Dem Himmel nahekommen - Predigt zu Römer 2,1-11 von Frank Fuchs
Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest. Denn worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest. Wir wissen aber, dass Gottes Urteil zu Recht über die ergeht, die solches tun. Denkst du aber, o Mensch, der du die richtest, die solches tun, und tust auch dasselbe, dass du dem Urteil Gottes entrinnen wirst? Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut? Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet? Du aber, mit deinem verstockten und unbußfertigen Herzen, häufst dir selbst Zorn an für den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, der einem jeden geben wird nach seinen Werken: ewiges Leben denen, die in aller Geduld mit guten Werken trachten nach Herrlichkeit, Ehre und unvergänglichem Leben; Zorn und Grimm aber denen, die streitsüchtig sind und der Wahrheit nicht gehorchen, gehorchen aber der Ungerechtigkeit; Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die das Böse tun, zuerst der Juden und auch der Griechen; Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden allen denen, die das Gute tun, zuerst den Juden und ebenso den Griechen. Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott. (Röm 2,1-11)
Liebe Gemeinde,
vor 2 ½ Wochen haben wir in dieser Kirche den Reformationstag gefeiert. Der Thesenanschlag Martin Luthers war nun 499 Jahre her. Damit begann das Festjahr zum großen Jubiläum im nächsten Jahr. Aus diesem Anlass fanden in den vergangenen Wochen vier Gesprächsabende der vier christlichen Gemeinden in Babenhausen zum Thema Reformation statt. Es wurde die Frage behandelt, wie die vier christlichen Gemeinden zur Reformation stehen. Die Pfarrer und Pastoren der jeweiligen Gemeinden haben dazu einen Vortrag gehalten. Sie haben ihre Gemeinde und Kirche vorgestellt und bedacht, inwiefern sie heute reformatorischen Gedanken nahestehen. Darüber kamen wir miteinander ins Gespräch. Im Vordergrund stand das Verbindende. Aus katholischer Sicht wurde an Martin Luther wertgeschätzt, dass er den Blick wieder auf die Bibel gelenkt hat. Aus dem Blickwinkel der freien Gemeinde wurde als positiv angesehen, dass er den Glauben umfassend leben wollte, was in der Gemeinde in Gebets- und Hauskreisen geschieht. Und von Seiten der Pfingstgemeinde wurde vermerkt, dass sich Luther nach seinem Gewissen entschieden hat und damit auch dem Geist Gottes Raum geben wollte.
Unser Predigttext ruft uns heute zur Demut auf. Denn Paulus richtet seinen Appell gegen jene, die ihre eigene Sicht über andere stellen und sie negativ beurteilen. Wer Christ wird, versteht sein Leben auf andere und neue Weise. Diese neue Erkenntnis lässt sich allzu leicht als Waffe gegen anderen einsetzen.[i] Diese Gefahr sieht der Apostel Paulus auch in der Gemeinde in Rom. Dort haben sich Christen anscheinend gegen andere gestellt, was zu Konflikten geführt hat. Im Brief an die Römer mahnt Paulus also zur Mäßigung. Andere sollen nicht abgekanzelt oder eben gerichtet werden.
In der Geschichte unserer Kirchen und Gemeinden unterlagen viele dieser Gefahr. Denn es ist ja auch eine Geschichte der Trennungen. Auf diese Weise wären auch unsere Gespräche der vier Gemeinden schiefgelaufen. Wenn wir unsere Sichtweise absolut setzen, können wir die anderen nur negativ beurteilen. Wir kritisieren uns gegenseitig und sehen die Fehler der anderen.
Paulus spricht aber davon, dass Gottes Güte zur Buße führt. Denn das ist die Konsequenz aus der Rechtfertigungslehre im Römerbrief, die Martin Luther später wiederentdeckt hatte und die zum Ausgangspunkt seiner theologischen Überzeugungen wurde. Wenn ich glaube, dass Gott mich gerecht spricht, nicht wegen meiner besonderen Taten, sondern allein aus Glauben, dann darf ich die anderen in Glaubensfragen nicht richten. Vielmehr muss ich davon ausgehen, dass auch der andere freigesprochen ist. So ist es folgerichtig, dass es Gottes Güte ist, die ich für mein Leben annehme und die mich zur Buße führt. Buße bedeutet dann, dass ich umkehre und nicht mehr andere abkanzle und aburteile, sondern mit Achtung begegne. Dann wirkt sich Gottes Güte spürbar für andere aus.
Paulus führt in drastischen Worten aus, dass diejenigen, die Geduld üben mit guten Werken das ewige Leben erwarten, diejenigen aber, die streitsüchtig und ungerecht sind, Zorn und Grimm zuteil wird. Dieses Gericht vollzieht sich an denen, die sich erheben und über andere urteilen. Dabei gibt es kein Ansehen der Person. Es trifft Juden wie Griechen gleichermaßen.
Es zeigt sich, dass das Verhalten heute das erwartete Gericht vorausnimmt. Wie sich die Menschen früher das Gericht Gottes vorgestellt haben, zeigt eine Freske im Chorraum unserer Stadtkirche, die aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts stammt. Oben thront Christus, der Gericht hält. Neben ihm befinden sich zwei Engel, die in die Posaune blasen. In den Gräbern sind Tote zu sehen und manche Menschen erheben sich bereits aus den Gräbern. Zwei Menschengruppen sind dargestellt, die hintereinander in zwei Richtungen laufen. Auf der rechten Seite laufen sie in den Schlund eines Ungeheuers. Sie sind gefangen durch ein Seil und werden hineingezogen. Auf der linken Seite ist die Freske teilweise verloren gegangen. Man sieht nicht, wohin die Menschengruppe läuft. Es sind aber oberhalb noch einige Dächer zu sehen, die eine Stadt darstellen. Vermutlich ziehen sie ins himmlische Jerusalem ein, wie die Stadt in der Offenbarung beschrieben wird. (Off 21)
Bei unseren Gesprächsabenden wurden durchaus verschiedene Verständnisse auf die Vorstellung vom Weltgericht deutlich.
Es gibt die Ansicht, die sich eher an dem traditionellen Bild orientiert, das die Menschen in zwei Bereiche aufteilt: in Verderben und in den Himmel.
Es gibt die Ansicht, dass Gottes Güte so groß ist, dass sogar eine Erlösung aller Menschen möglich ist.
In diesen Tagen wird aber auch ein Dilemma ersichtlich. Die Kirche versucht, das 500-jährige Reformationsjubiläum zu nutzen, um ihre Botschaft in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. In den Zeitungskommentaren und Internetforen wird allerdings kritisiert, dass die Kirche kaum noch Theologie treibe und einfach das „Liebsein“ Gottes beim Gedenken an den Thesenanschlag in den Vordergrund stelle.[ii] Seine Thesen waren aber im damaligen Weltbild verwurzelt, nach dem Menschen das Gericht fürchteten. Sie hatten bildlich gesprochen Angst, in den Schlund des Ungeheuers getrieben zu werden. Die Kirche heute will und kann den Menschen keine Angst mehr machen. Wenn aber der Eindruck entsteht, dass Gott nur noch auf sein „Liebsein“ reduziert wird, ist das eine unzulässige Vereinfachung. Das Dilemma scheint mir kaum auflösbar. Denn die Befreiung, die Martin Luthers Wiederentdeckung der Rechtfertigungslehre für die Menschen bedeutete, war für das mittelalterliche Weltbild nachvollziehbar. Heute scheint es fern zu liegen. Eher spüren wir einen diesseitigen Leistungsdruck und Optimierungswahn, der uns Kräfte raubt und bindet. In diesem Zusammenhang kann die Botschaft von Rechtfertigung allein aus Glauben befreiend wirken. Aber das wäre dann wieder rein diesseitig gedacht.
Paulus stellt uns beide Seiten vor Augen: ewiges Leben auf der einen Seite und den Zorn Gottes bzw. das Gericht auf der anderen. In den Vordergrund stellt er aber Gottes Güte, die uns leiten soll. Mit Güte haben wir an unseren Gesprächsabenden miteinander gesprochen. Auf diese Weise haben wir erfahren, dass uns unser Christsein untereinander viel mehr verbindet als trennt. Wenn wir ganz bewusst damit leben, dass uns Gottes Güte gilt, können wir uns gar nicht über andere erheben. Diese Botschaft schließt ein, sanftmütig gegenüber anderen zu sein. Mit Martin Luther lässt sich die Botschaft des Predigttextes wie folgt zusammenfassen:
Sanftmut ist der Himmel, Zorn die Hölle, die Mitte zwischen beiden ist diese Welt. Darum, je sanftmütiger du bist, desto näher bist du dem Himmel.[iii]
Amen.
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Auf die Finger schauen - Predigt zu Römer 2,1-11 von Markus Kreis
Liebe Gemeinde,
die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche. Ein simpler Satz. Dem Sinn nach schon dem Paulus geläufig. Und doch dauernd der erhobene Zeigefinger! Warum nur der erhobene Zeigefinger? Das einzige, was an des Predigers Weste weiß ist, ist doch das Beffchen. Der erhobene Zeigefinger – das ist halt die sicherste Form von Einfluss, den ein Pfarrer noch hat.
Wenn auch unsere Zeit von Kirche kaum noch etwas weiß, dies eine ist den meisten Leuten heute gewiss: Die von der Kirche sagen, was gut und was böse ist. Die haben den Anspruch zu wissen, was moralisch in Ordnung geht. Und was nicht.
Für die einen ist dieser Anspruch auf moralische Wahrheit ein Witz. Sie kennen ihn zwar noch, aber sie finden ihn alles andere als in Ordnung. Gerne verweisen sie dabei auf die Kirchengeschichte: Kreuzzüge, prassende Päpste, heimliche Beziehungen zwischen Mönch und Nonne, Kampf gegen offensichtliche Wahrheiten bis hin zur Tötung von deren Verfechtern. Verschwörungen im Vatikan. Offene Zusammenarbeit mit den Nazis und so weiter und so fort.
In ihren Augen hat die Kirche diesen Anspruch verwirkt. Man zeigt nicht mit nacktem Finger auf angezogene Leute.
Andere wiederum finden diesen Anspruch schon ein Stück weit in Ordnung. Aber nicht so sehr für sich persönlich. Nur für ihre Kinder. Genauer gesagt: für die Kindererziehung überhaupt. Die Kirche bringt den Kleinen bei, was richtig und was falsch ist, was gut und was böse. Dazu ist die Kirche gut und ihr erhobener Zeigefinger.
Denn in das echte große Leben passen sie irgendwie nicht so recht rein – die christlichen Ermahnungen. Sie scheinen zu einfach, wo unsere Zeit so kompliziert ist. Man weiß gar nicht mehr, was richtig und was falsch ist. Was gut und was böse.
Würde man sich einfach so an Jesu einfache Gebote halten, dann hätte das komplizierte Folgen für unser kompliziertes Leben: die andere Backe auch hinhalten, sieben mal siebzig mal vergeben, sich die Augen ausreißen, wenn man sich in jemand anders verguckt, teilen statt beiseite zu schaffen und so weiter. Nicht auszudenken, was das mit unserem Leben anstellen würde.
Und dann gibt es welche, denen ist die Kirche noch nicht scharf genug. Verweichlicht, der Welt zu angepasst, dem Zeitgeist nachgebend. Die wissen jederzeit ganz genau, was Gott will. Und halten sich entsprechend daran. Die finden es schade, dass man nur einen Zeigefinger an der rechten Hand hat – man bräuchte schließlich eher Hundert. Man könnte den von der linken dazu nehmen – diese Geste würde aber leider nicht recht verstanden werden.
Warum der erhobene Zeigefinger? Der bringt doch nur eine Menge Ärger und Probleme ein. Paulus hat ihn wie eine Nervensäge unter den frisch gewonnen Christen erhoben. Seine Nachfolger erhoben nicht nur den Zeigefinger, sondern das Schwert. Die Kirche kämpfte mit viel Gewalt für ihre Friede heischenden Ansprüche. Heute ist der Zeigefinger schlichtweg aus der Mode. Nur ältere Erwachsene benutzen ihn, um auf dem Smartphone ihre Mitteilungen einzutippen. Oder um ihre Bildchen und Filmchen zu verbreiten. Jüngere benutzen dazu ihre zwei Daumen.
Warum der erhobene Zeigefinger? Ganz einfach: Weil Gott selber ihn erhebt. Deshalb müssen Christen davon reden. Ganz unabhängig davon, um welche Gebote und Verbote es genau und im Einzelnen geht. Sogar dann, wenn sie zuallererst und am besten sich selbst ermahnen würden. Also eher Adressaten der Ermahnung wären als ihre Absender. Ja, sogar dann, wenn sie sich damit eine gewaltige Menge Spott, Ärger und Probleme einhandeln.
Denn dieses göttliche Erheben geschieht nicht so offensichtlich. Obwohl es sich mit Sicherheit ereignet, von Mal zu Mal, stetig und dauernd. Und doch geschieht es oft genug im Verborgenen. So dass die Betroffenen es kaum bemerken. Wie gesagt, wenn die Welt sonst auch kaum noch etwas von der Kirche weiß – der erhobene Zeigefinger ihrer Vertreter scheint im Gedächtnis zu bleiben.
Aber wie sieht es mit dem göttlichen Zeigefinger in uns persönlich aus? Wenn wir angesprochen sind? Kirchlicher und göttlicher Zeigefinger sind nämlich nicht von vornherein dasselbe.
Gott redet uns ins Gewissen – wieder und wieder. Oft hören und erhören wir ihn, oft aber auch nicht. Beziehungsweise erst dann, wenn die Sache gelaufen ist. Dann kann sich Gottes Stimme plötzlich wortgewalttätig ins Gewissen drängen. Und lässt keine Ruhe. Stupst einen laufend an mit ihrem Zeigefinger.
Wir Menschen sind Weltmeister im Verdrängen. Darin sind wir so gut, dass wir es noch nicht einmal bemerken, das Verdrängen. Da kann Gott uns noch so sehr ins Gewissen reden. Da kann er uns noch so sehr und so schön mit seinem Zeigefinger anstupsen wie in Michelangelos Schöpfung. Oder wie durch Johannes den Täufer auf dem Isenheimer Altar.
Da kann Gott in uns mit den Fingern schnippen wie ein Erstklässler, der mit aller Gewalt dem Lehrer antworten will. Und befürchtet, nicht dran genommen zu werden. Wir übersehen ihn, rufen lieber eine andere Antwort auf. Betrachten uns als seine Lehrer, obwohl wir Gottes Schüler sind. Verklären unsere Gebote und Verbote zu Ansprüchen, die von Gott kommen. Ja, so sind wir Menschen.
Wir durchschauen viel weniger gut die Folgen unseres Tuns, als wir denken oder wünschen. Auch Big Data erfasst nicht alles. Nur sehr, sehr vieles. Mancher erkennt so manches vielleicht erst auf dem Sterbebett. Jeder gewiss, wenn er im Himmel vor seinen Richter Jesus tritt. Spätestens dann wird klar: „Da hab ich etwas angerichtet, das hätte ich im Leben nicht geglaubt.“ Diese Erkenntnis wird sich einstellen. Zum guten Glück nicht nur für Böses, das wir ohne einen Schimmer davon verbrochen haben. Es wird auch Gutes geben, das wir vollbracht haben. Das wir erst später erkennen.
Menschen wissen um den göttlichen Zeigefinger und übersehen ihn doch. Drängen ihn erfolgreich aus ihrem Leben. Manchmal gelingt das nur kurz, manchmal sehr lange. Und nicht immer folgt eine Strafe auf den Fuß. Und selbst dann kommt es nicht unbedingt zu Reue und Einsicht.
Gott jedoch wird Zeigefinger und Stimme todsicher erheben. Auch wenn die Sonne gleichermaßen über Gerechte und Ungerechte aufgeht. Auf dieses Feedback müssen Christen aufmerksam machen. Denn wir Menschen sind Weltmeister im unbemerkten Verdrängen und Verkennen, gerade der eigenen Blößen und Fehler vor Gott. Auch Christen werden manch überraschendes Feedback Gottes aushalten müssen.
Wir haben in die toten Winkel unseres Ichs geschaut. Schauen wir auf unsere blinden Flecken, was die Mitmenschen angeht. Genauer gesagt, auf unser Bild von deren Tun und Lassen. Auch hier gibt es Offensichtliches und weniger Offensichtliches, Verborgenes. Wir überblicken ja nur schwerlich unser eigenes Tun mit seinen Folgen und Voraussetzungen. Nicht alles, was uns am Tun und Lassen anderer misslich erscheint, ist zwangsläufig von Gott verworfen.
Jesus ist schließlich von uns Menschen gekreuzigt worden. Aus unserer Blindheit für Gottes Wollen, Machen und Vollbringen. Und dieser Blindheit sind wir nur teilweise und aus Gnade enthoben. Wer also kann in Abrede stellen, dass ein Mitmensch so oder so handelt, weil sich in ihm Gott erhoben hat? Mit Stimme und Zeigefinger? Wo doch wir bei uns selbst nicht immer sicher sein können.
Manchmal wird ein solcher Missetäter abgestraft. Dann zahlen ihm Mitmenschen sein Verfehlen heim. Er erleidet Vergeltung. Das heißt heute unter Jugendlichen übrigens Karma. Erlittene Vergeltung – auch das ist nicht unbedingt ein Beweis dafür, dass einer Gottes Zeigefinger aus seinem Denken und Tun verdrängt hat.
Vieles von dem, was wir als göttliche Vergeltung oder Karma bewerten, entspringt nur der Selbstgerechtigkeit. Oder Bosheit und Niedertracht. Begleichung alter Rechnungen. Kommt also aus der Sünde. Denn es gilt: „Die Rache ist mein“, spricht der Herr. Und: sieben mal siebzigmal vergeben.
Und auch da wandeln wir uns oft flugs von Gottes Schülern und Jüngern zu Lehrern. Tauschen die Rollen. Wissen es besser. Machen Gott mit seinem Vergebungsgedöns zum Schüler und lassen ihn alt aussehen. Obwohl er doch genauso der ewig Neue ist. Erkennen unsere toten Winkel und blinde Flecken nicht.
Wie gut, dass Gott besser durchblickt. Wie gut, dass Gott Bescheid weiß! Wie gut, dass Gott Recht hat und Recht behalten wird! Wie gut, dass Gottes Gerechtigkeit seinen Leuten Vergebung zuspricht. Auch dann, wenn sie sich als Lehrer mit blinden Flecken und falschen Ansprüchen heraus gestellt haben. Gott vergibt uns. Da müssen wir ihm nur auf die Finger schauen. Am Isenheimer Altar lässt er Johannes den Täufer mit seinem Finger auf den Gekreuzigten zeigen. Amen.
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Die Hoffnung stirbt nicht zuletzt - Predigt zu Römer 8,18-25 von Stephanie Höhner
Denn ich sage, dass die Leiden zu dieser Zeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber der vorherbestimmten Herrlichkeit, die in uns offenbart wird. Denn das erwartungsvolle Harren der Schöpfung erwartet die Offenbarung der Söhne Gottes. Denn grundlos ist die Schöpfung unterworfen, nicht freiwillig, sondern durch den Unterwerfer, auf Hoffnung hin, weil auch die Schöpfung selbst befreit werden wird aus der Sklaverei der Vergänglichkeit zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung mitseufzt und in den Wehen liegt bis jetzt. Aber das nicht allein, sondern auch wir, die als Erstlingsgabe den Geist haben, auch wir selbst seufzen in uns (selbst), die Kindschaft erwartend, die Erlösung unseres Leibes. Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin. Aber Hoffnung, die man sieht, ist keine Hoffnung, denn was kann man hoffen, was man sieht? Wenn wir aber hoffen auf das, was man nicht sieht, so warten wir darauf mit Geduld. (Röm 8,18-25, Übersetzung der Verfasserin)
Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Montagvormittag, Anfang September 2015. Ich sitze im ICE von Hamburg nach Kopenhagen. Mit mir im Zug: viele Flüchtlinge. Sie sind am Wochenende in Deutschland angekommen – endlich. Nach wochenlanger Flucht und schlaflosen Nächten. Jetzt sind sie auf dem Weg nach Schweden. In den Gesichtern sehe ich Müdigkeit, manchmal auch Unsicherheit. Mir schräg gegenüber sitzt eine Familie. Auf dem Tisch zwischen den Sitzbänken steht ein Tragekorb, in dem ein Säugling liegt. Wahrscheinlich ist er auf der Flucht zur Welt gekommen.
Die Familie hat keine Reservierung, der Zug ist überfüllt und darf nicht losfahren. Viele Menschen auf den Gängen müssen den Zug verlassen. Die Familie mit dem Baby darf bleiben.
Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Seit einem Jahr hat seine Frau die Diagnose Brustkrebs. Eine Chemotherapie folgt der nächsten, die Aussichten sind nicht gut. Ihr Körper ist schwach, ihr Kopf ist kahl.
Wie schöne wäre es, wenn dieser falsche Film endlich zu Ende wäre, denkt er. Alles wieder wie früher.
Doch seine Frau und er geben nicht auf. „Jeder Tag ein Geschenk“, so wollen sie die Zeit noch leben. Er nimmt jetzt vieles bewusster war. Versucht, jeden Moment auszukosten und nicht immer an den Krebs zu denken. Der Ausgang ist offen.
Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Doch zu hoffen ist nicht immer leicht.
Es gibt so viel Seufzen in der Welt, im Leben.
Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung mitseufzt und in den Wehen liegt bis jetzt.
Morgens seufzen die Zeilen in der Zeitung, wenn sie von Anschlägen in Paris und Afghanistan berichten.
Abends seufzen die Bilder sinkender Flüchtlingsboote in den Nachrichten.
Geschichten von Krankheit, Arbeitslosigkeit, Tod – sie sind zahlreich. Und sie seufzen.
Gerade jetzt, wenn die Tage wieder kürzer werden, scheint das Seufzen noch deutlicher hörbar.
Wieder ein Jahr vergangen. Es scheint endlos zu sein, das Leid.
Die Schöpfung seufzt und wartet.
Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin.
Und doch leben wir weiter. Jeden Tag neu. Und es gibt Momente, in denen kein Seufzen liegt. Da sollte die Zeit stehenbleiben, weil es so schön ist. Könnte dieser Moment unendlich sein.
Zurück im ICE. Unser Zug erreicht den Hafen. Auf der Fähre nach Dänemark sehe ich die Kinder toben, lachende Gesichter, die Eltern machen Selfies vor der Reling. Das Ziel scheint zum Greifen nah, die Hoffnung scheint erfüllt. Das Baby schläft friedlich im Tragekorb.
Aber Hoffnung, die man sieht, ist keine Hoffnung, denn was kann man hoffen, was man sieht?
Die Fähre legt an. Wir sitzen wieder im Zug und halten im ersten Bahnhof auf dänischem Boden. Am Bahnsteig stehen Polizisten, aber auch ein Fernsehteam mit Kamera.
Stillstand. Nichts geht weiter, die Türen verschlossen. 3 ½ Stunden stehen wir dort. Ohne zu wissen warum. Ohne zu wissen, wie lange noch. Ratlosigkeit bei uns Fahrgästen.
Stillstand. Sinnlosigkeit. Resignation.
Das ist das Gegenteil von Hoffnung. Ohne Hoffnung geht es nicht weiter. Dann geht ein Leben nicht weiter. Es ist schon tot, auch wenn es physisch noch am Leben ist.
Hoffnung ist der Antrieb für das Leben, sie ist das Leben selbst.
Die Hoffnung ist Leben, weil sie auf das Leben setzt. Weil sie es nicht verloren gibt, auch wenn alles um das Leben herum seufzt.
Die Hoffnung blickt über das Jetzt hinaus. Auf ein anderes Leben in einer neuen Welt.
Jede Hoffnung braucht einen Grund. Sonst ist sie keine Hoffnung, sondern nur ein leeres Versprechen.
Der Grund der Hoffnung, von dem Paulus schreibt, ist Jesus Christus. Er hat am Kreuz gelitten und geseufzt. Mit ihm seufzen seine Jünger und die Frauen am Grab.
Er war tot, war am Endpunkt.
Doch an diesem Endpunkt wächst neues Leben. Aus dem Endpunkt wird ein Ausgangspunkt. Neues Leben bricht auf, wo keines mehr vorstellbar war. Es ist so ganz anders. Gegen jede Erwartung. Gegen jede Regel. Gegen allen Verstand.
Wenn wir aber hoffen auf das, was man nicht sieht, so warten wir darauf mit Geduld.
Die Flüchtlinge im ICE sind ins Ungewisse aufgebrochen, ohne genau zu wissen, wie es enden wird.
Die Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit treibt sie an. Sie warten geduldig im Zug, 3 ½ Stunden, ohne zu wissen wie es für die weitergeht. Sie kennen das schon.
Die dänische Polizei kontrolliert die Papiere, alle Flüchtlinge müssen aussteigen. Da helfen kein Betteln und keine Tränen. Auch die Familie mit dem Baby muss gehen. In ihren Gesichtern sehe ich Leere. Resignation. Sie wissen nicht, was sie erwartet. Ob sie zurückgeschickt werden, nach Deutschland oder in ihre Heimat. Oder ob sie doch noch Schweden erreichen werden.
Aus den Nachrichten erfahre ich am nächsten Tag, dass die Flüchtlinge in Turnhallen gebracht wurden, zur Registrierung. Doch ihr Ziel war Schweden. Und so machen sich mehrere hundert Menschen auf den Weg zu Fuß nach Schweden, entlang der Autobahn. Dabei bekommen sie Begleitschutz von dänischen Autofahrern. Eine Autobahn wird zur Wandertrasse. Hunderte Menschen machen sich auf den Weg.
Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Und doch bleibt ein Stachel.
Aber Hoffnung, die man sieht, ist keine Hoffnung, denn was kann man hoffen, was man sieht?
Hoffen ins Ungewisse, ohne Sicherheit. Ausgang offen?
Die Hoffnung muss lebendig bleiben, sie braucht Nahrung.
Da ist es gut, wenn wir uns immer wieder an ihren Grund erinnern. Und jetzt schon ein Stück erfahren von der Erfüllung.
Vor seinem Tod hat Jesus Abendmahl gefeiert. Ein Festmahl im Angesicht des Todes. Ein Abend voller Leben.
Wenn wir heute Abendmahl feiern, erinnern wir uns daran. An das Leben und an das Sterben Jesu. Wir hören seine Worte.
An seinem Tisch saßen seine Freunde und der Verräter. Hoffnungsvoll und hoffnungsleer. Jeder hatte einen Platz, keiner musste hungern.
Wenn wir heute Abendmahl feiern, erinnern wir uns auch daran.
Wir sind alle eingeladen an den Tisch Jesu Christi. Mit ihm beginnt neues Leben dort, wo alles hoffnungslos war. In seinem Namen sind wir zusammen, in seinem Sinne. Er ist uns nahe in seinem Geist.
Wir essen nur ein Stück Brot und trinken nur einen Schluck Wein. Es ist kein Festmahl. Wir werden nicht satt. Doch es ist ein Vorgeschmack auf das Kommende. Es ist eine Kostprobe. Darin können wir das neue Leben schmecken, das in Jesus Christus begonnen hat. Sie lässt uns nur erahnen, was wir erwarten, was wir erhoffen. Es ist ein Stück Wegzehrung auf einem langen Weg. Vielleicht reicht das nicht immer, um die Hoffnung wieder zu stärken. Aber es kann sie am Leben halten, wenn alles seufzt. So lange wir leben, haben wir Hoffnung. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Seine Frau hat gekämpft, doch sie hat es nicht geschafft. Jetzt ist er allein. Wenn er zurückschaut auf die Zeit, fällt ihm auf: Nie waren sie ohne Hoffnung. Immer hat er gehofft, die nächste Untersuchung bringt die Wende.
Bis zuletzt. Auch als es allen anderen klar war, dass seine Frau sterben wird, hat er gehofft, dass es einfach so wird wie früher. Völlig irrational. Aber das hat ihm Kraft gegeben, weiter zu machen, bis zum Schluss. Ein Leben ohne sie konnte er sich nicht vorstellen. Jetzt steht er mitten drin. Vieles hat er schon ohne sie erlebt. Es ist schwer. Sie fehlt ihm. Doch es gibt auch Momente, da ist sie ihm ganz nah. Sie ist nicht einfach weg. Etwas von ihr bleibt. Diese Momente geben ihm Kraft, weiter zu leben.
Die Hoffnung stirbt nicht zuletzt. Die Hoffnung lässt Leben wachsen – auch im Seufzen.
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Kippschalter der Hoffnung - Predigt zu Römer 8,18-25 von Wolfgang Vögele
„Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat -, doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.“ (Röm 8,18-25)
Der Tag könnte schiefgehen. Jeder Frühaufsteher, der sich um halb sieben den Schlaf aus den Augen reibt, verschwendet keinen einzigen Gedanken darauf, wie viel Vertrauen er den Tag über benötigen wird. Siebtklässler, Kindergärtnerinnen, Bankdirektoren, Hausfrauen – alle verlassen sich darauf, dass Strom aus der Steckdose fließt, dass die Tageszeitung um Sechs im Briefkasten steckt und dass die Linie Drei pünktlich abfährt.
Vertrauen ist die Zuversicht, dass die Dusche warmes Wasser liefert, dass der Motor ohne Stottern anspringt und die Fahrpläne eingehalten werden. Alles muss funktionieren, damit die Rädchen ineinander greifen können. In der Routine des Alltags denkt niemand an Pannen, Aus- und Unfälle, die alles durcheinanderbringen – oder zum Stillstand.
Dann sticht das Erschrecken umso tiefer: Straßenbahnen können plötzlich nicht fahren, weil die Schienen vereist sind – Verspätungen, Ärger am Arbeitsplatz. Der Müll wird plötzlich nicht mehr abgeholt, weil die Müllabfuhr streikt: Auf den Straßen türmen sich stinkende blaue Säcke. Noch schlimmer: Eine Trafostation brennt ab, das Stromnetz im Stadtteil bricht zusammen, es wird dunkel in Wohn- und Badezimmern. Keine Heizung, kein Radio, Fernsehen, Internet.
Kleinigkeiten können plötzlich die Selbstverständlichkeiten des Alltags unterbrechen. Stress kommt auf, wenn ich plötzlich nicht mehr nutzen kann, was mir über Jahre zur Routine geworden ist.
Jeder Mensch ist abhängig von technischen, natürlichen und sozialen Prozessen, von denen er oft nichts weiß und meistens nichts versteht. Den Führerschein besitzen viele, den Keilriemen können die wenigsten wechseln. Viele Menschen ignorieren einfach, dass um sie herum ein riesiges Gebäude von Selbstverständlichkeiten gebaut ist, auf die sie angewiesen sind. Viele wollen diese Abhängigkeit nicht sehen und flüchten sich in einen vermeintlich gesunden Optimismus: Das Leben ist das Selbstverständliche. Kreisläufe, Nutzungs- und Nahrungsketten laufen wie von selbst ineinander. Ich muss mich nicht kümmern. Betriebsstörungen bilden für den Optimisten die unterschätzte Ausnahme.
Und wer den Blick von den sozialen und technischen Hilfsgebäuden auf Wetter, Natur oder gar auf die gesamte Schöpfung lenkt, der merkt: Unterbrechung, Zerstörung, Leere, Schweigen, Tod – das ist das Normale. Das zerbrechliche Leben ist die bewunderns- und staunenswerte Ausnahme im Chaos. Der funktionierende Alltag ist in Wahrheit ein Wunder – genau wie die Tatsache des Lebens auf der Erde.
Größe und Unermesslichkeit des Kosmos kann sich niemand so richtig vorstellen und schon gar nicht beschreiben. Nach wissenschaftlicher Erkenntnis ist Leben von Tieren und Menschen nur entstanden auf diesem einen kleinen Planeten namens Erde, auf einer abgelegenen kleineren Galaxie namens Milchstraße. Überall sonst herrschen Chaos, Leere, Unordnung und Zufall. Dies ist ein kränkender Gedanke, den wir aushalten müssen.
Natur beruht auf Zerstören und Töten. Großes Tier frisst kleines, schwaches Tier – immer, ohne Gnade. Das Gewitter bricht über Erdbeerplantagen und Weizenfelder herein und der Hagel zerstört die Trauben im Weinberg – die Arbeit eines ganzen Jahres. Nach dem Gewitter verwandeln sich kleine Bäche in reißende Ströme, überfluten Keller und unterspülen Brückenpfeiler. Der Tsunami fegt am Küstenstreifen alles weg, was auf dem Weg liegt und in der gigantischen Welle ertrinken alle – egal ob Touristen oder Küstenbewohner, Vieh oder Fahrradfahrer.
Viele Naturkatastrophen erschrecken so sehr, weil Hagel oder Schlammlawinen sinnlos und gleichgültig alles zerstören, was sich ihnen in den Weg stellt. Viele Menschen stellen die Frage nach dem Warum. Sie leiden unter diesem Mangel an Gerechtigkeit. Sie versuchen im Nachhinein, sich eine eigene Gerechtigkeit zu denken: „Warum hat es gerade diese Gegend getroffen?“ Sie scheitern regelmäßig mit ihren Erklärungsversuchen, weil sie lächerliche menschliche Maßstäbe anlegen.
Wir sind gefangen in einer unberechenbaren Natur, in einem chaotischen Kosmos. Leben kann in einem Augenblick sinnlos zerstört werden. Die Eintagsfliege endet an der Fliegenklatsche, der Hering wird vom Dorsch gefressen, das Planetensystem stürzt in das schwarze Loch. Beim schweren Hurrikan in der Karibik kommen hunderte Menschen ums Leben.
Paulus weiß das. Er bringt es ganz knapp auf den Punkt: Die Schöpfung seufzt. Leben in der Schöpfung ist vergänglich, gefährdet, dem Untergang geweiht.
Hatte Gott das nicht anders geplant? Gerechter, besser, schöner? Wieso herrscht trotzdem der Tod? Wieso triumphiert die Grausamkeit?
Seufzen über die Schöpfung verwandelt sich schnell in ausgedehntes Grübeln und Klagen. Mindestens ein Tropfen von dieser Traurigkeit steckt in jedem Menschen. Es ist wichtig, sich dieses Seufzen einzugestehen. Niemand entkommt der schwarzen Traurigkeit über die vergängliche Schöpfung. Wie damit umgehen?
Die naturwissenschaftliche Antwort kommt ohne Gott aus. Sie nimmt Urknall und Evolution als Fakten und sieht in der Erd- und Menschheitsgeschichte eine einzige Kette von Zufällen. Die Erfolge und Errungenschaften menschlicher Zivilisation, die daraus entstanden sind, können jederzeit wieder in sich zusammenbrechen.
Der zweite Weg sieht in der Welt Gottes Gerechtigkeit am Werk. Auch Tod und Zerstörung gehören in diesen göttlichen Plan hinein. Aber ist das eine Rechtfertigung für den Tod von Unschuldigen, für Folter und anderes Schlimmes? Diese Frage ist nicht zu beantworten. Kein Mensch kann sich anmaßen zu wissen, worin die Gerechtigkeit Gottes besteht.
Einige gehen so weit zu sagen: Wer krank wird, wen der Blitz trifft, muss Schuld auf sich geladen haben. Nein.
Der Apostel Paulus schlägt einen dritten Weg vor. Der dritte Weg besteht in einer winzigen gedanklichen Operation, die von unendlich großer Wirkung ist. Erschrecken Sie nicht vor dem Wort „gedankliche Operation“. Narkose und Skalpell sind nicht nötig. Nötig ist nur ein einziger Kippschalter, der uns im Herzen auf eine neue Spur setzt.
Als Gemeindepfarrer besuchte ich vor Jahren lange eine ältere Frau. Sie war an einem Tumor erkrankt. Während der Chemotherapie zermarterte sie sich den Kopf, weshalb es ausgerechnet sie getroffen hatte. Lag es an den vielen Zigaretten? Lag es an der falschen Ernährung, an den vielen Tafeln Schokolade oder den gesättigten Fettsäuren? Hatte sie vielleicht psychische Ursachen übersehen? Wurde sie für eine Schuld bestraft? Trug sie verdrängte Konflikte mit sich herum? Darüber grübelte diese Frau viele Stunden lang, wenn sie allein im abgedunkelten Krankenzimmer lag, aber auch im Gespräch mit ihrem Mann und der besten Freundin. Sie kam zu keinem Ergebnis. Die Antworten, die sie sich selbst gab, waren ihr zu schal und unbefriedigend.
Ich würde viel darum geben, wenn ich dieser Frau damals hätte sagen können, was ich von den Worten des Apostels verstanden habe. Es hätte ihre Krankheit nicht geheilt, aber vielleicht hätte sie darin eine Perspektive gefunden.
Paulus stellt einfach einen Schalter um. Er schaltet von Vergangenheit auf Zukunft. Er sagt: Es ist ganz aussichtslos, die Vergangenheit bewältigen zu wollen. Es liegt viel mehr Segen darin, sich auf das, was kommt, in Hoffnung vorzubereiten. Er sagt: Es führt nicht weiter, zu grübeln und sich einen schweren Kopf zu machen. Viel weiter führt es, wenn sich die Glaubenden in Hoffnung einüben.
Die gesamte Lebensdeutung verändert sich, wenn ich dem Umschalten des Paulus folge. Wir fragen viel lieber nach dem Warum, gründeln in Ursachen und verpassten Alternativen und bemerken darüber gar nicht, wie wir uns in der Vergangenheit verlieren. Der Blick zurück soll Gegenwart und Zukunft ersparen. Viele Menschen beschäftigen sich in diesen trüben Tagen mit Tod und Sterben. Sie besuchen Gräber und stellen Blumen auf. Und sie denken - bewusst oder unbewusst - auch an den eigenen Tod.
In der Perspektive der Vergangenheit ist der Tod Bestrafung. Er besiegelt ein fehlerhaftes, sündiges, leidensvolles Leben. Das ist das Modell der Vergänglichkeit. Leben stürzt nach unten ab, in den Abgrund des Todes. Der Tod als letzter Schritt auf einer Leiter in die Unterwelt.
In der zweiten Perspektive, der Perspektive der Hoffnung ist alles Übergang, Weiterschreiten. Menschen sind sterblich wie alles Lebendige und trotzdem ergibt sich eine Bewegung auf eine Zeit hin, die erst noch kommt. Dieser zweiten Bewegung entspricht das Modell der Geburt. So wie die Wehenschmerzen der Geburt des kleinen Kindes vorausgehen, so gehen Seufzer, Krankheiten und Schmerzen dem Tod voraus und leiten über in ein anderes, neues Leben. Genauso sieht das Paulus. Der Tod ist wie eine Geburt. Aus ihm entsteht neues Leben.
Wer diese Hoffnung annehmen kann, der fragt nicht mehr nach der Vergangenheit, sondern nach der Zukunft. Er fragt nicht mehr nach dem „Warum“, sondern nach dem „Wozu“. Er grübelt nicht mehr, sondern er hofft in die Zukunft hinein.
Paulus denkt sich das so: Die ganze Schöpfung liegt in einem Geburtsschmerz, in Wehen hin auf das Reich Gottes, auf seine Ewigkeit. Und die Botschaft lautet: Dreht euch nicht um. Schaut nicht zurück. Blickt nicht mehr auf eure Vergangenheit, sondern auf eure Zukunft.
Es macht einen riesengroßen Unterschied, ob wir unser Leben aus der Vergangenheit heraus denken oder in die Zukunft hinein hoffen. Beide Modelle lassen sich nicht völlig gegeneinander ausspielen: Schmerzen und Hoffnung sind unlöslich miteinander verknüpft. Das ist die Nüchternheit des christlichen Glaubens. Schmerzen, verzweifelte Tage, Ängste oder gar Depression werden wahr- und ernstgenommen. Paulus stellt sie in das Licht einer Hoffnung, die uns aus der Verzweiflung heraus in ein Gleichgewicht bringt. Glaubende sind noch verzweifelt, aber sie hoffen auch schon.
Den feststehenden Pol dieser Hoffnung finden die Glaubenden in Jesus Christus, der uns im Leiden am Kreuz, in seinem Tod vorangegangen ist. Gerade diesen leidenden, verachteten und gefolterten Menschen hat Gott als ersten zum ewigen Leben auferweckt.
Der katholische Orden der Kartäuser hat sich ein Motto gewählt: Solange die Erde sich dreht, steht das Kreuz. Die Wirklichkeit des Leidens lässt sich nicht auslöschen oder ignorieren. Das ist das eine. Aber das andere ist: Zum Kreuz gehört auch die gewisse Hoffnung, dass Gott sich mit diesem Leiden nicht abfindet.
Paulus wirbt dafür, dass die Glaubenden diese Hoffnung in sich aufsaugen. Diese Hoffnung schafft eine Gewissheit, dass ich in der Geborgenheit Gottes durchs Leben gehe, ohne dass ich das dauernd beweisen müsste. Diese Hoffnung hebt die Schmerzen und das Seufzen der gesamten Schöpfung nicht auf, aber sie stellt dieses Seufzen in ein neues Licht: in das Licht des Übergangs und der Geburt des ewigen Lebens. Das ist das Entscheidende und das Faszinierende, das lässt den Apostel so wunderbar begeistert schreiben.
Seufzen wird Hoffnung, durch einen einzigen kleinen Blickwechsel.
Wer sich umdreht, den Blick wechselt und plötzlich aus der beschwerlichen Vergangenheit in die Zukunft des Reiches Gottes blickt, der erhält das kleine, zerbrechliche Geschenk der Hoffnung.
Mehr nicht? Mehr nicht.
Aber in dieser Hoffnung ruht die Aussicht auf die Ewigkeit.
Unsere Hoffnung richtet sich auf den Frieden Gottes. Auf ihn hoffen wir. Dieser Friede bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
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Nur keinen Streit vermeiden! - Predigt zu Römer 14,7-9 von Jörg Coburger
I
In unseren beiden Dörfern (Weissbach und Dittersdorf) haben wir unlängst über zehn Sonntage hinweg über Kerninhalte der sogenannten confessio augustana (CA, eg 807) nachgedacht und gefragt: Was gilt? Was bedeutet es, heute ein evangelisch-lutherischer Christ zu sein?
Es waren Themen wie „Erinnerung genügt nicht“ (Abendmahl) oder „Staat und Kirche“ (Artikel 14-16) und auch „Diagnose und Therapie“ (Beichte und Buße, Artikel 11-12), die uns vielleicht noch im Gedächtnis sind. Weil das Reformationsjubiläum begonnen hat und wir die Impulse von damals für heute befragen wollten.
Für einen sinnvollen Ablauf hatten wir es beim ersten Teil der CA belassen müssen. Heute merken wir am Beispiel des Predigttextes abermals, wie neu alte Themen sein können. Artikel 26, „Von der Unterscheidung der Speisen“, widmet sich im zweiten Teil ganz praktischen Fragen des alltäglichen Lebens wie zum Beispiel auch der Ehe. In Artikel 26, der leider hier in unserem Sächsischen Gesangbuch nicht mehr steht, meint Luther: „Vor Zeiten hat man also gelehrt […], dass der Unterschied der Speisen[…] darzu dienen, dass man dardurch Gnad verdiene und fur die Sünde genugtue […]. Aus diesem Grunde hat man täglich neue Fasten […] erdacht [...] und solches hart betrieben, als seien solche Dinge notige Gottesdienst.“[1]
II
Was ist der Hintergrund solcher Sätze? Der heutige Abschnitt kann es zeigen. „Keiner lebt für sich allein, keiner stirbt für sich allein“? Oder: „Schwache und Starke“ im Glauben? Schon einmal hatte Paulus an die Korinther (1.Kor 10,18-22) in den Konflikt um das Götzenopferfleisch aus dem antiken Tempelritualen gesprochen. Die einen: „Das darf man nicht.“ Die anderen: „Wir können und wollen das Götzenopferfleisch essen, auch, weil wir Hunger haben und es außerdem mit unseren Glauben vereinbaren können.“ Dorther stammt auch der bekannte Satz: „Es ist alles erlaubt, aber es frommt nicht alles.“ Es dient nicht alles zum Guten.
Es ist sehr mündig und hellwach, dass darum nicht einfach geschwiegen, sondern gestritten wird. Das ist auch heute in jeder Gemeinde ein gutes Zeichen. Verbindlichkeit und Freiheit sind keine Konserven, sondern müssen in einer sich immer reformierenden Kirche neu erarbeitet werden. Wo so gefragt wird, ist nicht alles egal und dort wird auch nicht alles rein pragmatisch oder unter einem gleichgültigen Toleranzverständnis versteckt. Es gilt: „Das Reich Gottes besteht nicht in Essens- und Trinkvorschriften.“
Das hatte die Reformation wieder entdeckt. Dass alles geschichtlich Gewordene nicht allein darum eine Existenzberechtigung hat, weil es eben so geworden war. Das betrifft keineswegs nur den Bereich von Gottesdienst und Liturgie, den Bereich des Kultischen, sondern unseren ganzen Alltag. Römer 14 ist eine Mahnung zur Selbstreflexion, dass Sinn und Berechtigung in Zweifel gezogen werden können. Und eben genau das gilt nicht nur, wie wir heute gern unterstellen, um „das Alte“ oder „was schon immer so war“, zu hinterfragen, sondern in Redlichkeit auch für „alles Neue und jetzt gerade Angesagte“.
Dazu kommt die Entdeckung - wie auch hier im Römerbrief - einer möglichen Unterschiedlichkeit im Leben vor Gott. Die Prüfung und Berufung auf das eigene Gewissen. Aber mit dem Gewissen ist noch nichts geklärt, sondern die Probleme fangen erst an. Vor allem: Woran mein Gewissen gebunden ist. Ein sogenanntes autonomes Gewissen konnte mir noch niemand nachweisen. Denn gerade wenn es versucht, seine Eigenheit und Individualität verzweifelt zu behüten, ist es narzisstisch und sehr an das Selbst gebunden.
Aber auch Erfahrungen aus zwei Diktaturen, wo sich politische Mächte und Führungspersonen anmaßten, dass Gewissen des Volkes zu sein – der Führer Adolf Hitler oder dann die eine und einzige Partei…? - das macht allergisch und hellwach, wenn political correctness und auch zunehmend religous correctness uns den Mund verbieten wollen.
Nur gut so, vergessen wir diese Erfahrung aus einer Schule des Nachquatschens niemals.
Es kann also auch nicht davon abhängig sein, ob mir jeweils meine Zeit zubilligt, mich auf mein Gewissen zu berufen. Es gibt kein Zurück mehr: Wir werden es tun, komme, was wolle!
Im Römerbrief geht es konkret um den Genuss von Fleischprodukten und Wein.
Vor allem, Fleisch zu essen, das als kultisch unrein galt. (Vgl. 5.Mose 14,3ff.) bzw. nicht nach jüdischem Ritus geschächtet war (Vgl. 5.Mose 12, 20ff).
Oder auf heidnischen Märkten als Opferfleisch verkauft wurde.
Wir bemerken schnell, dass „die Schwachen“ eine distanzierende Zitation von Paulus ist, denn die anderen, die sich selbst für stark halten, nennen sie so. Das ist nicht viel anderes als dass man heute plötzlich ein „Liberaler“ oder als ein „Konservativer“ oder sonst was stigmatisiert wird. Schubladendenken ist leider nicht aus der Welt geschafft. Wir bleiben dafür anfällig. Die Klischees zwischen Osten und Westen Deutschlands treiben nach wie vor fröhliche Urständ. Und was oder wer schwach oder stark ist, mag noch ganz offen sein. Da kann uns ein Gedanke aus Bonhoeffers Ethik helfen: Den Christus im anderen stärker hören als meinen eigenen.
III
Als das grundsätzlich Wichtigste erscheint hierbei für Paulus, dass ich mir bei meinem Handeln, vor allem in der Konfliktsituation etwas denke.
„Was nicht aus dem Glauben geht, ist Sünde.“ (Röm 14,23)
Die Lösung: Paulus beurteilt solche ängstliche Besorgnis als schwach im Glauben, weil sie aus Rücksicht auf das Gesetz die Freiheit des Glaubenden einschränkt. Und darum gibt er sehr wohl den „starken“ Heidenchristen recht, die in ihrer Herkunft solche Probleme nicht kannten. Unterschiede im christlichen Lebensstil dürfen sein und bleiben.
Aber Schwäche und Stärke dürfen nicht Positionen sein, die sich gegenseitig verurteilen, sodass damit christliche Gemeinschaft gestört, gar zerbrochen würde. Wer Christus gehört, wird sich im Sinn seiner Liebe des Schwachen annehmen, anstatt ihm von eigener Sicht aus Schwachheit vorzurechnen.
Die christliche Gemeinde hängt nicht zuerst an solchen Lebensweisen, sondern an ihrer Zugehörigkeit zu dem einen Herrn. Dem gehört mein Leben. Von da aus muss auch niemand sein postmodernes Credo bewachen: „Ich führe ein selbstbestimmtes Leben“ als das höchste aller Güter. Noch einmal: Nach Erfahrungen der Diktatur ist mir der Satz vom selbst bestimmten Leben sehr lieb und verständlich. Nur, wo stehen wir jetzt gerade?
IV
Paulus` und Luthers Konzept heißen: Freiheit in Bindung.
Entfremdung ist damit gerade nicht gemeint. Keine Polemik gegen Selbstverwirklichung. Keine Standpauke gegen Individualismus.
Der Rahmen für das Christsein ist weit und groß. Keine Angst davor, auch einmal zustimmen zu können. Keine Panik, wenn du einmal ganz allein gegen alle stehst. Fürchte dich nicht.
Der Regiewechsel macht es aus. Wir gehören unserem Herrn Christus Jesus, seit der Taufe. Die Taufe hatte doch den Unterschied zwischen Juden und Christen aufgehoben. Heraus aus meiner blanken Eigenmächtigkeit, hin zur Frage, was Gott gefällt. Je mehr Christus in mir Raum gewinnt, desto mehr finde ich zu mir selbst. Wir, dieser ziemlich unterschiedliche Haufen mit seinen Macken und je eigenen Fimmel gehören gemeinsam ihm. Das ist das biblische Konzept. Mein Herz ist befangen. Wir sind frei, nicht nach falschem Applaus zu geilen. Wir sind frei, auch einmal einzustimmen und uns einzulassen, obwohl es nicht unser religiöser Stallgeruch ist und nicht unsere Lieblingsgedanken, die wir schon immer gewusst haben.
Noch einmal Bonhoeffer: „ Nichts kann grausamer sein, als jene Milde, die den anderen in seiner Sünde belässt. Nichts kann barmherziger sein als die harte Zurechtweisung, die den Bruder vom Weg der Sünde zurückruft.“ Oder vielleicht so: Liebe und Klarheit sind wirklich Stärke.
Den Schwachen zu helfen ist stark. Sich helfen zu lassen noch stärker.
Sich auch einmal klein machen zu können – welch ein herrliches Kontrastprogramm in der Zeit von Angeberei und Schaumschlägerei.
V
Wann aber steht alles auf dem Spiel? Wenn es um die Gnade geht.
Wenn wir vor Gott und Mensch punkten und kokettieren wollen. Wenn wir aus lauter Selbstgerechtigkeit auf Gott und die Welt verzichten können.
Wenn wir nur noch lachen oder müde abwinken über die, die nach dem Gemeinsamen und Verbindlichen zwischen allen Unterschieden suchen.
Luther: „Solche Traditiones sind zu einer hohen Belastung des Gewissens geworden.“ Und haben Gemeinschaft zerstört. Der ökumenische Geist war hier von Paulus nicht ausgesprochen bedacht, aber ist deutlich in den Versen enthalten. Wir brauchen als unterschiedlich geprägte Kirchen einander, weil wir von einander lernen können. In diesem Prozess muss ich mir um das je Eigene keine Sorgen machen. Aber ich weiß, dass der Glaube meiner Kirche weiter ist als mein eigener. Das tut gut und entlastet.
[1] Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, Göttingen 1982, 100ff; Kürzungen vom Autor.
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Du bist da! - Predigt zu Römer 14,7-9 von Rainer Claus
Als Elfriede ihr Zuhause verlassen muss, da ist sie zwölf Jahre alt. „Es ist nicht für lange“, sagt die Mutter. „Nur ein paar Orte weiter westlich, nur ein paar Wochen warten, bis sich alles wieder beruhigt“.
Aber es beruhigt sich nichts. Die Russen bleiben, die Familie muss gehen.
1945 ist Elfriede zwölf Jahre alt und versteht das alles nicht.
Zwölf Jahre lang ist sie im Großdeutschen Reich groß geworden. Und jetzt ist alles durcheinander und anders. Was gestern noch galt, ist heute alt und überholt.
Keiner lebt für sich alleine.
Du bist hineingewoben in eine Welt mit tausend Fäden.
Auch wenn sie dir die Nabelschnur durchtrennen, Du bleibst verbunden, Mama, Papa, Oma, Bruder, Schwester.
Du bist hineingewoben in deine Welt mit tausend Fäden.
Du lernst erste Worte, verstehst und begreifst, wohin du gehörst und welche Sprache die deine ist.
Elfriede begreift gar nichts mehr.
Mit einem Ochsen und einen Karren ziehen sie mit ein paar Habseligkeiten gen Westen. In Zwickau kommen sie unter. Für´s erste. Keiner weiß, wie es weitergehen soll. Aus dem „für´s erste“ werden 16 Jahre.
Aus dem Mädchen wird eine Frau und Günter kann so gut tanzen.
Keiner lebt für sich alleine.
Ich und Du - 1951 wird geheiratet in Zwickau.
Die Wunden heilen. Töchter werden geboren.
Mit dem Zug geht es im Sommer 1961 in die Sommerfrische an die Nordsee. Tante Martha besuchen.
Das Rückfahrticket kommt nie zum Einsatz. Eine Mauer wird gebaut, zerschneidet Deutschland in Ost und West.
Schon wieder neu anfangen. Mit einem Zimmer unter dem Dach bei Bekannten.
Keiner lebt für sich alleine.
Also fangen sie noch einmal an.
Arbeit finden, eine Wohnung bekommen, sich einrichten im neuen Leben.
Sie werden alt miteinander, die beiden.
Viele Sommer halten sie am Südstrand ihr Gesicht in die Sonne.
Viele Winter zieht der Duft von Apfelkuchen durch die Wohnung.
Sie werden alt und langsam. Und manchmal vergessen sie etwas. Den Haustürschlüssel oder den Arzttermin.
Die Töchter machen sich Sorgen. Wie geht das weiter?
Keiner lebt für sich alleine, keiner stirbt für sich alleine.
Im Wohnpark am Deich finden sie ein Zuhause.
Manchmal wollen sie zum Zug nach Zwickau, vergessen was war oder wer morgen kommen wollte. Sogar die Namen der Töchter, die zu Besuch kommen, werden verlegt und nicht mehr gefunden.
Sie schlurfen über das Linoleum zu ihren Zimmern und halten sich dabei an der Hand.
Wenn der Verstand verschwindet, bleibt das Gefühl.
„So nahe waren wir uns sonst kaum im Leben“, sagt die Tochter.
Eine Umarmung, den Rücken eincremen, die Hände massieren und spüren:
Keiner lebt für sich allein, keiner stirbt für sich allein.
Als er stirbt, da geht sie nach vorne zum Sarg, küsst sein Bild und will gehen. Obwohl die Trauerfeier noch gar nicht angefangen hat.
„Ich geh jetzt auch“, sagt sie.
Einen Monat später ist sie gestorben.
Beide sterben nur einen Monat auseinander. Darum können ihre beiden Urnen gemeinsam beigesetzt werden. Sie werden in die Erde gelegt und der Pastor sagt:
Keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber.
Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebendige Herr sei. (Röm 14,7-9)
Wenn Du Gott finden willst, erzähl deine Lebensgeschichte.
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen.
Ich lebe nicht für mich alleine.
Ring für Ring, wie bei einem Baum wächst mein Leben, mit den Menschen meines Weges.
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen.
Ich kreise um Gott, den uralten Turm, und frage mich:
Werde ich den letzten vollbringen?
Paulus, der Apostel, hat unseren heutigen Predigttext geschrieben.
Paulus, der Menschenkenner, weiß: Mal bist du stark, mal bist du schwach in deinem Glauben.
In der Gemeinde in Rom gab es Streit und unterschiedliche Richtungen.
Die einen wollten an den alten jüdischen Traditionen festhalten.
Die anderen wollten ganz neu ihren Glauben leben.
Paulus sagt in diesen Streit der Gemeinde hinein:
Stellt euch die Frage: Was ist eure Mitte? Worum dreht es sich bei euch im Leben und Sterben?
Bei Paulus ist es Christus, der Auferstandene. Seit er ihm begegnet ist, weiß er, was im Leben und Sterben sein Trost ist.
Paulus erinnert die Gemeinde in Rom an die Mitte.
Bei allen Auseinandersetzungen, bei allen unterschiedlichen Meinungen ist da eine Mitte, um die sich alles dreht.
Du bist da.
Manchmal fragen mich die Konfirmandinnen und Kornfirmanden, wenn wir über das Glaubensbekenntnis reden: Auferstehung, ewiges Leben, wie soll das gehen?
Ich weiß es nicht so genau, sage ich dann.
Aber Gott ist da in meinem Leben.
Ich lebe nicht für mich allein.
Sollte er dann nicht auch da sein, wenn ich sterbe?
Und dann singe ich mit ihnen gemeinsamen:
„Du bist da,
du bist da
bist am Anfang der Zeit,
am Grund aller Fragen bist du.
Bist am lichten Tag,
im Dunkel der Nacht
hast du für mich schon gewacht“.
Amen
/ Inspiration Rilke Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen
Lied am Schluss (kann dann auch direkt nach der Predigt gesungen werden):
Du bist da – Text Jan von Lingen + Musik G.P Münden 2004
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Das allerliebste Wort - Predigt zu Römer 3, 21-28 von Kathrin Oxen am Reformationstag 2016 in der Schlosskirche zu Wittenberg
„Es waren Anliegen von einer noch vorkonfessionellen, ‚vorlutherischen‘ evangelischen Offenheit,
wie sie die ersten Jahre der Reformation kennzeichneten:
die Berufung auf die Bibel allein, die zentrale Stellung des Glaubens, der geistliche Rang der Laien,
die Ablehnung der diesen Anliegen widersprechenden römischen Kirche. (…)
Für den neuzeitlichen Protestantismus bildet die Reformation den identitätsstiftenden Referenzpunkt wegen des ‚Zaubers‘, der von jenem offenen vorkonfessionellen und vorstaatlichen Anfang ausgeht.“
(Dorothea Wendebourg, FAZ vom 28. Oktober 2016)
Das allerliebste Wort
Wenn ich ihm etwas mitbringen wollte, heute, am Reformationstag, zu Beginn des Reformationsjubiläums, wenn da unter mir, an seinem Grab nicht schon Blumen stünden, wie immer am Reformationstag, zwei artige Blumensträuße, einer für Martin und einer für Philipp - wenn ich ihm etwas mitbringen wollte, aus Dankbarkeit darüber, dass es ihn gab: Ich brächte ihm meine Bibeln.
Eine Kinderbibel mit den Bildern und Geschichten, die meine Seele genährt haben, als ich noch ein Kind war. Geschichten, die mich abends im Bett sehnlich wünschen ließen, es spräche einmal Gott direkt auch zu mir, so wie er zu den Menschen in der Bibel sprach, sie rief, alles hinter sich zu lassen und ihm nachzufolgen.
Ich brächte ihm die kleine rote Bibel, die in jeden Rucksack passt und aus der ich mühelos noch ohne Brille lesen konnte, damals vor vielen Jahren, am Lagerfeuer bei der Andacht.
Ich trüge das dicke Alte Testament auf Hebräisch herbei und das kleine blaue Neue Testament auf Griechisch. Und ich würde mich bei der Gelegenheit auch gleich nochmal bedanken bei ihm, dass er mir zwei Jahre Vokabeln lernen eingebrockt hat im Studium. Weil er meinte, dass ich die Sprachen kennen müsste, in denen die Bibel geschrieben wurde.
Ich würde ihm meine Bibel zeigen, die jetzt auseinanderfällt, weil ich sie so oft schnell in die Tasche gesteckt oder mit dem Rücken nach oben auf dem Schreibtisch liegen gelassen habe. Was man ja nie, nie machen soll, aber was ich oft tue. Weil ich mit ihr umgehe wie ein Handwerker mit einem Werkzeug umgeht, das er jeden Tag braucht. Und das er deswegen auch nicht immer ordentlich an seinen Platz zurückräumt.
Und ich brächte ihm eine neue Lutherbibel 2017, schön gestaltet und frisch gedruckt, mit dem unwiderstehlichen Geruch eines neuen Buches. Gestern erst haben sie diese neue Bibel feierlich eingeführt in einem Gottesdienst in Eisenach, am Fuße der Wartburg, dort wo alles begonnen hat im Herbst 1522. Als er wie ein Gefangener da oben auf der Burg bei den Krähen saß und die Zeit herumbringen musste. Und das tat, was ihm in dieser Lage das Sinnvollste erschien: Die Bibel übersetzen, damit alle Menschen sie auf Deutsch lesen können.
Ich brächte ihm diese neue Bibel. Und ich schlüge sie auf, weiter hinten, bei Paulus‘ Brief an die Christen in Rom, bei seinem Lieblingsbrief. Der kann, sagt er, „nie zu viel und zu sehr gelesen oder betrachtet werden“ (Vorrede zum Römerbrief) und deswegen ist es gut, dass wir es heute auch tun.
Und ich wäre so nett und schlüge ihm die Bibel auf bei seiner Lieblingsstelle und läse die ihm vor, obwohl er ja tot ist. Aber vielleicht hört er es ja doch. Seine Lieblingsstelle. Sein „allerliebstes Wort“:
Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben.um nun, in dieser Zeit, seine Gerechtigkeit zu erweisen. So halten wir nun dafür,dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. (Röm 3,21f.28)
Und dann stünde ich da, an seinem Grab, mit all meinen Bibeln, dankbar dafür, dass es ihn gab. Und ich könnte hören, was er selbst zu dieser Stelle einmal gesagt hat und zu dem Wort von der Gerechtigkeit Gottes:
„Tag und Nacht dachte ich unablässig darüber nach, bis Gott sich meiner erbarmte. Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als die Gerechtigkeit zu verstehen, durch die der Gerechte als durch Gottes Geschenk lebt, nämlich aus dem Glauben.
Da fühlte ich, dass ich geradezu neugeboren und durch die geöffneten Pforten in das Paradies selbst eingetreten war. Und mit welchem Hass ich vorher das Wort 'Gerechtigkeit Gottes' hasste, mit solcher Liebe schätzte ich es nun als allerliebstes Wort. So wurde mir jene Stelle bei Paulus wahrhaft Pforte des Paradieses.“
(Vorrede zu der Gesamtausgabe der lateinischen Schriften, 1545)
Diesen Brief und auch andere Bücher der Bibel hatte er vorher ja schon so sorgfältig gelesen, wie man sie überhaupt nur lesen kann. Er hatte sie in Vorlesungen ausgelegt für die Studenten in Wittenberg. Er hatte die Bibel jeden Tag aufgeschlagen, mehrmals, ihre Seiten immer wieder umgeblättert. Aber erst jetzt öffnete sich dieses Buch für ihn.
Als könnte er mit einem Mal Gott sehen, den doch kein Mensch sehen kann. So wie man einen Schatten sehen kann hinter einer Wand aus dünnem Papier, so dünn wie die Seiten in einer Bibel. Gott, auch hierin verborgen, verhüllt, nur wie im Umriss zu sehen. Aber ganz nah, mit den leisen Geräuschen seiner Anwesenheit, wie der Atem eines anderen.
Und einmal schlug er das Buch wieder auf und blätterte die Seite um und las: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht werde, allein durch den Glauben.“ Und das Buch öffnete sich. Und gleich hinter diesen Worten war Gott, nicht ganz genau zu sehen, aber ganz nah. Und er begriff: Das ist die Tür. Das ist die Pforte, um dorthin zurück zu kommen, wo wir am Anfang waren als Menschen. Im Paradies, ganz nahe bei Gott.
Und er stellte fest: Es ist anders, als ich all die Jahre gedacht habe. Gott ist anders. Seine Gerechtigkeit ist anders. Gott liebt uns. Und ich muss nichts dafür tun, gar nichts. Die Angst, die ihm bis dahin jeden Tag im Nacken gesessen hatte, war verschwunden. Die Angst, für Gott nicht genug getan zu haben und deswegen nicht geliebt zu werden.
Manche sagen ja, das sei alles lange her und hätte mit uns gar nichts mehr zu tun. Ich glaube das nicht. Denn die Angst, dass ich nicht gut genug bin, so wie ich bin, die kenne ich. Auch die Versuche, etwas dafür zu tun, dass ich geliebt werde und angesehen bin. Und ich glaube, ich bin damit nicht alleine auf der Welt. Es gibt diese Angst, nicht geliebt zu sein und nicht gesehen zu werden. Irgendjemand soll doch da sein für mich, jemand, der mich sieht und liebt, ohne dafür etwas zu verlangen. Bei den meisten Menschen ist das eine leise Angst, wie eine kleine graue Ecke im Herzen.
Aber manchmal, wenn sie zu groß wird, dann wird sie heraus geschrieen auf den Straßen, jeden Montagabend in Dresden zum Beispiel und vor den Flüchtlingsheimen überall in unserem Land. Die große Angst, nicht geliebt zu sein, zu kurz zu kommen. Sie macht, dass sie gegen die anderen schreien. Gegen die Politiker, die angeblich alle nichts tun und sich um niemanden kümmern. Gegen die Flüchtlinge, die angeblich alles bekommen und einem alles, was man überhaupt noch hat, wegnehmen werden.
Und das ist auch ein fester Glaube, denn es geht, wie wir wissen, nicht um Argumente dabei. Es geht um das Gefühl tief im Herzen, nicht gesehen und nicht geliebt zu werden. Ein grauer, trauriger Glaube, dem viele Menschen anhängen. Wie ein Schatten liegt über unserem ganzen Land.
Aber Glaube ist etwas anderes. Das weiß ich von dir, Martin. Du hast das neu entdeckt und es hat dir die Angst genommen und dich frei gemacht. Du sagst:
„Glaube ist eine lebendige, verwegene Zuversicht auf Gottes Gnade, so gewiß, daß er tausendmal drüber stürbe. Und solche Zuversicht und Erkenntnis göttlicher Gnade macht fröhlich, trotzig und voller Lust gegen Gott und alle Kreaturen. Daher wird der Mensch ohne Zwang willig und voller Lust, jedermann Gutes zu tun, jedermann zu dienen, allerlei zu leiden, Gott zu Liebe und zu Lob, der einem solche Gnade erzeigt hat.“ (Vorrede zum Römerbrief)
Ich stehe hier, an deinem Grab, mit all meinen Bibeln. Ich habe sie dir mitgebracht, weil ich sie genauso brauche, wie du sie gebraucht hast. Gott war für mich immer zu sehen, in all diesen Bibeln, auch ohne Bilder, hinter dem dünnen Papier ihrer Seiten, in Umrissen, aber nahe. In der Kinderbibel, in der kleinen roten, der dicken hebräischen, der schmalen griechischen, in der, die jetzt auseinanderfällt und in der, die noch ganz neu riecht.
Gott war mir immer nahe: Dem Kind, das sich wünscht, dass es einen Platz findet in der Welt und eine Aufgabe für sein Leben. Der Jugendlichen auf der Suche nach Gemeinschaft und Orientierung. Der Studentin auf der Suche nach Erkenntnis und der Pfarrerin, für die die Bibel ein Werkzeug und Arbeitsmittel ist, mit Gebrauchsspuren und gleichzeitig die Mitte und die Quelle für alle meine Arbeit. Gott ist mir nahe in diesem Buch. Es ist mein allerliebstes Buch. Mein allerliebstes Wort.
Und wenn ich dankbar bin für dein Leben, Martin, dann bin ich dir dankbar für deine Liebe zu diesem Buch und dein Vertrauen in die Kraft von Worten, bloß von Worten auf dünnem Papier. Und ich bin dankbar für die Mühe und die Arbeit, die du dir mit diesem Buch gemacht hast, auf der Burg bei den Krähen und später in Wittenberg zusammen mit den anderen, als ihr um die richtigen Worte gerungen habt für eure Übersetzung.
Ach Martin, und ich wünschte mir, du hättest nicht aufgehört damit, dieses Buch so genau zu lesen wie am Anfang. Du hättest doch gelesen, dass die selig sind, die Frieden stiften und die für die bitten, die sie verfolgen. Du hättest den Krieg nicht gutheißen können und die Gewalt. Und du hättest doch niemals diese schrecklichen Worte sagen können über die Juden, von denen wir doch das Gesetz haben und die Propheten und von dem Juden Paulus diesen Brief, mit deinem allerliebsten Wort darin.
Ich stehe hier, mit all meinen Bibeln, und heute ist Reformationstag und morgen beginnt das große Jubiläumsjahr. Das schönste Geschenk zum Reformationsjubiläum habe ich schon bekommen. Das ist die neue Lutherbibel.
Aber ich habe trotzdem noch Wünsche. Dass wir diesen grauen, traurigen Glauben loswerden, der über unserem Land liegt und die Angst, zu kurz zu kommen. Dass uns klar wird: Wir Christen werden gebraucht in dieser Welt. Wir haben eine Aufgabe für unser Leben, wir haben Gemeinschaft, wir wissen, was gut und was böse ist. Und unser Glaube soll fröhlich sein und trotzig und voller verwegener Zuversicht auf Gott. Dass wir Lust bekommen, jedermann Gutes zu tun. Es ist doch leicht, die anderen zu lieben. Weil Gott uns so liebt.
Amen.
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Zart wie Papier. Stark wie die Liebe - Predigt zu Römer 3,21-28 von Michael Greßler
Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben. Denn es ist hier kein Unterschied: Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden in der Zeit der Geduld Gottes, um nun in dieser Zeit seine Gerechtigkeit zu erweisen, auf dass er allein gerecht sei und gerecht mache den, der da ist aus dem Glauben an Jesus.
Wo bleibt nun das Rühmen? Es ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch das Gesetz der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens. So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. (Röm 3,21-28)
I. Eine neue Bibel (ist mit auf der Kanzel)
Es ist nur Papier.
Papier und Farbe darauf.
Buchstaben. Worte. Sätze. Gedanken.
Ich streichle darüber.
Ganz dünn und durchscheinend. Wie Morgenlicht.
Ganz zart. Wie Seide.
Glatt. Wie Samt.
Man kann das leicht zerknittern. Zerreißen.
Wie meine Seele.
Es ist eine ganz neue Bibel.
Ich habe sie kaum zwei Wochen.
Luthers Bibel, wieder einmal überarbeitet.
Das hat er selbst ja gemacht, solange er lebte.
Immer wieder.
Geforscht. Gefragt. Geändert. Verbessert.
Wegen der Worte.
Auf der Wartburg hatte er sich hingesetzt,
im kleinen Stübchen mit der Schlafkammer nebenan.
Draußen riefen die Krähen im Sturm.
Da saß er und hat Worte gesucht.
Auf dem alten Papier, Griechisch und Latein.
Gedruckt auf raue Seiten.
»So spricht der Herr.«
Gott ins Herz gehört.
Und draußen gehört bei den Menschen.
Auf den Straßen und Gassen.
»Dem Volk aufs Maul geschaut«.
Und nun schreibt er selber.
Tinte auf Papier.
Die Gänsefeder kratzt bei jedem Buchstaben.
Angefangen hatte es mit Thesen.
Fünfundneunzig waren es geworden.
Schwarze Tinte auf bräunlichem Papier.
Dann gedruckt mit bleiernen Lettern.
Mit Briefen verschickt an die Kardinäle.
Und angepinnt an der Schlosskirchentür zu Wittenberg.
Viel ist passiert seitdem.
Nun: Wieder schreiben.
Wort um Wort.
Nicht sein Wort.
Worte von Paulus – von Lukas – von Johannes.
Worte von Gott.
Heilige Worte.
Papier ist dünn.
Aber Worte sind stark.
Worte, von denen man lebt.
»So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke,
allein durch den Glauben.« (Röm 3,28)
II. Vergilbt, blutig, verbrannt
Und es könnte so schön sein auf der Welt.
»Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert,
nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben
und demütig sein vor deinem Gott.« (Mi 6,8)
Es könnte so schön sein mit diesem Worten.
Die Herrlichkeit Gottes könnte durchscheinen.
Durch alles:
Durch Menschenworte und Menschentaten.
Dann würde die Liebe leuchten auf der Welt.
Wie Licht durch dünnes Papier.
Aber wir haben’s verloren.
Irgendwann wurde das Papier gelblich,
von all dem Schweiß und den Tränen.
Blut wurde vergossen.
Jeder Tropfen einer zu viel.
Das Papier färbte sich rot.
Und dann bräunlich wie die Erde auf all den Gräbern.
Und am Ende war es schwarz wie die Brandstätten dieser Welt.
Und die Herrlichkeit war dahin.
»Denn es ist hier kein Unterschied:
Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten.« (Röm 3,22f)
Und ich ja auch!
Ich wäre so gerne perfekt.
Oder wenigstens richtig.
Und gut.
Und immer so, wie Gott will.
Ich weiß ja, wie es geht.
»Du sollst den Herrn, deinen Gott,
lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seeleund mit all deiner Kraft
und deinen Nächsten wie dich selbst.« (Dtn 6,5)
Und manchmal gelingt es mir ja sogar.
Und euch auch.
Aber manchmal schaffe ich es auch nicht.
Manchmal zerknittere ich die Seelen der anderen wie dünnes Papier.
Und ich reiße Seiten aus Lebensbüchern heraus.
Streiche Worte durch, die doch so wichtig waren.
Oder ich schreibe anderen Worte ins Stammbuch, die weh tun und traurig machen.
Und dann tut es mir leid, aber es ist geschehen.
Das steht ja auch schon auf den dünnen Seiten in meinem Bibelbuch,
aufgeschrieben von einen ganz verzagten Paulus:
»Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.
Ich elender Mensch. Wer wird mich erlösen?« (Röm 7,19)
III. Ins Herz geschrieben
Und dann lese ich wieder die Worte.
Starke Worte auf zartem Papier.
»Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten,
und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung,
die durch Christus Jesus geschehen ist.« (Röm 3,23)
Da ist einer, der sieht, was ich nicht alleine kann.
All das, was ich sollte.
All das, was ich will.
Alles, was ich so gern würde.
Richtig sein.
Und Gott schreibt mir ins Herz:
Schau auf Jesus.
Und höre. Und lies.
Was du nicht selber schaffst, das mache ich.
Es ist alles getan. Von Jesus.
Glaub´ es mir.
»Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden in der Zeit der Geduld Gottes, um nun in dieser Zeit seine Gerechtigkeit zu erweisen, auf dass er allein gerecht sei und gerecht mache den, der da ist aus dem Glauben an Jesus.« (Röm 3,25f)
Und auf einmal wird es gut.
Ich lese die Worte, zart wie Papier.
Stark wie die Liebe.
Diesen Worten will ich glauben.
»So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke,
allein durch den Glauben.« (Röm 3,28)
IV. Bis ans Ende
Das glaube ich.
Diese Worte reichen.
Für ein ganzes Leben.
Für eine ganze Welt.
Sie trösten mich, wenn ich es nicht schaffe.
Wenn ich wieder einmal nicht richtig bin, dann geben die Worte mir Mut.
»Sei getrost, geh hin, dein Glaube hat dir geholfen.« (Lk 17,19)
Und dann gehe ich hin und lebe.
Mit Gott. Mit Jesus. Mit den anderen.
Und einmal, am Ende, ist alles klar.
»Herrlichkeit der Kinder Gottes«.
Dann wird das Papier durchsichtig wie Glas.
Auch das schmutzige Lebenspapier.
Die Blutflecken.
Und die schwarzverbrannte Weltgeschichte.
Dann, am Ende, scheint die Herrlichkeit nicht nur durch.
Dann sehen wir sie.
Und Gott von Angesicht zu Angesicht.
Und alles ist gut.
Gott in uns. Wir in ihm.
Und »Gott alles in allem«. (1.Kor 15,28)
Amen.
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Ein protestantisches Manifest - Predigtmeditation zu Römer 3,21-28 von Ralf Hoburg
Die Gerechtigkeit steht hoch im Kurs. Zwar wird die Gesellschaft, in der wir leben, immer ungerechter, aber umso größer wird die Forderung nach mehr Gerechtigkeit, nach Teilhabe und Integration sowie dem Wunsch nach Ausgleich. Teilweise bezieht sich dieser Eindruck größer werdender Ungerechtigkeit auf das diffuse Gefühl einer Ungleichbehandlung, wenn die „großen Gauner“ aus Wirtschaft, Showgeschäft und Medien mit ihren Skandalen vor Gericht vermeintlich glimpflich wegkommen. Die „kleinen Gaunereien“ – angefangen bei Verkehrsübertretungen und Bagatell-Sünden – im gleichen Atemzuge aber durch Behörden und Gerichte härter bestraft werden. Und gleichzeitig fehlt es an Schuldbewusstsein sowohl dem persönlichen wie dem öffentlichen.
Helmut Schmidt brandmarkte auf seine unnachahmliche Weise schon in den neunziger Jahren den Verlust der Moral in den politischen und wirtschaftlichen Eliten. Stattdessen „rühmen“ sich die Helden der Welt ihrer Taten. Hoeneß wird wieder Bayern-Chef, Ackermann hat mit seiner Geldgier-Politik die Deutsche Bank an den Rand des Ruins geführt und steckte ohne Zaudern die Abfindung ein. Und manch anderer Prominenter beruhigt in jüngster Zeit das schlechte Gewissen, für eine kurze Zeit einen Flüchtling bei sich beherbergt zu haben. Die Beispiele stehen hier stellvertretend für die großen und kleinen „Ruhmes“-Sünden der Vielen. Alle handeln richtig und keiner ist’s gewesen.
Letztlich ist es aber die soziale Gerechtigkeit, die die Politik und die Menschen im Land schon seit etlichen Jahren umtreibt. Verbunden wird dieses zentrale Thema der eigenen sozialen Sicherheit mit der Empfindung eines größer werdenden Abstandes von arm und reich. Der Gefahr des sozialen Abstieges, der Perspektive der Renten und ein gesunkenes Lohnniveau trotz Mindestlöhnen auf der einen Seite steht die Entwicklung des Reichtums auf der anderen Seite gegenüber. Die Zahl der Einkommensmillionäre steigt ebenso stetig wie die Mietpreise in den Großstädten. Fast scheint es so, als wenn sich in dem einen Wort „Gerechtigkeit“ die ganze Krise vereinigen ließe und sich eine Spaltung durch das Land zieht.
Wenn es um die Gerechtigkeit geht, so hat die christliche Theologie im Austausch der modernen Gedanken und Reflexionen inmitten aller säkularen Pluralität auch noch ein Wörtchen zu sagen. Zwar stehen die Kirche und ihre Theologie heute eher am Rande der Gesellschaft und können nicht die großen politischen Diskurse zur sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit zentral mit bestimmen. Aber in der Mitte des Christentums steht das Wissen um eine Gerechtigkeit, die die Welt bewegen kann. Der Bibeltext zum diesjährigen Reformationstag 2016 aus dem Römerbrief (Röm 3,21-28) stellt den Gedanken der Gerechtigkeit geradezu in die Mitte. Sie bildet die Achse, um die sich der Apostel in seinem Brief an die Gemeinde in Rom dreht. Der Reformator Martin Luther selbst beschrieb in eigenen Rückblicken immer wieder, dass dieser Text neben der zentralen Stelle aus Röm 1,16f[1] für seine reformatorische Grunderkenntnis fundamental sei. Dieser Text enthält die Mitte der reformatorischen Theologie und stellt geradezu ein protestantisches Manifest dar.
Um aber die Tragweite zu verstehen, die sich in dieser Passage aus dem Römerbrief verbirgt, ist es wichtig, sich ein Stück weit von der Vorstellung der Gerechtigkeit zu verabschieden, die ich eingangs mit dem Verständnis der sozialen Gerechtigkeit eingeführt habe.
Der Gerechtigkeit, die der Apostel Paulus meint und die Martin Luther fasziniert hat, kommt man dann nahe, wenn man sich darauf einlässt über Gott selbst nachzudenken. Ein Nachdenken über Gott führt unmittelbar zu einem Nachdenken über Gerechtigkeit. Der Theologe Karl Barth hat dies in seiner berühmten Auslegung des Römerbriefes aus dem Jahr 1922 mit folgenden Worten beschrieben: „Gott spricht, dass er ist, der er ist. Er rechtfertigt sich selbst vor sich selbst, indem er sich zum Menschen und seiner Welt bekennt, indem er nicht aufhört, sich seiner anzunehmen.“ (Römerbrief, S.67)
I. Offenbarung und Glaube
Wer die kleine Textpassage in Röm 3,21-28 liest, ist zunächst von der Dichte der Worte beeindruckt. Paulus zeigt sich als ein wortgewandter Theologe, der es gelernt hat zu argumentieren.Es prägt den gesamten Gedankengang des Römerbriefes, dass Paulus sein Evangeliumsverständnis argumentierend darlegt und dieses in der theologischen Auseinandersetzung mit dem Judentum seiner Zeit tut. So ist es notwendig, die Passage von Röm 3,21-28 in den Gesamtduktus des Römerbriefes einzuordnen, um zu verstehen, was der zentrale Bibelvers in Röm 3,28 dann geradezu als Summe seiner Theologie bedeutet: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“
Wer sich mit der Gerechtigkeit im theologischen Sinn auseinandersetzen will, sollte also zunächst dem nachgehen, was das Gesetz im jüdischen Verständnis bedeutet. Vielleicht lässt sich das Geheimnis dieser inneren Dialektik von Gesetz und Gerechtigkeit von einer anderen Stelle des komplexen Gedankengebäudes des Römerbriefes aus erläutern und entschlüsseln. Der Vers Röm 10,4 gehört wohl zu den Texten, die in der Auslegungsgeschichte biblischer Texte unendlich oft interpretiert worden sind: „Denn Christus ist des Gesetzes Ende; wer an den glaubt, der ist gerecht.“ Es sei nun dahingestellt, ob mit Christus das Gesetz überholt wurde oder wie auch immer das Wort „Ende“ (telos) zu interpretieren ist, sicher ist aber: Beide – Gesetz und Gerechtigkeit – sollen für den Apostel Paulus in Bezug auf Jesus Christus verstanden werden.
Was ist nun aber das Gesetz und woher wissen die Menschen sowohl von dem einen, nämlich dem Gesetz und dem anderen, Jesus Christus? Genau um diesen inneren Zusammenhang geht es in dem zentralen Kapitel des Römerbriefes.
Der Predigttext Röm 3,21-28 ist somit eingebunden in eine Interpretation des Apostel Paulus des jüdischen Glaubens, um von dort aus einerseits die Gemeinsamkeit mit dem Judentum und andererseits das radikal Neue des christlichen Glaubens der Gemeinde vor Augen zu führen. Die Mitte des Judentums bildet bis auf den heutigen Tag die Tora, also die fünf Bücher Mose. Diese Tora bildet im Judentum die innere Achse des Glaubens, denn die Gesetzestafeln wurden Mose auf dem Berg Sinai übergeben. Das zweite Buch Mose spricht hierbei deutlich von einer Offenbarung. Will man das Judentum verstehen, so ist es notwendig, dem Verhältnis eines gläubigen Juden zur Tora nachzuspüren. In der Observanz gegenüber den Heiligen Schriften besteht im Übrigen eine durchaus innere Verwandtschaft zwischen dem Judentum, dem Islam und dem Christentum. Auch für den Islam zählt die Befolgung der Regeln des Koran zur Mitte des Glaubens, während im Christentum durch Aufklärung und Säkularisierung die Strenge einer Bibelfrömmigkeit, wie sie etwa noch dem Pietismus zu eigen ist, teilweise verloren gegangen ist.
Der Apostel Paulus stellt nun im Zusammenhang des Römerbriefes die kühne These auf, dass das Judentum durch die Tora und die Beschneidung gegenüber dem christlichen Glauben keinerlei Vorzug hat (Röm 3,1). Offensichtlich bildet dies den Kern des Vorwurfes, der von Seiten jüdischer Kreise dem Apostel vorgehalten wurde. Gemeinsam ist vielmehr beiden, „dass alle, Juden wie Griechen, unter der Sünde sind“ (Röm 3,9) und Paulus ergänzt im Nachsatz mit Verweis auf Hiob 4,17: „Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer.“ (Röm 3,10) Und am Ende des Abschnittes Röm 3,9-20 holt er dann zu der zusammenfassenden Erkenntnis aus: „Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.“ (Röm 3,20)
Jetzt erst lässt sich der Übergang zu der kleinen Passage in Röm 3,21-28 herstellen, wenn den Lesern des Briefes ganz klar vor Augen steht: Die Gerechtigkeit wird jenseits des Gesetzes offenbar. Das Neue, das Paulus betont, liegt in der Offenbarung und in dem, wie der Begriff der Gerechtigkeit gefasst wird. Diese beiden Begriffe von Gerechtigkeit und der Offenbarung haben sowohl Martin Luther wie dann auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Theologen Karl Barth nachhaltig beschäftigt. Luther geht dem Wort Gerechtigkeit in seiner Auslegung des Römerbriefes von 1515/16 intensiver nach. Er schreibt: „Die ‚Gerechtigkeit ohne das Gesetz‘ ist vielmehr die, welche Gott dem Gläubigen durch den Geist der Gnade verleiht ohne Zutun des Gesetzes.“ Karl Barth hingegen betont an dieser Stelle den Charakter der Offenbarung. Und die Offenbarung umkreist er in immer neuen Bildern: „Wir können das Nein, unter dem wir stehen, nicht mehr anders hören, als aus dem göttlichen Ja heraus […] Gewiß, sofern wir glauben, was offenbart ist, nicht mehr anders.“
Somit hängen die drei zentralen Begriffe „Gerechtigkeit“, „Offenbarung“ und „Glaube“ innerlich wie in einem Kreis zusammen. Diesen Zusammenhang spricht Paulus in Röm 3,22 an. Aus der Perspektive des Glaubens erkennt der Mensch, dass es im Wesen des Menschen keinen Unterschied gibt. Und dieses Wesen des Menschen liegt in der Tatsache der Sterblichkeit. Im Glauben gründet für ihn die Erkenntnis der Sünde und damit ist im tiefsten die Trennung von Gott und Mensch gemeint. Aber diese Erkenntnis führt zugleich auch zu der Erkenntnis der Gerechtigkeit und dem „fröhlichen Wechsel“ den Jesus Christus erwirkt hat – so beschreibt es Luther in einem seiner Lieder. Damit ist die Theologie bei ihrer Mitte angekommen. Indem Martin Luther im Bibelstudium der Texte des Apostels Paulus auf diesen Zusammenhang aufmerksam wurde, schuf er die theologische Grundlage der Reformation.
II. „Gerecht aus Gnade“ - das Herzstück protestantischer Theologie
Wenn nun klar ist: Gott offenbart sich und im Glauben erfasst der Mensch die Gerechtigkeit Gottes, die in der Offenbarung begründet liegt, dann ist Jesus Christus selbst die Mitte der Gerechtigkeit Gottes. Karl Barth bringt es in seiner Textauslegung genau auf den Punkt: „Christus ist der Inhalt dieser Erkenntnis: die Gerechtigkeit Gottes selbst.“ Nun stellt sich aber die Frage, woher der Mensch die Gewissheit dieser Erkenntnis nehmen kann?
Der archimedische Punkt in dieser Hinsicht und damit die absolute Voraussetzung bildet der Glaube. Wie der Glaube an Jesus Christus die Erkenntnis der eigenen Sünde als Getrenntsein von Gott bedingt, so eröffnet der Glaube das Verstehen des Zusammenhanges von Jesus Christus als der Gerechtigkeit Gottes. Der Glaube ist dann auch das Durchbrechen des „Rühmens“, von dem Paulus am Anfang des Textes sprach. Der Glaube ist also der Türöffner der Erkenntnis. An dieser Stelle macht sich das Christentum bis heute angreifbar, denn in der Welt der Zahlen und Fakten besteht ja ein Vorbehalt vor der Welt des Glaubens, die eher als „nicht-wissen“, „mutmaßen“ oder empirischer Ungenauigkeit verstanden wird. Das Glauben der Bibel ist aber indes ein „vertrauen auf“ als individueller Gewissheit und Lebensgrundlage. Glauben und Wissen können und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. In diese Richtung zielt der unnachahmlich treffende Satz Albert Einsteins: „Gott würfelt nicht.“ Das Wissen von Gott trennt Einstein vom Wissen über die Realität.
Aus dem Glauben heraus erwächst für Paulus die entscheidende Erkenntnis im Römerbrief: Gottes Gnade war es, die ihn aus der Treue heraus handeln ließ. Diese Gnade ist ein Attribut Gottes. Sie „ist und bleibt immer Gottes Kraft“, schreibt Karl Barth. Gott selbst ist der Akteur in seiner Offenbarung. Die Gnade aber bliebe leer, wenn sie nicht gefüllt würde durch eine inhaltliche Mitte. Und so führt der Apostel Paulus in Röm 3,24 seine Argumentation auf einen einzigen Punkt zu: „Und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.“
Die Aufgabe und das Werk Jesu Christi liegen in der Erlösung des Menschen. Wenn man so will, ist in der Tat darin der Weg der jüdischen Tora überholt. Und somit ist das eigentlich Trennende zwischen Judentum und Christentum diese Interpretation von Erlösung, die nach dem christlichen Verständnis in und durch die Person Jesu Christi erwirkt worden ist. Und um der Erlösung gewiss zu werden bedarf es auch keiner „Mittelsmänner“ oder „Zwischeninstanzen“, wie sie etwa die katholische Kirche durch die Mariengläubigkeit, durch Buß- und Beichtwesen oder die Stellung von Papst und Priestertum als notwendig erachtet. Das Herzstück der protestantischen Theologie liegt in dem „sola fide“ (allein aus Glauben), das dem „sola gratia“ (allein durch Gnade) und dem „sola scriptura“ (allein durch die Schrift) unverrückbar zur Seite gestellt ist. Diese evangelische Mitte hat Martin Luther in seinen Liedern auf immer wieder kreative Art und Weise beschrieben und vertont wie etwa in dem Lied: „Komm, Heiliger Gesit, Herre Gott“:
„O Herr, behüt uns vor fremder Lehr,
dass wir nicht suchen Meister mehr,
denn Jesum mit rechtem Glauben
und ihm aus ganzer Macht vertrauen.“ (eg 125)
III. Gerechtigkeit und Freiheit – des Protestanten Stand in der Welt
Diese Gedanken von einer Gerechtigkeit, die die Erlösung des Menschen bewirkt, kämen einer Spiegelfechterei von Argumenten und Worten gleich, wenn sie in der abstrakten Höhe blieben und nicht in die Niederungen des Lebens hinein konkretisiert werden könnten. Diese Konkretion des Alltags möchte ich zum Abschluss mit den Worten Martin Luthers versuchen. In seiner Schrift aus dem Jahr 1520 „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ beginnt der Reformator seine Ausführungen mit einer widersprüchlichen Aussage: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr und über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“
Das Wissen, dass das Leben des Menschen ein Geschenk aus der Gnade Gottes ist und zugleich durch die Erlösung im Kreuzestod Christi unter einer österlichen Verheißung von Hoffnung und Auferstehung steht, führt zu einer Lebenshaltung, in der die Freiheit eine ganz neue Bedeutung erhält. Aber es führt auch zu einer Lebenshaltung, die die Widersprüche aushält und nicht stehen lässt. Ganz und gar nicht sind in der gegenwärtigen Welt und Gesellschaft „Ruhmsucht“ und „Sünde“ vergangen und der protestantische Glaube weiß sehr wohl von der Knechtschaft der Welt, von sozialer Not, Armut, Ungerechtigkeit, Hunger, Leid und den sozialen Problemen. Im evangelischen Verständnis führt der Glaube dann aber nicht zu Passivität oder Nichtstun, sondern in die Aufgabe der konkreten sozialen Gestaltung der Welt geradezu hinein. Der Glaube an die Erlösung in Jesus Christus führt zum „Dienst“ an der Welt, wie er sich etwa durch das diakonische Engagement zeigt. Im diakonischen Verständnis werden Rechtfertigung und Versöhnung konkret.
Gleichzeitig zeigt sich aber auch das „Protestantische“ im Widerstehen, in der Kritik und dem Aufdecken der gesellschaftlichen Verhältnisse. Das hat uns die Reformation um Luther, Zwingli und Calvin mit auf den Weg gegeben. Die Gerechtigkeit, die von Gott selbst durch die Erlösung in Jesus Christus bewirkt wurde, stiftet Unruhe und kann zum gesellschaftlichen Protest führen. Dieser Motor des Glaubens bewegt dazu, dass Menschen um der Gerechtigkeit und Freiheit willen Stellung beziehen. Die Laienbewegung des Evangelischen Kirchentages ist ein äußeres Zeichen dieses Verständnisses von Gerechtigkeit und Freiheit wie auch viele Stellungnahmen und Denkschriften der Evangelischen Kirche deutlich machen, dass das protestantische Glaubensverständnis eine Stimme inmitten der gesellschaftlichen Vielfalt ist. Von diesem Wissen der Gerechtigkeit Gottes lässt sich dann auch für die soziale Gerechtigkeit in der Welt streiten. In nicht viel weniger als diesem Anspruch besteht das protestantische Manifest, das auch noch gilt, wenn die Scheinwerfer nach dem 31. Oktober 2017 und den Feierlichkeiten um das Reformationsjubiläum erloschen sind.
[1] „Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso den Griechen. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht: `Der Gerechte wird aus Glauben leben.`“
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Ein protestantisches Manifest - Predigtmeditation zu Römer 3,21-28 von Ralf Hoburg
Die Gerechtigkeit steht hoch im Kurs. Zwar wird die Gesellschaft, in der wir leben, immer ungerechter, aber umso größer wird die Forderung nach mehr Gerechtigkeit, nach Teilhabe und Integration sowie dem Wunsch nach Ausgleich. Teilweise bezieht sich dieser Eindruck größer werdender Ungerechtigkeit auf das diffuse Gefühl einer Ungleichbehandlung, wenn die „großen Gauner“ aus Wirtschaft, Showgeschäft und Medien mit ihren Skandalen vor Gericht vermeintlich glimpflich wegkommen. Die „kleinen Gaunereien“ – angefangen bei Verkehrsübertretungen und Bagatell-Sünden – im gleichen Atemzuge aber durch Behörden und Gerichte härter bestraft werden. Und gleichzeitig fehlt es an Schuldbewusstsein sowohl dem persönlichen wie dem öffentlichen.
Helmut Schmidt brandmarkte auf seine unnachahmliche Weise schon in den neunziger Jahren den Verlust der Moral in den politischen und wirtschaftlichen Eliten. Stattdessen „rühmen“ sich die Helden der Welt ihrer Taten. Hoeneß wird wieder Bayern-Chef, Ackermann hat mit seiner Geldgier-Politik die Deutsche Bank an den Rand des Ruins geführt und steckte ohne Zaudern die Abfindung ein. Und manch anderer Prominenter beruhigt in jüngster Zeit das schlechte Gewissen, für eine kurze Zeit einen Flüchtling bei sich beherbergt zu haben. Die Beispiele stehen hier stellvertretend für die großen und kleinen „Ruhmes“-Sünden der Vielen. Alle handeln richtig und keiner ist’s gewesen.
Letztlich ist es aber die soziale Gerechtigkeit, die die Politik und die Menschen im Land schon seit etlichen Jahren umtreibt. Verbunden wird dieses zentrale Thema der eigenen sozialen Sicherheit mit der Empfindung eines größer werdenden Abstandes von arm und reich. Der Gefahr des sozialen Abstieges, der Perspektive der Renten und ein gesunkenes Lohnniveau trotz Mindestlöhnen auf der einen Seite steht die Entwicklung des Reichtums auf der anderen Seite gegenüber. Die Zahl der Einkommensmillionäre steigt ebenso stetig wie die Mietpreise in den Großstädten. Fast scheint es so, als wenn sich in dem einen Wort „Gerechtigkeit“ die ganze Krise vereinigen ließe und sich eine Spaltung durch das Land zieht.
Wenn es um die Gerechtigkeit geht, so hat die christliche Theologie im Austausch der modernen Gedanken und Reflexionen inmitten aller säkularen Pluralität auch noch ein Wörtchen zu sagen. Zwar stehen die Kirche und ihre Theologie heute eher am Rande der Gesellschaft und können nicht die großen politischen Diskurse zur sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit zentral mit bestimmen. Aber in der Mitte des Christentums steht das Wissen um eine Gerechtigkeit, die die Welt bewegen kann. Der Bibeltext zum diesjährigen Reformationstag 2016 aus dem Römerbrief (Röm 3,21-28) stellt den Gedanken der Gerechtigkeit geradezu in die Mitte. Sie bildet die Achse, um die sich der Apostel in seinem Brief an die Gemeinde in Rom dreht. Der Reformator Martin Luther selbst beschrieb in eigenen Rückblicken immer wieder, dass dieser Text neben der zentralen Stelle aus Röm 1,16f[1] für seine reformatorische Grunderkenntnis fundamental sei. Dieser Text enthält die Mitte der reformatorischen Theologie und stellt geradezu ein protestantisches Manifest dar.
Um aber die Tragweite zu verstehen, die sich in dieser Passage aus dem Römerbrief verbirgt, ist es wichtig, sich ein Stück weit von der Vorstellung der Gerechtigkeit zu verabschieden, die ich eingangs mit dem Verständnis der sozialen Gerechtigkeit eingeführt habe.
Der Gerechtigkeit, die der Apostel Paulus meint und die Martin Luther fasziniert hat, kommt man dann nahe, wenn man sich darauf einlässt über Gott selbst nachzudenken. Ein Nachdenken über Gott führt unmittelbar zu einem Nachdenken über Gerechtigkeit. Der Theologe Karl Barth hat dies in seiner berühmten Auslegung des Römerbriefes aus dem Jahr 1922 mit folgenden Worten beschrieben: „Gott spricht, dass er ist, der er ist. Er rechtfertigt sich selbst vor sich selbst, indem er sich zum Menschen und seiner Welt bekennt, indem er nicht aufhört, sich seiner anzunehmen.“ (Römerbrief, S.67)
I. Offenbarung und Glaube
Wer die kleine Textpassage in Röm 3,21-28 liest, ist zunächst von der Dichte der Worte beeindruckt. Paulus zeigt sich als ein wortgewandter Theologe, der es gelernt hat zu argumentieren.Es prägt den gesamten Gedankengang des Römerbriefes, dass Paulus sein Evangeliumsverständnis argumentierend darlegt und dieses in der theologischen Auseinandersetzung mit dem Judentum seiner Zeit tut. So ist es notwendig, die Passage von Röm 3,21-28 in den Gesamtduktus des Römerbriefes einzuordnen, um zu verstehen, was der zentrale Bibelvers in Röm 3,28 dann geradezu als Summe seiner Theologie bedeutet: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“
Wer sich mit der Gerechtigkeit im theologischen Sinn auseinandersetzen will, sollte also zunächst dem nachgehen, was das Gesetz im jüdischen Verständnis bedeutet. Vielleicht lässt sich das Geheimnis dieser inneren Dialektik von Gesetz und Gerechtigkeit von einer anderen Stelle des komplexen Gedankengebäudes des Römerbriefes aus erläutern und entschlüsseln. Der Vers Röm 10,4 gehört wohl zu den Texten, die in der Auslegungsgeschichte biblischer Texte unendlich oft interpretiert worden sind: „Denn Christus ist des Gesetzes Ende; wer an den glaubt, der ist gerecht.“ Es sei nun dahingestellt, ob mit Christus das Gesetz überholt wurde oder wie auch immer das Wort „Ende“ (telos) zu interpretieren ist, sicher ist aber: Beide – Gesetz und Gerechtigkeit – sollen für den Apostel Paulus in Bezug auf Jesus Christus verstanden werden.
Was ist nun aber das Gesetz und woher wissen die Menschen sowohl von dem einen, nämlich dem Gesetz und dem anderen, Jesus Christus? Genau um diesen inneren Zusammenhang geht es in dem zentralen Kapitel des Römerbriefes.
Der Predigttext Röm 3,21-28 ist somit eingebunden in eine Interpretation des Apostel Paulus des jüdischen Glaubens, um von dort aus einerseits die Gemeinsamkeit mit dem Judentum und andererseits das radikal Neue des christlichen Glaubens der Gemeinde vor Augen zu führen. Die Mitte des Judentums bildet bis auf den heutigen Tag die Tora, also die fünf Bücher Mose. Diese Tora bildet im Judentum die innere Achse des Glaubens, denn die Gesetzestafeln wurden Mose auf dem Berg Sinai übergeben. Das zweite Buch Mose spricht hierbei deutlich von einer Offenbarung. Will man das Judentum verstehen, so ist es notwendig, dem Verhältnis eines gläubigen Juden zur Tora nachzuspüren. In der Observanz gegenüber den Heiligen Schriften besteht im Übrigen eine durchaus innere Verwandtschaft zwischen dem Judentum, dem Islam und dem Christentum. Auch für den Islam zählt die Befolgung der Regeln des Koran zur Mitte des Glaubens, während im Christentum durch Aufklärung und Säkularisierung die Strenge einer Bibelfrömmigkeit, wie sie etwa noch dem Pietismus zu eigen ist, teilweise verloren gegangen ist.
Der Apostel Paulus stellt nun im Zusammenhang des Römerbriefes die kühne These auf, dass das Judentum durch die Tora und die Beschneidung gegenüber dem christlichen Glauben keinerlei Vorzug hat (Röm 3,1). Offensichtlich bildet dies den Kern des Vorwurfes, der von Seiten jüdischer Kreise dem Apostel vorgehalten wurde. Gemeinsam ist vielmehr beiden, „dass alle, Juden wie Griechen, unter der Sünde sind“ (Röm 3,9) und Paulus ergänzt im Nachsatz mit Verweis auf Hiob 4,17: „Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer.“ (Röm 3,10) Und am Ende des Abschnittes Röm 3,9-20 holt er dann zu der zusammenfassenden Erkenntnis aus: „Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.“ (Röm 3,20)
Jetzt erst lässt sich der Übergang zu der kleinen Passage in Röm 3,21-28 herstellen, wenn den Lesern des Briefes ganz klar vor Augen steht: Die Gerechtigkeit wird jenseits des Gesetzes offenbar. Das Neue, das Paulus betont, liegt in der Offenbarung und in dem, wie der Begriff der Gerechtigkeit gefasst wird. Diese beiden Begriffe von Gerechtigkeit und der Offenbarung haben sowohl Martin Luther wie dann auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Theologen Karl Barth nachhaltig beschäftigt. Luther geht dem Wort Gerechtigkeit in seiner Auslegung des Römerbriefes von 1515/16 intensiver nach. Er schreibt: „Die ‚Gerechtigkeit ohne das Gesetz‘ ist vielmehr die, welche Gott dem Gläubigen durch den Geist der Gnade verleiht ohne Zutun des Gesetzes.“ Karl Barth hingegen betont an dieser Stelle den Charakter der Offenbarung. Und die Offenbarung umkreist er in immer neuen Bildern: „Wir können das Nein, unter dem wir stehen, nicht mehr anders hören, als aus dem göttlichen Ja heraus […] Gewiß, sofern wir glauben, was offenbart ist, nicht mehr anders.“
Somit hängen die drei zentralen Begriffe „Gerechtigkeit“, „Offenbarung“ und „Glaube“ innerlich wie in einem Kreis zusammen. Diesen Zusammenhang spricht Paulus in Röm 3,22 an. Aus der Perspektive des Glaubens erkennt der Mensch, dass es im Wesen des Menschen keinen Unterschied gibt. Und dieses Wesen des Menschen liegt in der Tatsache der Sterblichkeit. Im Glauben gründet für ihn die Erkenntnis der Sünde und damit ist im tiefsten die Trennung von Gott und Mensch gemeint. Aber diese Erkenntnis führt zugleich auch zu der Erkenntnis der Gerechtigkeit und dem „fröhlichen Wechsel“ den Jesus Christus erwirkt hat – so beschreibt es Luther in einem seiner Lieder. Damit ist die Theologie bei ihrer Mitte angekommen. Indem Martin Luther im Bibelstudium der Texte des Apostels Paulus auf diesen Zusammenhang aufmerksam wurde, schuf er die theologische Grundlage der Reformation.
II. „Gerecht aus Gnade“ - das Herzstück protestantischer Theologie
Wenn nun klar ist: Gott offenbart sich und im Glauben erfasst der Mensch die Gerechtigkeit Gottes, die in der Offenbarung begründet liegt, dann ist Jesus Christus selbst die Mitte der Gerechtigkeit Gottes. Karl Barth bringt es in seiner Textauslegung genau auf den Punkt: „Christus ist der Inhalt dieser Erkenntnis: die Gerechtigkeit Gottes selbst.“ Nun stellt sich aber die Frage, woher der Mensch die Gewissheit dieser Erkenntnis nehmen kann?
Der archimedische Punkt in dieser Hinsicht und damit die absolute Voraussetzung bildet der Glaube. Wie der Glaube an Jesus Christus die Erkenntnis der eigenen Sünde als Getrenntsein von Gott bedingt, so eröffnet der Glaube das Verstehen des Zusammenhanges von Jesus Christus als der Gerechtigkeit Gottes. Der Glaube ist dann auch das Durchbrechen des „Rühmens“, von dem Paulus am Anfang des Textes sprach. Der Glaube ist also der Türöffner der Erkenntnis. An dieser Stelle macht sich das Christentum bis heute angreifbar, denn in der Welt der Zahlen und Fakten besteht ja ein Vorbehalt vor der Welt des Glaubens, die eher als „nicht-wissen“, „mutmaßen“ oder empirischer Ungenauigkeit verstanden wird. Das Glauben der Bibel ist aber indes ein „vertrauen auf“ als individueller Gewissheit und Lebensgrundlage. Glauben und Wissen können und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. In diese Richtung zielt der unnachahmlich treffende Satz Albert Einsteins: „Gott würfelt nicht.“ Das Wissen von Gott trennt Einstein vom Wissen über die Realität.
Aus dem Glauben heraus erwächst für Paulus die entscheidende Erkenntnis im Römerbrief: Gottes Gnade war es, die ihn aus der Treue heraus handeln ließ. Diese Gnade ist ein Attribut Gottes. Sie „ist und bleibt immer Gottes Kraft“, schreibt Karl Barth. Gott selbst ist der Akteur in seiner Offenbarung. Die Gnade aber bliebe leer, wenn sie nicht gefüllt würde durch eine inhaltliche Mitte. Und so führt der Apostel Paulus in Röm 3,24 seine Argumentation auf einen einzigen Punkt zu: „Und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.“
Die Aufgabe und das Werk Jesu Christi liegen in der Erlösung des Menschen. Wenn man so will, ist in der Tat darin der Weg der jüdischen Tora überholt. Und somit ist das eigentlich Trennende zwischen Judentum und Christentum diese Interpretation von Erlösung, die nach dem christlichen Verständnis in und durch die Person Jesu Christi erwirkt worden ist. Und um der Erlösung gewiss zu werden bedarf es auch keiner „Mittelsmänner“ oder „Zwischeninstanzen“, wie sie etwa die katholische Kirche durch die Mariengläubigkeit, durch Buß- und Beichtwesen oder die Stellung von Papst und Priestertum als notwendig erachtet. Das Herzstück der protestantischen Theologie liegt in dem „sola fide“ (allein aus Glauben), das dem „sola gratia“ (allein durch Gnade) und dem „sola scriptura“ (allein durch die Schrift) unverrückbar zur Seite gestellt ist. Diese evangelische Mitte hat Martin Luther in seinen Liedern auf immer wieder kreative Art und Weise beschrieben und vertont wie etwa in dem Lied: „Komm, Heiliger Gesit, Herre Gott“:
„O Herr, behüt uns vor fremder Lehr,
dass wir nicht suchen Meister mehr,
denn Jesum mit rechtem Glauben
und ihm aus ganzer Macht vertrauen.“ (eg 125)
III. Gerechtigkeit und Freiheit – des Protestanten Stand in der Welt
Diese Gedanken von einer Gerechtigkeit, die die Erlösung des Menschen bewirkt, kämen einer Spiegelfechterei von Argumenten und Worten gleich, wenn sie in der abstrakten Höhe blieben und nicht in die Niederungen des Lebens hinein konkretisiert werden könnten. Diese Konkretion des Alltags möchte ich zum Abschluss mit den Worten Martin Luthers versuchen. In seiner Schrift aus dem Jahr 1520 „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ beginnt der Reformator seine Ausführungen mit einer widersprüchlichen Aussage: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr und über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“
Das Wissen, dass das Leben des Menschen ein Geschenk aus der Gnade Gottes ist und zugleich durch die Erlösung im Kreuzestod Christi unter einer österlichen Verheißung von Hoffnung und Auferstehung steht, führt zu einer Lebenshaltung, in der die Freiheit eine ganz neue Bedeutung erhält. Aber es führt auch zu einer Lebenshaltung, die die Widersprüche aushält und nicht stehen lässt. Ganz und gar nicht sind in der gegenwärtigen Welt und Gesellschaft „Ruhmsucht“ und „Sünde“ vergangen und der protestantische Glaube weiß sehr wohl von der Knechtschaft der Welt, von sozialer Not, Armut, Ungerechtigkeit, Hunger, Leid und den sozialen Problemen. Im evangelischen Verständnis führt der Glaube dann aber nicht zu Passivität oder Nichtstun, sondern in die Aufgabe der konkreten sozialen Gestaltung der Welt geradezu hinein. Der Glaube an die Erlösung in Jesus Christus führt zum „Dienst“ an der Welt, wie er sich etwa durch das diakonische Engagement zeigt. Im diakonischen Verständnis werden Rechtfertigung und Versöhnung konkret.
Gleichzeitig zeigt sich aber auch das „Protestantische“ im Widerstehen, in der Kritik und dem Aufdecken der gesellschaftlichen Verhältnisse. Das hat uns die Reformation um Luther, Zwingli und Calvin mit auf den Weg gegeben. Die Gerechtigkeit, die von Gott selbst durch die Erlösung in Jesus Christus bewirkt wurde, stiftet Unruhe und kann zum gesellschaftlichen Protest führen. Dieser Motor des Glaubens bewegt dazu, dass Menschen um der Gerechtigkeit und Freiheit willen Stellung beziehen. Die Laienbewegung des Evangelischen Kirchentages ist ein äußeres Zeichen dieses Verständnisses von Gerechtigkeit und Freiheit wie auch viele Stellungnahmen und Denkschriften der Evangelischen Kirche deutlich machen, dass das protestantische Glaubensverständnis eine Stimme inmitten der gesellschaftlichen Vielfalt ist. Von diesem Wissen der Gerechtigkeit Gottes lässt sich dann auch für die soziale Gerechtigkeit in der Welt streiten. In nicht viel weniger als diesem Anspruch besteht das protestantische Manifest, das auch noch gilt, wenn die Scheinwerfer nach dem 31. Oktober 2017 und den Feierlichkeiten um das Reformationsjubiläum erloschen sind.
[1] „Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso den Griechen. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht: `Der Gerechte wird aus Glauben leben.`“