Freut euch, ihr Christ_innen, freuet euch sehr! – Predigt zu Jesaja 35,3-10 von Kirstin Müller
Liebe Gemeinde,
wo hat er sich nur versteckt, der Engel vom letzten Weihnachten? Irgendwo muss er doch sein. Als ich ihn schließlich in einer Ecke des Schrankes entdecke, kommt er mir kleiner vor, als ich ihn in Erinnerung hatte. Trotzdem freue ich mich, dass er noch da ist. Beim Suchen fällt mir außerdem ein Kerzenhalter in die Hände. Den hatte ich ganz vergessen. Ich freue mich, dass ich ihn wiederentdeckt habe. Stück um Stück schmücke ich die Wohnung im Advent. Das gehört für mich zur Vorbereitung auf Weihnachten dazu. Engel und Kerzenhalter sollen in diesem Jahr ihren Platz auf der Fensterbank finden. Fehlt nur noch der leuchtende Stern. Ein Zacken ist abgeknickt. Sieht irreparabel aus. Soll ich ihn trotzdem noch einmal aufhängen? Der fehlende Zacken wird seinem Leuchten hoffentlich keinen Abbruch tun. Sein Licht soll doch anderen und mir zur Freude ins Dunkel scheinen.
Freude gehört zum Advent – in diese Zeit. Sie sucht ihren Platz in unserem Leben. Alle Jahre wieder. Neu.
Freude gehört zum Advent in vielen Liedern, wie „Tochter Zion, freue Dich!“ oder in Erzählungen und Erinnerungen: „Ich weiß noch, wie die Augen der Kinder an Weihnachten geleuchtet haben! War das schön!“. Sie ist Vorfreude auf Menschen, die wir als Weihnachtsbesuch erwarten, oder im Gepäck, wenn wir uns selber auf den Weg machen, andere zu besuchen. Wir suchen Geschenke aus, um Menschen eine Freude zu bereiten. Und es gehört wohl auch zur Freude, dass ich Menschen in dieser Zeit sehr schmerzlich vermissen kann. Schmerzlicher, als in anderen Zeiten. Dass mir – zum Beispiel beim Schmücken der Wohnung mit weihnachtlichem Schmuck aus vergangenen Jahren - erst bewusst wird, was sich alles getan hat in meinem Leben. Wer mir fehlt. Was neu und anders ist. Sich gewandelt hat. Manchmal zum Besseren. Manchmal aber auch nicht.
Freude gehört zum Advent. Mit dieser Freude sorgsam umzugehen, klarzukommen in dieser Zeit, ist eine Aufgabe. Sie beginnt damit wahrzunehmen, was ist und auf uns zukommt. Zukommen will.
Seht auf, erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht. Lk 21,28
Seht auf! Also: Sieh her. Schau genau. Denn es steht Großes an: Etwas ist in die Welt gekommen, kommt wieder zur Welt, was stark und mächtig ist. Gott kommt, um zu erlösen, zu verändern, zu retten. Dich. Und die Welt. Das zu sehen ist eine große Aufgabe. Weil damit eine große Erwartung verbunden ist: Erlösung naht. Wie soll ich Erlösung, Rettung der Welt im Alltag meines Lebens, im Alltag der Welt sehen, erkennen?
Vielleicht, indem ich bei mir beginne und die Erwartung auch und vor allem als Ermutigung sehe. Diese, meine Adventszeit als gott-verbunden wahrzunehmen. Sie als Bestandteil des großen göttlichen Tuns zu sehen. Wenn ich meinen kleinen Engel zusammen mit dem wiedergefundenen Kerzenhalter in die Fensterbank stelle. Mich an ihnen freue. Wenn ich meinen demolierten Stern im Fenster zum Leuchten bringe. Mich an ihm freue. Und glaube, dass auch andere das Licht erfreut. Und sei es nur für kurze Momente. Wenn ich mich traue, darauf zu vertrauen, dass meine Erwartungen von Gott gesehen werden. Und erfüllt werden. Weil Gott zur Welt kommt. Auch zu mir. Und weil die Welt – von Gott aus gesehen - eine gerettete ist. Auch für mich.
Seht auf, erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht. Lk 21,28
Beim Blick in die Bibel fällt auf, dass Menschen ihre Erwartung auf Rettung oft groß gedacht haben. Von Gott her gedacht haben. Schon in alten Zeiten war das so. Sie haben sich Rettung herbeigesehnt. Erlösung aus Notlagen, Bedrückung, Ungerechtigkeit. Sie haben sich erinnert an Zeiten, in denen sie sich von Gott behütet gefühlt haben. Manchmal kannten sie solche Zeiten nur aus Erzählungen. Sie haben diese Erzählungen in ihr Leben hineingelassen. Und damit die Sehnsucht in ihrer Zeit genährt. Rettung einen Platz eingeräumt. Deshalb lassen Sie uns heute bewusst in eine alte biblische Verheißung schauen. Sehen, was uns da ganz fremd – oder auch vertraut entgegen kommt. Wie uns Freude begegnet.
Ein Blick in das Buch des Propheten Jesaja. Dort heißt es im 35. Kapitel:*
Jauchzen sollen Wüste und Öde, frohlocken soll die Steppe und blühen wie die Lilien. Sie wird blühen und jubeln in aller Lust und Freude. Die Herrlichkeit des Libanon ist ihr gegeben, die Pracht von Karmel und Scharon. Sie sehen die Herrlichkeit des HERRN, die Pracht unseres Gottes. Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie. Sagt den verzagten (*herzverscheuchten) Herzen: Seid getrost, fürchtet euch nicht. Seht – da ist euer GOTT!
Eine blühende Wüste. So etwas habe ich noch nie gesehen, aber ich stelle es mir himmlisch vor. Eine vor neuem Leben strotzende Landschaft. Jauchzen, frohlocken, jubeln sind die Worte, mit denen Jesaja diese Landschaft beschreibt. Nach langer Zeit bricht – unverhofft – Leben auf. Frische Farben, leuchtendes Grün. Knospen brechen hörbar auf. Es ist ein Aufblühen wie ein Lachen – mehr noch, wie ein Jauchzen, eine große Freude. Darin wird diese Landschaft adventlich – auch wenn sie nicht winterlich mit Schnee, Tannengrün und Lichterglanz daherkommt. In Jauchzen, Frohlocken, Jubeln wird laut Jesaja die Herrlichkeit Gottes erkennbar: Seht, da ist euer Gott! Das ist ein guter Grund, um die müden Hände zu stärken und die wankenden Knie festzumachen. Mich aufzumachen. Dorthin, wo die Sehnsucht mich hinführt. Selbst mit mattgewordener Freude, mit im-Halse-steckengebliebenen Jauchzern und schmerzenden Gliedern. Zu erwarten, dass Gott kommt, sichtbar wird. Und nicht zu erstarren und mutlos zu werden, aus lauter Furcht, es könnte nicht so sein.
Sagt den verzagten (*herzverscheuchten) Herzen: Seid getrost, fürchtet euch nicht. Seht – da ist euer GOTT!
Eine Landschaft, die vor Leben jauchzt und jubelt, ein mutiges Losgehen zu einem Sehnsuchtsort, ein Warten auf Gott. Findet die Verheißung Jesajas Anklänge in Ihrem Leben? Heute? In der Erinnerung? Oder in Erwartung auf das, was kommen soll? Ich höre sie als Aufforderung, mein Gottvertrauen wachsen zu lassen. Ihm zwischen Engel, Kerzenhalter und Stern einen Platz in meiner Wohnung, meinem Leben einzuräumen.
Seht, da ist euer Gott. Er kommt zur Rache. Das von Gott Gereifte – er selbst kommt und befreit euch.* Plötzlich wird es ernst. Ein verstörender Vers. Ein Riss in der Sehnsucht, dass alles heil werden und schön aussehen soll. Mit Gott kommt Rache. Sie fügt sich nur schwer in das Jauchzen und den Jubelklang ein.
Bitte keine Rache. Niemals und schon gar nicht in dieser Zeit, die vom Frieden auf Erden träumt. Schreien nicht aber das Unrecht, Unglück und Leid der Welt nach Rache? Nach ausgeglichen und abgegolten werden?
Bei Jesaja ist Rache Gottessache. Nicht Menschenangelegenheit. Er bringt sie zur Sprache, aber malt sie nicht weiter aus. Oder doch. Dann aber in ungewöhnlichen Tönen. Das von Gott Gereifte – er selbst kommt und befreit euch.* Gottes Rache kommt – als Befreiung. Als Rettung.
Gereiftes wird gerettet. Es geht hier nicht nur um kurzes Aufblühen, sondern auch um Reifen, Ernten, Früchtebringen. Nicht nur ein kurzer Zeitpunkt, sondern ein Zeitraum gerät in den Blick. All das, was in den Jahren der Sehnsucht, die sich nicht erfüllt hat, geworden ist: Enttäuschte Erwartungen, Verluste, Wunden und Narben bekommen hier ihren Platz. Bei Gott. Auch das Enttäuschtsein von Gott und das Gottverlassensein. Sie haben ihren Platz, aber sie bedeuten nicht das Ende aller Sehnsucht. Das was gereift ist – Gott kann es befreien.
Und so sieht Befreiung (die Rache Gottes?) nach Jesajas Verheißung aus:
Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden, dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen.
Wir kommen zurück in die blühende Wüste – in die knospende Landschaft. Wenn Gott abgegolten und befreit hat, dann ändert sich das Leben grundlegend. Dann wird viel mehr möglich, als ich mir bisher gedacht oder vorgestellt habe. Was hält mich davon ab, mir die Welt vorzustellen, wie sie erlöst ist, von Gott gerettet?! Wie könnte sie aussehen? Wie wird es sein?
Sehnsuchtsbilder zu zeichnen, die Welt, wie sie sein kann. Und diese Bilder wie Sterne ins adventliche Fenster hängen, Lichtpunkte der Sehnsucht in der Welt, Lichtpunkte der Rettung auch. Auch das eine mögliche Aufgabe im Advent, Erlösung auszumalen, sie mir mit anderen vorzustellen. Von ihr zu erzählen, Gottes Rettung Ausdruck zu verleihen, reifen zu lassen und damit ihren Raum in der Welt zu vergrößern.
Und dann kommt noch einmal Freude auf:
Und es wird dort (in der Wüste) ein Damm sein, ein Weg, der der heilige Weg heißen wird. Auf ihm kann kein Makliger (unreiner) wandern. Selber ER geht ihnen den Weg voran, dass auch Toren sich nicht verlaufen. Es wird da kein Löwe sein und kein reißendes Tier darauf gehen; sie sind dort nicht zu finden, sondern die Erlösten werden dort gehen. Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.
Die Befreiten aus dem Volk Israel werden nach Hause kommen. Auf sicherem Weg. Gott wird mit ihnen sein. Unreine werden nicht unter ihnen sein. Auf dem Weg, den Gott bereitet, kann sich niemand verlaufen.Es droht keine Gefahr von wilden Tieren. Gott selbst geht voran. Und so werden die Erlösten ankommen: Mit Jauchzen und Freude und Wonne. Am Ende wird nicht nur die Landschaft von Freude ergriffen,am Ende breitet sich die Freude unter den Menschen aus. Wird laut und hörbar. Das Ende ist ein Jauchzen! Freude! Wonne!
Freude gehört zum Advent. Stille Freude. Aber sie darf auch laut werden. Jauchzen! Können Sie das? Jauchzen? Wo ist für Jauchzen Platz? In meiner Wohnung, bei Engel, Kerzenhalter und Stern? In meinem Herzen?
Vielleicht sollten wir täglich mindestens einmal jauchzen – um der Freude im Advent Ausdruck zu verleihen. Um sie groß werden zu lassen. Von Gott her gedacht. In unserer Zeit. Vielleicht ist es wie beim Lachen, von dem gesagt wird, dass es schon reiche, die Gesichtszüge zu verziehen. Ich muss nicht froh sein. Aber wenn ich die Mundwinkel hochziehe, lächele, wirkt es trotzdem. Wenn unser Jauchzen so der Erlösung den Weg bereiten könnte, mithelfen könnte - das wäre doch was, oder?!
Advent ist Zeit der Freude. Ich mag ihr trauen. Mich trauen, die Freude großwerden zu lassen. Denn seht: Gott kommt. Rettet. Erlöst. Mag die Sehnsucht danach in uns wachsen und reifen, dass sie laut wird und die Erde das Jauchzen lernt! Amen.
Tochter Zion freue Dich!
* in Klammern habe ich „beredte“ Worte aus der Übersetzung von Buber/Rosenzweig ergänzt.
* Gamal in Vers 4 kann vergelten, aber auch reifen, vollbringen und abstillen bedeuten. Deshalb folge ich hier der Übersetzung Buber/Rosenzweig.
Bei Luther heißt es: Gott, der vergilt, kommt und wird euch helfen.
* Bei Luther heißt es:
Kein Unreiner darf ihn betreten;
nur sie werden auf ihm gehen;
auch die Toren dürfen nicht darauf herumirren.
Link zur Online-Bibel
Eine kleine Geschichte vom Untergang der Welt - Predigt zu Jesaja 35,3-10 von Thomas Thieme
Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!
Er hatte mit seinen Fäusten schon auf so viele Stammtische gehauen - jetzt waren ihm die Hände müde. Immer wieder hatte er mit der Faust auf den Tisch gehauen, war aufgesprungen und hatte seine Meinung laut gesagt. Vom vielen Springen und Stehen bekam er schon wankende Knie.
Am Anfang wollte er noch etwas bewahren. „Es war doch nicht alles schlecht hier.“ Das war seine Standardantwort, wenn die Tochter mit dem Enkel zu Besuch war und das Thema auf die Schule kam. Der Enkel lernte anders und anderes und vor allem mit anderen. „Die Bekloppten brauchen doch viel mehr Aufmerksamkeit.“ Rief er und seine Tochter meinte halb angewidert, halb vertraut „Das sagt man nicht mehr Papa.“ „Was denn?“ meinte er „Ich hab doch Recht.“ Und Mutter sagte dann meistens „Lass doch. Haste schon gehört, der Klotz Michi hat jetzt Arbeit in der Stadt. Endlich. Und jetzt überlegt er, ob er sich ne Wohnung da nimmt, weil der Weg ist doch so weit und wenn er mal ne Frau trifft, na die kann er ja nicht bis hier rausbringen, wo er doch noch bei Mutti wohnt. Die wird’s dann aber schwer haben. Der Michi macht ja alles und fährt se überall hin zum Arzt und zum Einkaufen und so.“
Da hat er wieder mit der Faust auf den Tisch gehauen und gerufen „Weil se hier alles dicht gemacht haben. Früher gab’s hier alles. Bäcker, Fleischer, Arzt und den Kuhstall mit Arbeit für alle. Wer mit Kühen nicht konnte, der ist zu Schmidtchen in die Schrottbude. Und jetzt. Nüscht mehr. Alles tot und wenn wir hier den Löffel abgeben, dann is wirklich alles tot.“ „Ach Lass doch.“ Hat Mutter dann gesagt. „Die da oben machen doch eh, was sie wollen.“ „Wer sind denn ‚die da oben‘?“ Fragte die Tochter halb genervt, halb vertraut, weil sie wusste, gleich haut er wieder auf den Tisch und ruft „Die Verbrecher. Die gehören alle abgestraft. Warts nur ab, die kriegen schon noch ihr Fett weg.“
Sagt den verzagten Herzen:
»Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.«
„Gott kommt uns entgegen!“ Auf einmal wurde der Pfarrer laut. Die Sache war ihm wichtig, darum wiederholte er sie mit der Betonung auf dem ‚ER‘ „ER kommt uns entgegen. Darauf müssen wir uns einstellen und nicht noch mehr Handys kaufen und all den Weihnachtsplunder, der morgen schon Müll ist. Auf Gott bereiten wir uns auch nicht mit Glühwein vor. Der Zapfhahn ist keine Wüstenquelle, er ist eine Fata Morgana.“ Er dachte an Fatima, die bei Getränke-Maik arbeitet, aber selber keinen Alkohol trinkt. Und daran, dass er noch Glühwein kaufen musste für den christlichen Weihnachtsmarkt.
Mitten in seine Überlegung sang der Seniorenchor „O Heiland reiß die Himmel auf, herab vom Himmel lauf.“ Und er dachte: „Ja, lass laufen, Heiland. Kannste alles Wegspülen hier. Das ganze Land, ein einziges Jammertal. Wenn’s nach mir ginge, müsste man den Laden dicht machen und völlig neu anfangen. Aber dann ohne diese ganzen Pfuscher und Idioten. Wie damals die Straße. Die haben wir schnurgerade übers Feld gezogen und links und rechts ham se gejammert. Rechts die Besitzer, links die Naturschützer und wir mitten durch für Frieden und Sozialismus. So müsste man das heute wieder machen. Nur ohne Sozialismus.
Und es wird dort eine Bahn sein und ein Weg, der der heilige Weg heißen wird. Kein Unreiner darf ihn betreten; nur sie werden auf ihm gehen; auch die Toren dürfen nicht darauf umherirren. Es wird da kein Löwe sein und kein reißendes Tier darauf gehen; sie sind dort nicht zu finden, sondern die Erlösten werden dort gehen.
Am Montag begann es zu regnen. Erst nur ein wenig. Aber ab Mittag groß es wie aus Kübeln. Zuerst lief der alte Flutgraben längs der Dorfstraße voll. Das hatte es seit Ewigkeiten nicht mehr gegeben. Auf den Feldern rings um das Dorf bildeten sich erst kleine Lachen, dann richtige Seen. Dann liefen die Keller voll. Im Flutgraben war ein richtiger Fluss entstanden, der beharrlich am Unterbau der Straße nagte. Zwei Tage lang, dann war die Straße unterspült und sackte ab. Nun saßen alle fest auf der Insel im braunen Meer, weil das Wasser den lehmigen Boden aufweichte. Feuerwehr und Technisches Hilfswerk kamen mit Schlauchbooten zur Evakuierung. Sie schipperten zwischen den Häusern hindurch. Hielten mit Ferngläsern Ausschau nach Menschen, die auf ihren Dächern saßen und winkten. Sie riefen mit Megafonen in die Häuser. Oma Erna, die sonst keinen Meter ohne ihren Rollator schafft, musste sich mit einem Sprung aus dem Fenster ins Boot retten. Die Dorfbewohner wurden in der alten Kaserne gesammelt, die etwas außerhalb und auf einer Anhöhe lag. Wer im Kasino eintraf wurde begrüßt mit „Gott sei dank, du hast es geschafft.“ Oder „Himmel noch eins, was für eine Katastrophe. Zum Glück bist du jetzt hier.“ Alle bekamen heißen Tee, warme Decken und ausreichend Kekse. Der Seniorenchor sang Adventslieder und irgendwie war jeder froh, dass er selbst und der andere es hierher geschafft hatte.
Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und die Zunge des Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen.
Es regnete 10 Tage. Dann hörte es auf. Nach 12 Tagen brach der graue Himmel auf und eine strahlende Sonne beleuchtete die Überreste dessen, was einmal ihr Zuhause gewesen war. Die Bewohner kamen in einer langsamen Prozession von der Anhöhe in ihr Dorf zurück. Auf den Strahlen der Sonne kamen der Landrat und der Ministerpräsident. Fernsehteams und Reporter umschwärmten sie. Er hörte sie reden von einem Neuaufbau, einem Neuanfang und er dachte an „blühende Landschaften“ und dass er das alles schonmal gehört hatte. Schön sollte es werden, schöner als vorher. Mutter war ganz aus dem Häuschen. Ergriffen weinte sie ein paar Freudentränen in eine Kamera.
Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.
Die letzten Verse aus Jesaja, dass die Erlösten des Herrn wiederkommen mit Jauchzen und ewiger Freude, diese Verse haben für mich einen besonderen Klang und zwar den aus dem Deutschen Requiem von Johannes Brahms. Ein Requiem ist eigentlich ein Gottesdienst mit Geben für einen Toten. Aber Brahms schrieb sein Requiem als Trost für die Hinterbliebenen.
Für alle Mühseligen und Beladenen hat Jesaja den Trost, dass sie als Erlöste nach Zion kommen werden. Hört sich toll an, wenn wir gemeint sind. Aber je länger ich darüber nachdachte, desto weniger sicher wurde ich mir. Es ist doch so: Die Erlösung kommt nach dem Ende. Und selbst, wenn es nach dem Ende blühende Landschaften geben wird. Was wir zu Hause nennen, was wir als Heimat kennen - es wird vergehen. Weg, aus, Ende. Im besten Fall wandelt es sich, aber nicht zum Besseren. Wenn überhaupt, dann zu etwas völlig anderem.
Jesaja tröstet die, die heute schon verzagen, damit, dass Gott Rache üben wird. Das ist gut, denn es hält uns, die Gläubigen, zurück, selbst Rache zu üben. Aber damit sind wir nicht allein. Es gibt ja auch noch die, die wegen uns verzagen, die wegen uns Mühe haben oder Leid tragen, zum Beispiel darüber, dass sie ihre Heimat verlieren. Und seine Heimat verliert ja nicht nur der, der weggeht (weggehen muss). Sondern auch der, der bleibt, diejenigen, die zurückbleiben. Das gilt für Aleppo und das gilt für Asmara oder Kinshasa. Das gilt auch für Cottbus oder Frankfurt / Oder und das gilt auch für Wolfshagen oder Gumtow in der Prignitz.
Wir als Kirche wollen Vorreiter sein bei so ziemlich allem. Und dann passiert es eben - wer vorausreitet, hängt andere ab. Ist es da nicht tröstlich, dass wir alle auf die gleiche Weise zum Ende kommen? Das Ende wird zu uns kommen.
Hier unterscheidet sich übrigens Jesaja von Brahms. Jesaja sagt jedem, der es hören kann: wir werden die Erlösten - die anderen erfahren Gottes Rache. Aber mit dem Ton von Brahms wird daraus: Wenn Gott uns - die wir heute hier sitzen, wenn Gott uns auf den heiligen Weg leiten wird, dann nur zusammen mit allen, die wir abgehängt haben.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre Eure Herzen und Sinne bis ans Ende in Christus Jesus, durch den Gott die Welt richtet, als wollte er sie erlösen.
Amen.
Link zur Online-Bibel
Hoffnungsbilder - Predigt zu Jesaja 35, 4 – 6 von Walter Meyer-Roscher
Der Predigttext lässt Bilder aufscheinen, die Hoffnung machen. Wir sehen Bilder von der Verwandlung der Wüste in ein Land voller Leben; Bilder von der Heilung menschlicher Behinderungen und Gebrechen, von Begleitung und Geborgenheit in der Unwegsamkeit, von Freude, die Klage und Schmerz verbannt – Hoffnungsbilder.
Wir möchten uns ja gern, viel zu gern auf solche Bilder einlassen – schon gar in der Adventszeit, wenn das Licht der Kerzen die anderen Bilder, die uns das Jahr über bedrängen, ins Dunkel sinken lässt. Aber wirklich verdrängen können wir sie ja nicht. Sie kommen wieder – die Bilder von Unfrieden und Hass, Gewalt und Zerstörung, von Ungerechtigkeit, Hunger und Flüchtlingselend. Sie kommen wieder und bedrängen uns, verbreiten Angst, oft auch Resignation.
Sieht der Prophet sie nicht oder sieht er etwa über sie hinweg? Dann wären seine Hoffnungsbilder nur eine Illusion, ein Traum, der sich angesichts der rauen Wirklichkeit schnell wieder verflüchtigt. Nein, der Prophet hat sie durchaus vor Augen – die Bilder, die uns Angst machen. Er redet ja von müden Händen, wankenden Knien und von verzagten Herzen, die gestärkt und getröstet werden müssen.
Er redet in eine Zeit hinein, in der das Exil in Babylon nur noch ferne Erinnerung und die Hoffnung auf Heimkehr längst in Erfüllung gegangen ist. Aber diese Heimkehr ist nicht die erwartete große Wende in der Geschichte des Volkes Israel geworden. Die Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden hat sich schnell wieder abgenutzt. Die Realität ist voll von Enttäuschungen.
Der Wiederaufbau von Stadt und Tempel ist nur schleppend vorangekommen. Kümmerlich, müde und armselig sind die Stichworte für alle Lebensbereiche geworden. Diejenigen, die den Ton angeben, haben als Hoffnungsträger abgewirtschaftet und durch Machtbesessenheit und Anfälligkeit für die Faszination der Gewalt jede aufkeimende Hoffnung verspielt.
Nein, der Prophet kennt die bedrängenden, angstmachenden Bilder viel zu gut. Deshalb erwartet er beim Entwerfen seiner Hoffnungsbilder das Entscheidende auch nicht von Menschen. Sie können mit ihren begrenzten Kräften und ihrem eingeschränkten Durchsetzungsvermögen nicht Begründer der Hoffnung sein. Sagt den verzagten Herzen, so beginnt seine Botschaft: Fürchtet euch nicht. Seht, da ist euer Gott, er kommt und wird euch helfen.
Wieder nur eine Illusion? Wieder nur ein Traum, der sich vor dem Ansturm der uns täglich verfolgenden Bilder verflüchtigen wird? Wo ist er denn zu sehen und zu erfahren, dieser Gott, der kommt, um uns zu helfen? Für viele ist dies doch der eigentliche Grund für alle Hoffnungslosigkeit und Resignation: Das dumpfe Gefühl, nicht nur von aller Hoffnung, sondern auch von Gott verlassen zu sein.
Aber vielleicht suchen sie ihn ja gar nicht da, wo er zu finden wäre. Vielleicht erwarten sie ja auch einen ganz anderen Gott als den, der kommt, um uns zu helfen.
Der Prophet sieht in seiner Zeit nach vorn. Seine Zusage zielt in die Zukunft. Wenn wir Advent feiern und mit Advent die Ankunft Gottes meinen, dann können wir auch zurückblicken und uns erinnern. Wir können zurückdenken an die Adventsgeschichte von dem, der in Gottes Auftrag und in seinem Namen gekommen ist: Jesus von Nazareth.
Die Adventsgeschichte berichtet tatsächlich, dass er so ganz anders gekommen ist als der erwartete Erlöser – ohne Macht und Gewalt, auch nicht von oben, so dass alle zu ihm aufblicken oder sich vor ihm ducken mussten. Kein Triumphator, kein Helfer, wie sich viele einen allmächtigen Gott vorstellen.
Der Evangelist, der seine Ankunft beschreibt, hat die alte Verheißung des Propheten durchaus vor Augen: Fürchtet euch nicht. Seht, da ist euer Gott. Er kommt und wird euch helfen. Und dann erzählt er, wie dieser Helfer in Gottes Namen und in seinem Auftrag auf einem Esel in die Heilige Stadt eingezogen ist, auf dem Reit- und Lasttier der armen Leute. Und er fügt hinzu: sanftmütig ist er gekommen.
Eine neue, ungewohnte und ganz und gar nicht erwartete Eigenschaft für den ersehnten Erlöser: sanftmütig. Nicht mit Macht und Gewalt hat er eine bessere, eine schöne neue Welt schaffen wollen, auf die zu hoffen es sich lohnt. Nein, durch seine Worte und seine Taten, sein Verhalten und sein Leben hat er Menschen ansprechen, beeindrucken und verändern wollen.
Ihm ging es weniger um die Demonstration von Gottes Allmacht. Seine Barmherzigkeit und seine Menschenfreundlichkeit wollte er denen nahebringen, die unter eigener Schuld und eigenem Versagen litten, die sich vom Leben übergangen fühlten, und die Macht anderer schmerzlich zu spüren bekamen. So hat er Vergebung gegen Gnadenlosigkeit, Versöhnung gegen Hass, Mitmenschlichkeit gegen Egoismus und Durchsetzungsvermögen zur Geltung gebracht. Im Namen Gottes hat er sich auf die Seite der Opfer, der zu kurz Gekommenen gestellt. Ihre Menschenwürde hat er ihnen wiedergegeben.
Wo er sich Menschen zugewandt hat, haben sie neue Hoffnung geschöpft und wieder zu leben begonnen. Da haben sie sich auch von seinem Geist in Bewegung setzen lassen, um selbst mitzuhelfen, verwundetes, behindertes Leben zu heilen, gefährdetes Leben zu schützen und für das Lebensrecht der Ohnmächtigen einzutreten. In seiner Nähe haben sie alle verstanden, dass da ein Versprechen eingelöst ist: Siehe, da ist euer Gott. Er kommt, um euch zu helfen.
Wir können uns erinnern, die Adventszeit ist auch eine Zeit der Erinnerung daran, wie die alte Verheißung in Erfüllung gegangen ist.
Die Erinnerung aber kann zu einer Einladung und zu einer Aufforderung werden, wenn wir uns in den Sog der Geschichte vom Kommen dieses Jesus von Nazareth hineinziehen, wenn wir uns von seinem Geist in Bewegung bringen lassen. Er hat ja auch gesagt: Ich werde den Menschen zu allen Zeiten begegnen, jeden Tag. In den geringsten meiner Menschengeschwister werde ich auf sie zukommen. In den Ohnmächtigen und Unterdrückten, in den Versagern und in den Leidenden werde ich ihnen begegnen. In ihren Gesichtern können sie, müssen sie mich erkennen und wissen: was sie ihnen im Bösen oder Guten antun werden, das tun sie mir an.
Das ist Einladung und Aufforderung zugleich: Ihr könnt Gottes Menschenfreundlichkeit erfahren als Vergebung von Schuld, als Anerkennung von Menschenwürde und als Mut zum Leben, zu neuen Anfängen, zu Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit. Da wird aus der Erinnerung an die alte Verheißung vorwärtsweisende Gegenwart: Seht, da ist euer Gott. Er kommt, um euch zu helfen.
Da schieben sich tatsächlich vor die Bilder, die uns verfolgen, die Bilder von Verwundung, Behinderung und Vernichtung menschlichen Lebens, von gestörtem und zerstörtem Zusammenleben andere Bilder, Hoffnungsbilder: Menschen, die blind sind für die eigenen Möglichkeiten und für die Nöte anderer gehen plötzlich die Augen auf. Andere, die ihre Ohren verschlossen und sich in das Schneckenhaus ihrer Resignation zurückgezogen haben, hören wieder die alten Worte der Verheißung und der Mahnung. Menschen, die unbeweglich und starr geworden sind, kommen wieder in Bewegung. Andere, die den Weg verloren haben, die den Weg zu sich selbst und zu ihren Mitmenschen nicht mehr finden konnten, sehen plötzlich einen Weg, auf dem sie gehen können. Sie sehen einen Weg, der sich in der Wüste eigener Verlassenheit und eigener Ängste auftut. Da wird sich diese Wüste verwandeln in ein Land, in dem sich zu leben, auf andere zuzugehen und mit anderen zusammenzuleben, lohnt. Die Erlösten werden dort gehen, sagt die alte Verheißung. So ist es und so wird es sein. Darauf könnt Ihr euch verlassen.
Amen
Link zur Online-Bibel
Schritte mit Gott - Predigt zu Jesaja 35, 3-10 von Dr. Sven Keppler
I. Liebe Gemeinde, was ist eigentlich aus dem Gelähmten geworden? Jesus sagt zu ihm: „Nimm dein Bett und geh.“ Und so geht er aus der Geschichte. Wir erfahren nicht, wie es mit ihm weitergeht. Nur ganz selten wird im Neuen Testament erzählt, was aus denen geworden ist, die Jesus geheilt hat. Welche Folgen ihre Begegnung mit Jesus auf Dauer gehabt hat.
Man könnte denken, es gehe nur um den Augenblick der Heilung. Diesen einmaligen Moment, in dem sich alles verändert. Wenn ein Mensch an Leib und Seele zurecht gebracht wird. Ist das, was danach geschieht, nicht mehr so wichtig? Ist es vielleicht normaler, als man es sich gewünscht hätte? Uneindeutiger? Fragwürdiger als der große Moment der Bekehrung?
Behalten wir diese Beobachtung im Hinterkopf, wenn wir auf den heutigen Predigttext hören. Er steht beim Propheten Jesaja im 35. Kapitel (V. 3-10).
II. Jesaja weiß von vier Schritten, die Gott mit seinen Menschen gehen will. Was Jesaja seinen Zeitgenossen verheißt, gilt heute noch genauso. Diese vier Schritte können nicht immer geradewegs hintereinander gegangen werden. Es gibt immer wieder ein lebendiges Vor- und Zurück. Aber wer sein Leben mit Gott führt, wird immer wieder vor einem dieser Schritte stehen.
Es beginnt mit Gottes Ankunft: Seht, da ist euer Gott, er kommt. Dann die Erneuerung: Wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Danach der Weg: Es wird dort eine Bahn sein, die der heilige Weg heißen wird. Und schließlich das Ziel: Die Erlösten des Herrn werden nach Zion kommen.
Ich möchte mit Ihnen Schritt für Schritt diesen Weg abschreiten. Versuchen wir zu spüren, wo Gott solche Schritte mit uns gegangen ist. Mit Ihnen. Mit mir. Und wo wir uns nach dem nächsten Schritt sehnen.
Der Anfang ist Gottes Ankunft. Der Advent. Damit beginnt jede Geschichte mit Gott, und deshalb gehört unser Text in die Adventszeit. Gott kommt. Seht, da ist euer Gott. Immer wieder ist das der Anfang. Aber wie ist das, wenn Gott uns nahekommt?
Liebe Gemeinde, ich glaube, es beginnt in meinem Inneren. Ich spüre, dass Gott mir sehr wichtig wird. Die Gedanken, die mir ansonsten im Kopf herumgehen, treten in den Hintergrund. Mein Denken und mein Fühlen kreist um diesen Gott, und ich trete in ein Zwiegespräch mit ihm. Wie dieses Gebet aussieht, kann ganz verschieden sein. In der Stille. Mit Worten. Oder auch so, dass ich etwas ganz Bestimmtes tun will.
In unserem Text beginnt Gottes Kommen mit einer Ermutigung: „Seid getrost, fürchtet euch nicht!“ Auch aus anderen Geschichten kennen wir das: Als der Engel zu Maria kommt, um Gottes Kommen in ihren Leib anzukündigen. Oder als die Engel den Hirten sagen, dass Gott als kleiner Mensch in die Krippe gekommen ist. Immer wieder dieses „Fürchtet euch nicht“.
Furcht ist menschlich, wenn Gott nahe kommt. Auch bei der Verheißung Jesajas verwundert es nicht. Denn es heißt dort: Gott kommt zur Rache. Daran lässt sich nichts beschönigen: Im Hebräischen steht das Wort naqam, und das heißt nichts anderes als Rache.
Mit anderen Worten: Wenn Gott zu einem Menschen kommt, dann kommt Klarheit in sein Leben. Es zeigt sich, was Gott gemäß ist und was Gott widerspricht, was verkehrt ist. Was im Leben des Menschen eigentlich keinen Raum haben soll. Wenn es heißt, Gott kommt zur Rache, dann meint das: Er wird beseitigen, was ihm zuwider ist.
Das löst natürlich Angst aus. Muss ich mich nicht fragen, ob nicht auch ich ihm zuwider bin? In Gottes Gegenwart kann doch nur das Heilige bestehen – und wenn ich mich selbst betrachte, finde ich wenig davon.
Ich lebe in ganz privatem Wohlstand, während um mich herum die Armut wächst. Als Christ müsste ich dafür sorgen, dass Menschen durch die frohe Botschaft erreicht werden. Stattdessen halte ich mich schüchtern zurück und warte, ob vielleicht jemand von selbst etwas wissen möchte.
Aber gerade auf diese Gedanken zielt das „Fürchtet euch nicht!“ Hierin liegt die Zusage: Wenn Gott kommt, dann wird das zu Ihrem Besten sein. Die Unterscheidungen, die dann aufbrechen werden, die werden Ihnen gut tun. Weil sich Gottes Nein nicht gegen Sie als Menschen richtet, sondern gegen das, was Ihr Leben belastet.
III. Durch die Begegnung ermöglicht Gott den nächsten Schritt: Gott will unser Leben erneuern. Unser Text bietet lauter Bilder der Erneuerung: Blinde werden sehen, Taube hören. Lahme werden springen wie der Hirsch. Und die Zunge eines Stummen wird frohlocken. Wenn Jesus Menschen geheilt hat, dann kam es zu genau diesen Momenten.
Er hat unterschieden: Zwischen dem Menschen, der Hilfe braucht, und dem, was ihn belastet. Das heißt nicht, dass wir unsere Probleme einfach abspalten sollen. Wenn ich ein schlechtes Auge habe, dann gehört es zu mir. Wenn mein Knie kaputt ist, dann leidet ein Teil von mir. Und wenn Schatten auf meiner Seele liegen, dann bin ich meine Trauer.
Aber ich bin mehr als das. Das zeigt mir Gott, wenn er mir nahe kommt. Ich bin mehr als die Summe meiner Krankheiten. Ich bin der Mensch, dem Gott nahe sein will. Den Gott liebt. Und mit dem er noch etwas vorhat. Dieser Mensch werde ich auch dann sein, wenn Gott mir eine Last genommen hat. Wenn der Schatten von meiner Seele gewichen ist. Vielleicht spüre ich mich dann wieder auf eine ganz neue Weise.
Liebe Gemeinde, für mich ist das schönste Bild für diese Erneuerung, dass da, wo es dürre war, neue Quellen sprudeln sollen. Das ist der Neuanfang: Wo ich mich dürre gefühlt habe, sprudelt es. Mein Kopf war matt, leer, kein frischer Gedanke. Meine Seele war müde, niedergeschlagen, mutlos. Mein Herz tat mir weh oder raste ohne Ruhe.
Aber wenn Gott mir nahe kommt und mich erneuert, dann sprudeln meine Gedanken und Gefühle wie neu belebt. Das sind die Heilungsgeschichten, die mitten aus dem Leben kommen. Die sich jeden Tag neu ereignen können. Vielleicht merken wir erst an diesen Folgen, dass Gott uns nahe war. Auch wenn wir sein Kommen gar nicht gespürt haben.
IV. An diesem Punkt meldet sich jedoch eine Frage. Die Frage, die ich zu Beginn der Predigt gestellt hatte: Wie geht es eigentlich weiter? Wenn es so einen Moment der Erneuerung in einem Leben gegeben hat – war das eine vereinzelte Insel? Ein Augenblick, an den man sich später dankbar erinnert. Der aber auch wieder verblasst, weil die alten Probleme wieder Oberhand gewinnen? Oder verändert sich etwas auf Dauer, wenn Gott mir nahe gekommen ist? Auch wenn die Heilungsgeschichten von Jesus meistens davon schweigen.
Unser Predigttext bleibt jedenfalls nicht bei der einmaligen Erneuerung stehen. Er spricht nicht nur davon, dass die Lahmen springen werden wie Hirsche. Sondern auch, dass es einen Weg für sie geben wird. Den heiligen Weg. Er ist ein Bild für das, was vor einem Menschen liegt, nachdem er von Gott zurechtgebracht und gestärkt worden ist.
Dieses Bild ist jedoch missverständlich. Jesaja schreibt, dass auf diesem Weg kein Unreiner und kein Idiot sein wird, kein Löwe und kein reißendes Tier. Soll das heißen, dass ein sorgloser Weg zu erwarten ist? Wenn Gott einen Menschen erneuert hat, dann bettet er ihn auf Rosen und lässt die Trauben in seinen Mund wachsen?
So ist dieses Bild nicht gemeint. Natürlich nicht. Der Weg, von dem Jesaja spricht, führt mitten durch die Wüste. Damals meinte er den Weg, der von der Gefangenschaft in Babylon, also vom heutigen Irak direkt nach Jerusalem führen sollte. Der Weg führte mitten durch die syrische Wüste.
Wer von Gott gestärkt und erfrischt worden ist, der hat also sehr wohl noch steinige Wege vor sich. Aber er muss diese Wege nicht alleine gehen. Er darf sie gehen mit den anderen Menschen, denen Gott nahe gekommen ist. Das ist gemeint, wenn es heißt: Es ist ein Weg für die Erlösten.
Und das ist auch eine Antwort auf die Frage, wie es nach den Heilungsgeschichten von Jesus weitergegangen ist. Wenn mir Gott nahe kommt, dann bin ich nicht der Einzige, dem das geschieht. Sondern er zeigt sich vielen, auf je eigene Weise. Dem einen in einer Notsituation. Der anderen im Alltag. Der einen, die lange darum gebetet hatte, und dem anderen, der gar nichts von Gott wissen wollte.
Diese Menschen bilden zusammen die Gemeinde, die große Kirche Jesu Christi. Wir sind gemeinsam auf dem Weg. Er führt durch die Wüsten des Lebens. Er mag viele Verästelungen haben. Aber es ist ein Weg, den Gott uns schenkt.
V. Und er hat ein Ziel. Das ist der letzte Punkt. Wir als Gemeinde empfinden dieses gemeinsame Ziel nicht unbedingt. Und als einzelne Personen erst recht nicht. Ganz individuelle Ziele hat jeder Mensch vor Augen. Aber letztlich führt der Weg zu einem Ziel, das uns alle verbindet.
Jesaja nennt es Zion. Also den Tempelberg in Jerusalem. Christen nennen es das Neue Jerusalem. Der große Neuanfang am Ende unseres Lebens. Die vollendete Gemeinschaft mit Gott. Amen.
Link zur Online-Bibel
24.12.2018 - Heiligabend Christvesper
Neu aufleben – wie ein Baum – Predigt zu Jesaja 65, 17-19 von Claudia Trauthig
I.
Ach, du liebe Zeit, sagt die schwarz gekleidete Frau mit leisem Schreck in der Stimme, jetzt hab ich ja grad richtig gelacht, sogar laut… , wieder, das ist…, glaub ich…, das erste Mal, seit mein Mann…, also, seit der Trauerfeier… und das ist doch noch gar nicht lang her…- Darf ich denn überhaupt schon wieder lachen? (…)
Liebe Schwestern und Brüder,
Fragen wie diese beschäftigen viele, die einen geliebten Menschen gehen lassen mussten, erst kürzlich, traurig und hilflos am offenen Grabe standen.
Und häufig sind da ja Momente, nein: eher Stunden, Tage, Wochen, in denen man meint, nie mehr, gar nie, so wie früher, „davor“, lachen zu können… leichte Augenblicke zu erleben, in denen alles Schwere verfliegt, wie ein Schwarm Krähen, der an einen anderen Ort zieht oder wie die Sonne, die den Nebel durchbricht.
Darf ich überhaupt schon wieder lachen…, Frau Pfarrerin? Um Himmels Willen: Ja! Du darfst. Auf diese Frage antwortet mit klarer Stimme, unmissverständlich, der Predigttext für den heutigen „Totensonntag“:
Überraschend redet er nicht vorrangig von der Ewigkeit, dem „Himmel“, von der wir doch hoffen und glauben, dass sie nun die Heimat unserer geliebten Verstorbenen ist. Verblüffend redet er stattdessen von dieser unserer ganz handfesten Welt, in der es auch während dieses Gottesdienstes… Zahllose gibt, die das Liebste verlieren: Den Partner durch jähen Herztod, ein Familienmitglied durch scheußlichste Krankheit, Unschuldige durch Krieg, Gewalt, Flucht oder gar ein Kind, das noch nicht einmal auf der Welt ist.
Es sind Worte, die überwältigen können, wie es nur die Liebe vermag. Worte, die zu schön sind, um nicht wahr zu sein (Heribert Prantl). Worte, die wir, die Sie nötig haben… Und die heute hierhergehören, weil Gottes Anderwelt schon im Kommen ist: Siehe, ich mache alles neu!
Hören wir jene Worte aus Jesaja 65:
Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird. Freuet euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe. Denn siehe, ich erschaffe Jerusalem zur Wonne und sein Volk zur Freude, und ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein Volk. Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens. Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur einige Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen, sondern als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt, und wer die hundert Jahre nicht erreicht, gilt als verflucht. Sie werden Häuser bauen und bewohnen, sie werden Weinberge pflanzen und ihre Früchte essen. Sie sollen nicht bauen, was ein anderer bewohne, und nicht pflanzen, was ein anderer esse. Denn die Tage meines Volks werden sein wie die Tage eines Baumes, und ihrer Hände Werk werden meine Auserwählten genießen. Sie sollen nicht umsonst arbeiten und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen; denn sie sind das Geschlecht der Gesegneten des HERRN, und ihre Nachkommen sind bei ihnen. Und es soll geschehen: Ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören. Wolf und Lamm sollen beieinander weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind, aber die Schlange muss Erde fressen. Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der HERR.
II.
Sind diese Gottesworte nicht wie Balsam auf Wunden der Seele? Seit Jahrtausenden schon lindern, heilen, beleben sie, lassen die Niedergestreckten von Neuem aufstehen, auferstehen. Ein Schüler eines Schülers des großen Propheten Jesaja hat sie vor weit über 2000 Jahren aufgeschrieben. So kamen sie in die Sammlung dieses herausragenden Prophetenbuchs, das wir mit dem Namen Jesaja verbinden. Und ich frage mich: Kann man diesen fantastischen Bilderbogen der Hoffnung, zwischen neuem Himmel und neuer Erde, den friedlich miteinander weidenden Tieren, Löwe und Rind, Schaf und Wolf, mit seinem lebensfrohen Glanz überhaupt erfassen, hier, beim Hören unter der Kanzel? Mit den vielen persönlichen Gedanken, v.a. Gefühlen, die jeden und jede hier heute bewegen? Machtvoll strömt Lebenslust aus diesen Worten in unseren Tag. Machtvoll wird nicht (wie in der Schriftlesung) Gottes ganz neue Welt am Ende der Zeit beschrieben, sondern das, was Gott JETZT für die Welt will und schenkt und schafft: Freuet euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe!
Die Männer, Frauen und Kinder, die jene Botschaft als erste gesagt bekommen, sind uns, besonders Ihnen, liebe Trauernde, seelisch nahe. Auch sie wissen nicht wirklich, wie das Leben wirklich wieder gut werden kann. Auch sie haben oft keine Kraft mehr für neue Herausforderungen. Auch ihnen erscheint vieles im Alltag wie hinter Nebelwänden, voller Krähengeschrei… Nach Jahren, Jahrzehnten im Exil darf das Volk, dürfen die Menschen, endlich zurück: in die alte Heimat, das gelobte Land… Doch Milch und Honig sind längst versiegt. Einstige Lebensbegleiter und -begleiterinnen sind nicht mehr da. Spuren der Zerstörung sind allgegenwärtig.
„Mein Leben liegt in Trümmern“, so hat ein plötzlich Verwitweter zusammengefasst. Überall ist das Fehlen von ihr. Den Israeliten fehlt es an allem: Die Säuglingssterblichkeit ist hoch, die Lebenserwartung niedrig. Wo das Vaterhaus noch steht, wohnt längst ein anderer darin. Im Weinberg der Eltern freuen sich Fremde an der Ernte. Die Heimkehrenden sind nicht willkommen. Was trägt, was gibt Zukunft? (…) Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird. So spricht Gott. Auch wenn rechts und links, vorne wie hinten alles eine andere Sprache spricht… Auch wenn die Bilder des Todes machtvoll erschüttern… Gott will es anders. Und ER schafft es anders. Den müden Menschen, die meinen, nichts mehr aus eigener Kraft schaffen zu können, nicht mal so etwas scheinbar Leichtes wie Lachen, verspricht ER: Siehe ich mache alles neu. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle lebendigen Wassers umsonst.
Viele, die hier sitzen, werden solche Erfahrungen, Auferstehungserfahrungen, Gott sei Dank, schon im eigenen Leben gemacht haben. Besonders die Kriegsgeneration weiß nur zu gut, was für ein Dunkel das war, aus dem man kam: „Stunde Null“. Fragwürdige Zukunft in Trümmerlandschaft.
Doch die grau-schwarzen Bilder des Todes überdeckt Gott mit seiner Verheißung, mit kommenden Bildern gesegneter Tage. Traumatherapeuten, die Menschen nach schweren, brutalen Lebensereignissen begleiten, versuchen genau das: Über die Bilder von Gewalt und Tod werden Bilder neuen Lebens, des Glücks, des Friedens gelegt – damit die Seele heilt, auflebt.
Ja – wunderschön sind diese Bilder, mit denen Gott unsere Sehnsucht versteht, seine Wunder an uns beschreibt. Am besten wären sie -gerade an verdunkelten Tagen- morgens und abends zu lesen. Was bräuchte es mehr?
Und doch haben wir -Christenmenschen- noch mehr. Heute in einer Woche werden wir den ersten Advent feiern. Die neuen Bilder unseres erneuerten Lebens sind Bilder, in denen uns Christus begegnet: Menschensohn, Gotteskind, Jahrhunderte nach Jesaja geboren. Im Gotteskind, Menschensohn, der die Hungrigen speist, die Kranken heilsam berührt, alle Schmerzen vergessen macht. Der die Kinder in die Mitte stellt und mit ihnen lacht. Der den Wein genießt und auf die Frauen hört. Der hinabsteigt in das Reich des Todes. Der Gottes Sohn ist und ein Ende setzt allen Mächten des Todes. Weil ER lebt: von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Sein Heiliger Geist verwandelt – auch uns. Gerade jenes Lachen, das aus der Tiefe kommt und wieder hell erklingt, findet Widerhall in Gottes ewigem Reich. Oder – vielleicht ist es genau umgekehrt, dass unser Lachen, dass sich gegen die Traurigkeit behauptet, ein Echo ist der himmlischen Freude?
III.
Mit diesem Vertrauen und den bunten Bildern der Hoffnung vor Augen können wir das Leben neu lernen. Ein ganz unspektakuläres, aber umso hilfreicheres Bild finden wir dafür im Predigttext: Denn die Tage meines Volkes werden sein wie die Tage eines Baumes. Leben wie ein Baum. Das ist eine Spur, der ich folgen will und die doch auch gut in diese Jahreszeit passt… Ein Baum verwurzelt sich fest in der Erde und streckt zugleich seine Zweige weit in den Himmel aus. Er meistert das Leben: Hitze, Kälte, Sturm und Frost. Noch bevor jetzt im Hebst das letzte Blatt vom Ast fällt, hat im Baum schon der Frühling begonnen, werden neue Knospen angelegt. So lasst uns schließen mit einem Gebet von Lothar Zenetti, das dieses Bild, diese Gedanken aufgreift:
Herr, wie ein Baum so sei vor dir mein Leben.
Herr, wie ein Baum sei vor dir mein Gebet.
Gib Wurzeln mir, die in die Erde reichen,
dass tief ich gründe in den alten Zeiten,
verwurzelt in dem Glauben meiner Väter.
Gib mir die Kraft, zum festen Stamm zu wachsen,
dass aufrecht ich an meinem Platze stehe und wanke nicht,
auch wenn die Stürme toben.
Gib, dass aus mir sich Äste frei erheben,
oh meine Kinder, Herr, lass sie erstarken
und ihre Zweige stecken in den Himmel.
Gib Zukunft mir und lass die Blätter grünen
und nach den Wintern Hoffnung neu erblühen,
und wenn es Zeit ist, lass mich Früchte tragen.
Herr, wie ein Baum so sei vor dir mein Leben.
Herr, wie ein Baum sei vor dir mein Gebet.
Amen
Link zur Online-Bibel
Es wird sein in den letzten Tagen - Zwischen Erinnern und Träumen, zwischen Trauern und Hoffen. – Liedpredigt zu EG 426 & Jesaja 2, 2-5 von Karin Latour
(Kurze Vorstellung des Liedes von Walter Schulz, EG 426)
„Dann kam der Krieg doch zu uns. Eines Nachts hörten wir ihn wiehern. Und dann lachte es draußen mit vielen Stimmen und schon hörten wir das Krachen der eingeschlagenen Türen
Die alte Luise starb in ihrem Bett, Der Pfarrer starb als er sich schützend vor das Kirchportal stellte, Lise Schuch starb als sie versuchte Goldmünzen zu verstecken, Männer starben, als sie versuchten ihre Frauen zu schützen und ihre Frauen starben wie Frauen eben sterben im Krieg.
Martha starb auch. Sie sah noch wie sich die Zimmerdecke über ihr in rote Hitze verwandelte, sie roch den Qualm, bevor er so fest nach ihr griff, dass sie nichts mehr erkannte und sie hörte ihre Schwester um Hilfe rufen.
Während die Zukunft, die sie eben noch gehabt hatte, sich in nichts auflöste : der Mann, den sie nie haben, und die Kinder, die sie nicht großziehen würde und die Enkel, denen sie niemals von einem berühmten Spaßmacher an einem Vormittag im Frühling erzählen würde, die Kinder dieser Enkel, all die Menschen, die es nun doch nicht geben sollte.
So schnell geht das, dachte sie, als wäre sie hinter ein großes Geheimnis gekommen. Und als sie die Dachbalken splittern hörte fiel ihr noch ein, dass Tyll Uhlenspiegel nun vielleicht der Einzige war, der sich an unsere Gesichter erinnern würde und wissen würde, dass es uns gegeben hatte!“ (aus Daniel Kehlmann- „Tyll“)
Liebe Gemeinde,
ich frage es mich manchmal, wer sich ihrer erinnert- all der Männer und Frauen- Kinder und Alten, all der Soldaten und Opfer der beiden Weltkriege, wenn wir nicht mehr sind. Wir, die wir die Geschichten der Väter und Mütter, der Großmütter und Großväter noch kennen. Die noch etwas anfangen können mit dem Begriff „Volkstrauertag“, an dem Menschen auf die Friedhöfe gehen und einen Kranz niederlegen -nicht zum Heldengedenken, sondern zur Trauer um und in Erinnerung an die Opfer der beiden großen Weltkriege. Und auch der anderen, all der anderen Kriege. Wer wird sich dann erinnern, wenn in den Familien der Letzte stirbt, der noch weiß, wer der junge Kerl in seiner Uniform ist auf dem großen, eingerahmten Foto im Keller, wer die Feldpostkarten geschrieben hat im Karton, den die Eltern all die Jahrzehnte aufbewahrt hatten, wenn die Bilderrahmen von den Fensterbänken neben dem Sessel der Alten in unseren Heimen zusammen mit den anderen wenigen letzten Erinnerungsstücken aus einem langen Leben im 20. Jahrhundert abgeräumt sind.
Leben, in dem Menschen Liebste durch den Krieg verloren- Väter, Brüder, Männer, Söhne, Geliebte. Und dann gab es nach dem ersten den zweiten Weltkrieg. Und dann, wie Erich Kästner sagt, lernt der Mensch nichts dazu. Es gab also nach dem Ersten einen Zweiten Weltkrieg, und vor dem Zweiten einen Spanischen Bürgerkrieg und nach diesen Kriegen Atombomben und noch mehr Kriege- wenn auch nicht in Deutschland, so doch 7 Tage Kriege, Irakkriege, Jugoslawien, Sudan, Ruanda, Syrien,…Und den 30 jährigen Krieg über den Daniel Kehlmann schreibt und es gab den Bauernkrieg, an den vielleicht hier und da auch im letzten Jahr im Reformationsgedenken erinnert wurde.
Allein dankbar, unendlich dankbar können wir sein und sind es doch auch, dass wir und unsere Kinder in Frieden aufwachsen können. Aber reicht das? Da sind ja auch all die anderen Marthas, all die anderen Ewalds und Gustavs, die nicht Martha oder Ewald, Gustav oder Marie heißen, sondern Omran aus Aleppo, oder Aylan Kurdi aus Kobane- erinnern sie sich an diese Kinder? Ihre Bilder gingen um die Welt- der eine gerettet aber verstört- ein fünfjähriges Kind- dreck- und blutverschmiert und so verloren auf dem Sitz eines Rettungsfahrzeuges in Syrien, der andere an einen türkischen Strand gespült mit seinem blauen Höschen, seinem roten T- Shirt, das ihm seine Mutter angezogen hatte bevor die hoffnungsvolle Fahrt über das große Meer begann, die Reise, bei der diese Familie nie das Ziel, erst Europa, dann Vancouver, auf jeden Fall Frieden, nie erreichte.
Ein französischer Minister schrieb: „Er hatte einen Namen, Aylan Kurdi. wir müssen etwas tun.“ Aber was? Erinnern? Trauern? Träumen? Hoffen? Arbeiten? Woran und woraufhin? Und mit welcher Kraft und welchem Mut?
Verlesen des Predigttextes: Jesaja 2, 2-5 Ansingen der 1. Strophe des Liedes 426
Liebe Gemeinde,
dieser Text ist nicht geschrieben für eine Predigtreihe- „Gesungene Botschaften“- nicht für Gedenktage, nicht für den Volkstrauertag, nicht für traurige Jubiläen, die wir dieses Jahr begehen: 1918- Ende es 1. Weltkrieges, 1618 Beginn des 30 jährigen Krieges,
1938 Reichspogromnacht…..
Aber dieser Text scheint aktuell- immer noch und immer wieder!
Auch heute.
„Wir müssen etwas tun, sagte der französische Minister, aber was.
Erinnern? Reicht das?
Hoffen?
Uns der Verheißungen erinnern, die Gott uns auf den Weg gelegt hat?
Dieses Lied, es hat 3 Motive:
Schwerter zu Pflugscharen- das biblische Bild vom Frieden, das Jesaja, aber auch Micha, der Prophet zeichnet.
Dann eine bronzene Skulptur im Garten des Hauptquartiers der Vereinten Nationen in New York- ausgerechnet die Sowjetunion hatte es der UN geschenkt- es zeigt einen Mann der kraftvoll ein Schwert zu einer Pflugschar um schmiedet-
Und dann dieses kleine Zeichen, ein Emblem, kreisrund, das zum Symbol für Abrüstung und Umdenken, für friedvollen Widerstand und friedlichen Kampf wurde. Als der damalige mecklenburgische Jugendpfarrer Walter Schulz dieses Lied dichtete, Pfarrer in der damaligen DDR, späterer Schweriner Oberkirchenrat, gedachte er vielleicht seiner Erfahrungen im 2. Weltkrieg, als junger Mann war er in Gefangenschaft geraten – in amerikanische und englische , als man ihn in seinem U Boot gefangen nahm.
Vielleicht gedachte er auch der Bedrohung im Kalten Krieg, vielleicht gedachte er der Unfreiheit in der DDR… 1980 luden Jugendbewegungen in der DDR zu Friedensgottesdiensten ein, und es wird geschrieben für das Drucken brauchte man Erlaubnis- den Schmied aber auf Vliesstoff abzubilden und auf die Ärmel zu nähen, das ging- zunächst- dann wurde auch das Emblem verboten. Die jungen Menschen schnitten dann eben ein kreisrundes Loch dorthinein, wo vorher das Emblem war oder man nähte ein neues: „Hier war ein Schmied“. Es wurde zum Zeichen, zur hoffnungsvollen Vision, dass eines Tages Frieden sein wird.
Die Völker bekriegen sich nicht mehr, pilgern am Ende aller Tage zum Gottesberg, aus allen Himmelsrichtungen, um den Frieden, Gottes Frieden, zu feiern und zu leben. „Schwerter zu Pflugscharen“ – aus Waffen, die töten werden Geräte, die Leben möglich machen.
Wiederholen und ansingen der 1. Und 2. Strophe des Liedes.
Was wir tun können im Lichte des Herrn? Ob sein Wort tragfähig sein wird? Brauchen wir, liebe Gemeinde sie nicht, diese Visionen? Auch wenn wir sagen müssen- Lieber Jesaja, lieber Micha, keinen Tag, an dem es keinen Krieg gab. Keinen Tag, an dem nicht die Aufrüstung drohte. Keinen Tag, ohne Hass und Gewalt und die Millionen, die heute unterwegs sind, sind ja nicht einmal zum großen Frieden unterwegs, sondern einfach nur um zu überleben- in Europa, in ihren Heimatländern, den Nachbarländern, den tausenden von Flüchtlingslagern.
Ist das, was der Prophet sagt, das Lied singt, nicht einfach nur Traum? Verändert es irgendwas? „Dahin sind alle Träume von Frieden und Heimat. Der Mensch wird zum Wurm und sucht sich das tiefste Loch“ schreibt ein 20 jähriger aus Verdun am 12. Oktober 1918. „So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt“ schreibt ein anderer junger Kerl auf einer Feldpostkarte von der Front, von der nicht mehr zurückkam. Allein, geblieben diese Worte im Album einer Familie. Es ist wichtig uns ihrer zu erinnern. Ja, zu erinnern: Da war dieser Bestattungsgottesdienst in einem kleinen Dorf in der Nähe von Jülich. Die ganz Alten konnten sich noch erinnern, dass kurz vor Ende des Krieges ein Flugzeug herunter gekommen war, abgestürzt auf einem Feld. So jedenfalls stand es in der Zeitung. Die Wrackteile zog man später aus der Erde, den Piloten- man fand ihn nicht, vielleicht auch nie danach gesucht.
Bis er dann doch gefunden wurde. 70 Jahre später. Man barg seine Überreste, ein kleiner Sarg aus schwarzer Pappe auf dem Dorffriedhof. Mein katholischer Kollege und ich sollten ihn beerdigen. Wir wussten keinen Namen, kein Alter, nicht woher er kam und wer vergeblich auf seine Heimkehr gewartet hatte. Wir wussten, dass jemand von der Bundeswehr kommen würde mit Trompete den Zapfenstreich zu spielen, der Bürgermeister oder sein Vertreter und wir zwei auf dem eiskalten Friedhof im Januar, es hatte geschneit, die Straße gefroren und glatt war es den kleinen Hügel zum Friedhof hinauf.
Und dann sahen wir sie. Männer, Frauen, Alte, ganz Alte und Ältere, auch ein paar Jüngere. Sie waren aus ihren Häusern gekommen und auch anderen Dörfern. Gekommen um ihre Väter und Onkel, Großväter und Großonkel, all die Verwandten zu beerdigen, an deren Gräbern sie nie hatten treten können um ein Gebet zu sprechen, ihnen die Würde des letzten Geleits zu geben, die ihnen versagt geblieben war in Weißrussland oder Frankreich, Belgien oder der Ukraine. Sie erinnerten sich.
Erinnern. Und Trauern. Träumen und Hoffen. Es ist ein Schritt. Ein Schritt zu erinnern, an die, die gerne wieder aufgestanden wären. Wir brauchen aber auch die Erinnerung an die Vision, die Hoffnung, die Gott uns auf den Weg legt, ins Herz singt, Menschen beflügelte über den Tellerrand und das hier und jetzt hinauszuschauen. Wir brauchen Erinnern und den Blick nach vorne. Erinnern und Mut. Erinnern und Perspektive. Und selbst, wenn wir dieses große Ziel nicht erreichen, von dem Jesaja singt, so strecken wir uns danach aus. Zwischen erlebter Realität und prophetischer Vision. Zwischen Krieg Lernen, neuer Aufrüstung und Friedenssehnsucht. Zwischen Friedensehnsucht und unserer gesungenen Antwort.
Ruft Gott nicht immer noch? Mahnt Gott uns nicht immer noch? Erinnert Gott uns nicht immer noch an das Andere- das war und ist - die Liebe. Das war und ist - die Versöhnung. Das war und ist - die Hoffnung auf Frieden. Denn Gottes eigener Sohn hat alles dafür eingesetzt- sogar sein Leben. Wer zu ihm hält, wer seiner Botschaft traut, der kann selbst Werkzeug seines Friedens sein. Und anderen den Mut erhalten, dass Gottesliebe zum Menschen tatsächlich den Hass besiegen kann. Sind das nur Worte? Sind das nur Kanzelphrasen, deren Wahrheit durch jede Nachricht von Gewalt in unseren Zeitungen und dem Netz in Frage gestellt wird? Nein, liebe Gemeinde. Es ist Hoffnung. Und Gebet. Es ist Nächstenliebe und Einsatz und Mitgefühl. Es ist Widerstand und Protest. Es ist Wachsamkeit und Interesse. Das Gegenteil von Resignation und Hoffnungslosigkeit, von Rückzug ins Private und Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Hassparolen und Egoismus.
Gott, hilf uns und deiner Welt, möchten wir beten. Verwandle uns, Gott, möchten wir erbitten. Lass uns in deinem Namen Herr die nötigen Schritte tun, möchten wir singen. Liebe Gemeinde, manchmal besuche ich ihn, vor allem an grauen Novembersonntagnachmittagen – in Essen. Ich setze mich zu ihm auf die Bank vor seinem Bild, im Museum – Franz Marc. Es ist das Bild eines Pferdes.
Mein Liebstes von all seinen Bildern. Es ist als stünde man hinter ihm, dem bunten Pferd mit wunderschön geschwungenem Hals und Kruppe, den Blick weit in das hügelige, in allen Farben schillernde Land. Das Gegenteil für mich von einem Kriegspferd. Frieden, das dieses Bild für mich ist ausstrahlt. Ich hab mich oft gefragt, wenn ich dort sitze, wohin das Pferd eigentlich blickt. Zurück, auf das, was hinter ihm liegt? Nach vorne in die Zukunft, die vor ihm liegt? Zukunft, die Franz Marc nicht erlebt hat? Auf jeden Fall ist es ein Innehalten.
Franz Marcs Spuren: ein paar Bilder in den Museen dieser Welt und sein Grabstein, unter dem er nicht liegt, weil er bei Verdun fiel. Ich will mir einbilden, dass dieses Pferd den Frieden sieht, noch weit entfernt. Dass es die Farben des Lebens sieht, überall am Horizont. Und dass es uns mit seinem Blick mitnimmt in diese Weite und die Hoffnung, dass es möglich ist. Und zwar nicht erst dereinst, nicht erst am letzten aller Tage, sondern wir heute – jeder mit seinem kleinen begrenzten Leben einen Stück des Weges dahin gehen kann. Darum, liebe Gemeinde ist das Erinnern wichtig, das Kränze niederlegen, das Erzählen von Vergangenem, von Wegen und auch Irrwegen, aber auch unendlich wichtig, unsere hoffentlich nie endenden Friedensgebete, und all das, was wir tun können: an unserem Ort, in unserer Gemeinde, mit unserer Stimme bei der Wahl.. . Mit unserem Widerspruch bei Hetzparolen und Sprüchen. Mit unserer Freundlichkeit und Herzlichkeit und den vielen kleinen Dingen, die wir tun.
Liebe Gemeinde, noch einmal Daniel Kehlmann:
„Uns andere aber hört man dort, wo wir einst lebten, manchmal in den Bäumen. Man hört uns im Gras und im Grillenzirpen, man hört uns, wenn man den Kopf gegen das Astloch der alten Ulme legt, und zuweilen kommt es Kindern vor, als könnten sie unsere Gesichter im Wasser das Baches sehen. Unsere Kirche steht nicht mehr, aber die Kiesel , die das Wasser rund und weiß geschliffen hat sind noch dieselben. Wie auch die Bäume dieselben sind. Wir aber erinnern uns, auch wenn keiner sich an uns erinnert. Denn wir haben uns noch nicht abgefunden, nicht zu sein. Der Tod ist immer noch neu für uns. Und die Dinge der Lebenden sind uns nicht gleichgültig. Denn es ist alles nicht lang her.“
Amen
(Zum Abschluss singen wir den 3. Vers von Lied 426)
Literatur zur Predigt:
Daniel Kehlmann, Tyll, 2018,
Diverse Arbeitshilfen zum Volkstrauertag vom Bund Kriegsgräberfürsorge sowie Hinweise zum Lied EG 426 aus einer Predigt aus der Katharinenkirche Eglosheim, 2011
Anmerkung: Ich habe zum Gottesdienst eine Kopie des Bildes von Franz Marc mitgebracht, sowie auf Liedblättern das Friedensemblem“ Schwerter zu Pflugscharen“ abgedruckt.
Link zur Online-Bibel
Gott will, dass allen Menschen geholfen werde - Predigt zu Jes 49,1-6 von Norbert Stahl
Nach kurzer Einleitung zur geschichtlichen Situation: Verlesung des Predigttextes
Wow!
Wow! Da traut sich einer was! So eine Ansage in so einer Situation! Das muss den Israeliten mindestens komisch vorgekommen sein. Manche werden auch gesagt haben: „Dieser Jesaja spinnt! Schaut euch doch um! Wir sitzen in der Gefangenschaft. Der Tempel in Jerusalem ist zerstört. Wir könne nicht zurück. Unsere Zukunft ist, dass wir keine Zukunft haben! Gott hat uns verlassen. Er hat uns vergessen.“ Jesaja behauptet das Gegenteil: „Nein! Gott hat uns nicht vergessen! Er denkt an uns. Er wird uns zurück bringen in die Heimat. In die Heimat, die wir so sehr vermissen. Mehr noch! Gott spricht: Wie ich dich, Israel, rette, so will ich die Welt retten!“ „Und wenn Jesaja doch Recht hat?“ „Ach was! Ein Träumer ist er, sonst nichts! Und überhaupt: Die Welt retten. Gott hat mit Heiden nichts zu schaffen! Wenn überhaupt, dann ist er der Gott Israels!“
Käthe Duncker
Auf der Fahrt in den Oberkirchenrat: Ich höre Radio. Ein Bericht über die gesellschaftlichen Zustände in den Jahren des Ersten Weltkrieges und danach. Vor ziemlich genau 100 Jahren, im November 1918, ging dieser Krieg zu Ende. Arbeitslosigkeit, Hunger, Kriegskrüppel auf den Straßen, Kriegswaisen in schäbigen Häusern.
Da kommt die Rede auf Käthe Duncker. Dieser Name sagt mir bis dahin nichts. 1918 ist Käthe Duncker bereits 47 Jahre alt, erfahre ich. Sie gehört zu jenen Menschen, die nicht nur diesen Krieg, sondern alle Kriege ablehnen. Sie ist Lehrerin, Frauenrechtlerin, Pazifistin, Kommunistin. Sie kämpft gegen Kinderarmut, tritt ein für eine bessere Fürsorge für Schwangere und Wöchnerinnen, engagiert sich für gleiche Bildungschancen für Schulkinder. Weil sie der KPD angehört, muss Käthe Duncker zeitweise aus Deutschland fliehen. Die längste Zeit ihres Lebens verbringt sie aber in Berlin und Rostock. Sie ist verheiratet mit Hermann Duncker, der ebenfalls politisch aktiv war. Die beiden hatten zwei Söhne.
Käthe Duncker beeindruckt mich. Für mich ist sie eine mutige und kritische Frau. Im November 1918 schreibt sie aus Berlin an ihren Sohn:
„Jetzt oder nie muss versucht werden, all die Güter der Kultur und der Technik, die bis jetzt nur einer kleinen Minderheit zugutegekommen sind, der ganzen Menschheit dienstbar zu machen. Gewiss, es wird auch in Zukunft Unterschiede geben, aber nur die Unterschiede der persönlichen Begabung, nicht mehr die Unterschiede des Geldes und der Erziehung.“
Was für eine schöne Vision! Zerstörung und Elend behalten im Denken von Käthe Duncker nicht das letzte Wort. In der Krise der Niederlage sieht sie die Chance zu einem Wandel. Vorteile und Sonderrechte, die bisher nur Mitgliedern des Adels und bürgerlichen Familien zuteilwurden, sollen Rechte für alle Menschen werden. Viele sagen: „Die spinnt, die Duncker! Schaut euch doch um! Wir sitzen im Elend. Wir haben den Krieg verloren. Unsere Städte sind zerstört. Wir haben Hunger und Durst. Wir sind krank. Unsere Zukunft ist, dass wir keine Zukunft haben! Gott und die Welt haben uns verlassen!“ „Und wenn sie Recht hat? Wenn es doch noch eine Zukunft gibt? Wenn es etwas ganz Neues geben könnte? “ „Ach was! Eine Träumerin ist sie, sonst nichts! Und überhaupt: Gleiches Recht für alle – das kann nicht sein! Es gibt nun mal gottgegebene Unterschiede!“
Jesaja gibt nicht auf
Zurück zu Jesaja: Trotz mancher Anfeindungen gibt er nicht auf. Immer deutlicher formuliert er seine Hoffnungsbotschaft: „So spricht der Herr: Ich habe dich erhört, du mein Volk Israel! Gott lässt euch sagen: geht heraus! Kommt hervor! Hunger und Durst haben ein Ende. Denn ich erbarme mich über euch.“(nach Jes 49,8-10) Vielen bleibt diese Botschaft unverständlich. Jesaja erleidet Anfeindungen. Er wird geschlagen. Wir wissen nicht genau von wem: Nur von den Israeliten oder auch von den Babyloniern? Die Botschaft Jesajas klingt ja auch nach Aufbegehren. Dem muss man Einhalt gebieten! Er wird verachtet. Er wird beschimpft. Er wird krank. Er leidet stumm. Am Ende ist er tot. Man gibt ihm ein Grab bei Gottlosen und Übeltätern – obwohl er niemand Unrecht getan hat und er nichts Falsches gesagt hat. Im Gegenteil: Nur wenige Jahre nachdem Jesaja aufgetreten ist, kommt es zu politischen Veränderungen. Der Perserkönig Kyrus besiegt die Babylonier und lässt die Israeliten frei. Sie dürfen zurück in ihre geliebte Heimat. In Israel beginnen sie mit dem Wiederaufbau des Tempels.
Käthe Duncker gibt nicht auf
Auch Käthe Duncker gibt nicht auf. Das Elend der Kinder, die Verarmung der Massen, die Wohnungsnot, das Elend in den deutschen Städten – das sind weiterhin die Themen, zu denen sie spricht. Was heißt „spricht“? Käthe Duncker hält mitreißende Reden:
„Unsere erste Forderung lautet: weg mit der Scheidung von Volks- und höheren Schulen. Wir verlangen die Einheitsschule! Nicht mehr soll wie bisher der sechsjährige Adels-Sprössling von vornherein für die höhere Schule, das Arbeiterkind für die Gemeindeschule bestimmt sein, ohne jede Rücksicht auf ihre geistige Begabung. Noch eine weitere, sehr wichtige Forderung: Wir verlangen, dass der nationalistische Geist aus der Schule verschwindet, der Geist der Selbstbeweihräucherung des Deutschtums, der Geist der Völkerverhetzung und des Hasses. Er soll Platz machen der Erziehung zum Verständnis und zu gerechter Würdigung aller Völker, zu internationaler und damit rein menschlicher Gesinnung.“
Vielen geht das zu weit. „Der Duncker muss Einhalt geboten werden! Solche Gedanken sind gefährlich! Sie ist auch gar keine Patriotin! Eine Schande für ihr Land!“ Käthe Duncker und ihr Mann Hermann bezahlen für ihre freiheitlichen Gedanken: Wohnungsdurchsuchungen, Verfolgung, Inhaftierungen und Flucht. Andere bezahlen mit ihrem Leben. Jahrzehnte später sind viele Dinge, für die Käthe Duncker gestritten und gelitten hat Selbstverständlichkeiten: Das Wahlrecht der Frauen, Mutterschutz und Elternzeit, eine Reform des Schulwesens, verbesserte Bildungschancen und die Erkenntnis, dass Krieg kein einziges Problem löst.
Warum ist das so?!
Das beschäftigt mich, liebe Gemeinde, dass Menschen für hellsichtigen Ideen beschimpft, verfolgt, ja getötet werden. Und einige Zeit später sind genau diese Ideen von allen akzeptierte Wahrheiten. Zum Guten der Menschheit. Es ist doch schrecklich, dass für fast alle Errungenschaften, die wir heute selbstverständlich genießen, früher einmal Menschen kämpfen mussten buchstäblich bis aufs Blut, dass Menschen dafür furchtbar gelitten haben und gestorben sind. Es lassen sich noch viele andere Beispiele dafür finden: Mahatma Gandhi z.B. und Martin Luther King. Oder auch Jesus.
Jesus
Jesus war Jude. Einer mit reformerischen Ansichten. Er war v.a. der Ansicht, in allen Fragen des Lebens und der Religion sollte die Liebe zu den Menschen leitend sein. Jesus ist außerdem bereit jedem, der ernsthaft nach Gott fragt, einen Weg zu Gott zu ermöglichen – und sei es ein römischer Hauptmann. Die Liebe zu den Menschen ermöglicht Jesus diese großartige innere Freiheit.
Das löst Widerstand aus. Das bringt Streit. Das bringt Jesus ins Gefängnis. Am Ende ist er tot. Aber so wenig wie bei Käthe Duncker, so wenig wie bei Gandhi oder Martin Luther King, so wenig war dies bei Jesus das Ende. Nur wenige Jahrzehnte nach seinem Tod ist die Welt voller Anhänger Jesu. Seine neue Lehre ist nicht aus den Köpfen zu kriegen. Auch beginnt man seinem gewaltsamen Tod einen tieferen Sinn zu geben. Schließlich fasst ein wichtiger christlicher Missionar (Paulus) seine Erkenntnis zusammen in dem Satz: „Es gelten nun nicht mehr die alten Unterschiede. Gott lässt alle an seinem Reichtum Anteil haben. Denn jeder, der den Namen Jesu anruft, wird gerettet werden.“ (Röm 10,12f) Damit erfüllt sich, was Jesaja einst vorhergesehen hatte: Ein Jude bringt das Heil für die Welt. Zugang zu Gott sollen nicht nur Auserwählte haben. Zugang zu Gott haben jetzt alle Menschen.
Das Erbe
Wenn es doch nicht so schmerzhaft wäre, bis sich die guten Ideen durchsetzen, liebe Gemeinde! Wenn es doch selbstverständlicher wäre, dass Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit, dass Glaube, Liebe und Hoffnung allen Menschen offen stehen müssen. Nicht nur irgendwelchen Eliten. Wenn doch nicht Anfeindungen, Verfolgung, Gefangenschaft und Tod immer noch der Preis wären für ein bisschen Fortschritt. Für ein bisschen mehr Wahrheit, Liebe und Gerechtigkeit!
Mich gemahnen die Beispiele aus meiner heutigen Predigt, hellhörig zu sein, wenn Menschen aufstehen für die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Wenn sie gleiches Recht für alle fordern. Sie verdienen meine Unterstützung. Wenn Menschen unfaire Privilegien abschaffen wollen und für mehr Gerechtigkeit und Frieden eintreten – sie verdienen meinen Beistand. Z.B. wenn es um faire Preise für gute Lebensmittel geht. Oder um die Wohnungsnot oder den Pflegenotstand. Wo heute noch gekämpft wird, wird man sich hoffentlich bald schon fragen: Wie konnten wir nur so engstirnig sein? Es ermutigt mich, wie Menschen wie Jesaja, Jesus und Käthe Duncker sich nicht frustrieren lassen vom Bestehenden. Es steckt mich an, wie sie einen positiven Gegenentwurf wagen. Ich entdecke darin auch etwas vom Geist Gottes. Gott selbst schafft keine Eliten. Gott grenzt nicht aus. Jesaja kündigt an, dass Gott allen Menschen begegnen möchte. Nicht nur einer auserwählten Schar: „Ich habe dich zum Licht der Heiden gemacht, dass du seist mein Heil bis an die Enden der Erde.“ (V.6) Gott will, dass allen Menschen geholfen wird und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.(1. Tim 2,4)
Dafür bin ich dankbar. Der Zugang zu Gott steht alle Menschen offen. Dafür steht Jesus ein. Als er als kleines Kind zum ersten Mal in den Tempel gebracht wird, erinnert sich ein weiser alter Jude an Jesajas Ankündigung. Spontan nimmt er den kleinen Jesus auf seine Arme du preist Gott mit den Worten: „Meine Augen haben den Heilsbringer Gottes gesehen. Ein Licht zu erleuchten die Heiden zum Lob seines Volkes Israel.“(Lk 2, Dem kann ich mich nur anschließen.)
Amen.
Lieder und Lesungen:
324,1-3.12.13 (Ich singe dir mit Herz und Mund)
Ps 25
Lk 2,22.25-33
346,1-3(Such wer da will)
639,1-3 (Kommt, atmet auf)
321,1-3 (Nun danket alle Gott)
(Die Zitate zu Käthe Duncker entstammen dem SWR2-Manuskript zum SWR2-Feature „Krieg der Träume“ Folge 2: Goldene Zeiten [1922-27])