut auf. Denn Paulus richtet seinen Appell gegen jene, die ihre eigene Sicht über andere stellen und sie negativ beurteilen. Wer Christ wird, versteht sein Leben auf andere und neue Weise. Diese neue Erkenntnis lässt sich allzu leicht als Waffe gegen anderen einsetzen.[i] Diese Gefahr sieht der Apostel Paulus auch in der Gemeinde in Rom. Dort haben sich Christen anscheinend gegen andere gestellt, was zu Konflikten geführt hat. Im Brief an die Römer mahnt Paulus also zur Mäßigung. Andere sollen nicht abgekanzelt oder eben gerichtet werden.
In der Geschichte unserer Kirchen und Gemeinden unterlagen viele dieser Gefahr. Denn es ist ja auch eine Geschichte der Trennungen. Auf diese Weise wären auch unsere Gespräche der vier Gemeinden schiefgelaufen. Wenn wir unsere Sichtweise absolut setzen, können wir die anderen nur negativ beurteilen. Wir kritisieren uns gegenseitig und sehen die Fehler der anderen.
Paulus spricht aber davon, dass Gottes Güte zur Buße führt. Denn das ist die Konsequenz aus der Rechtfertigungslehre im Römerbrief, die Martin Luther später wiederentdeckt hatte und die zum Ausgangspunkt seiner theologischen Überzeugungen wurde. Wenn ich glaube, dass Gott mich gerecht spricht, nicht wegen meiner besonderen Taten, sondern allein aus Glauben, dann darf ich die anderen in Glaubensfragen nicht richten. Vielmehr muss ich davon ausgehen, dass auch der andere freigesprochen ist. So ist es folgerichtig, dass es Gottes Güte ist, die ich für mein Leben annehme und die mich zur Buße führt. Buße bedeutet dann, dass ich umkehre und nicht mehr andere abkanzle und aburteile, sondern mit Achtung begegne. Dann wirkt sich Gottes Güte spürbar für andere aus.
Paulus führt in drastischen Worten aus, dass diejenigen, die Geduld üben mit guten Werken das ewige Leben erwarten, diejenigen aber, die streitsüchtig und ungerecht sind, Zorn und Grimm zuteil wird. Dieses Gericht vollzieht sich an denen, die sich erheben und über andere urteilen. Dabei gibt es kein Ansehen der Person. Es trifft Juden wie Griechen gleichermaßen.
Es zeigt sich, dass das Verhalten heute das erwartete Gericht vorausnimmt. Wie sich die Menschen früher das Gericht Gottes vorgestellt haben, zeigt eine Freske im Chorraum unserer Stadtkirche, die aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts stammt. Oben thront Christus, der Gericht hält. Neben ihm befinden sich zwei Engel, die in die Posaune blasen. In den Gräbern sind Tote zu sehen und manche Menschen erheben sich bereits aus den Gräbern. Zwei Menschengruppen sind dargestellt, die hintereinander in zwei Richtungen laufen. Auf der rechten Seite laufen sie in den Schlund eines Ungeheuers. Sie sind gefangen durch ein Seil und werden hineingezogen. Auf der linken Seite ist die Freske teilweise verloren gegangen. Man sieht nicht, wohin die Menschengruppe läuft. Es sind aber oberhalb noch einige Dächer zu sehen, die eine Stadt darstellen. Vermutlich ziehen sie ins himmlische Jerusalem ein, wie die Stadt in der Offenbarung beschrieben wird. (Off 21)
Bei unseren Gesprächsabenden wurden durchaus verschiedene Verständnisse auf die Vorstellung vom Weltgericht deutlich.
Es gibt die Ansicht, die sich eher an dem traditionellen Bild orientiert, das die Menschen in zwei Bereiche aufteilt: in Verderben und in den Himmel.
Es gibt die Ansicht, dass Gottes Güte so groß ist, dass sogar eine Erlösung aller Menschen möglich ist.
In diesen Tagen wird aber auch ein Dilemma ersichtlich. Die Kirche versucht, das 500-jährige Reformationsjubiläum zu nutzen, um ihre Botschaft in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. In den Zeitungskommentaren und Internetforen wird allerdings kritisiert, dass die Kirche kaum noch Theologie treibe und einfach das „Liebsein“ Gottes beim Gedenken an den Thesenanschlag in den Vordergrund stelle.[ii] Seine Thesen waren aber im damaligen Weltbild verwurzelt, nach dem Menschen das Gericht fürchteten. Sie hatten bildlich gesprochen Angst, in den Schlund des Ungeheuers getrieben zu werden. Die Kirche heute will und kann den Menschen keine Angst mehr machen. Wenn aber der Eindruck entsteht, dass Gott nur noch auf sein „Liebsein“ reduziert wird, ist das eine unzulässige Vereinfachung. Das Dilemma scheint mir kaum auflösbar. Denn die Befreiung, die Martin Luthers Wiederentdeckung der Rechtfertigungslehre für die Menschen bedeutete, war für das mittelalterliche Weltbild nachvollziehbar. Heute scheint es fern zu liegen. Eher spüren wir einen diesseitigen Leistungsdruck und Optimierungswahn, der uns Kräfte raubt und bindet. In diesem Zusammenhang kann die Botschaft von Rechtfertigung allein aus Glauben befreiend wirken. Aber das wäre dann wieder rein diesseitig gedacht.
Paulus stellt uns beide Seiten vor Augen: ewiges Leben auf der einen Seite und den Zorn Gottes bzw. das Gericht auf der anderen. In den Vordergrund stellt er aber Gottes Güte, die uns leiten soll. Mit Güte haben wir an unseren Gesprächsabenden miteinander gesprochen. Auf diese Weise haben wir erfahren, dass uns unser Christsein untereinander viel mehr verbindet als trennt. Wenn wir ganz bewusst damit leben, dass uns Gottes Güte gilt, können wir uns gar nicht über andere erheben. Diese Botschaft schließt ein, sanftmütig gegenüber anderen zu sein. Mit Martin Luther lässt sich die Botschaft des Predigttextes wie folgt zusammenfassen:
Sanftmut ist der Himmel, Zorn die Hölle, die Mitte zwischen beiden ist diese Welt. Darum, je sanftmütiger du bist, desto näher bist du dem Himmel.[iii]
Amen.
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Auf die Finger schauen - Predigt zu Römer 2,1-11 von Markus Kreis
Liebe Gemeinde,
die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche. Ein simpler Satz. Dem Sinn nach schon dem Paulus geläufig. Und doch dauernd der erhobene Zeigefinger! Warum nur der erhobene Zeigefinger? Das einzige, was an des Predigers Weste weiß ist, ist doch das Beffchen. Der erhobene Zeigefinger – das ist halt die sicherste Form von Einfluss, den ein Pfarrer noch hat.
Wenn auch unsere Zeit von Kirche kaum noch etwas weiß, dies eine ist den meisten Leuten heute gewiss: Die von der Kirche sagen, was gut und was böse ist. Die haben den Anspruch zu wissen, was moralisch in Ordnung geht. Und was nicht.
Für die einen ist dieser Anspruch auf moralische Wahrheit ein Witz. Sie kennen ihn zwar noch, aber sie finden ihn alles andere als in Ordnung. Gerne verweisen sie dabei auf die Kirchengeschichte: Kreuzzüge, prassende Päpste, heimliche Beziehungen zwischen Mönch und Nonne, Kampf gegen offensichtliche Wahrheiten bis hin zur Tötung von deren Verfechtern. Verschwörungen im Vatikan. Offene Zusammenarbeit mit den Nazis und so weiter und so fort.
In ihren Augen hat die Kirche diesen Anspruch verwirkt. Man zeigt nicht mit nacktem Finger auf angezogene Leute.
Andere wiederum finden diesen Anspruch schon ein Stück weit in Ordnung. Aber nicht so sehr für sich persönlich. Nur für ihre Kinder. Genauer gesagt: für die Kindererziehung überhaupt. Die Kirche bringt den Kleinen bei, was richtig und was falsch ist, was gut und was böse. Dazu ist die Kirche gut und ihr erhobener Zeigefinger.
Denn in das echte große Leben passen sie irgendwie nicht so recht rein – die christlichen Ermahnungen. Sie scheinen zu einfach, wo unsere Zeit so kompliziert ist. Man weiß gar nicht mehr, was richtig und was falsch ist. Was gut und was böse.
Würde man sich einfach so an Jesu einfache Gebote halten, dann hätte das komplizierte Folgen für unser kompliziertes Leben: die andere Backe auch hinhalten, sieben mal siebzig mal vergeben, sich die Augen ausreißen, wenn man sich in jemand anders verguckt, teilen statt beiseite zu schaffen und so weiter. Nicht auszudenken, was das mit unserem Leben anstellen würde.
Und dann gibt es welche, denen ist die Kirche noch nicht scharf genug. Verweichlicht, der Welt zu angepasst, dem Zeitgeist nachgebend. Die wissen jederzeit ganz genau, was Gott will. Und halten sich entsprechend daran. Die finden es schade, dass man nur einen Zeigefinger an der rechten Hand hat – man bräuchte schließlich eher Hundert. Man könnte den von der linken dazu nehmen – diese Geste würde aber leider nicht recht verstanden werden.
Warum der erhobene Zeigefinger? Der bringt doch nur eine Menge Ärger und Probleme ein. Paulus hat ihn wie eine Nervensäge unter den frisch gewonnen Christen erhoben. Seine Nachfolger erhoben nicht nur den Zeigefinger, sondern das Schwert. Die Kirche kämpfte mit viel Gewalt für ihre Friede heischenden Ansprüche. Heute ist der Zeigefinger schlichtweg aus der Mode. Nur ältere Erwachsene benutzen ihn, um auf dem Smartphone ihre Mitteilungen einzutippen. Oder um ihre Bildchen und Filmchen zu verbreiten. Jüngere benutzen dazu ihre zwei Daumen.
Warum der erhobene Zeigefinger? Ganz einfach: Weil Gott selber ihn erhebt. Deshalb müssen Christen davon reden. Ganz unabhängig davon, um welche Gebote und Verbote es genau und im Einzelnen geht. Sogar dann, wenn sie zuallererst und am besten sich selbst ermahnen würden. Also eher Adressaten der Ermahnung wären als ihre Absender. Ja, sogar dann, wenn sie sich damit eine gewaltige Menge Spott, Ärger und Probleme einhandeln.
Denn dieses göttliche Erheben geschieht nicht so offensichtlich. Obwohl es sich mit Sicherheit ereignet, von Mal zu Mal, stetig und dauernd. Und doch geschieht es oft genug im Verborgenen. So dass die Betroffenen es kaum bemerken. Wie gesagt, wenn die Welt sonst auch kaum noch etwas von der Kirche weiß – der erhobene Zeigefinger ihrer Vertreter scheint im Gedächtnis zu bleiben.
Aber wie sieht es mit dem göttlichen Zeigefinger in uns persönlich aus? Wenn wir angesprochen sind? Kirchlicher und göttlicher Zeigefinger sind nämlich nicht von vornherein dasselbe.
Gott redet uns ins Gewissen – wieder und wieder. Oft hören und erhören wir ihn, oft aber auch nicht. Beziehungsweise erst dann, wenn die Sache gelaufen ist. Dann kann sich Gottes Stimme plötzlich wortgewalttätig ins Gewissen drängen. Und lässt keine Ruhe. Stupst einen laufend an mit ihrem Zeigefinger.
Wir Menschen sind Weltmeister im Verdrängen. Darin sind wir so gut, dass wir es noch nicht einmal bemerken, das Verdrängen. Da kann Gott uns noch so sehr ins Gewissen reden. Da kann er uns noch so sehr und so schön mit seinem Zeigefinger anstupsen wie in Michelangelos Schöpfung. Oder wie durch Johannes den Täufer auf dem Isenheimer Altar.
Da kann Gott in uns mit den Fingern schnippen wie ein Erstklässler, der mit aller Gewalt dem Lehrer antworten will. Und befürchtet, nicht dran genommen zu werden. Wir übersehen ihn, rufen lieber eine andere Antwort auf. Betrachten uns als seine Lehrer, obwohl wir Gottes Schüler sind. Verklären unsere Gebote und Verbote zu Ansprüchen, die von Gott kommen. Ja, so sind wir Menschen.
Wir durchschauen viel weniger gut die Folgen unseres Tuns, als wir denken oder wünschen. Auch Big Data erfasst nicht alles. Nur sehr, sehr vieles. Mancher erkennt so manches vielleicht erst auf dem Sterbebett. Jeder gewiss, wenn er im Himmel vor seinen Richter Jesus tritt. Spätestens dann wird klar: „Da hab ich etwas angerichtet, das hätte ich im Leben nicht geglaubt.“ Diese Erkenntnis wird sich einstellen. Zum guten Glück nicht nur für Böses, das wir ohne einen Schimmer davon verbrochen haben. Es wird auch Gutes geben, das wir vollbracht haben. Das wir erst später erkennen.
Menschen wissen um den göttlichen Zeigefinger und übersehen ihn doch. Drängen ihn erfolgreich aus ihrem Leben. Manchmal gelingt das nur kurz, manchmal sehr lange. Und nicht immer folgt eine Strafe auf den Fuß. Und selbst dann kommt es nicht unbedingt zu Reue und Einsicht.
Gott jedoch wird Zeigefinger und Stimme todsicher erheben. Auch wenn die Sonne gleichermaßen über Gerechte und Ungerechte aufgeht. Auf dieses Feedback müssen Christen aufmerksam machen. Denn wir Menschen sind Weltmeister im unbemerkten Verdrängen und Verkennen, gerade der eigenen Blößen und Fehler vor Gott. Auch Christen werden manch überraschendes Feedback Gottes aushalten müssen.
Wir haben in die toten Winkel unseres Ichs geschaut. Schauen wir auf unsere blinden Flecken, was die Mitmenschen angeht. Genauer gesagt, auf unser Bild von deren Tun und Lassen. Auch hier gibt es Offensichtliches und weniger Offensichtliches, Verborgenes. Wir überblicken ja nur schwerlich unser eigenes Tun mit seinen Folgen und Voraussetzungen. Nicht alles, was uns am Tun und Lassen anderer misslich erscheint, ist zwangsläufig von Gott verworfen.
Jesus ist schließlich von uns Menschen gekreuzigt worden. Aus unserer Blindheit für Gottes Wollen, Machen und Vollbringen. Und dieser Blindheit sind wir nur teilweise und aus Gnade enthoben. Wer also kann in Abrede stellen, dass ein Mitmensch so oder so handelt, weil sich in ihm Gott erhoben hat? Mit Stimme und Zeigefinger? Wo doch wir bei uns selbst nicht immer sicher sein können.
Manchmal wird ein solcher Missetäter abgestraft. Dann zahlen ihm Mitmenschen sein Verfehlen heim. Er erleidet Vergeltung. Das heißt heute unter Jugendlichen übrigens Karma. Erlittene Vergeltung – auch das ist nicht unbedingt ein Beweis dafür, dass einer Gottes Zeigefinger aus seinem Denken und Tun verdrängt hat.
Vieles von dem, was wir als göttliche Vergeltung oder Karma bewerten, entspringt nur der Selbstgerechtigkeit. Oder Bosheit und Niedertracht. Begleichung alter Rechnungen. Kommt also aus der Sünde. Denn es gilt: „Die Rache ist mein“, spricht der Herr. Und: sieben mal siebzigmal vergeben.
Und auch da wandeln wir uns oft flugs von Gottes Schülern und Jüngern zu Lehrern. Tauschen die Rollen. Wissen es besser. Machen Gott mit seinem Vergebungsgedöns zum Schüler und lassen ihn alt aussehen. Obwohl er doch genauso der ewig Neue ist. Erkennen unsere toten Winkel und blinde Flecken nicht.
Wie gut, dass Gott besser durchblickt. Wie gut, dass Gott Bescheid weiß! Wie gut, dass Gott Recht hat und Recht behalten wird! Wie gut, dass Gottes Gerechtigkeit seinen Leuten Vergebung zuspricht. Auch dann, wenn sie sich als Lehrer mit blinden Flecken und falschen Ansprüchen heraus gestellt haben. Gott vergibt uns. Da müssen wir ihm nur auf die Finger schauen. Am Isenheimer Altar lässt er Johannes den Täufer mit seinem Finger auf den Gekreuzigten zeigen. Amen.
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Die Hoffnung stirbt nicht zuletzt - Predigt zu Römer 8,18-25 von Stephanie Höhner
Denn ich sage, dass die Leiden zu dieser Zeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber der vorherbestimmten Herrlichkeit, die in uns offenbart wird. Denn das erwartungsvolle Harren der Schöpfung erwartet die Offenbarung der Söhne Gottes. Denn grundlos ist die Schöpfung unterworfen, nicht freiwillig, sondern durch den Unterwerfer, auf Hoffnung hin, weil auch die Schöpfung selbst befreit werden wird aus der Sklaverei der Vergänglichkeit zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung mitseufzt und in den Wehen liegt bis jetzt. Aber das nicht allein, sondern auch wir, die als Erstlingsgabe den Geist haben, auch wir selbst seufzen in uns (selbst), die Kindschaft erwartend, die Erlösung unseres Leibes. Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin. Aber Hoffnung, die man sieht, ist keine Hoffnung, denn was kann man hoffen, was man sieht? Wenn wir aber hoffen auf das, was man nicht sieht, so warten wir darauf mit Geduld. (Röm 8,18-25, Übersetzung der Verfasserin)
Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Montagvormittag, Anfang September 2015. Ich sitze im ICE von Hamburg nach Kopenhagen. Mit mir im Zug: viele Flüchtlinge. Sie sind am Wochenende in Deutschland angekommen – endlich. Nach wochenlanger Flucht und schlaflosen Nächten. Jetzt sind sie auf dem Weg nach Schweden. In den Gesichtern sehe ich Müdigkeit, manchmal auch Unsicherheit. Mir schräg gegenüber sitzt eine Familie. Auf dem Tisch zwischen den Sitzbänken steht ein Tragekorb, in dem ein Säugling liegt. Wahrscheinlich ist er auf der Flucht zur Welt gekommen.
Die Familie hat keine Reservierung, der Zug ist überfüllt und darf nicht losfahren. Viele Menschen auf den Gängen müssen den Zug verlassen. Die Familie mit dem Baby darf bleiben.
Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Seit einem Jahr hat seine Frau die Diagnose Brustkrebs. Eine Chemotherapie folgt der nächsten, die Aussichten sind nicht gut. Ihr Körper ist schwach, ihr Kopf ist kahl.
Wie schöne wäre es, wenn dieser falsche Film endlich zu Ende wäre, denkt er. Alles wieder wie früher.
Doch seine Frau und er geben nicht auf. „Jeder Tag ein Geschenk“, so wollen sie die Zeit noch leben. Er nimmt jetzt vieles bewusster war. Versucht, jeden Moment auszukosten und nicht immer an den Krebs zu denken. Der Ausgang ist offen.
Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Doch zu hoffen ist nicht immer leicht.
Es gibt so viel Seufzen in der Welt, im Leben.
Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung mitseufzt und in den Wehen liegt bis jetzt.
Morgens seufzen die Zeilen in der Zeitung, wenn sie von Anschlägen in Paris und Afghanistan berichten.
Abends seufzen die Bilder sinkender Flüchtlingsboote in den Nachrichten.
Geschichten von Krankheit, Arbeitslosigkeit, Tod – sie sind zahlreich. Und sie seufzen.
Gerade jetzt, wenn die Tage wieder kürzer werden, scheint das Seufzen noch deutlicher hörbar.
Wieder ein Jahr vergangen. Es scheint endlos zu sein, das Leid.
Die Schöpfung seufzt und wartet.
Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin.
Und doch leben wir weiter. Jeden Tag neu. Und es gibt Momente, in denen kein Seufzen liegt. Da sollte die Zeit stehenbleiben, weil es so schön ist. Könnte dieser Moment unendlich sein.
Zurück im ICE. Unser Zug erreicht den Hafen. Auf der Fähre nach Dänemark sehe ich die Kinder toben, lachende Gesichter, die Eltern machen Selfies vor der Reling. Das Ziel scheint zum Greifen nah, die Hoffnung scheint erfüllt. Das Baby schläft friedlich im Tragekorb.
Aber Hoffnung, die man sieht, ist keine Hoffnung, denn was kann man hoffen, was man sieht?
Die Fähre legt an. Wir sitzen wieder im Zug und halten im ersten Bahnhof auf dänischem Boden. Am Bahnsteig stehen Polizisten, aber auch ein Fernsehteam mit Kamera.
Stillstand. Nichts geht weiter, die Türen verschlossen. 3 ½ Stunden stehen wir dort. Ohne zu wissen warum. Ohne zu wissen, wie lange noch. Ratlosigkeit bei uns Fahrgästen.
Stillstand. Sinnlosigkeit. Resignation.
Das ist das Gegenteil von Hoffnung. Ohne Hoffnung geht es nicht weiter. Dann geht ein Leben nicht weiter. Es ist schon tot, auch wenn es physisch noch am Leben ist.
Hoffnung ist der Antrieb für das Leben, sie ist das Leben selbst.
Die Hoffnung ist Leben, weil sie auf das Leben setzt. Weil sie es nicht verloren gibt, auch wenn alles um das Leben herum seufzt.
Die Hoffnung blickt über das Jetzt hinaus. Auf ein anderes Leben in einer neuen Welt.
Jede Hoffnung braucht einen Grund. Sonst ist sie keine Hoffnung, sondern nur ein leeres Versprechen.
Der Grund der Hoffnung, von dem Paulus schreibt, ist Jesus Christus. Er hat am Kreuz gelitten und geseufzt. Mit ihm seufzen seine Jünger und die Frauen am Grab.
Er war tot, war am Endpunkt.
Doch an diesem Endpunkt wächst neues Leben. Aus dem Endpunkt wird ein Ausgangspunkt. Neues Leben bricht auf, wo keines mehr vorstellbar war. Es ist so ganz anders. Gegen jede Erwartung. Gegen jede Regel. Gegen allen Verstand.
Wenn wir aber hoffen auf das, was man nicht sieht, so warten wir darauf mit Geduld.
Die Flüchtlinge im ICE sind ins Ungewisse aufgebrochen, ohne genau zu wissen, wie es enden wird.
Die Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit treibt sie an. Sie warten geduldig im Zug, 3 ½ Stunden, ohne zu wissen wie es für die weitergeht. Sie kennen das schon.
Die dänische Polizei kontrolliert die Papiere, alle Flüchtlinge müssen aussteigen. Da helfen kein Betteln und keine Tränen. Auch die Familie mit dem Baby muss gehen. In ihren Gesichtern sehe ich Leere. Resignation. Sie wissen nicht, was sie erwartet. Ob sie zurückgeschickt werden, nach Deutschland oder in ihre Heimat. Oder ob sie doch noch Schweden erreichen werden.
Aus den Nachrichten erfahre ich am nächsten Tag, dass die Flüchtlinge in Turnhallen gebracht wurden, zur Registrierung. Doch ihr Ziel war Schweden. Und so machen sich mehrere hundert Menschen auf den Weg zu Fuß nach Schweden, entlang der Autobahn. Dabei bekommen sie Begleitschutz von dänischen Autofahrern. Eine Autobahn wird zur Wandertrasse. Hunderte Menschen machen sich auf den Weg.
Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Und doch bleibt ein Stachel.
Aber Hoffnung, die man sieht, ist keine Hoffnung, denn was kann man hoffen, was man sieht?
Hoffen ins Ungewisse, ohne Sicherheit. Ausgang offen?
Die Hoffnung muss lebendig bleiben, sie braucht Nahrung.
Da ist es gut, wenn wir uns immer wieder an ihren Grund erinnern. Und jetzt schon ein Stück erfahren von der Erfüllung.
Vor seinem Tod hat Jesus Abendmahl gefeiert. Ein Festmahl im Angesicht des Todes. Ein Abend voller Leben.
Wenn wir heute Abendmahl feiern, erinnern wir uns daran. An das Leben und an das Sterben Jesu. Wir hören seine Worte.
An seinem Tisch saßen seine Freunde und der Verräter. Hoffnungsvoll und hoffnungsleer. Jeder hatte einen Platz, keiner musste hungern.
Wenn wir heute Abendmahl feiern, erinnern wir uns auch daran.
Wir sind alle eingeladen an den Tisch Jesu Christi. Mit ihm beginnt neues Leben dort, wo alles hoffnungslos war. In seinem Namen sind wir zusammen, in seinem Sinne. Er ist uns nahe in seinem Geist.
Wir essen nur ein Stück Brot und trinken nur einen Schluck Wein. Es ist kein Festmahl. Wir werden nicht satt. Doch es ist ein Vorgeschmack auf das Kommende. Es ist eine Kostprobe. Darin können wir das neue Leben schmecken, das in Jesus Christus begonnen hat. Sie lässt uns nur erahnen, was wir erwarten, was wir erhoffen. Es ist ein Stück Wegzehrung auf einem langen Weg. Vielleicht reicht das nicht immer, um die Hoffnung wieder zu stärken. Aber es kann sie am Leben halten, wenn alles seufzt. So lange wir leben, haben wir Hoffnung. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Seine Frau hat gekämpft, doch sie hat es nicht geschafft. Jetzt ist er allein. Wenn er zurückschaut auf die Zeit, fällt ihm auf: Nie waren sie ohne Hoffnung. Immer hat er gehofft, die nächste Untersuchung bringt die Wende.
Bis zuletzt. Auch als es allen anderen klar war, dass seine Frau sterben wird, hat er gehofft, dass es einfach so wird wie früher. Völlig irrational. Aber das hat ihm Kraft gegeben, weiter zu machen, bis zum Schluss. Ein Leben ohne sie konnte er sich nicht vorstellen. Jetzt steht er mitten drin. Vieles hat er schon ohne sie erlebt. Es ist schwer. Sie fehlt ihm. Doch es gibt auch Momente, da ist sie ihm ganz nah. Sie ist nicht einfach weg. Etwas von ihr bleibt. Diese Momente geben ihm Kraft, weiter zu leben.
Die Hoffnung stirbt nicht zuletzt. Die Hoffnung lässt Leben wachsen – auch im Seufzen.
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Kippschalter der Hoffnung - Predigt zu Römer 8,18-25 von Wolfgang Vögele
„Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat -, doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.“ (Röm 8,18-25)
Der Tag könnte schiefgehen. Jeder Frühaufsteher, der sich um halb sieben den Schlaf aus den Augen reibt, verschwendet keinen einzigen Gedanken darauf, wie viel Vertrauen er den Tag über benötigen wird. Siebtklässler, Kindergärtnerinnen, Bankdirektoren, Hausfrauen – alle verlassen sich darauf, dass Strom aus der Steckdose fließt, dass die Tageszeitung um Sechs im Briefkasten steckt und dass die Linie Drei pünktlich abfährt.
Vertrauen ist die Zuversicht, dass die Dusche warmes Wasser liefert, dass der Motor ohne Stottern anspringt und die Fahrpläne eingehalten werden. Alles muss funktionieren, damit die Rädchen ineinander greifen können. In der Routine des Alltags denkt niemand an Pannen, Aus- und Unfälle, die alles durcheinanderbringen – oder zum Stillstand.
Dann sticht das Erschrecken umso tiefer: Straßenbahnen können plötzlich nicht fahren, weil die Schienen vereist sind – Verspätungen, Ärger am Arbeitsplatz. Der Müll wird plötzlich nicht mehr abgeholt, weil die Müllabfuhr streikt: Auf den Straßen türmen sich stinkende blaue Säcke. Noch schlimmer: Eine Trafostation brennt ab, das Stromnetz im Stadtteil bricht zusammen, es wird dunkel in Wohn- und Badezimmern. Keine Heizung, kein Radio, Fernsehen, Internet.
Kleinigkeiten können plötzlich die Selbstverständlichkeiten des Alltags unterbrechen. Stress kommt auf, wenn ich plötzlich nicht mehr nutzen kann, was mir über Jahre zur Routine geworden ist.
Jeder Mensch ist abhängig von technischen, natürlichen und sozialen Prozessen, von denen er oft nichts weiß und meistens nichts versteht. Den Führerschein besitzen viele, den Keilriemen können die wenigsten wechseln. Viele Menschen ignorieren einfach, dass um sie herum ein riesiges Gebäude von Selbstverständlichkeiten gebaut ist, auf die sie angewiesen sind. Viele wollen diese Abhängigkeit nicht sehen und flüchten sich in einen vermeintlich gesunden Optimismus: Das Leben ist das Selbstverständliche. Kreisläufe, Nutzungs- und Nahrungsketten laufen wie von selbst ineinander. Ich muss mich nicht kümmern. Betriebsstörungen bilden für den Optimisten die unterschätzte Ausnahme.
Und wer den Blick von den sozialen und technischen Hilfsgebäuden auf Wetter, Natur oder gar auf die gesamte Schöpfung lenkt, der merkt: Unterbrechung, Zerstörung, Leere, Schweigen, Tod – das ist das Normale. Das zerbrechliche Leben ist die bewunderns- und staunenswerte Ausnahme im Chaos. Der funktionierende Alltag ist in Wahrheit ein Wunder – genau wie die Tatsache des Lebens auf der Erde.
Größe und Unermesslichkeit des Kosmos kann sich niemand so richtig vorstellen und schon gar nicht beschreiben. Nach wissenschaftlicher Erkenntnis ist Leben von Tieren und Menschen nur entstanden auf diesem einen kleinen Planeten namens Erde, auf einer abgelegenen kleineren Galaxie namens Milchstraße. Überall sonst herrschen Chaos, Leere, Unordnung und Zufall. Dies ist ein kränkender Gedanke, den wir aushalten müssen.
Natur beruht auf Zerstören und Töten. Großes Tier frisst kleines, schwaches Tier – immer, ohne Gnade. Das Gewitter bricht über Erdbeerplantagen und Weizenfelder herein und der Hagel zerstört die Trauben im Weinberg – die Arbeit eines ganzen Jahres. Nach dem Gewitter verwandeln sich kleine Bäche in reißende Ströme, überfluten Keller und unterspülen Brückenpfeiler. Der Tsunami fegt am Küstenstreifen alles weg, was auf dem Weg liegt und in der gigantischen Welle ertrinken alle – egal ob Touristen oder Küstenbewohner, Vieh oder Fahrradfahrer.
Viele Naturkatastrophen erschrecken so sehr, weil Hagel oder Schlammlawinen sinnlos und gleichgültig alles zerstören, was sich ihnen in den Weg stellt. Viele Menschen stellen die Frage nach dem Warum. Sie leiden unter diesem Mangel an Gerechtigkeit. Sie versuchen im Nachhinein, sich eine eigene Gerechtigkeit zu denken: „Warum hat es gerade diese Gegend getroffen?“ Sie scheitern regelmäßig mit ihren Erklärungsversuchen, weil sie lächerliche menschliche Maßstäbe anlegen.
Wir sind gefangen in einer unberechenbaren Natur, in einem chaotischen Kosmos. Leben kann in einem Augenblick sinnlos zerstört werden. Die Eintagsfliege endet an der Fliegenklatsche, der Hering wird vom Dorsch gefressen, das Planetensystem stürzt in das schwarze Loch. Beim schweren Hurrikan in der Karibik kommen hunderte Menschen ums Leben.
Paulus weiß das. Er bringt es ganz knapp auf den Punkt: Die Schöpfung seufzt. Leben in der Schöpfung ist vergänglich, gefährdet, dem Untergang geweiht.
Hatte Gott das nicht anders geplant? Gerechter, besser, schöner? Wieso herrscht trotzdem der Tod? Wieso triumphiert die Grausamkeit?
Seufzen über die Schöpfung verwandelt sich schnell in ausgedehntes Grübeln und Klagen. Mindestens ein Tropfen von dieser Traurigkeit steckt in jedem Menschen. Es ist wichtig, sich dieses Seufzen einzugestehen. Niemand entkommt der schwarzen Traurigkeit über die vergängliche Schöpfung. Wie damit umgehen?
Die naturwissenschaftliche Antwort kommt ohne Gott aus. Sie nimmt Urknall und Evolution als Fakten und sieht in der Erd- und Menschheitsgeschichte eine einzige Kette von Zufällen. Die Erfolge und Errungenschaften menschlicher Zivilisation, die daraus entstanden sind, können jederzeit wieder in sich zusammenbrechen.
Der zweite Weg sieht in der Welt Gottes Gerechtigkeit am Werk. Auch Tod und Zerstörung gehören in diesen göttlichen Plan hinein. Aber ist das eine Rechtfertigung für den Tod von Unschuldigen, für Folter und anderes Schlimmes? Diese Frage ist nicht zu beantworten. Kein Mensch kann sich anmaßen zu wissen, worin die Gerechtigkeit Gottes besteht.
Einige gehen so weit zu sagen: Wer krank wird, wen der Blitz trifft, muss Schuld auf sich geladen haben. Nein.
Der Apostel Paulus schlägt einen dritten Weg vor. Der dritte Weg besteht in einer winzigen gedanklichen Operation, die von unendlich großer Wirkung ist. Erschrecken Sie nicht vor dem Wort „gedankliche Operation“. Narkose und Skalpell sind nicht nötig. Nötig ist nur ein einziger Kippschalter, der uns im Herzen auf eine neue Spur setzt.
Als Gemeindepfarrer besuchte ich vor Jahren lange eine ältere Frau. Sie war an einem Tumor erkrankt. Während der Chemotherapie zermarterte sie sich den Kopf, weshalb es ausgerechnet sie getroffen hatte. Lag es an den vielen Zigaretten? Lag es an der falschen Ernährung, an den vielen Tafeln Schokolade oder den gesättigten Fettsäuren? Hatte sie vielleicht psychische Ursachen übersehen? Wurde sie für eine Schuld bestraft? Trug sie verdrängte Konflikte mit sich herum? Darüber grübelte diese Frau viele Stunden lang, wenn sie allein im abgedunkelten Krankenzimmer lag, aber auch im Gespräch mit ihrem Mann und der besten Freundin. Sie kam zu keinem Ergebnis. Die Antworten, die sie sich selbst gab, waren ihr zu schal und unbefriedigend.
Ich würde viel darum geben, wenn ich dieser Frau damals hätte sagen können, was ich von den Worten des Apostels verstanden habe. Es hätte ihre Krankheit nicht geheilt, aber vielleicht hätte sie darin eine Perspektive gefunden.
Paulus stellt einfach einen Schalter um. Er schaltet von Vergangenheit auf Zukunft. Er sagt: Es ist ganz aussichtslos, die Vergangenheit bewältigen zu wollen. Es liegt viel mehr Segen darin, sich auf das, was kommt, in Hoffnung vorzubereiten. Er sagt: Es führt nicht weiter, zu grübeln und sich einen schweren Kopf zu machen. Viel weiter führt es, wenn sich die Glaubenden in Hoffnung einüben.
Die gesamte Lebensdeutung verändert sich, wenn ich dem Umschalten des Paulus folge. Wir fragen viel lieber nach dem Warum, gründeln in Ursachen und verpassten Alternativen und bemerken darüber gar nicht, wie wir uns in der Vergangenheit verlieren. Der Blick zurück soll Gegenwart und Zukunft ersparen. Viele Menschen beschäftigen sich in diesen trüben Tagen mit Tod und Sterben. Sie besuchen Gräber und stellen Blumen auf. Und sie denken - bewusst oder unbewusst - auch an den eigenen Tod.
In der Perspektive der Vergangenheit ist der Tod Bestrafung. Er besiegelt ein fehlerhaftes, sündiges, leidensvolles Leben. Das ist das Modell der Vergänglichkeit. Leben stürzt nach unten ab, in den Abgrund des Todes. Der Tod als letzter Schritt auf einer Leiter in die Unterwelt.
In der zweiten Perspektive, der Perspektive der Hoffnung ist alles Übergang, Weiterschreiten. Menschen sind sterblich wie alles Lebendige und trotzdem ergibt sich eine Bewegung auf eine Zeit hin, die erst noch kommt. Dieser zweiten Bewegung entspricht das Modell der Geburt. So wie die Wehenschmerzen der Geburt des kleinen Kindes vorausgehen, so gehen Seufzer, Krankheiten und Schmerzen dem Tod voraus und leiten über in ein anderes, neues Leben. Genauso sieht das Paulus. Der Tod ist wie eine Geburt. Aus ihm entsteht neues Leben.
Wer diese Hoffnung annehmen kann, der fragt nicht mehr nach der Vergangenheit, sondern nach der Zukunft. Er fragt nicht mehr nach dem „Warum“, sondern nach dem „Wozu“. Er grübelt nicht mehr, sondern er hofft in die Zukunft hinein.
Paulus denkt sich das so: Die ganze Schöpfung liegt in einem Geburtsschmerz, in Wehen hin auf das Reich Gottes, auf seine Ewigkeit. Und die Botschaft lautet: Dreht euch nicht um. Schaut nicht zurück. Blickt nicht mehr auf eure Vergangenheit, sondern auf eure Zukunft.
Es macht einen riesengroßen Unterschied, ob wir unser Leben aus der Vergangenheit heraus denken oder in die Zukunft hinein hoffen. Beide Modelle lassen sich nicht völlig gegeneinander ausspielen: Schmerzen und Hoffnung sind unlöslich miteinander verknüpft. Das ist die Nüchternheit des christlichen Glaubens. Schmerzen, verzweifelte Tage, Ängste oder gar Depression werden wahr- und ernstgenommen. Paulus stellt sie in das Licht einer Hoffnung, die uns aus der Verzweiflung heraus in ein Gleichgewicht bringt. Glaubende sind noch verzweifelt, aber sie hoffen auch schon.
Den feststehenden Pol dieser Hoffnung finden die Glaubenden in Jesus Christus, der uns im Leiden am Kreuz, in seinem Tod vorangegangen ist. Gerade diesen leidenden, verachteten und gefolterten Menschen hat Gott als ersten zum ewigen Leben auferweckt.
Der katholische Orden der Kartäuser hat sich ein Motto gewählt: Solange die Erde sich dreht, steht das Kreuz. Die Wirklichkeit des Leidens lässt sich nicht auslöschen oder ignorieren. Das ist das eine. Aber das andere ist: Zum Kreuz gehört auch die gewisse Hoffnung, dass Gott sich mit diesem Leiden nicht abfindet.
Paulus wirbt dafür, dass die Glaubenden diese Hoffnung in sich aufsaugen. Diese Hoffnung schafft eine Gewissheit, dass ich in der Geborgenheit Gottes durchs Leben gehe, ohne dass ich das dauernd beweisen müsste. Diese Hoffnung hebt die Schmerzen und das Seufzen der gesamten Schöpfung nicht auf, aber sie stellt dieses Seufzen in ein neues Licht: in das Licht des Übergangs und der Geburt des ewigen Lebens. Das ist das Entscheidende und das Faszinierende, das lässt den Apostel so wunderbar begeistert schreiben.
Seufzen wird Hoffnung, durch einen einzigen kleinen Blickwechsel.
Wer sich umdreht, den Blick wechselt und plötzlich aus der beschwerlichen Vergangenheit in die Zukunft des Reiches Gottes blickt, der erhält das kleine, zerbrechliche Geschenk der Hoffnung.
Mehr nicht? Mehr nicht.
Aber in dieser Hoffnung ruht die Aussicht auf die Ewigkeit.
Unsere Hoffnung richtet sich auf den Frieden Gottes. Auf ihn hoffen wir. Dieser Friede bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
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Nur keinen Streit vermeiden! - Predigt zu Römer 14,7-9 von Jörg Coburger
I
In unseren beiden Dörfern (Weissbach und Dittersdorf) haben wir unlängst über zehn Sonntage hinweg über Kerninhalte der sogenannten confessio augustana (CA, eg 807) nachgedacht und gefragt: Was gilt? Was bedeutet es, heute ein evangelisch-lutherischer Christ zu sein?
Es waren Themen wie „Erinnerung genügt nicht“ (Abendmahl) oder „Staat und Kirche“ (Artikel 14-16) und auch „Diagnose und Therapie“ (Beichte und Buße, Artikel 11-12), die uns vielleicht noch im Gedächtnis sind. Weil das Reformationsjubiläum begonnen hat und wir die Impulse von damals für heute befragen wollten.
Für einen sinnvollen Ablauf hatten wir es beim ersten Teil der CA belassen müssen. Heute merken wir am Beispiel des Predigttextes abermals, wie neu alte Themen sein können. Artikel 26, „Von der Unterscheidung der Speisen“, widmet sich im zweiten Teil ganz praktischen Fragen des alltäglichen Lebens wie zum Beispiel auch der Ehe. In Artikel 26, der leider hier in unserem Sächsischen Gesangbuch nicht mehr steht, meint Luther: „Vor Zeiten hat man also gelehrt […], dass der Unterschied der Speisen[…] darzu dienen, dass man dardurch Gnad verdiene und fur die Sünde genugtue […]. Aus diesem Grunde hat man täglich neue Fasten […] erdacht [...] und solches hart betrieben, als seien solche Dinge notige Gottesdienst.“[1]
II
Was ist der Hintergrund solcher Sätze? Der heutige Abschnitt kann es zeigen. „Keiner lebt für sich allein, keiner stirbt für sich allein“? Oder: „Schwache und Starke“ im Glauben? Schon einmal hatte Paulus an die Korinther (1.Kor 10,18-22) in den Konflikt um das Götzenopferfleisch aus dem antiken Tempelritualen gesprochen. Die einen: „Das darf man nicht.“ Die anderen: „Wir können und wollen das Götzenopferfleisch essen, auch, weil wir Hunger haben und es außerdem mit unseren Glauben vereinbaren können.“ Dorther stammt auch der bekannte Satz: „Es ist alles erlaubt, aber es frommt nicht alles.“ Es dient nicht alles zum Guten.
Es ist sehr mündig und hellwach, dass darum nicht einfach geschwiegen, sondern gestritten wird. Das ist auch heute in jeder Gemeinde ein gutes Zeichen. Verbindlichkeit und Freiheit sind keine Konserven, sondern müssen in einer sich immer reformierenden Kirche neu erarbeitet werden. Wo so gefragt wird, ist nicht alles egal und dort wird auch nicht alles rein pragmatisch oder unter einem gleichgültigen Toleranzverständnis versteckt. Es gilt: „Das Reich Gottes besteht nicht in Essens- und Trinkvorschriften.“
Das hatte die Reformation wieder entdeckt. Dass alles geschichtlich Gewordene nicht allein darum eine Existenzberechtigung hat, weil es eben so geworden war. Das betrifft keineswegs nur den Bereich von Gottesdienst und Liturgie, den Bereich des Kultischen, sondern unseren ganzen Alltag. Römer 14 ist eine Mahnung zur Selbstreflexion, dass Sinn und Berechtigung in Zweifel gezogen werden können. Und eben genau das gilt nicht nur, wie wir heute gern unterstellen, um „das Alte“ oder „was schon immer so war“, zu hinterfragen, sondern in Redlichkeit auch für „alles Neue und jetzt gerade Angesagte“.
Dazu kommt die Entdeckung - wie auch hier im Römerbrief - einer möglichen Unterschiedlichkeit im Leben vor Gott. Die Prüfung und Berufung auf das eigene Gewissen. Aber mit dem Gewissen ist noch nichts geklärt, sondern die Probleme fangen erst an. Vor allem: Woran mein Gewissen gebunden ist. Ein sogenanntes autonomes Gewissen konnte mir noch niemand nachweisen. Denn gerade wenn es versucht, seine Eigenheit und Individualität verzweifelt zu behüten, ist es narzisstisch und sehr an das Selbst gebunden.
Aber auch Erfahrungen aus zwei Diktaturen, wo sich politische Mächte und Führungspersonen anmaßten, dass Gewissen des Volkes zu sein – der Führer Adolf Hitler oder dann die eine und einzige Partei…? - das macht allergisch und hellwach, wenn political correctness und auch zunehmend religous correctness uns den Mund verbieten wollen.
Nur gut so, vergessen wir diese Erfahrung aus einer Schule des Nachquatschens niemals.
Es kann also auch nicht davon abhängig sein, ob mir jeweils meine Zeit zubilligt, mich auf mein Gewissen zu berufen. Es gibt kein Zurück mehr: Wir werden es tun, komme, was wolle!
Im Römerbrief geht es konkret um den Genuss von Fleischprodukten und Wein.
Vor allem, Fleisch zu essen, das als kultisch unrein galt. (Vgl. 5.Mose 14,3ff.) bzw. nicht nach jüdischem Ritus geschächtet war (Vgl. 5.Mose 12, 20ff).
Oder auf heidnischen Märkten als Opferfleisch verkauft wurde.
Wir bemerken schnell, dass „die Schwachen“ eine distanzierende Zitation von Paulus ist, denn die anderen, die sich selbst für stark halten, nennen sie so. Das ist nicht viel anderes als dass man heute plötzlich ein „Liberaler“ oder als ein „Konservativer“ oder sonst was stigmatisiert wird. Schubladendenken ist leider nicht aus der Welt geschafft. Wir bleiben dafür anfällig. Die Klischees zwischen Osten und Westen Deutschlands treiben nach wie vor fröhliche Urständ. Und was oder wer schwach oder stark ist, mag noch ganz offen sein. Da kann uns ein Gedanke aus Bonhoeffers Ethik helfen: Den Christus im anderen stärker hören als meinen eigenen.
III
Als das grundsätzlich Wichtigste erscheint hierbei für Paulus, dass ich mir bei meinem Handeln, vor allem in der Konfliktsituation etwas denke.
„Was nicht aus dem Glauben geht, ist Sünde.“ (Röm 14,23)
Die Lösung: Paulus beurteilt solche ängstliche Besorgnis als schwach im Glauben, weil sie aus Rücksicht auf das Gesetz die Freiheit des Glaubenden einschränkt. Und darum gibt er sehr wohl den „starken“ Heidenchristen recht, die in ihrer Herkunft solche Probleme nicht kannten. Unterschiede im christlichen Lebensstil dürfen sein und bleiben.
Aber Schwäche und Stärke dürfen nicht Positionen sein, die sich gegenseitig verurteilen, sodass damit christliche Gemeinschaft gestört, gar zerbrochen würde. Wer Christus gehört, wird sich im Sinn seiner Liebe des Schwachen annehmen, anstatt ihm von eigener Sicht aus Schwachheit vorzurechnen.
Die christliche Gemeinde hängt nicht zuerst an solchen Lebensweisen, sondern an ihrer Zugehörigkeit zu dem einen Herrn. Dem gehört mein Leben. Von da aus muss auch niemand sein postmodernes Credo bewachen: „Ich führe ein selbstbestimmtes Leben“ als das höchste aller Güter. Noch einmal: Nach Erfahrungen der Diktatur ist mir der Satz vom selbst bestimmten Leben sehr lieb und verständlich. Nur, wo stehen wir jetzt gerade?
IV
Paulus` und Luthers Konzept heißen: Freiheit in Bindung.
Entfremdung ist damit gerade nicht gemeint. Keine Polemik gegen Selbstverwirklichung. Keine Standpauke gegen Individualismus.
Der Rahmen für das Christsein ist weit und groß. Keine Angst davor, auch einmal zustimmen zu können. Keine Panik, wenn du einmal ganz allein gegen alle stehst. Fürchte dich nicht.
Der Regiewechsel macht es aus. Wir gehören unserem Herrn Christus Jesus, seit der Taufe. Die Taufe hatte doch den Unterschied zwischen Juden und Christen aufgehoben. Heraus aus meiner blanken Eigenmächtigkeit, hin zur Frage, was Gott gefällt. Je mehr Christus in mir Raum gewinnt, desto mehr finde ich zu mir selbst. Wir, dieser ziemlich unterschiedliche Haufen mit seinen Macken und je eigenen Fimmel gehören gemeinsam ihm. Das ist das biblische Konzept. Mein Herz ist befangen. Wir sind frei, nicht nach falschem Applaus zu geilen. Wir sind frei, auch einmal einzustimmen und uns einzulassen, obwohl es nicht unser religiöser Stallgeruch ist und nicht unsere Lieblingsgedanken, die wir schon immer gewusst haben.
Noch einmal Bonhoeffer: „ Nichts kann grausamer sein, als jene Milde, die den anderen in seiner Sünde belässt. Nichts kann barmherziger sein als die harte Zurechtweisung, die den Bruder vom Weg der Sünde zurückruft.“ Oder vielleicht so: Liebe und Klarheit sind wirklich Stärke.
Den Schwachen zu helfen ist stark. Sich helfen zu lassen noch stärker.
Sich auch einmal klein machen zu können – welch ein herrliches Kontrastprogramm in der Zeit von Angeberei und Schaumschlägerei.
V
Wann aber steht alles auf dem Spiel? Wenn es um die Gnade geht.
Wenn wir vor Gott und Mensch punkten und kokettieren wollen. Wenn wir aus lauter Selbstgerechtigkeit auf Gott und die Welt verzichten können.
Wenn wir nur noch lachen oder müde abwinken über die, die nach dem Gemeinsamen und Verbindlichen zwischen allen Unterschieden suchen.
Luther: „Solche Traditiones sind zu einer hohen Belastung des Gewissens geworden.“ Und haben Gemeinschaft zerstört. Der ökumenische Geist war hier von Paulus nicht ausgesprochen bedacht, aber ist deutlich in den Versen enthalten. Wir brauchen als unterschiedlich geprägte Kirchen einander, weil wir von einander lernen können. In diesem Prozess muss ich mir um das je Eigene keine Sorgen machen. Aber ich weiß, dass der Glaube meiner Kirche weiter ist als mein eigener. Das tut gut und entlastet.
[1] Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, Göttingen 1982, 100ff; Kürzungen vom Autor.
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Du bist da! - Predigt zu Römer 14,7-9 von Rainer Claus
Als Elfriede ihr Zuhause verlassen muss, da ist sie zwölf Jahre alt. „Es ist nicht für lange“, sagt die Mutter. „Nur ein paar Orte weiter westlich, nur ein paar Wochen warten, bis sich alles wieder beruhigt“.
Aber es beruhigt sich nichts. Die Russen bleiben, die Familie muss gehen.
1945 ist Elfriede zwölf Jahre alt und versteht das alles nicht.
Zwölf Jahre lang ist sie im Großdeutschen Reich groß geworden. Und jetzt ist alles durcheinander und anders. Was gestern noch galt, ist heute alt und überholt.
Keiner lebt für sich alleine.
Du bist hineingewoben in eine Welt mit tausend Fäden.
Auch wenn sie dir die Nabelschnur durchtrennen, Du bleibst verbunden, Mama, Papa, Oma, Bruder, Schwester.
Du bist hineingewoben in deine Welt mit tausend Fäden.
Du lernst erste Worte, verstehst und begreifst, wohin du gehörst und welche Sprache die deine ist.
Elfriede begreift gar nichts mehr.
Mit einem Ochsen und einen Karren ziehen sie mit ein paar Habseligkeiten gen Westen. In Zwickau kommen sie unter. Für´s erste. Keiner weiß, wie es weitergehen soll. Aus dem „für´s erste“ werden 16 Jahre.
Aus dem Mädchen wird eine Frau und Günter kann so gut tanzen.
Keiner lebt für sich alleine.
Ich und Du - 1951 wird geheiratet in Zwickau.
Die Wunden heilen. Töchter werden geboren.
Mit dem Zug geht es im Sommer 1961 in die Sommerfrische an die Nordsee. Tante Martha besuchen.
Das Rückfahrticket kommt nie zum Einsatz. Eine Mauer wird gebaut, zerschneidet Deutschland in Ost und West.
Schon wieder neu anfangen. Mit einem Zimmer unter dem Dach bei Bekannten.
Keiner lebt für sich alleine.
Also fangen sie noch einmal an.
Arbeit finden, eine Wohnung bekommen, sich einrichten im neuen Leben.
Sie werden alt miteinander, die beiden.
Viele Sommer halten sie am Südstrand ihr Gesicht in die Sonne.
Viele Winter zieht der Duft von Apfelkuchen durch die Wohnung.
Sie werden alt und langsam. Und manchmal vergessen sie etwas. Den Haustürschlüssel oder den Arzttermin.
Die Töchter machen sich Sorgen. Wie geht das weiter?
Keiner lebt für sich alleine, keiner stirbt für sich alleine.
Im Wohnpark am Deich finden sie ein Zuhause.
Manchmal wollen sie zum Zug nach Zwickau, vergessen was war oder wer morgen kommen wollte. Sogar die Namen der Töchter, die zu Besuch kommen, werden verlegt und nicht mehr gefunden.
Sie schlurfen über das Linoleum zu ihren Zimmern und halten sich dabei an der Hand.
Wenn der Verstand verschwindet, bleibt das Gefühl.
„So nahe waren wir uns sonst kaum im Leben“, sagt die Tochter.
Eine Umarmung, den Rücken eincremen, die Hände massieren und spüren:
Keiner lebt für sich allein, keiner stirbt für sich allein.
Als er stirbt, da geht sie nach vorne zum Sarg, küsst sein Bild und will gehen. Obwohl die Trauerfeier noch gar nicht angefangen hat.
„Ich geh jetzt auch“, sagt sie.
Einen Monat später ist sie gestorben.
Beide sterben nur einen Monat auseinander. Darum können ihre beiden Urnen gemeinsam beigesetzt werden. Sie werden in die Erde gelegt und der Pastor sagt:
Keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber.
Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebendige Herr sei. (Röm 14,7-9)
Wenn Du Gott finden willst, erzähl deine Lebensgeschichte.
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen.
Ich lebe nicht für mich alleine.
Ring für Ring, wie bei einem Baum wächst mein Leben, mit den Menschen meines Weges.
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen.
Ich kreise um Gott, den uralten Turm, und frage mich:
Werde ich den letzten vollbringen?
Paulus, der Apostel, hat unseren heutigen Predigttext geschrieben.
Paulus, der Menschenkenner, weiß: Mal bist du stark, mal bist du schwach in deinem Glauben.
In der Gemeinde in Rom gab es Streit und unterschiedliche Richtungen.
Die einen wollten an den alten jüdischen Traditionen festhalten.
Die anderen wollten ganz neu ihren Glauben leben.
Paulus sagt in diesen Streit der Gemeinde hinein:
Stellt euch die Frage: Was ist eure Mitte? Worum dreht es sich bei euch im Leben und Sterben?
Bei Paulus ist es Christus, der Auferstandene. Seit er ihm begegnet ist, weiß er, was im Leben und Sterben sein Trost ist.
Paulus erinnert die Gemeinde in Rom an die Mitte.
Bei allen Auseinandersetzungen, bei allen unterschiedlichen Meinungen ist da eine Mitte, um die sich alles dreht.
Du bist da.
Manchmal fragen mich die Konfirmandinnen und Kornfirmanden, wenn wir über das Glaubensbekenntnis reden: Auferstehung, ewiges Leben, wie soll das gehen?
Ich weiß es nicht so genau, sage ich dann.
Aber Gott ist da in meinem Leben.
Ich lebe nicht für mich allein.
Sollte er dann nicht auch da sein, wenn ich sterbe?
Und dann singe ich mit ihnen gemeinsamen:
„Du bist da,
du bist da
bist am Anfang der Zeit,
am Grund aller Fragen bist du.
Bist am lichten Tag,
im Dunkel der Nacht
hast du für mich schon gewacht“.
Amen
/ Inspiration Rilke Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen
Lied am Schluss (kann dann auch direkt nach der Predigt gesungen werden):
Du bist da – Text Jan von Lingen + Musik G.P Münden 2004