‚O Jerusalem. O Al-Quds‘ – Predigt über Jesaja 62, (1) 6-12 von Jochen Riepe

‚O Jerusalem. O Al-Quds‘ – Predigt über Jesaja 62, (1) 6-12 von Jochen Riepe
62, 6-12

                       

                                        I

Wie beruhigend ist es, wenn wir von einem Menschen sagen können: ‚Er ist ehrlich. Man kann sich auf ihn verlassen‘. Wie schlechterdings ‚heil‘-bringend aber ist es, wenn wir sagen, loben und jubeln dürfen: Gott ist klar. Gott ist treu. Alle Welt wird ihn sehen, ‚den Glanz seiner Gerechtigkeit‘.

                                       II

‚Einer war über die Erde gegangen und hatte Schwefel gesät‘.[1] Reise nach Jerusalem. Als die Touristen den Bus verlassen, liegt die Stadt vor ihnen – in einem unwirklichen, ‚schwefligen Unheilslicht‘ … so als drohe eine Gefahr. Jerusalem. Lebensraum von Israelis und Palästinensern. Ort großer Erwartungen und großer Befürchtungen, vollbeschrieben, ‚vollgetankt‘ mit Religion, Ideologie und Politik. Geballte, explosive Heiligkeit. Klagemauer. Al-Aqsa-Moschee. Grabeskirche.

Ein gelbliches, unheimliches Licht. War es der Chamsin, der heiße, trockene Wüstenwind, der die Stadt ‚immer wieder in seinen gelben Dunst hüllt und das Gemüt auch, der Idiotenwind, der einen Schweif von Verrücktheit nach sich zieht‘[2]? So als drohe eine Gefahr…

                                         III

Jerusalem. Gottes Stadt. Sein Tempel. Ein Ort im Zwielicht von Erwählung und Gericht, von Unverletzlichkeitsphantasien (Jer 7,10) und realer Zerstörung. Ein schriftgelehrter Prophet aus der nachexilischen Zeit spricht es aus: Das Leiden an der Stadt, das Leiden an Gott. ‚Lasst dem Herrn keine Ruhe, bis er es wieder aufrichte …‘ Auch wenn es weh tut, und die Wächter auf den Mauern heiser werden: Niemals mögen sie schweigen, bis Gott sein Versprechen wahrmacht, und sein ‚Glanz‘ die ‚Stadtfrau Zion‘ wieder einhüllt.

Wir wissen: Der Prophet schreibt solches in den Trümmern der nur schleppend wieder aufgebauten Stadt. Die Perser haben die Babylonier als Besatzungsmacht abgelöst, eine Gruppe Deportierter kam aus dem Exil zurück und fand kein – ‚leeres Land‘ (vgl. Jer 32,43) vor. Ganz neue Fragen stellten sich: Wird es ein Zusammenleben, einen Ausgleich zwischen Daheimgebliebenen, Neuansiedlern und Rückkehrern aus dem Exil geben? Wird neuer Zusammenhalt wachsen, oder wird das Land an den Gegensätzen zwischen Arm und Reich zugrunde gehen? Wem gehört der Boden, und wem gehören die Verheißungen an die ‚Tochter Zion‘? Und immer wieder: Hat Gott uns ‚vergessen‘(Jes 49,15) und ‚verlassen‘ (54,7)? Wo ist er, der doch Zion einst zu seinem Wohnsitz erwählt hatte?

                                          IV

Gottes Propheten sind keine Ideologen. Die würden jetzt die alten Parolen, die alten Ansprüche, die bekannten Vorwürfe, wiederholen – je nachdem, welcher Schicht oder Gruppe sie selbst entstammen oder wessen Interessen sie vertreten. Opfer. Täter. Schuldige. Unschuldige. Resignation, Trauer, vage Hoffnungen auf Wiederherstellung dessen, was war. Der anonyme Autor (oder: die Autoren) des 3. Jesaja-Buches aber wird sehr konkret, als müssten seine Hörer im ‚gelben Dunst‘ der Gefühle sozusagen in Realitätskontakt kommen und endlich wahrnehmen ‚was Sache ist‘.

Unter dem Druck der neuen Herrscher, ihrer Wirtschafts- und Steuerpolitik,[3] haben sich viele Kleinbauern verschuldet und mussten ihr Land verpfänden (vgl. Neh 5,1-11), gar ihre Kinder in die Schuldknechtschaft verkaufen an aristokratische Grundherren, ja, an die Ihren! Die eh kläglichen Erträge fließen an reiche Landsleute. Die Bauern säen, aber sie ernten nicht. ‚Das muss‘, sagt der Prophet, ‚aufhören, soll es irgendeine Zukunft geben‘. Er überbringt Gottes Wort. Gottes Schwur: ‚die, die das Korn einsammeln, sollen es auch essen‘. Dieser Eid auf das ‚Lebens-Recht‘ der Armen, dass die ‚Gebundenen‘ ‚frei und ledig‘(Jes 61,1) sein sollen, ragt darum wie ein ‚scharfes Schwert‘(Jes 49,2), wie ein aufrüttelnder ‚Realitäts-Fels‘ aus dem mahnenden und tröstenden Text heraus.

Bis seine Gerechtigkeit aufgehe wie ein Glanz‘(62,1), ja, auch in der Steuer- und Abgabenpolitik. Nicht nur ‚Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit‘ (K. Schumacher).

                                         V

Chamsin, der Wüstenwind. ‚Einer war über die Erde gegangen und hatte Schwefel gesät‘. Auch wenn wir geographisch weit weg sind, die Stadt Jerusalem ist uns nahe von Kindheit an, und der Konflikt, ja, die mitunter unerbittliche Feindschaft zwischen Israelis und Palästinensern, dieses ‚Schwefel-Licht‘ einer immer drohenden Gefahr, ist uns aus Medien-Bildern und –berichten oder aus eigenen Reisen vertraut. Wo steht Gott? Was soll sein Prediger zu den so verschiedenen Ansprüchen, Narrativen und fanatischen Parolen sagen?

Er muss zunächst hören. ‚Die Israelis verweigern sich der Realität‘[4], behauptet Ali Qleibo, ein in Jerusalem lebender palästinensischer Künstler, dessen Familie dort seit Generationen verwurzelt ist. ‚Wir sind nur geduldet‘, Bürger zweiter Klasse, ‚und unsere Kultur, unsere Sprache, unsere Rechte werden nicht anerkannt‘. Er spricht aber auch von der ‚Realitätsverweigerung‘ seines eigenen Volkes, von einer schier unüberwindlichen Selbsttäuschung oder Ignoranz: ‚Es gibt viel mehr Koexistenz, als irgendwer zugeben möchte‘, und junge Juden und Araber seien in ihrem Lebensstil fast ununterscheidbar geworden. Als Leser schreckt man geradezu auf, wenn er schließlich, ja, ‘prophetisch‘ scharf und anstößig, sagt, ‚was Sache ist‘: ‚Israel sollte die Stadt vollumfassend annektieren … dann würden die Menschen in Ostjerusalem die gleichen Bürgerrechte bekommen‘.

                                         VI

O Jerusalem. O Al Quds. ‚Ein Schweif von Verrücktheit‘. Nimmer mögen die Wächter schweigen, bis Gottes Glanz, bis die ‚Klarheit des Herrn‘(Lk 2,9) und seine ‚ewige Treue‘(Ps 146,6) sich an der Stadt erwiesen haben.

Der unbekannte Prophet in den Trümmern von Jerusalem stellt in den Mittelpunkt seiner Verkündigung ein Wort, das als schöne Parole oder Programm altbekannt ist: ‘Gerechtigkeit. Der Glanz der Gerechtigkeit‘. Ausgleich zwischen den Zerstrittenen, ein Zusammenleben, das das ‚Existenzrecht‘ des anderen anerkennt und eine rechtliche Ordnung findet, in der das Gemeinsame und Verbindende stärker wiegt als das Trennende.

Aber eben: So wie der Prophet damals seine Hörer und Leser, insbesondere die ‚Eliten‘ des Volkes, zu einer realitätsgerechten Haltung gerade in Dingen der Steuerpolitik und der Schuldknechtschaft anleitet, so muss auch heute so etwas wie ein aufrüttelnder Realitätsschock in das Selbstbild der Völker eingehen und es verändern. Gerechtigkeit. Viele Araber werden sich diesen ‚Felsen‘ buchstäblich erarbeiten müssen: Die Juden sind da. Israel existiert, und es gibt keinen Frieden, solange wir dies verleugnen, verdrängen… Und umgekehrt: Der Staat Israel, einzige, wenn auch ‚unvollständige‘, Demokratie in einer autoritären oder diktatorischen Umwelt, sollte seinem eigenen Anspruch gemäß es ‚einräumen‘: Bürgerrechte, Besitzrechte, das Recht auf politische Teilhabe, all dies gilt auch für die Palästinenser im Lande. Die verwickelte Gewaltgeschichte beider Völker braucht ein Ende, sie braucht sozusagen diesen Satz: ‚So ist es‘.

                                       VII

Viele waren empört, andere gaben zu bedenken: Die Entscheidung der amerikanischen Administration, einen alten Kongressbeschluss (1995) umzusetzen und Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen, könnte ein solches ‚So ist es‘ enthalten, provozierend, verstörend, öffnend ,weiterführend‘[5]. Wurde ein Tor zum Frieden oder zu neuer Gewalt aufgestoßen?

Räumt die Steine weg‘, ruft der Prophet. Die Älteren erinnern sich, wie schwer es auch für uns Deutsche war, in einer verfahrenen Situation, sozusagen im ‚Schwefel-Licht‘ des ‚Unheilswindes‘, der alles verunklart, irgendwo ein Loch, einen Ausgang zu finden, durch den ein klarer Himmel sieht. Der Kniefall Willy Brandts in Polen 1970 war wohl solch eine den Himmel und die Herzen öffnende Geste, eine Bitte um Verzeihung, die eine schmerzliche, aufwühlende Trauer- und Versöhnungsarbeit initiierte. Anerkennung der unumkehrbaren Realitäten, die eine Unheilsgeschichte hervorgebracht hat.

Ähnliches meint auch Ali Qleibo: ‚Die Palästinenser müssten zugeben, einem …unrealistischen Traum nachgehangen zu haben‘. Das tut weh. Und man bewundert Qleibos Mut, wenn er seine Landsleute mahnt, ihre Kräfte nicht im Krieg gegen Israel zu verbrauchen, sondern für ihre Bürgerrechte in Israel zu kämpfen, für die Anerkennung ihrer Geschichte und ihrer Kultur, für ihre Häuser und Grundstücke in Jerusalem. Wie viele steinharte Hassmails, wie viel ‚heiligen Zorn‘ wird er wohl ertragen müssen?

                                        VIII

Lasst dem Herrn keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte‘, bis die Stadt ihrem (einem ihrer) Namen entspricht: ‚Schauung des Friedens‘(Philo). Israelis und Palästinenser brauchen unser Zuhören, ein ‚Weinen‘ in der Nachfolge Jesu (Lk 19,41), indem wir mit den Wächtern Gott in den Ohren liegen und Fürbitte für beide Völker halten. ‘O Jerusalem‘. Möge doch Er sich erbitten lassen!

Nach dem Chamsin, nach dem ‚Idiotenwind‘, kommt der Frühlingsregen. Sehnsüchtig erwartet von allen. Er ‚feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen zu säen und Brot zu essen‘ (Jes 55,10). Der Regen klärt die Luft und ab und an wird die ‚Stadtfrau Zion‘ im Glanz der Gottesgerechtigkeit leuchten, wenn ein jeder sein Brot isst und seinen Wein ‚guten Mutes‘ (Koh 9,7) trinkt. Dann ist die Stadt ‚ein Zeichen auch für die Völker‘.

Gott ist klar. Er erfüllt nicht ‚alle unsere Wünsche‘, wie D. Bonhoeffer schrieb, ‚aber alle seine Verheißungen, das heißt. er bleibt der Herr …‘

 

 

[1] W. Büscher , Ein Frühling in Jerusalem, 2014 , S.11   

[2] W. Büscher , Ein Frühling in Jerusalem, 2014 , S.11   

[3] s. H. Kippenberg , Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen, 1991, S.131ff

[4] SZ vom 13.12.2017 (‚Sie wollen nur das Land‘ . Interview mit Ali Qleibo) 

[5] z.B. der Historiker M. Wolffsohn :‘Jerusalem - auch eine Chance‘  (Juedische-Allgemeine.de  /14.12.2017).

 

Perikope
05.08.2018
62, 6-12

Die Wahrheit Gottes in Knechtsgestalt - Predigt zu Jesaja 50, 4-9 von Friedrich Hauschildt

Die Wahrheit Gottes in Knechtsgestalt - Predigt zu Jesaja 50, 4-9 von Friedrich Hauschildt
50,4-9

Worte aus weiter Ferne sind es, die mit dem eben verlesenen Text an unser Ohr kommen. Wer spricht da als eine unbekannte Stimme aus grauer Vorzeit? Zweieinhalb Jahrtausende trennen uns von dieser Gestalt. Ihre Lebensumstände können wir uns kaum vorstellen. Wir können uns auch beim ersten Hören keinen rechten Reim darauf machen, was diese Worte bedeuten und uns vielleicht sagen könnten. Aber in uns steigt eine Ahnung auf, dass sich in diesem Ruf aus der Ferne etwas Wichtiges, etwas für uns Bedeutungsvolles erschließen könnte, in den eigentümlichen Worten dieses geheimnisvollen Ich.

Schauen wir uns die wichtigsten Züge an, mit denen sich diese Person uns in ihren Worten präsentiert.

I. Kommunikation  - „mit den Müden reden zu rechter Zeit“

Da ist als Erstes:  Dieses geheimnisvolle Ich stellt sich uns ganz unspektakulär vor als eines, das kommuniziert, das redet und zuhört. Redet – aber nicht mit einer andere überbietenden, auf Macht und Einfluss bedachten lauten Stimme, sondern: es spricht einfühlsam mit Müden, mit Bedürftigen, es ermuntert und tröstet. Bei solchem Reden, bei dem nicht der objektive Inhalt allein im Mittelpunkt steht, sondern der andere Mensch, seine Lage, seine Bedürftigkeit, ist es wichtig, zum richtigen Zeitpunkt das richtige Wort zu finden, geschenkt zu bekommen. Es kommt nicht allein auf den Inhalt der Worte an, sondern zugleich auf den richtigen Zeitpunkt.  Reden dieser Art ist sensibel dafür, was gerade jetzt „dran ist“. Und dieses Reden hat eine besondere Eigenart:  es kommt nicht aus dem Willen zur Selbstdarstellung des Redenden, es kommt vielmehr aus dem Hören auf den anderen, den anderen Menschen. Aber mehr noch. Bei diesem Hören ist eine besondere Perspektive mit im Spiel: er hört wie „Jünger hören“.  Gott – so sagt er – habe ihm „das Ohr geweckt“, ihn zu einem Hörenden gemacht. Er hört auf den bedürftigen Menschen in der Dimension schlechthinniger Wahrheit, einer Wahrheit, die wir nicht machen, über die wir nicht verfügen, sondern die uns aufleuchtet und dann Herz und Sinn öffnet. So sieht er den anderen in seiner konkreten Situation zugleich als Gottes Kind.

II. Die Wahrheit löst Widerstand aus

Und ein zweiter Zug: Diese geheimnisvolle Gestalt hat mit ihrem Reden und Verhalten keinen Erfolg, im Gegenteil, sie löst Widerstände aus, sie wird offensichtlich sogar geschlagen, gedemütigt, bespuckt. Warum, fragen wir, hat ihr Auftreten provozierend gewirkt? Wir bekommen keine Antwort. Wir kennen die Gründe nicht, nur: Diese Person wird nicht verstanden, sie weckt Widerspruch. Vielleicht wegen ihrer Ehrlichkeit, ihrer mangelnden Anpassung an das, was „man so tut“? Wahrheit findet nicht immer Zustimmung, sie trifft nicht selten auf Abwehr, ja sogar immer wieder auf gewalttätigen Widerstand bei machtbesessenen Herrschern und verblendeten Massen. Das Wort der Wahrheit erweist sich oft als schwach. Die Öffentlichkeit, die allgemeine Stimmung übertönen diese leisen Stimmen. Zuhören, verstehen, sich solidarisch einfühlen – diese Haltung kommt im allgemeinen Lärm in ihrer heilenden Wahrheitskraft nicht zur Geltung, sie wird, wenn nicht mit Gewalt beantwortet, so doch zu oft verächtlich abgetan oder totgeschwiegen.

 

III.. „den Rücken hinhalten“

Und wie – das ist der dritte Zug – reagiert diese Gestalt darauf, die mit Müden einfühlsam redet und dafür geschlagen wird?  Sie scheint sich nicht zu wehren oder gar mit gleicher Münze heimzuzahlen, sie weicht aber auch der Schmähung nicht leisetreterisch aus, sie entzieht sich der Konfrontation nicht, sie geht ihren Weg unbeirrt, sie geht ihn „gehorsam“, so heißt es. Sie bleibt dem, was sie als Wahrheit, als ihren Auftrag erkannt hat, treu, auch wenn das bedeutet, sich schlagen zu lassen. Das könnte resignativ, wie aufgeben wirken. Warum wehrt sie sich nicht? In Wahrheit erfordert der Weg, den diese geheimnisvolle Gestalt geht, viel Kraft und Mut und große innere Stärke. Sie nimmt das Leiden, das ihr zu Unrecht aufgebürdet wird, um der Wahrheit willen auf sich. Eine Wahrheit, die nicht mit Macht auftrumpft, sondern sich zu beugen scheint.

 

 IV. am Vertrauen festhalten

Wie ist das möglich? Woher kommt die dafür notwendige Kraft? Diese Gestalt wird – und das ist ihr viertes Charakteristikum – von einem unerklärlichen Vertrauen getragen: „Ich gehe nicht zugrunde, Gott hilft mir, er wird mich gerecht sprechen“. Wie diese Hilfe konkret aussieht, in welcher Form und wann sie Realität wird, all das wissen wir nicht. Das in diesem Text sprechende Ich weiß es auch nicht. Aber es ist gewiss: sein Weg ist in Wahrheit richtig und gut. Und allein diese Gewissheit ist schon so etwas wie ein Lichtblick, wie ein Lichtschein aus einer anderen Welt.

 

 V..  Das Gottesknechtslied erschließt uns das Geschick Jesu.

Ein erstaunlicher Text, ein bewegendes Zeugnis, eine beeindruckende Gewissheit und Unbeirrbarkeit. Von solchen Texten finden sich im Buch des Propheten Jesaja noch drei weitere.  Gottesknechtslieder werden sie genannt.

Die Christenheit hat diese merkwürdigen Texte, die Gottesknechtslieder aufgenommen, sich in sie hineingedacht, um sich mit ihrer Hilfe das schwer verstehbare Geschick des Jesus von Nazareth klar zu machen. Hat er nicht Ähnlichkeit mit dieser Gestalt?

Er wusste mit den Belasteten und Ausgegrenzten zur rechten Zeit zu reden.

Er zog sich immer wieder zum Gebet zurück, hörte auf den Vater und redete mit ihm: noch am Kreuz wird er mit Gott im Gespräch bleiben, dem Mitgekreuzigten einen Weg eröffnen, Gott um Vergebung gegenüber seinen Widersachern bitten.

Er hat im übertragenen und im wörtlichen Sinn seinen Rücken hingehalten, die Schmähungen ertragen, ohne zu verhärten.

Und er hat noch in der Klage der unbegreiflichen Gottverlassenheit am Vertrauen auf Gott festgehalten und zuletzt seinen Geist in Gottes Hände befohlen.

 

Das alte Lied aus dem Buch des Propheten Jesaja wirft ein deutendes Licht auf jene Ereignisse, derer wir in der vor uns liegenden Woche gedenken. Am Beginn dieser Woche begegnet uns dieser alte Text als Anleitung zum Verstehen, als Hilfe zu einer uns ergreifenden Deutung.  In dieser geheimnisvollen Gestalt aus dem Jesajabuch erkennen wir so etwas wie eine Vorgestalt Jesu von Nazareth.

 

VI. Anwendung auf uns

Aber mehr noch. Diese Geschichte geht weiter, reißt einen weiten Horizont auf.

Wenn wir uns an die Gestalt und das Geschick Jesu erinnern und uns dabei von der Gestalt des Gottesknechtes helfen lassen, geht es nicht nur um Menschen, die vor langer Zeit auf der Erde lebten, die wir vielleicht bewundern. Indem wir uns an Jesus erinnern, uns seinen Lebensweg vergegenwärtigen, leuchtet vor unsrem geistigen Auge ein Lebensmodell auf, in dem wir uns selbst begreifen können. Vor uns steht die Möglichkeit, uns selbst von diesem Modell bestimmen zu lassen. „Lasset uns mit Jesus ziehen, seinem Vorbild folgen nach“, haben wir gesungen. 

Zuhören, mit Müden zur rechten Zeit reden, sie ermutigen, sich den „geringsten Brüdern und Schwestern“ (Mt. 25) um Seinetwillen zuwenden, möglicherweise Unverständnis, Kritik und Verachtung dafür in Kauf nehmen und trotzdem daran festhalten, dass dieser Weg Gottes Wille ist: das ist ein Lebensmodell, das in Jesus von Nazareth Gott selbst für sich angenommen hat, ein Lebensmodell, das schon das unbekannte Ich aus dem Jesajabuch uns vor Augen hält. Ein Lebensmodell, in dem unser Leben Halt und Tiefe gewinnen kann.

„Erscheine mir zum Schilde, zum Trost“ und „laß mich sehn dein Bilde in deiner Kreuzesnot“ (EG 85, 10), so hat Paul Gerhard einst gedichtet. In dem Lebensmodell des Gottesknechtes, in der Gestalt des leidenden Jesus von Nazareth hat er – erstaunlicherweise – Trost erblickt. Die vor uns liegende Woche lässt uns den Weg Jesu wieder miterleben: letztes Abendmahl, Verrat, Verleugnung, Gethsemane, Gefangennahme, Verurteilung, Geißelung, Kreuzigung.

 

VII. Ist dieses Lebensmodell wirklich für uns geeignet?  

Erfahren wir die tröstende Kraft dieses Lebensmodells? Oder erscheint es uns eher fremd, vielleicht zu idealistisch, unrealisierbar -  aber doch auch irgendwie anziehend? Wer wollte nicht zustimmen: ja, so müsste es eigentlich sein. Ein Lebensmodell, das in unserer Welt, angesichts der Themen und Bilder, die unsere Tagesordnung bestimmen, weit weg erscheint, zweieinhalbtausend Jahre und noch mehr. Das unerträgliche, von Menschen zu verantwortende Drama in Syrien z.B. schlägt diesem Modell ins Gesicht. Miteinander reden in Solidarität, Gegensätze geduldig aushalten, am Vertrauen auf Gottes Liebe festhalten, wie soll das in unserer Welt gehen?

Und: Gleichen Christen nicht Masochisten, wenn sie diese Geschichte in den Mittelpunkt ihres Glaubens stellen? Manchen erscheint es so. Aber es ist bei Lichte besehen nicht der Fall. Dass der christliche Glaube dem Leid nicht ausweicht, sich in der Person Jesu dem stellt, hat einen guten Sinn. Der Glaube nimmt das Leid wahr, ohne sich von ihm das Gesetz des Handelns aufzwingen zu lassen, er schaut ihm ins Auge und hilft so das Leid zu überwinden. Der christliche Glaube versenkt sich nicht masochistisch ins Elend dieser Welt, er hält vielmehr scheinbar Unvereinbares zusammen: den realistischen, unverstellten Blick in die tiefsten Abgründe der Menschenwelt und das Vertrauen, dass Gottes Liebe größer ist. Er verbindet also das von uns her gesehen Nicht-Vereinbare: ehrlichen Realismus und Vertrauen auf Gottes Liebe. Beides wird am Gottesknecht Jesus von Nazareth erkenn- und erlebbar. Es ist kein Ausweg, die Augen zu verschließen, sich das Leben schön zu reden und die Wirklichkeit zu verdrängen. Wir würden aber umgekehrt die überschwängliche Gabe des Lebens und der Liebe verachten, wenn wir angesichts der Realitäten in Verzweiflung oder fatalistische Gleichgültigkeit versänken.    

           

VIII,. „wir sind frei“

So gehen wir in die Karwoche mit wachem Sinn für das Leid im Kleinen und im Großen, wir sehen nicht weg, verleugnen nicht, was geschehen ist, haben keine Angst auch vor schmerzhafter Erinnerungskultur. Denn der Gottesknecht Jesus von Nazareth hat uns eine Tür geöffnet:

„Wir sind nicht mehr die Knechte der alten Todesmächte und ihrer Tyrannei.

Der Sohn, der es erduldet, hat uns am Kreuz entschuldet. Auch wir sind Söhne (und Töchter) und sind frei.“ (EG 94, 5 Kurt Ihlenfeld).    

 

Der Teufelskreis von Schicksal und Schuld wird nicht mit Gewalt, mit auftrumpfender Macht durchbrochen. Wer in dieser Woche das Geschick Jesu von Nazareths auf sich wirken lässt, der wird mit Erscheinungen konfrontiert, die wir aus unserer Wirklichkeit kennen: Verrat, Verleugnung, Unrecht und Gewalt. In der geheimnisvollen Gestalt aus dem Jesajabuch kündigt sich etwas an, was uns an Jesus von Nazareth zur Gewissheit wird: die „Tyrannei der Todesmächte“ ist überwunden. Gott selbst wird neue Freiheit und neues Leben schenken, noch verborgen und doch wirklich und wahr.

 

Liedvorschläge:
EG 94 Das Kreuz ist aufgerichtet
EG 384 Lasset uns mit Jesus ziehen
EG 452 Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr

Perikope
25.03.2018
50,4-9

Mein Freund hat einen Weinberg – Predigt zu Jesaja 5,1-7 von Rainer Claus

Mein Freund hat einen Weinberg – Predigt zu Jesaja 5,1-7 von Rainer Claus
5,1-7

Eine kleine Umzugskiste muss er noch auspacken. Und das ist die Schwerste. Nicht vom Gewicht her, sie ist mit Bilder und Kleinigkeiten gefüllt. Schwer wird ihm das Herz, wenn er die Bilder sieht und die Vergangenheit noch einmal in die Hand nimmt. Eigentlich könnte er die ganze Kiste wegwerfen. Fünf Jahre seines Lebens, Erinnerungen an eine große Liebe. Aber das schmeißt Du nicht einfach so weg. Er greift in die Kiste und zieht wahllos etwas heraus. Ein Eintrittsticket. Depeche Mode in Hamburg. Dort hatten Sie sich kennengelernt, anschließend geschrieben. Tom hatte sich mächtig ins Zeug gelegt. Für ihn war es Liebe auf den ersten Blick. Als sie nach einem Jahr einen Job in Süddeutschland angeboten bekam, da zog er kurzer Hand mit. Er unterstützte sie beim Neuanfang in der Firma, obwohl er selbst einen neuen Job hatte. ER war der Kümmerer. Er war der, der die Steine aus dem Weg räumte und hielt ihr den Rücken frei. Sein Freund Mattis fragte ihn einmal, warum er soviel Herzblut in diese Beziehung investierte, mehr als für ihn gut war. „Ach du mit deinem BWL Studium. Meinst du Liebe muss sich immer auszahlen“, hatte er geantwortet. „Ich liebe diese Frau eben. Dann kann man nix machen.“

(Lektorin liest jeweils den Bibeltext)

Aus dem Buch des Propheten Jesaja: Wohlan, ich will von meinem lieben Freunde singen, ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg. Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe. Und er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin edle Reben. Er baute auch einen Turm darin und grub eine Kelter und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte.

Das Ticket vom ersten Konzert landet im Altpapier. Genauso wie die Einladungskarte zu ihrer Hochzeit und die Fotos aus dem Toskana Urlaub. Weg damit. Es war vorbei. Irgendwann hatte er gemerkt: wenn du immer nur gibst und nichts zurückbekommst, breitet sich Leere in Dir aus. Anfangs hatte er gehofft, die Liebe wird schon noch wachsen. Sie braucht einfach Zeit. Aber in ihrem kargen Alltag fühle er sich bald alleine und die Verletzungen nahmen zu. Worte waren wie Messer.

Lektor:

Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe. Und er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin edle Reben. Er baute auch einen Turm darin und grub eine Kelter und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte aber er brachte schlechte.

Der Termin beim Anwalt war bitter. Er war wütend und hatte ihr alle Schlechtigkeit an den Kopf geworfen. Alles, was sich angestaut hatte. Die Geschichte einer Enttäuschung. Dabei hatte alles so gut angefangen.

Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe. Der Prophet Jesaja singt ein Lied und erzählt eine Liebesgeschichte. Mein Freund hatte einen Weinberg. Poetische Worte. Wie technisch klingt dagegen unser heutiges Wort „Beziehung“ Zur Zeit Jesajas hatte jeder sofort bei dem Stichwort „Weinberg“ eine Liebesgeschichte vor Augen. Liebe ist wie ein Weinberg, also wie ein Garten, der angelegt wird. Du kannst seine Schönheit und Fülle genießen, die saftigen Trauben. Du musst aber auch Steine wegräumen, Wege anlegen, etwas aufzubauen.  Ein schönes Bild für die Liebe.

Diese Geschichte geht nicht gut aus. Es gibt keine guten Trauben, der Weinberg bringt keine Frucht, obwohl der Winzer alles getan hat. Am Ende müssen oft Anwälte und Gerichte entscheiden über das Ende von Beziehungen. So auch im Weinberglied.

Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberg! Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte?

Enttäuschte Liebe tut weh. Der Schmerz entlädt sich oft in Wut und Zorn. Was mir eben noch am Liebsten war, möchte ich kurz und klein schlagen. Der enttäuschte Liebhaber im Weinberg-Lied sagt:

Wohlan, ich will euch zeigen, was ich mit meinem Weinberg tun will! Sein Zaun soll weggenommen werden, dass er kahlgefressen werde, und seine Mauer soll eingerissen werden, dass er zertreten werde. Ich will ihn wüst liegen lassen, dass er nicht beschnitten noch gehackt werde, sondern Disteln und Dornen darauf wachsen, und will den Wolken gebieten, dass sie nicht darauf regnen. 

Eine enttäuschte Liebe. Damit könnte die Geschichte zu Ende sein. Eine Geschichte, in der Menschen sich wiederfinden können mit ihren Verletzungen und Verwüstungen. Das passt zur beginnenden Passionszeit. Wir legen in dieser Zeit alles in Gottes Hand, was im Leben nicht wachsen konnte, was verkümmert ist, wo wir andere enttäuscht haben oder Enttäuschung mit uns tragen.

Doch das Lied geht weiter. Nimmt eine Wendung und weitet den Horizont. Hört es selbst:

Des HERRN Zebaoth Weinberg ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit.

Es geht um die Liebe Gottes zu seinem Volk. Gott ist enttäuscht, verletzt und wird zornig. Das Gottesvolk, sein Weinberg bringt keine gute Frucht, obwohl er sich unermüdlich einsetzt. Jesaja, der Prophet hat es vor Augen: Die Eliten sind korrupt und bereichern sich auf Kosten der Armen. Statt Gut-Tat, gibt es Blut-Tat. Das Volk Israel als Weinberg Gottes hat versagt. Die Menschen sind böse, gewalttätig. Statt gute Früchte zu bringen, gibt es nur bittere Trauben. Eine Gesellschaft versinkt im Unrecht. Für Jesaja gibt es keine Liebe zu Gott ohne die Liebe zum Nächsten. Was auf dem Marktplatz passiert, hängt zusammen mit dem, was im Tempel gesagt wird. Bei ihm wird die Liebe groß gedacht, wird politisch und geht über das, was zwischen zwei Menschen passiert weit hinaus. Gott will Recht und Gerechtigkeit. Das ist die Ansage des Propheten Jesaja. Wo eine Gesellschaft nicht darauf achtet, dass es allen gut geht, verkümmert das Leben. Klare Ansagen im Weinberg Gottes im achten Jahrhundert vor Christus.

Gott hat einen Weinberg, immer noch. Obwohl er ihn doch enttäuscht aufgeben wollte. Erst neulich wurde dieser Weinberg neu vermessen, kartographiert und fotografiert Ich habe die Bilder im Internet gesehen. Die Raumsonde EOS hat den Weingarten Gottes umrundet, der Planet, den wir Erde nennen. Das sind Bilder von atemberaubendere Schönheit. Vollkommenes Blau der Meere, die Wälder im satten Grün und majestätisch grau die Rücken der Berge.

Nachts leuchten die Städte dieser Welt wie funkelnde Sterne. Gott hat sich wirklich Mühe gegeben mit diesem Weinberg. Es ist genug für alle da. Der Boden ist fruchtbar und das Wasser so klar. Hier könnten sie wachsen die Trauben der Gerechtigkeit. Saftig und prall. Hier könnten sie wachsen die Trauben des Friedens. Sonnengetränkt.

Aber wer genau hinsieht, von oben, aufs Ganze gesehen, erkennt die Spuren der Verwüstung. Die Antarktis ist auf dem Rückzug. Das schimmernde Weiß verschwindet mehr und mehr. Aus dem satten Grün der Wälder werden immer mehr aschegraue Felder. Rauchschwaden so groß, dass sie selbst aus dem All zu sehen sind. Im klaren Blau der Meere treiben ganze Kontinente aus Plastik.

Ich will ihn wüst liegen lassen, dass er nicht beschnitten noch gehackt werde, sondern Disteln und Dornen darauf wachsen,  und will den Wolken gebieten, dass sie nicht darauf regnen. 

Manchmal fürchte ich mich und denke dass es zu spät ist für unseren Weinberg und dass Gott, der gute Weinbergbesitzer sich aus dem Staub gemacht hat. Vielleicht konnte er es nicht mehr mitansehen, all dieses Blut, das zum Himmel schreit, all diese Zerstörung von Leben. Vielleicht hat er enttäuscht einen neuen Garten angelegt, eine neue Liebe gefunden, irgendwo in einer fernen Galaxy, was weiß ich denn schon von seiner Unendlichkeit.

Aber dann sehe ich seinen Gärtner kommen, fröhlich pfeifend, die Gießkanne in der Hand. Behutsam richtet er die geknickten Reben auf, schlägt Pflöcke ein, die die Pflanzen halten. Prüfend pflückt er eine Traube, steckt sie sich in den Mund und muss lächeln. Kommt her zu mir, sagt er, ich bin der Weinstock und ihr die Reben. Solange ihr mit mir verbunden seid, bekommt ihr neue Kraft. Er nimmt seine Gießkanne und es strömen Recht und Gerechtigkeit wie Wasser.                     

Mein Freund hat einen Weinberg, ich will das die Geschichte diesmal gut ausgeht und hole schon mal die Harke aus dem Schuppen. Nimmst du die Gießkanne. Dann sind wir schon zwei. Und wo zwei oder drei – na, ihr wisst schon… Der Umzugskarton ist leer. Vor ihm liegen zwei Stapel. Ein Haufen mit Erinnerungsstücken, von denen er sich trennen will. Die Wut ist vergangen.

Was war, soll ihn nicht mehr gefangen nehmen. Den zweiten Stapel mit Erinnerungen will er bewahren. Es gab auch gute Zeiten. Vielleicht ist das der Humus, auf dem etwas Neues wächst. Irgendwann will er  wieder lieben. Mein Freund wird einen Weinberg haben. Er wird ihn umgraben und edle Reben pflanzen. Er wird einen Turm bauen und warten. Und er wird gute Trauben bringen.

Amen

Perikope
25.02.2018
5,1-7

Freunde des Weinbergs und die Liebe des Fischers – Predigt zu Jesaja 5,1-7 von Lars Hillebold

Freunde des Weinbergs und die Liebe des Fischers – Predigt zu Jesaja 5,1-7 von Lars Hillebold
5,1-7

Eine Predigt-Cuvee

mit Jesaja 5,1-7 und Gerhard Schöne, Die Liebe des Fischers (aus: Die sieben Gaben 1992)

Wohlan, ich will von meinem lieben Freunde singen, ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg. Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe. Und er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin edle Reben. Er baute auch einen Turm darin und grub eine Kelter und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte; aber er brachte schlechte. Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberg! Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte?       Wohlan, ich will euch zeigen, was ich mit meinem Weinberg tun will! Sein Zaun soll weggenommen werden, dass er kahl gefressen werde, und seine Mauer soll eingerissen werden, dass er zertreten werde. Ich will ihn wüst liegen lassen, dass er nicht beschnitten noch gehackt werde, sondern Disteln und Dornen darauf wachsen, und will den Wolken gebieten, dass sie nicht darauf regnen. Des HERRN Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit.

(Luther 2017)

 

[Der Liedermacher]

Im lärmenden Gedränge der Gassen Jerusalems ist er einer von vielen. Doch hörbar ist er zwischen den Mauern. Seine Stimme füllt die Gasse. Sein Klang erreicht die Masse. Die Menschen strömen zu ihm und seine Töne in ihren Ohren. Jerusalem ist seine Stadt. Hauptstadt - darüber würde es noch lange Misstöne geben. Aber so ist das: Wenn einer seine Stimme erhebt, werden auch andere lauter. Heute war die Zeit gekommen, den Tönen Taten  folgen zu lassen. Es war, als würde er mit der Melodie eine Amphore Wein öffnen. Der Duft der Trauben zieht in die Gassen. Seine Stimme fließt. Es hallt von den Stadtmauern wider. Die Menschen nehmen den Klang auf, wie trockene Erde Wasser schluckt.

Genau. Der harte Boden dieser Stadt bräuchte so viel Pflege. Manchmal ist ihm zum Weinen zu Mute, wieviel Kraft und Liebe in einen Weinberg eingebracht werden muss. All die Mühe bis ein Ertrag sichtbar wird. Vor allem bis er schmackhaft wird. Doch was bleibt einem Winzer schon übrig. Den unfruchtbaren Boden harkt er beständig mit seiner Fürsorge um. In den Berg hat er eine feste Bleibe hineingebaut. Dort lässt er sich nieder mit Geduld; und nimmt Aussicht vom Turm über seinen ganzen Berg.

Da hebt die Melodie wieder an. Nun warten die Menschen auf seine Worte. Sein Lied summen sie schon mit. Sie stoßen fast an. Gleich werden sie noch schunkeln. Es klingt schon kitschig: In den Noten hängt die Liebe. Da weicht der Kitsch: enttäuschte Liebe. Auf den ersten Blick Trauben im vollen Saft. Doch nun kommt die Botschaft: Die Trauben schmecken nicht. Sein Urteil ist vernichtend.  

[Die erste Strophe von der Liebe des Fischers]

Fische huschten unter Steine, Wolken zogen bang,

als der junge Fischer Erik heimkam mit Gesang.

Vor dem Tor im schwarzen Mantel wartete ein Mann.

`s war der Richter von dem Festland, der sprach Erik an:

`Deine Frau Luise brachte man mir in der Früh.

Sie brach die Ehe mit `nem Fremden. Schande über sie!

Nach dem Brauch der Insel wird beim ersten Sonnenschein

deine Frau vom Fels gestoßen in den Tod hinein.

 

[Ein Rechtspruch]

Das Urteil ist gefallen. Bitter. Es waren schlechte Trauben. Was für eine Enttäuschung nach all den Jahren der Pflege und des Wartens. Dann probieren. Ein erster Schluck: überrascht, unerwartet, enttäuscht. Bitter: Der Wein korkt. Sie hätten doch fast geschunkelt, als sie das Lied hörten und den Wein rochen. Doch beim ersten Tropfen im Mund und bei den ersten Worten im Ohr, hörten sie den Kehrvers: Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte?

 

Das Urteil über den Wein und seinen Berg ist gefallen. Da hing sein Herz dran, so wie volle Trauben am Weinstock hängen. Der Weinberg und die Lesenden sind eins. Ernten, was man sät. Da erklingt es wieder: Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte? Inzwischen steht es in allen Parzellen und Zeilen in rot und weiß. Es steht allen vor Augen, warum unsere Welt ausblutet. Und es weiß ein jeder, dass wir aus den fetten Höhen fallen werden. Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht? Warum hat er denn? Warum hat er? Warum? ... Der Kehrvers blendet sich aus. Nicht mehr warum, sondern wie tief werden wir fallen, mag die Frage sein.

 

Das Urteil ist gefallen.   

Bergende Mauern sind eingerissen.

Felder liegen brach. Disteln und Dornen wachsen darauf.

Nicht einmal mehr Regen fällt aus den Höhen runter.

Vom Fels gestoßen in den Tod hinein,

will ich alles wüst liegen lassen.

Ist das das Ende vom Lied?

 

[Die zweite Strophe von der Liebe des Fischers]

Erik sah dem Unglücksboten nach im Dämmerlicht.

Gott im Himmel, sei uns gnädig, Herz, zerspring mir nicht!

Als die Dörfler schliefen, stieg er in die Felsenwand

und hat mutig übern Abgrund Seil um Seil gespannt.

Hat mit Reisig, Stroh und Farnen alles dicht gemacht.

Hat am Ende noch als Polster Heu hinaufgebracht.

 

[Eine Winzerin]

In vino veritas - da war doch was. Es gibt gute und schwere Tropfen und Wahrheiten. Sie drängen danach, weitererzählt zu werden. Sonst werden Texte und Menschen sich selbst überlassen. Es ist ein Lied. Schon deshalb ist es auf Wiederholung angelegt. Wie ein guter Wein einen langen Abgang hat, so wirken auch Weinbergergüsse nachhaltig. Sie wollen gesungen werden, um zu wirken. Darum ein Liedermacher. Darum ein Rechtsspruch. Denn Urteile verändern. Daran hängt Gottes Herz: am Lied und am Recht und am Weinberg. Gedenke daran - im Februar. Denn in diesem Monat erwacht jeder Weinberg zu neuem Leben. In dieser Zeit wartet auf die Winzerin eine schwere Aufgabe. Die Reben werden geschnitten. Altes Holz aus den Rebstöcken entfernt. Neue Fruchtruten entstehen. Aus diesen werden im Laufe des Jahres neue Triebe.

 

Die einen verweilen beim Klagelied.

      Die Winzerin singt fröhlich weiter.

Altes Holz wird entfernt.

      Neues treibt aus.

Eingezäuntes geht verloren.

      Wir werden schutzloser und gerade darin glaubhaft Kirche sein.

Sichere Mauern werden uns genommen;

      damit wir reformatorisch bleiben.   

Auf ertragreichen Feldern wachsen jetzt nur noch Disteln und Dornen.

      Doch auch Esel werden von Disteln satt. Und Dornen stehen Rosen gut.

Ja, aber nicht einmal mehr Regen fällt; 

      heißt trockenen Boden unter den Füßen haben.

 

[Die dritte Strophe von der Liebe des Fischers]

Als die ersten Hähne schrien, stießen sie sogleich

seine Frau vom Fels hinunter. Himmel, fiel sie weich! 

In das Netz der Liebe fiel sie, die nicht Strafe will.

Fische spielten unter Steinen. Wolken zogen still.

                                                   

[Barrique]

Die Winzerin zog den Korken aus einer Flasche ihres Weinbergs und roch daran. Erinnerung durchströmte sie. Es war noch vor der Geburt. Da war noch keine Traube am Holz zu sehen. Schon da hatte sie es erahnt und sich gesorgt. Sie hat manches wachsen lassen, auch wilde Triebe. Jahre später war die Stunde gekommen. An dem einen Tag, als die Hähne schrieen, wusste sie, es war soweit. Und als sie das Holz anfasste, auch schmeckte, da wusste sie warum, es so gekommen war.

  

Darum goss sie den Wein ins Glas. Er breitete sich aus. Licht spiegelte sich. Sie nahm einen ersten Schluck; behutsam. Wie viel Mühe lag darin. Unsicherheit, Schmerz, Vertrauen. Was hatte sie alles umgegraben: Steine des Anstoßes. Kaum zu glauben, doch diese edle Rebe entstand. Sie nahm einen kräftigen Schluck. Er war trocken. Sie erinnerte sich: Es hatte nicht viel Regen gegeben. Der Wein schmeckte nach so vielem. Aber an einem blieb sie hängen. Er schmeckte nach Dornen. Das war kein Wein für nebenbei. Sie nahm einen zweiten Schluck. Was für ein Abgang. Dann nahm sie die Flasche und ging. Dieser Wein musste unter die Menschen. Wie ein Lied. Für uns geschrieben. Von uns gelesen. Mit euch gesungen.

 

Amen.

 

Liedvorschläge

 

Manches Holz

http://www.gottesdienststiftung.de/download/2010_sonderpreis_3_1_Manche…

 

Manches Holz

http://www.gottesdienststiftung.de/download/2010_sonderpreis_1_2_Manche…

 

Schenke mir, Gott, ein hörendes Herz freiTöne 180

 

Er ist das Brot EG 228

Perikope
25.02.2018
5,1-7

Vertrauen und Angst - Predigt zu Jesaja 7,10-14 von Christoph Dinkel

Vertrauen und Angst - Predigt zu Jesaja 7,10-14 von Christoph Dinkel
7,10-14

Und der HERR redete abermals zu Ahas und sprach: Fordere dir ein Zeichen vom HERRN, deinem Gott, es sei drunten in der Tiefe oder droben in der Höhe! Aber Ahas sprach: Ich will's nicht fordern, damit ich den HERRN nicht versuche. Da sprach Jesaja: Wohlan, so hört, ihr vom Hause David: Ist's euch zu wenig, dass ihr Menschen müde macht? Müsst ihr auch meinen Gott müde machen? Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine junge Frau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel – Gott ist mit uns.

 

Liebe Gemeinde!

 

1. Angst und Vertrauen

Der König Ahas hat Angst. Die Zukunft wirkt bedrohlich. Überall wittert er Feinde und seine Berater bieten auch keinen Trost. Sie haben ebenfalls Angst. Sie verbreiten apokalyptische Szenarien und glauben selbst daran. Nur einer hat keine Angst: der Prophet Jesaja. Im Unterschied zum König und seinen Beratern ist der Prophet ein Mann des Glaubens. Dem verängstigten König verkündet er: „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht“. Nur wer glaubt, steht so fest, dass ihn die Ängste und Bedrohungen der Gegenwart nicht umhauen können. Gegen die Angst empfiehlt der Prophet dem König Gottvertrauen. Vertrauen ist die bessere Strategie, sie hat die größere Reichweite und den längeren Atem. Doch der König bleibt lieber bei seiner Angst. Er will in den Krieg ziehen gegen Feinde, die der Prophet für längst geschlagen hält. Die Angst und das Sicherheitsdenken verleiten den König zu militärischen Aktionen, die ganz und gar unnötig sind. Die Aktionen helfen nicht, noch nicht einmal seine Ängste wird der König damit los. Ach, der König ist noch jung. Wie soll er es auch besser wissen, denkt der Prophet. Ich will ihm helfen. Gott wird ihm ein Zeichen geben, damit er lernt zu vertrauen.

 

Das ist die Situation unseres Predigttextes, der am Ende des 8. Jahrhunderts in Jerusalem spielt. Doch die Szenen sind austauschbar. Wie viele Ängste bewegen uns in diesen Tagen? Und welche apokalyptischen Szenarien entwerfen wir und glauben dann fest daran? Und was unternehmen wir modernen Menschen nicht alles, um unsere Ängste in den Griff zu bekommen? Das fängt mit den Alarmanlagen in den Häusern an, das geht weiter mit dem Pfefferspray in der Tasche und endet bei uns damit, dass mancher bei Dunkelheit gar nicht mehr aus dem Haus geht. In den USA treiben sie es noch weiter. Aus lauter Angst vor Attentätern bewaffnen sich die Menschen massenhaft. Und weil so viele Waffen im Umlauf sind, steigt die Wahrscheinlichkeit durch Waffen umzukommen um ein Vielfaches. In den USA ist die Wahrscheinlichkeit durch Schusswaffen umzukommen fast 15 Mal höher als in Deutschland. Die Waffen schaffen nicht mehr, sondern weniger Sicherheit. Wer ständig misstraut, lebt am Ende gefährlicher. Es ist merkwürdig, dass ein vordergründig so frommes Land wie die USA so großes Misstrauen hegt. Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht, sagt der Prophet. Gottvertrauen statt Waffenkauf wäre wohl auch in diesen Fall die Strategie mit der größeren Überlebensquote.

 

(vgl. zu den Angaben: http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/las-vegas-waffen-kultur-in-den-usa-in-grafiken-a-1171186.html)

 

2. Virtuelle und wirkliche Wirklichkeit

Jesaja ist ein Mann des Glaubens, aber was für einer. Glaubende gelten bei uns heute gerne als Menschen, die es mit der Wirklichkeit nicht ganz so genau nehmen. Glaubende gelten als leichtgläubig und die Leichtgläubigen werden gut bedient in unserem Land. Jeden Tag bietet die Bild-Zeitung in der Rubrik „Mystery“ Informationen zu Ufo –Landungen und anderen Phantastereien. Man vertraut auf Globuli und die Heilkraft von Steinen, auf Horoskope und asiatische Therapien. Der Prophet Jesaja ist ein Mann des Glaubens, aber gerade deshalb setzt er auf Fakten. Als Prophet hält er gar nichts von Spekulationen über die Zukunft, nichts von apokalyptischen Phantasien, sein Metier ist die politische Analyse. Er wertet Informationen über die geopolitische Lage aus und erkennt zutreffend, dass die Macht der Reiche, von denen sich der König Ahas bedroht sieht, ihren Zenit längst überschritten hat. Der Prophet sieht mehr als der König und seine Berater in ihrer Angst zu sehen vermögen. Aus der Perspektive des Propheten leben der König und seine Berater in virtuellen Angstwelten und der Prophet gibt sich alle Mühe sie wieder mit der realen Welt und den echten politischen Verhältnissen in Kontakt zu bringen. Gerade als Glaubender hält der Prophet nichts von alternativen Fakten. Er setzt auf die Macht der Wirklichkeit, auf Tatsachen, auf die bestmögliche Erkenntnis.

 

3. Der Immanuel Jesajas

Vom Faktischen, von der realen Wirklichkeit würde der Prophet den König gerne überzeugen. Aber das ist gar nicht so leicht. Dem König wird von Gott ein Zeichen angeboten, damit er zu vertrauen lernt und von seinen militärischen Fehlplanungen ablässt. Aber der König will kein Zeichen, er will nicht irritiert werden in seinem Aberglauben. Er hat es sich so schön in seiner apokalyptischen Wirklichkeit eingerichtet. Warum soll er sich da stören lassen? Der Prophet nervt, denkt der König. Doch der Prophet lässt nicht ab zu nerven. Er ist im Auftrag des Herrn unterwegs. Er will den König zwingen, der Wirklichkeit mehr zu vertrauen als seiner Angst. Und deshalb schickt Gott dem König ein Zeichen, das Zeichen des Immanuel.

 

Und jetzt müssen wir ganz tapfer sein und alles wegschieben, was die religiöse Tradition uns vielleicht einflüstert. Der Immanuel Jesajas ist ein normales Kind. Seine Mutter ist eine ganz normale Frau, entweder die Frau des Propheten oder die Frau des Königs oder noch eine andere Frau. Sie ist keine Jungfrau, wie das Wort „junge Frau“ ungenau ins Griechische übersetzt wurde und wie es in der Folge dieser Ungenauigkeit im Glaubensbekenntnis heißt. Der Immanuel Jesajas ist normal gezeugt und normal geboren und doch ist er ein Zeichen Gottes. „Gott ist mit uns“, heißt der Name „Immanuel“ übersetzt. Der Name des Kindes wird zur Botschaft an den König. Diese Art der Zeichennamen ist für den Propheten Jesaja ein bewährtes Mittel. Auch zwei seiner Kinder haben Zeichennamen: „Ein-Rest-kehrt-um“, heißt der eine, „Raubebald-Eilebeute“ der andere. Die Jungs werden sich bedankt haben für diese Namen. Pech, wenn man einen Propheten als Vater hat! Immanuel jedoch ist besser dran. Dessen Name wurde von der Mutter ausgewählt, ein Namensvorschlag der noch heute durchgeht.

 

Das Kind Immanuel wird zum Zeichen an den König. In seiner puren Faktizität, in seiner natürlichen Lebendigkeit soll das Kind den König daran erinnern, dass Gottes Wirklichkeit stärker und konkreter ist als die Angst des Königs und seiner Berater. Das ist die Idee des Propheten. Und die Idee war so zündend, dass das Matthäusevangelium bei der Ankündigung der Geburt Jesu durch den Engel wieder den Namen „Immanuel“ nutzt: Marias Kind wird der Immanuel sein.

 

4. Der Immanuel Gottes

Warum ein Kind? Warum soll gerade ein neugeborenes Kind das Zeichen der Nähe Gottes sein? – Weil nichts so eine natürlich-bezwingende Kraft hat wie ein neugeborenes Kind. Ein Neugeborenes ist ein Wunder vor den Augen der staunenden Eltern. Ein Neugeborenes setzt einen totalen Anfang, ein neues Universum. Nie zuvor hat ein Lebewesen die Welt mit den Augen betrachtet, mit denen das Neugeborene sieht. Ein ganzer Kosmos entsteht. Für alle auch nur rudimentär religiös Musikalischen wird im Neugeborenen die Schöpfermacht Gottes erlebbar. Etwas noch nie Gedachtes tritt in die Wirklichkeit ein.

 

Die Kraft, die ein Neugeborenes ausstrahlt, spürt in der Weihnachtsgeschichte des Matthäus auch der böse König Herodes. Vorsorglich lässt er der Erzählung nach gleich alle kleinen Jungen in Bethlehem ermorden. Das ist sein Kampf gegen die Wirklichkeit Gottes. Das ist sein Kampf gegen seine apokalyptischen Ängste und das große Zeichen seines Unglaubens. All die großen Mörder der Geschichte, alle Menschenschinder sind aus der Perspektive des Evangeliums Ungläubige. Sie sind der Vernichtung überlassen. Denn wer nicht glaubt, der bleibt nicht.

 

Jenen jedoch, die in Angst leben, jenen, die verzagt sind, sendet Gott als Signal der Nähe seinen Immanuel: Das Kind in der Krippe, den Heiland der Welt. Allen apokalyptischen Phantasien zum Trotz ist dieser Immanuel ein ganz reales Kind, konkret, fassbar, lebendig und leibhaftig. Gegen die Ängste der Menschen schickt Gott ein Neugeborenes, weil das Neugeborene wie nichts sonst die Lebenskraft des Schöpfers spürbar macht.

 

5. Zeichen für Gottes Kraft

So viele leben heute in apokalyptischen Ängsten: Sie fürchten sich vor islamistischem Terror, der globalen Erwärmung oder den nordkoreanischen Atomwaffen. Sie fürchten sich vor Donald Trump und seiner Unberechenbarkeit. Manche fürchten sich vor einer Flüchtlingsflut, manche die Überfremdung durch Muslime, noch andere vor Impfschäden oder Glyphosat, vor Insektensterben, Feinstaub, Stickoxid und der Digitalisierung. Zu den Apokalypsen unserer Tage zählt die Angst, der Gesellschaft gehe die Arbeit aus, oder die Furcht vor der Globalisierung. Manche haben auch Angst der VfB könnte erneut absteigen. Wir sind umgeben von Schreckensszenarien, die Gesellschaft fühlt sich im Dauerstress, sie ist permanent unter Strom und zur Aktivität bereit. Dass die Regierungsbildung in Berlin länger dauert, wird da schon zum Problem. Dabei dreht sich die Welt auch unter einer geschäftsführenden Regierung in aller Ruhe weiter.

 

Mit seinem Immanuel setzt Gott ein Zeichen des Realismus und der Ruhe inmitten unserer selbstgemachten apokalyptischen Ängste. Ein wirkliches Kind, das schreit und in die Windeln macht und gestillt werden muss, etwas ganz Reales und Natürliches wird zum Zeichen für die Nähe Gottes. Auf Gottes Schöpferkraft ist Verlass. Den menschlichen Untergangsängsten setzt Gott einen Anfang, etwas absolut Neues entgegen. Gott ist mit uns – jedes neue Menschenkind kann uns das klarmachen. Gott ist mit uns – das gilt besonders für das Kind im Stall von Bethlehem. Mit seiner Geburt fängt Gottes neue Welt an. Ihr sollten wir mehr vertrauen als unseren Ängsten. Denn nur mit Gottvertrauen können wir in all den apokalyptischen Szenarien um uns prüfen, was wirklich gefährlich und was eigentlich harmlos ist. Nur mit der Ruhe des Gottvertrauens können wir blinden Aktionismus vermeiden und erkennen, was wirklich zu tun ist.

 

Die Christenheit erkennt im Kind von Bethlehem den von Jesaja angekündigten Immanuel wieder. Er wird für uns zum Zeichen der Nähe Gottes, zur Verheißung des göttlichen Friedens auf Erden, zum Heiland der Welt. Der Immanuel Gottes ist ein Zeichen gegen unsere Furcht, ein Signal gegen die apokalyptischen Ängste, in die sich so viele verirren. Der Immanuel Gottes ist ein neugeborenes Kind in all seiner Verletzlichkeit und Kraft. An ihm erkennen wir die Macht des Schöpfergottes. Er ist für uns da. Immanuel – Gott ist mit uns. – Amen.

 

 

 

 

Perikope
24.12.2017
7,10-14