Ist das das Leben, das kommen soll – oder sollen wir auf ein anderes warten? Predigt zu Matthäus 11,2-6 von Sven Evers
Ist das das Leben, das kommen soll – oder sollen wir auf ein anderes warten?
Worauf wartest Du?
Ich warte auf Godot... genau wie gestern.
Er wird heute nicht kommen.
Aber er wird morgen kommen...
Wer das Stück von Samuel Becket gelesen hat, weiß: Godot kommt nicht. Gestern nicht. Heute nicht. Morgen nicht. Bis zum Ende des Stückes nicht. Vladimir und Etragon, die beiden Wartenden – sie gehen einfach davon, bevor der Vorhang fällt, ohne daß Godot gekommen war.
Ich warte schon so lange,
auf den einen Moment.
Ich bin auf der Suche,
nach 100 %.
Wann ist es endlich richtig,
wann macht es einen Sinn?!
Ich werde es erst wissen,
wenn ich angekommen bin.
Ich will sagen:
So soll es sein,
so kann es bleiben.
So habe ich es mir gewünscht.
Alles passt perfekt zusammen,
weil endlich alles stimmt
und mein Herz gefangen nimmt. (Ich und Ich, So soll es bleiben)
Dann steht es da: Das Leben. Ich muß es nur ergreifen. Traue ich mich?
Ich warte. Aber: worauf eigentlich? Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier – und dann? Ich habe das Christkind noch nie vor meiner Tür stehen sehen. Mein Warten darauf, daß irgendwann einmal irgendwas passiert, hat sich noch nie erfüllt. Wird das Leben ein anderes werden nach dem vierten Advent? Wird wieder alles heil werden? Werden die Probleme ein Ende haben? Advent – Ankunft. Wessen Ankunft?
Als aber Johannes im Gefängnis von den Werken Christi hörte, sandte er seine Jünger und ließ ihn fragen: Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten?
Die Frage brennt in Johannes, seit er Jesus das erste Mal begegnet ist. Mit unsicherem Schritt und doch voller Gottesbewußtsein war Jesus zu ihm an den Jordan gekommen. Er, der seinem Leben Sinn geben sollte. Er, für den Wegbereiter zu sein das war, was sein Leben ausgemacht hatte und noch immer ausmacht. Johannes erinnert sich an diese erste Begegnung, als wäre es gestern gewesen. Jesus hatte sich von ihm taufen lassen wollen. Von ihm, der er doch, wenn überhaupt, nur ein kleiner Zeigefinger sein könnte für den Gottessohn, den Gesalbten, den Heilmacher und Friedensbringer.
Also hatte Johannes ihn getauft. Und dann der offene Himmel, die Bestätigung: Ja, er ist es. Dies ist mein lieber Sohn, auf den sollt ihr hören!
Doch dann war es so ganz anders gekommen. Was für eine Botschaft, die dieser Jesus predigt! Und nicht nur predigt! Nicht nur mit Worten, nein: sein ganzes Leben eine einzige Hinwendung zu denen, über die Johannes in seiner Predigt das Gericht gesprochen hatte. Der Nachfolger, der Gottessohn, er sollte „seine Tenne fegen und seinen Weizen in die Scheune sammeln; aber die Spreu“ sollte er „verbrennen mit ausauslöschlichem Feuer“ (Mt 3, 12) – und dann so etwas!
Mit Zöllnern und Sündern, mit Aussätzigen und Prostituierten setzt er sich an einen Tisch. Er predigt von dem Balken im eigenen Auge, der den Blick für den Nächsten verstellt; von Vergebung für Feinde und das Segensgebet über die, die mir Böses wollen. Er heilt Menschen von langer Krankheit und reißt Grenzen ein, die für Johannes unumstößlich schienen. Er beherrscht Wellen und Wind. Er spricht nicht das Gericht, sondern zieht sich – mit Tränen der Liebe in den Augen – zurück, wo er nicht willkommen ist.
Unsicher, zweifelnd, fragend sitzt Johannes im Gefängnis. Läßt sein Leben an sich vorüberziehen. Die Zeit in der Wüste. Die Zeit der Buße, des Fastens, der Entsagung, der Anfechtung. Den Augenblick, als er den Himmel offen sah über dem Zimmermann aus Nazareth.
Er hält es nicht mehr aus. Er muss Gewißheit haben, ob er der ist, den er erwartete – erwartet, erhofft, ersehnt. Sein ganzes Leben eine einzige Erwartung dieses einen Gottessohnes, der die Welt richten würde. Zurecht bringen. Der Sünde, dem Leid, der Ungerechtigkeit ein Ende machen. Aber ist es dieser Jesus? Ist es dieser Mensch, der so gar nicht tut, was Johannes erwartet hatte?
Wer sollte ihm seine Fragen beantworten können, wenn nicht Jesus selber.
So schickt er seine Jünger zu Jesus und läßt ihn fragen. Er will, nein: er MUSS einfach Gewißheit haben!
Als aber Johannes im Gefängnis von den Werken Christi hörte, sandte er seine Jünger und ließ ihn fragen: Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten?
Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Geht hin und sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und Armen wird das Evangelium gepredigt;
Ihr erwartet eine Erklärung? Eine metaphysische Legitimation dessen, was ich tue? Ihr wollt einen Garantieschein darüber, daß ich Euch zeige, wie Gott es mit der Welt und mit Euch Menschen meint?
Sagt Johannes, was Ihr seht!
Ich komme nicht als der große Richter, der den Bäumen die Axt an die Wurzel legt. Ich komme nicht mit Drohungen. Drohungen machen Angst. Sie verändern gar nichts.
Ich öffne den Blinden die Augen, und denen, die meinen, sie hätten schon alles gesehen.
Ich öffne den Tauben die Ohren, und denen, die meinen, sie hätten schon alles gehört.
Ich mache die Aussätzigen rein und jene, die meinen, sie hätten eine weiße Weste.
Ich mache die Lahmen gehend, und jene, die meinen, sie kennten schon alle Wege.
Ich wecke die Toten zum Leben auf und jene, die meinen, sie hätten schon alles erlebt.
Ich predige den Armen die gute Botschaft Gottes – und jenen, die meinen, sie besäßen schon alles.
Wollt Ihr noch mehr? Was wollt Ihr noch mehr?
Sagt Johannes, was Ihr hört und seht. Und ach ja, sagt ihm dann doch bitte auch noch dieses: selig, glücklich zu nennen und reich ist, wer sich nicht an mir ärgert...
Bist Du der, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?
Wer weiß, vielleicht auch die Frage dessen, der zweifelnd Kerze um Kerze auf seinem Adventskranz anzündet und es doch nur aus Gewohnheit tut, weil er eigentlich gar nichts erwartet. Heil und Leben und Sinn und Fülle schon gar nicht.
Vielleicht die Frage der Konfirmandin, die selber nicht weiß, warum sie sich diese uncoole Veranstaltung jeden Dienstag antut, und die weder mit Gott etwas anfangen kann noch damit, dass sie angeblich sein Kind sein soll.
Vielleicht die Frage des erfolgreichen Mannes, der lieber den Ellenbogen und den Kontoauszügen vertraut als einer Liebe, die selbst den Feinden Vergebung verheißt, und der nur erwartet, was sich am Ende des Monats in Euro und Cent ausdrücken lässt.
Vielleicht aber auch die Frage der alten Frau, die jahrelang den Kirchenkaffee gekocht hat und so viele Entbehrungen in ihrem Leben ertragen musste. War es das wert? fragt sie sich vielleicht. Hätte ich nicht an der ein oder anderen Stelle egoistischer sein sollen, anstatt immer nur auf die anderen zu schauen? - Was sie erwartet? Ein bißchen Anerkennung vielleicht endlich einmal von den anderen, die alles für selbstverständlich halten. Aber ach, eigentlich – eigentlich erwartet sie gar nichts mehr...
Diese Kirche? Diese Botschaft? Dieser Jesus? Ist das das, was kommen soll? Ist er der, der kommen soll – oder müssen wir das Leben anderswo und von etwas anderem oder jemand anders erwarten?
All denen, die fragen, sagt, was ihr seht und hört:
Da ist die Botschaft von einer Liebe, die Ja zu mir sagt trotz aller Neins, die andere oder auch Du selber über Dich sprechen magst.
Da ist die Botschaft von einer Vergebung selbst der größten Fehler und Verfehlungen, an denen Du zu zerbrechen drohst und das Geschenk des Neuanfangs, wenn Du meinst, dass es keinen Ausweg gibt.
Da ist die Botschaft von einem Frieden zwischen Menschen, der möglich ist, nicht weil, sondern obwohl der Mensch so ist, wie er nun einmal ist.
Da ist die Botschaft von einer Aufertehung aus dem Tod und einem neuen Leben, das unseren Tod überwindet, die Menschen seit 2000 Jahren Trost und Hoffnung zu schenken in der Lage war und ist.
Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten? Ist es diese Botschaft von diesem Jesus und von diesem Gott? Oder sollen wir das Leben anderswo erwarten?
Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Geht hin und sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und Armen wird das Evangelium gepredigt;
Und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.
Amen.
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Der sanftmütige König - Predigt zu Matthäus 21,1-11 von Ulrich Pohl
Der sanftmütige König
Die Eselin. Eine Verheißung, die sich erfüllt. Der Profet Sacharja. Palmzweige und Kleider. Der Sohn Davids. Hosianna. Diese Worte entführen mich unweigerlich in die Adventszeit. Und sie entführen mich zugleich an den Ort des Geschehens. Ich sehe die nur dürftig bewachsenen Berge, gehe die gepflasterte Straße entlang, die in die uralte Stadt hineinführt, stehe schließlich in einem der Stadttore, die aus riesigen Quadern gemauert sind. Jerusalem, Bethfage, der Ölberg, sie haben für mich einen feierlichen Klang. Es sind die Orte, an denen der Ursprung meines Glaubens liegt.
Es sind die Orte, an denen die neue Zeit ihren Anfang nahm, in die wir Jahr für Jahr aufbrechen. Es ist die Zeit aus Plätzchenduft und Kerzenlicht, aber auch aus Stille und Vorfreude. Die Zeit, die die besten Kräfte in mir zum Leben erweckt. Die Zeit der liebevoll gepackten Geschenke, der sorgsam gehüteten Verstecke. Zeit, die davon singt und klingt und vorliest und daran erinnert, dass die Dinge, die ich mir wirklich wünsche, nur geschenkt bekommen kann. Dass es vieles gibt, was ich mir nicht selbst, aber was ich anderen geben kann. Zeit, in der etwas auf mich zukommt und in der jemand auf mich zukommt. Der, an dem mein Leben hängt. Er, der damals in die Stadt Jerusalem eingezogen ist. Unter den Blicken der Neugierigen und den Hosianna-Rufen der Pilger.
Sanftmütig. Das ist das Wort, das mich von Anfang an am meisten angerührt hat. Als Kind klang es für mich schön und geheimnisvoll zugleich. Noch schöner hörte es sich in seiner gesungenen Fassung an: „Sanftmütigkeit ist sein Gefährt‘“. Später, als Erwachsener, habe ich begriffen, dass in diesem Wort „sanftmütig“ alles angelegt ist, was kommt: Das Kind in der Krippe. Der Gottessohn, der die Menschen liebt. Der am Kreuz stirbt und aufersteht. Sanftmütig. Zählt man die Wörter unseres Bibelabschnittes – ob in der Ursprache oder in der Lutherfassung – steht dieses Wort praktisch genau in der Mitte.
Ein König, der sanftmütig kommt...
Können wir den brauchen?
Wird der sich durchsetzen können?
Kann der die Probleme meistern? Kann der den Despoten und Warlords, den Bandenchefs und Diktatoren Paroli bieten? Braucht es damals wie heute nicht einen, der Macht hat? Der die Kampfhähne in der Ukraine von einander trennt. Der ISIS stoppt. Der den Hedgefondsmanagern das Handwerk legt. Den Steuerbetrügern auf die Schliche kommt. Den Menschenhändlern den Nährboden entzieht. Tritt da einer sanftmütig auf - wird er doch ausgelacht! Wer sich dem großen Geld und seinen Handlangern in Politik und Rechtsprechung in den Weg stellt, der wird zur Not aus dem Verkehr gezogen. Mitunter sind sie schlimmer, als die römischen Besatzer damals. Mit einem Mausklick lassen sie Geldströme rund um den Globus fließen, können Landschaften vernichten und ganze Staaten zu Fall bringen. Ein sanftmütiger König, was richtet der aus? Wie kommt es, dass man ihn in den Stadttoren Jerusalems so sehnsüchtig erwartete?
Die Menschen damals hatten ihre Erfahrungen gemacht. Erfahrungen mit der Besatzungsmacht und Erfahrungen selbsternannten Anführern. Sie hatten durch die Jahrhunderte hindurch die Erfahrung gemacht, dass ein Aufstand, wenn er günstig verlief, zwar in die Freiheit führen mochte. Doch diese war nicht von Dauer. Binnen kurzem etablierte sich eine neue Führungsschicht. Und so hehr ihre Ziele auch anfangs gewesen sein mochten: Schon bald begannen die ersten, ihre eigenen Interessen in den Blick zu nehmen, Pöstchen in der Familie zu vergeben, es mit dem Recht nicht gar so genau zu nehmen. Dann kamen die Wendigen, die sich mit den neuen Herrschern ohne Skrupel arrangieren konnten. Längst gab es wieder die vom Volk so verhasste Palastwache, die Spitzel kamen wieder, die Privatarmeen. Es folgten die findigen Advokaten, die Gesetze passend zu machen verstehen. Die Großgrundbesitzer und Sklavenhalter, die die Arbeit verknappen konnten, die Löhne, die Nahrungsmittel. Bis schließlich der Verdienst eines Mannes nicht mehr zum Leben reichte. Dann war es Zeit, dass sich neuer Widerstand formierte, neue Aufrührer, neue Anführer… Die Leute in den Stadttoren Jerusalems kannten das. Sie sehnten sich danach, dass endlich einer kam, der die Spirale aus Unterdrückung Gewalt bleibend durchbrechen konnte. Wie es der Prophet Jeremia verheißen hatte, wir haben es eben in der alttestamentlichen Lesung gehört: Ein gerechter Sproß aus dem Hause Davids, der wohl regieren sollte, das Volk Israel in seinem Land sicher wohnen lassen würde, Recht und Gerechtigkeit aufrichten und dessen Macht eben nicht auf Soldaten und Schwertern, nicht auf geschicktes Taktieren und listige Manöver, sondern allein auf das Wort gegründet war, auf die Überzeugungskraft dessen, was er sagte und tat.
Der da unter dem Jubel der Menge in die Stadt einritt, dem eilte der Ruf voraus. Er könnte ein König sein, der für Gerechtigkeit sorgt, ohne dass man sich vor ihm fürchten muss. Der hatte die Spitzel der Machthaber mit Aufrichtigkeit entwaffnet. Hatte Egoisten durch Zuwendung geheilt. Hatte die Erbarmungslosen mit seiner Wehrlosigkeit barmherzig gemacht, hatte die Skeptiker mit seinen Taten überzeugt, hatte die Kaputten zurück ins Leben gebracht, die Lahmen gehen und die Blinden sehend gemacht. So einem waren die Menschen damals gerne bereit zu folgen. Denn in seiner Gegenwart fühlten sie sich selbst heil. Seine Gegenwart rief auch in ihnen die besten Kräfte wach.
Die ihn bejubelten beim Einzug in Jerusalem, haben ihn, auf dem ihre Hoffnungen ruhten hatten, am Ende am Kreuz sterben sehen. Viele konnten nicht anders, als ihren Blick abwenden. Enttäuscht und ernüchtert. Doch dann begannen die ersten daran zu glauben, dass er am dritten Tag auferstanden sei. Sahen ihn in den Himmel auffahren. Und verbreiteten die Hoffnung, dass er dort zur rechten des himmlischen Vaters sitzen und einstmals wiederkommen würde.
Diese Hoffnung hat sich unter uns gehalten bis auf den heutigen Tag. Er wird wiederkommen!
Das Warten darauf und die Hoffnung hat die Christenheit durch ihre Geschichte hindurch kultiviert. Christen sind Menschen in Erwartung. Und diese Erwartung hat ihre besondere Jahreszeit: Den Advent, der übersetzt schlicht heißt: Er kommt.
Warten und hoffen heißt: Die Gegenwart von der Hoffnung her so zu gestalten, dass sie dem, worauf wir hoffen, entspricht. Ich sehe die offenen Tore der Stadt Jerusalem. Und ich mache mich bereit, meine Türen denen zu öffnen, die bei uns stranden. Denen, die in ihrer Heimat verfolgt, unterdrückt oder vertrieben werden, stehen meine Türen offen. Ich mache mich bereit dazu, zu teilen, was ich habe. Mich auf weniger einzustellen. Ich möchte leben, als wäre er selbst es, der da zu mir kommt, er, auf den wir seit zweitausend Jahren warten.
Ich sehe den sanftmütigen König in seine Stadt einziehen. Und entschließe mich, daran mit zu arbeiten, dass in unser Gemeinwesen der Geist der Gewaltlosigkeit einzieht, der Vorrang des guten Arguments. Dazu gehört auch, dass ich denen eine unmissverständliche Absage erteile, die die Verrohung in unserer Gesellschaft vorantreiben. Ganz gleich ob sie dies unter dem Deckmäntelchen ihrer Religion tun. Oder unter dem Deckmäntelchen eines wie immer auch verstandenen nationalen Bewusstseins. Gewalt hat in der Gesellschaft des sanftmütigen Königs Jesus Christus keinen Platz. Diese Absage gilt auch denen, die diese Gesellschaft auf scheinbar ganz legale Weise aushöhlen, durch Steuersparmodelle, Profitgier und klug eingefädelten Betrug.
Ich möchte mich einsetzen. Ich möchte teilen. Ich möchte Position beziehen. Und ich möchte zur Ruhe finden. Ich möchte die Türe meines Herzens öffnen. So wie es in der fünften Strophe des ersten Liedes unseres Gesangbuches steht: Oh komm mein Heiland Jesu Christ, mein‘s Herzens Tür dir offen ist … Ich möchte, dass er bei mir ankommt. Ich möchte bei mir selbst ankommen. Möchte ankommen bei denen, mit denen ich zusammenlebe. Möchte etwas fühlen von dem, was mich beschäftigt - und von dem was sie beschäftigt. Ich möchte wieder neu Zugang zu ihnen bekommen. Ich versuche still zu werden und die Stille auszuhalten. Eine Stunde am Sonntagnachmittag, eine Kerze, Stille und nichts sonst.
Ob er in diesem Jahr wiederkommt, er, auf den die Christenheit seit nunmehr 2000 Jahren wartet? Wiederkommt in Sanftmut und diesmal doch in göttlicher Macht? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur: Ich möchte so leben als ob. Der Advent ist die Zeit, die mir dazu Zeit gibt.
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Verheißung und Erwartung - Predigt zu Matthäus 21,1–9 von Gunda Schneider-Flume
Verheißung und Erwartung
Siehe, dein König kommt zu dir. Diese alte prophetische Verheißung zitiert der Predigttext für den heutigen ersten Adventssonntag. Siehe, dein König kommt zu dir.
Liebe Gemeinde, wenn hohe Herren erwartet werden, ist eine ganze Stadt mit Vorbereitungen beschäftigt, und wenn der angekündigte Besuch schließlich kommt, ist Jubel angesagt, denn von dem, der kommt, wird viel erwartet. Er wird wohl Macht haben. Er kann Neues in Bewegung bringen zum Guten hin. Viele Erwartungen richten sich auf ihn. Menschen säumen die Straßen, vielleicht haben die Kinder schulfrei. Bunte Fähnchen werden geschwenkt. Welche Hoffnung, welche Erwartung ist mit diesem Besuch verbunden. Es ist, als ob die Zeit anhält. Alles kann anders werden.
Wie war es damals vor 25 Jahren in Prag? Tausende Menschen dicht gedrängt im Garten der deutschen Botschaft und auf den Treppen des Botschaftsgebäudes. Dann plötzlich Stille, der hohe Gast trat auf den Balkon und kündigte an, was man im losbrechenden Jubel gar nicht mehr verstehen konnte: „Freiheit, Sie können ausreisen.“ Was für eine Verheißung! Alles würde sich ändern. Was man erwartet und erhofft hatte, war eingetreten. Es würde sich alles ändern und die Menschen selbst auch. Man wusste noch nicht genau wie, aber man vertraute darauf, irgendwie würde die Erwartung sich erfüllen.
Gewiss, man kannte auch andere Besuche von hohen Herren. Plötzlich waren die Straßen abgesperrt, man wusste nicht warum. Schließlich fuhren mehrere dunkel verglaste Staatskarossen vorbei. Niemand wusste, in welchem Wagen der hohe Gast saß. Es sollte wohl niemand wissen, wer kommt. Man war es leid, noch jemanden zu erwarten, was sollte er noch bringen, zu oft, war die Erwartung enttäuscht worden.
Haben wir denn noch etwas zu erwarten? Diese Frage kann sich lähmend ausbreiten. Es ist doch immer dasselbe, immer wieder Enttäuschung, weder die weltpolitische noch die wirtschaftliche Situation geben Anlass zu großen Erwartungen. Krieg überall auf der Welt. Millionen von Menschen auf der Flucht. Was haben sie zu erwarten? Ich habe nichts mehr zu erwarten für mich und mein Leben, so stöhnen viele. Haben sie nicht Recht? Da, wo früher einmal Erwartung war, ist jetzt ein dunkles Loch. Schon Kinder haben nichts mehr zu erwarten. Krieg und Flucht und notdürftiges Lagerleben nehmen ihnen Freude und Erwartung für einen jeden Tag, Jahre lang.
Resignation und Müdigkeit, Erwartungsmüdigkeit und viel Erschöpfung breiten sich auch bei uns gerade in der Vorweihnachtszeit oft aus. Was sollen wir noch erwarten? Die Welt ändert sich nicht mehr. Und was können wir ändern? So vieles muss noch geschafft werden bis zum Ende des Jahres. Man muss sich sorgen, dass man alle Termine bewältigt. Der Zeitdruck nimmt die Kraft, Neues zu erwarten.
Dennoch ist unsere Stadt festlich geschmückt. Überall auf den Straßen leuchten Lichter im Tannengrün, glitzernde Kugeln und Kerzen. Posaunen spielen vertraute Weihnachtslieder. Das alte Kinderkarussell, das zu später Stunde auch ohne Fahrgäste noch fährt, erinnert an Kindertage. Es macht Freude, abends durch die geschmückte Stadt zu gehen. Vorschein eines Festes. Glanz gegen Erwartungsmüdigkeit. Gerne lässt man sich eine Weile von fröhlicher Feststimmung tragen.
Liebe Gemeinde, der Predigttext zum heutigen ersten Adventssonntag unterbricht alle Erwartungsmüdigkeit. Wie eine Fanfare tönt das Hosianna und schiebt Müdigkeit, Erschöpfung und Sorge beiseite mit der Aufforderung zum Jubel. Wer kommt?
Ich lese den Predigttext:
Als sie nun in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage an den Ölberg, sandte Jesus zwei Jünger voraus und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt, und gleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir.
Und wenn euch jemand etwas sagen wird, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer. Sogleich wird er sie euch überlassen.
Das geschah aber, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht (Sacharja 9,9):
„Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers.“
Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte,
und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf, und er setzte sich darauf.
Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg.
Die Menge aber, die ihm voranging und nachfolgte, schrie: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!
Eine Ankunft wie ein Wunder. Der Herr befiehlt ganz bestimmt, er hat Macht, sein Befehl wird ausgeführt, aber dann heißt es, er komme sanftmütig. Wie ist das möglich: ein sanftmütiger Befehlshaber? Ein verblüffender Text. Advent, Ankunft, Verheißung gegen Erwartungsmüdigkeit: Ein König wird angekündigt, aber wir kennen die Geschichte vom Einzug in Jerusalem aus der Leidensgeschichte Jesu, vom Weg zum Kreuz her. Die Geschichte von Palmsonntag ist durch diesen Text geprägt. Was haben wir da zu erwarten? Wer kommt?
Vor Jahrhunderten schon wurde die Verheißung vom Propheten Sacharja ausgerufen: „Dein König kommt zu dir.“ Immer wieder haben die Propheten Israel einen Kommenden verheißen. Mit der Geburt eines Kindes haben sie erfülltes Leben angekündigt. Ein Kind, das die Lebensbedingungen und Machtverhältnisse auf Erden umkehrt. Licht in der Finsternis, Gerechtigkeit, Friede, Verheißung eines Kindes, das den Namen Immanuel, Gott mit uns, trägt. Das ist eine Verheißung gegen alle Erwartungsmüdigkeit, gegen alle Resignation. Jetzt wird alles anders. „Dein König kommt zu dir.“
Die Verheißung gilt durch den König dem Volk, zuerst dem Volk Israel, danach den Christen und allen Menschen. Es gibt kein menschliches Leben ohne Verheißung. Kein Mensch muss leben ohne das verheißene „Gott mit uns“. Die Verheißung schenkt die Kraft der Erwartung, die man braucht für einen jeden Tag. – Mit einem verheißungsvollen ermutigenden Blick entlässt eine Mutter morgens ihr Kind: Der Tag wird gelingen. Das Kind vertraut ihr und springt aufrecht seines Weges. – Du bist nicht mit dir alleine. Zwischen Verheißung und Erwartung entfaltet sich die Spannkraft eines Lebens, mit der Menschen sich ausstrecken können über sich selbst hinaus. Die Augen gehen ihnen auf und sie nehmen wahr, was entgegen kommt, all die Möglichkeiten für gutes Leben, die sich an einem Tag bieten.
Menschen können hoffen auch in aussichtsloser Lage. Harren nannte Luther das, die Kraft, nicht in der eigenen Beschränktheit und in der Enge der Situation stecken zu bleiben, sich nicht nur zu verlassen auf sich selbst, sondern mit der Kraft der Phantasie zu hoffen auf das, was begegnet, auf den, der kommt. Es gibt in jedem Leben Verheißung. Ohne Verheißung kann man nicht leben. Wenn die Spannkraft nachlässt, greift Müdigkeit um sich, Erwartungsmüdigkeit; und wenn die Spannkraft ganz fehlt, sacken Menschen in sich zusammen, an der Körperhaltung kann man das erkennen. Was haben sie dann noch zu erwarten?
Wie kann man bei den vielen, vielen jugendlichen Menschen in Afrika und Asien und weltweit die Kraft der Verheißung wecken – dein König kommt zu dir – die Verheißung, die sie in Bewegung bringt gegen Resignation und Erwartungsmüdigkeit? Man sagt, die 1,8 Milliarden jungen Menschen der Weltbevölkerung seien das Hoffnungs- und Zukunftspotential gerade für die armen Länder der Dritten Welt. Die Verheißung, die eine neue Perspektive für Ausbildung, Beruf und Zukunft vermittelt, muss weitergesagt und umgesetzt werden.
In der dunklen Jahreszeit, in den letzten Wochen des Jahres ist die Müdigkeit auch bei uns in Leipzig bei vielen Menschen besonders groß. Der Dunkelheit in der Natur draußen entspricht die Dunkelheit in den Herzen, die die Kraft der Erwartung verlöschen lässt. In der dunklen Jahreszeit, gerade in der Weihnachtszeit steigen die Suizidzahlen.
Dagegen wird der prophetische Ruf hörbar: Dein König kommt zu dir. Die Verheißung reicht hinter jede Mauer, hinter der ein Müder nicht mehr weiterkommt. Die prophetische Verheißung gilt einem jeden Gefangenen ebenso wie dem, der vom eigenen Erfolg verwöhnt ist. Sie lässt Glanz aufleuchten auch in einem Leben, von dem Menschen meinen, es sei hoffnungslos, es habe keinen Sinn. Dein König kommt zu dir. Das ist die Verheißung gegen Sinnlosigkeit, denn das „Gott mit dir“ schenkt neue Kraft und neue Perspektive: Du bist nicht nur mit dir allein. „Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken.“ Das ist die verblüffende Erwartung des Psalmbeters. Er wartet und verlässt sich auf die Zeit, bis der Verheißene kommt. Advent braucht Zeit und manchmal auch Geduld, aber die Erwartung wird erfüllt. Der König kommt, er steht für die überraschenden neuen Möglichkeiten in deinem Leben. Dein König kommt zu dir. Es ist jemand für dich und du kannst auch für jemanden sein. Jemand neben dir schafft Anteil an der Liebe, und du selbst kannst Liebe schenken, indem du für jemanden da bist. Du wirst sogar wieder danken können. Vorsichtig deutet sich Jubel an.
Es gibt kein Leben ohne Verheißung. Deshalb darf man um Gottes Verheißung willen von keinem Menschen, von keinem Kind und von keinem alten Menschen sagen: um den lohnt es sich nicht mehr. Und doch sprechen Menschen einander dieses tödliche Urteil. Eltern denken von einem Kind: ‚Um dieses Kind lohnt es nicht. So ein Kind habe ich mir nie gewünscht. Es hat keine Verheißung, aus ihm wird nichts.‘ Sie ziehen ihre Erwartung von dem eigenen Kind ab, das Kind spürt es. Andere folgen dem zerstörerischen Urteil. Wir kennen die Folgen von Vernachlässigung und Erwartungsentzug an heranwachsenden Kindern und Jugendlichen. Die Verheißung, die ihnen vorenthalten wird, ersetzen sie selbst entweder durch Resignation und Ablehnung ihrer Umwelt oder durch zerstörerischen Aktionismus und Radikalismus. Ich kann nichts erwarten, also zerstöre ich auch die Erwartungen der andern. Wer rettet Hoffnungslose davor, selbst radikal zu werden und anderen mit ihrer Verheißung ihr Leben zu zerstören?
Sanftmütig kommt der verheißene König. Das ist keine Herrschertugend. Ist es eine Macht? Von hohen Herren kennen wir, dass sie etwas verlangen und befehlen: Gehorsam, Steuern, Abgaben. Sanftmut wirkt anders. Sanftmut bittet. Sanftmut lädt anderen keine schweren Lasten auf, sondern entlastet sie. Der Sanftmütige, dessen Ankunft wir an Advent feiern, lädt ein: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.“ Das ist eine Einladung zu einem Ort, an dem auch Menschen, die nichts mehr erwarten, eine Bleibe finden, wo sie neue Kraft schöpfen können.
Der Kommende bittet wie das Kind in der Krippe um Menschenfreundlichkeit, ein offenes Herz, eine offene Tür, und er lädt ein zu einer Bleibe.
Wie viele Menschen gibt es, die keine Bleibe haben. Überall wo sie anklopfen, werden sie abgelehnt und an einen fremden anderen Ort verwiesen, den es nicht gibt. Keine Bleibe, in Leipzig sind Menschen ohne Bleibe und überall auf der Welt, wo Menschen illegal leben, ungewollt, oder wo sie fliehen müssen, weil sie vom Krieg vertrieben sind.
Die Bleibe, zu der der sanftmütige König einlädt, verheißt einen Ort der Ruhe und Erquickung, das ist ein Ort, an dem man gewollt ist, eine Bleibe, an der einen Wohlwollen umfängt. Eine junge Sozialarbeiterin arbeitet freiwillig in einem völlig überfüllten Flüchtlingslager in Libanon. Mit anderen zusammen bietet sie Schulunterricht, Spiel und Werkarbeit für Kinder an. Da wächst neue Spannkraft, und die Kinder können wieder neu erwarten. Anzeichen von Freude zeigen sich. Ich kannte eine Diakonieschwester, die ging an den Adventssonntagen nachmittags zu all den Patienten, die nicht mehr aufstehen konnten. Sie zündete ihnen die Adventskerze an, erst eine dann die folgenden. Nach einer halben Stunde kam sie wieder und blies die Kerzen aus, um Unheil zu vermeiden. Die kurze Zeit des Kerzenscheins hatte etwas von der Adventsverheißung erfüllt. Advent feiern wir die Ankunft eines Herrn, der auch Erwartungsmüden neue Freude bringt. Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!
Ein verblüffender Predigttext, liebe Gemeinde. Die Krippe ein Ort der Ruhe, von dem ein Glanz ausgeht, der Menschen das Staunen lehrt, die das Staunen schon verlernt hatten. Der Stall des göttlichen Kindes ein Ort, an dem Menschen, die das Hoffen und Erwarten verlernt hatten, neu lernen, sich nach einer Zukunft auszustrecken, die mit dem Verheißenen auf sie zukommt. Mit der Adventszeit beginnt im Kirchenjahr die große Freudenzeit; Welt und Wirklichkeit erhalten neuen Glanz, weil Gott kommt.
Wo Gott kommt bleibt nichts beim Alten. Der Verheißene bringt Glanz und Erwartung auch denen, die am Ende ihres Lebens sind. Der Weg des Verheißenen führt von der Krippe zum Kreuz. Und auch da am Ende und im tiefsten Leid, am tiefsten Punkt menschlicher Existenz ist Verheißung: Es ist nicht einfach „Schluss!“, es heißt nicht: „Das war’s.“ Nein, wo Gott kommt, ist auch das Ende eines jeden Menschen von dem liebevollen Strahlen des Kindes umfangen, das schon die finsteren Hirten verwandelte.
Amen.
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Auf einem Esel zu schwierigen Terminen reiten - Predigt zu Matthäus 21,1-9 von Christine Hubka
Auf einem Esel zu schwierigen Terminen reiten
Als sie nun in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage an den Ölberg, sandte Jesus zwei Jünger voraus
2und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt, und gleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir!
3Und wenn euch jemand etwas sagen wird, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer. Sogleich wird er sie euch überlassen.
4Das geschah aber, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht: 5»Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers.«
6Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte,
7und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf und er setzte sich darauf.
8Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg.
9Die Menge aber, die ihm voranging und nachfolgte, schrie: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe! Mt 21,1-9
Jesus zieht in Jerusalem ein.
Und es ist nicht Advent und schon gar nicht Weihnachten.
Es ist Palmsonntag, so nennen wir diesen Tag am Beginn der Karwoche.
Die Geschichte von seinem triumphalen Einzug nach Jerusalem
ist auch das Evangelium für den Palmsonntag.
Was soll also diese Geschichte zu Beginn der Adventszeit?
Jesus reitet auf einem Esel.
Schon als Kind habe ich im Religionsunterricht dieses Szene gemalt.
Wie zeichnet man einen Esel?
Vier Beine, lange Ohren. Der Rest naja.
Jesus im weißen Gewand.
Friedlich, friedfertig. Niemandem etwas Böses wollend.
Allen mit Liebe und Güte begegnend.
So ungefähr habe ich das in Erinnerung.
Übrigens, und nur wegen der Genauigkeit:
Es handelt sich, so sagt Matthäus, um eine Eselin mit ihrem Füllen.
Heute interessiert mich an der Geschichte,
die Erwartung der Menschen.
Die Reaktion der Leute.
Sie leben unter der permanenten Bedrohung
durch das Terrorregime der römischen Besatzungsmacht.
Ihre Freiheit ist erheblich eingeschränkt.
Man darf sich nicht versammeln, keine Vereine gründen.
Willkürliche Übergriffe gehören zum Alltag.
Jeder römische Soldat kann jederzeit einen Mann zwingen,
ihm sein Gepäck ein Stück zu tragen.
Genau eine Meile muss der von seiner Arbeit, von seinem Garten weg rekrutierte
für den Römer den Lastenträger geben.
Dann darf er wieder heim gehen.
Die Bevölkerung ist gespalten.
Die einen kollaborieren mit der fremden Macht, ziehen daraus fette Gewinne.
Die anderen bekämpfen sie, gehen in die Berge, planen Attacken und Aktionen,
um die Besatzer zu schwächen.
Dieses Entweder – Oder ist ein Schema, das wir kennen:
Entweder du kuscht, hältst den Mund, versuchst irgendwie zu überleben.
Oder du stellst dich auf deine Füße und kämpfst den ausweglosen Kampf.
Jesus macht an diesem Tag weder das eine noch das andere.
Ich meine, das ist der Grund, warum die Leute so begeistert sind.
Denn die wenigsten von uns fühlen sich wohl,
wenn sie mit angemaßter und willkürlicher Macht kollabirieren.
Wer will schon den ekelhaften Chef hoffieren.
Wer will schon mitmachen, wenn eine Gruppe jemanden mobbt.
Aber dem Chef ins Gesicht sagen: Ihr Führungsstil ist unter aller Kritik.
Sich der mobbenden Gruppe entgegenstellen und sagen:
Was ihr hier macht, ist unerträglich, das lasse ich nicht zu,
ist halt auch nicht jedermanns Sache.
Wer einen dritten Weg aufzeigt, wer aus dieser Spannung des Entweder-Oder
einen Ausweg kennt, spricht mich spontan an.
Jesus auf dem Esel vermittelt mir und den anderen ganz ohne Worte:
Es gibt noch andere Möglichkeiten zwischen Unterwerfung und Kollaboration:
Es gibt die Möglichkeit, Gottes Verheißungen zu trauen,
mit Gottes Wirken zu rechnen.
Und jetzt schon im Vertrauen auf darauf,
friedlich und selbstbewusst nach Jerusalem zu gehen.
Nach Jerusalem, wo die Auseinandersetzungen zwischen den Kollaborateuren und den Widerständlern spannungsvoll kurz vor der Entladung stehen.
In Jerusalem wo die geballte Macht der römischen Okkupatoren sichtbar ist.
Dieses Jerusalem ist überall. Auch heute.
Eine Sitzung, in der die Meinungen aufeinanderprallen,
und man sich schon längst nicht mehr zu hört.
Während der eine noch spricht,
sammelt die andere im Geist bereits Argumente gegen ihn.
Famillientreffen, wo jeder seine Spannung und die ganzen alten Verletzungen mitbringt.
Damals, zu Weihnachten vor 10 Jahren, da hast du … da war doch …
und nie hast du dich dafür entschuldigt.
Gewappnet und dauf alles gefasst begegnen wir denen,
die wir nicht mögen.
Gewappnet und schon bevor etwas passiert,
schützen wir uns.
Das Bild eines erwachsenen Mannes, der auf einem Esel in die Stadt seiner Feinde einreitet
ist für mich ein Bild der totalen Entspannung.
Hier wird der Kampf nicht im Geist schon vorweg genommen.
Hier werden keine Argumente gegen böse Attacken im Kopf geschmiedet,
hier ist kein Dolch im Gewand versteckt.
Hier wird das Gegenüber nicht schon zum Angreifer gemacht,
bevor es überhaupt noch zu einer Begegnung kommt.
Der andere, die anderen haben die Chance, sich auch ganz anders zu verhalten.
Friedlich, freundlich, aufmerksam. Fair.
Was wäre wenn ich mich auf einen Esel reitend zum gefürchteten termin begebe?
Was wäre, wenn ich ohne jede Erwartung dorthin gehe,
wo ich üblicherweise Böses erwarte.
Was würde dann geschehen?
Ich meine, dass die Menschen so begeistert sind und Jesus zujubeln,
weil sie sehen, er gibt allen, auch seinen Gegnern eine Chance,
anders zu handeln, anders zu agieren.
Wir wissen, dass sie diese Chance nicht ergriffen haben.
Sie sind in ihren alten Mustern geblieben.
Sie haben nicht begriffen, was ihnen hier angeboten wurde.
Wer in der Nachfolge Jesu sich auf einen Esel setzt statt am hohen Ross daher zu kommen,
braucht viel Mut.
Denn dass dieses Angebot freudig angenommen wird, ist nicht garantiert.
Aber seit dem Einzug Jesu in Jerulasem,
kann niemand mehr sagen, nur mit Bomben und Granaten,
nur mit Härte und Präventionsschlägen,
kann man in schwierige Situationen hinein gehen.
Und dafür sei Gott Lob und Preis in Ewigkeit.
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Predigt zu Matthäus 21, 1-10 von Joachim Hempel
Waren Sie, – und wenn ja, wann und mit wem, gegen wen oder für was und wo waren Sie das letzte Mal auf der Straße – Demonstrant?
Advent beginnt doch nicht ganz so besinnlich oder gar betulich mit Kerzenlicht und Teestunde, Lebkuchen und Tannengrün wie's kirchlich geradezu modern geworden ist im Kampf um die Deutungshoheit für diese Zeit zwischen Konsum- Weihnachtsmann-Geschenke-Mentalität und biblischem Copyright-für Bethlehems Stall.
Jerusalems Straßen waren voller Leute, Handel und Gastronomie hatten gut zu tun, da kommt ein reitend Einziehender gerade recht, um ihn mit Hoch-Rufen, Palmwedeln und ordentlich zustimmendem Beifall zu grüßen und auf dem Weg zu begleiten. Die genaueren Umstände sind gar nicht so wichtig, denn nach dem bemerkenswerten Auftritt und Einritt fragt sich mit dem Evangelisten Matthäus 'die ganze Stadt: Wer ist dieser?
Aber erstmal sind viele dabei, machen mit, wie immer, wenn in der Stadt was los ist; die Reihe der „Heil, Hoch, Hosianna, Kreuzige, Weg mit ihm, wir wollen den – Rufen“ ist ja endlos, und gerade in unseren Tagen wird sie mit Rufen für Menschen im umkämpften Kobane oder bei der kleinen Lokführertruppe GDL mit Demonstrationen und Streiks weiter vermehrt: Das Recht der Demonstrationsfreiheit ist durch die Verfassung garantiert, in Hongkong wären viele froh, wenn sie nicht um Leib und Leben fürchten müssten, wenn sie auf den Straßen sind.
Hauptsache, Mensch weiß wofür und wogegen, denn sonst ist der Weg zu energiegeladener Randale nicht weit, wie uns ja auch allenthalben durch sogenannte Fußballfans vor Augen geführt wird, die Sport zum 'Hau-drauf-Ereignis' degradieren.
Nun, Jesus zieht in Jerusalem ein, und für Matthäus beginnt damit die letzte Woche dramatischer Ereignisse, die am Kreuz enden und doch erst am Ostermorgen ihre Deutung erfahren. Diese Geschichte gab mit abgehauenen Zweigen, den Palmwedeln, dem 'Palmsonntag' zu Beginn der Karwoche vor dem Osterfest seinen Namen, - und wer vor zahlreichem Advent in seinem Leben (wie oft haben wir ihn denn schon erlebt, wir, die wir so in die Jahre des Lebens gekommen sind, mit unseren Lebenserfahrungen, die nicht so leicht Neuem mehr Platz machen wollen oder können...), wer vor zahlreichem Advent in seinem Leben sich noch eine Überraschungsecke freigehalten hat, der darf schon ein bisschen staunen, dass die Palmsonntagsgeschichte alle Jahre wieder am Beginn der Adventszeit steht, die ja doch zu Bethlehems Stall führt:
Aber genau recht so, denn Idylle im Stall gibt’s nur für die, die keine Ahnung haben, was Kindesgeburt in kalt-windigem Stall bergigen Landes bedeutet (mir ist jedenfalls nicht bekannt, dass unter den durchgeknalltesten Eventangeboten der alternativen Advents- und Weihnachtstage schon ein 'Bringen Sie ihr Kind doch zu Heilig Abend im windigen Stall zur Welt – die ultimativ andere Geburt'... Angebot wäre). Die Geschichte vom 'eseligen' Einzug Jesu in Jerusalem weist uns auf den ganzen Jesus von der wundersamen Ankündigung seiner Geburt über die Heilige Nacht zum Esel, der Vater, Mutter und Kind als Flüchtlingen in Ägypten hilft, weist uns auf sein Reden und Tun als von Gott besonders Erwählter bis eben zu Anklage, Urteil, Tod und Grab. Und all dies erhält zu Letzt den österlichen Morgengruß, in dem sich Gott als Freund des Lebens erweist – und das dauerhaft, eben ewiglich.
Advent ist Zeit der Besinnung auf den ganzen Lebensweg, seinen und meinen, da verbindet sich auf wunderbare Weise der Weg Jesu mit meinem durch den Alltag des Lebens. Und wir tun gut daran, in Jesu Lebensweg etwas zu entdecken, mit dem Gott uns etwas zeigen und erklären, deuten und schenken will. Jesu Bedeutung liegt darin, dass Gott in ihm und mit ihm uns unser Leben deutet und und dadurch bedeutend macht. Er macht, was ich bin; er kennt auch mich und hat mich lieb, wie es im Lied von den Sternlein am Himmel heißt, von denen wir bis heute nicht zu sagen wissen, wieviel Sternlein es wirklich sind: Wunderbar, denn Gottes Vermögen ist mächtig und groß.
Palmsonntags-Esel-Einzugsgeschichte öffnet uns die Herzen und Gedanken, damit, wenn wir 'Macht hoch die Tür, die Tor macht weit' singen, auch die richtigen Verständnistüren sich öffnen und sein Geist einziehen kann, dessen adventliche Frischluftzufuhr wir alle nach des ganzen Jahres dicker Luft im Beziehungstheater zwischen Menschen, Völkern und Nationen dringend bedürfen. Sonst bleibt am Ende noch unser Ureigenstes auf der Strecke vor lauter Auseinandersetzungen, Anklagen, Verdächtigungen, Hass und Terror und Krieg (diese vielen Toten in Syrien in all den Jahren: warum, warum, warum nur?), nämlich dass wir vor allem, - vor allem eins sind, nämlich Menschen, die gut damit zu tun haben, das zu sein: menschlich!
„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden“ - die Ankunft dieser existentiellen, lebensspendenden Botschaft steht bevor: Türen auf, Gottes Geist erfülle unsere Herzen und Gedanken – adventus Domine!
Amen.
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Predigt zu Mt 5,3-10 von Christiane Borchers
Liebe Gemeinde!
Die Seligkeit wird den Armen verheißen. Welch große Freude! Der Evangelist Matthäus ergänzt die Verheißung der Selig-preisung an die Armen mit dem Zusatz: Selig sind, die geistlich arm sind. Die geistlich Armen, das sind nicht die, die einen verminderten IQ haben, sondern damit sind wir alle gemeint, da wir im Hinblick auf das Himmelreich arm sind und die Herr-lichkeit Gottes noch nicht schauen. Angesprochen sind damit wir, die hier auf Erden leben und die zukünftige Welt Gottes erst erwarten. Wir sind arm im Vergleich zum Himmelreich. Jesus verheißt es uns. Alle, die um ihn herumstehen, die seine Reden hören wollen, lechzen nach solchen befreienden hoffnungsvollen Worten, denn ihre Welt sieht anders aus. Matthäus verlegt die Rede Jesu auf einen Berg. Es ist kein bestimmter Berg. Er knüpft an die Sinai-Tradition an. Auf dem Sinai redet Mose mit Gott, auf dem Sinai empfängt Mose die 10 Gebote. Auf dem Sinai geschieht die Offenbarung Gottes. So auch hier. Jesus begibt sich auf einen Berg. Jesus tut seinen Mund auf und lehrt. Matthäus lässt Jesus in der Gestalt eines Rabbi auftreten, der seine Schüler lehrt. Ein Rabbi unterrichtet im Sitzen, die Schüler scharen sich um ihn. Auf bildlichen Darstellungen der Bergpredigt wird Jesus zumeist gezeigt, wie er auf der Höhe eines Hügels steht. Viele Menschen haben sich um ihn versammelt, weitere sind zu ihm auf dem Weg auf der Anhöhe. Ein anziehendes Bild: Jesus lehrt die Menge, in Scharen laufen sie zu ihm, sehnen sich nach Worten der Liebe und des Trostes.
Sie ist zu Hause, hat sich auf dem Sofa eingerichtet so gut es geht. Selbst die bequemste Lage verschafft ihr keine rechte Erleichterung. Sie hat multiple Sklerose. Als sie Mitte dreißig war, hat sich diese Krankheit bei ihr herausgestellt. Das ist ein großer Schock gewesen, hat sie und ihre kleine Familie, ihren Mann und ihren Sohn, aus der Bahn geworfen. Sie hat sich über die Krankheit informiert, über den möglichen Verlauf, über die Hilfsmöglichkeiten, sie in Schach zu halten. Heilung für die Krankheit gibt es nicht. Seitdem ist sie in ärztlicher Behandlung. Sie musste ihrem Arbeitgeber Bescheid geben, sie konnte sogar noch jahrelang ihrer Arbeit nachgehen. Sie hat Krankenschwester gelernt und den Beruf mit Leib und Seele ausgeübt. Irgendwann fühlte sie sich nicht mehr sicher in der Medikation. Damit ihr kein Fehler unterlief, vergewisserte sie sich jedes Mal vor der Ausgabe bei ihren Kolleginnen und Kollegen. Das war natürlich kein Dauerzustand. Sie merkte selbst, dass es absehbar war, dass sie ihren Beruf nicht mehr ausüben konnte. Sie veranlasste alles Nötige selbst, zog die Konsequenzen, gab ihren Beruf auf. Das war schwer für sie. Nun sitzt sie hier auf dem Sofa im Wohnzimmer. Das ist ihr hauptsächlicher Aufenthaltsort geworden. Der Sohn ist in-zwischen erwachsen, ihr Mann hat fast alle Arbeiten im Haus übernommen. Sie kann nur noch Kleinigkeiten ausführen. Sie blickt durch die Terrassentür in den Garten. Sie und ihr Mann werden hier nicht mehr lange wohnen können. Wer soll die Arbeit übernehmen, das Haus, den Garten pflegen? Sie werden sich verkleinern müssen, sich trennen müssen. Wie lieb ist ihr dieser Blick in den Garten geworden! Die Blumen blühen im Frühling und im Sommer in den prächtigsten Farben. Die Büsche und Bäume, die sie und ihr Mann selbst gepflanzt haben, sind inzwischen ansehnlich groß geworden. Im Sommer ist das üppige Grün eine Wohltat für das Auge, im Herbst erstrahlen Büsche und Bäume in ihrem bunten Kleid. Schön ist es hier, sie wird diesen Blick aufgeben müssen.
Sie bekommt Besuch, eine Freundin von früher hat sich angemeldet. Sie freut sich auf sie, hat sie gleich vorgewarnt, dass sie sie nicht so bewirten kann, wie sie es gern möchte. „Das macht doch nichts“, hat die Freundin am Telefon verlauten lassen. „Deswegen komme ich doch nicht. Ich komme, um dich zu sehen und mich mit dir zu unterhalten.“ Die Freundin kommt von hinten über die Terrassentür. Das ist einfacher. Sie klopft an die Scheibe. Mühsam erhebt sich die Frau und öffnet die Tür. Die beiden freuen sich über das gegenseitige Wiedersehen, erzählen von früher. Sie waren ehemalige Nachbarskinder, sind zusam-men zur Schule gegangen, haben sich angefreundet, hatten sich mehr oder weniger aus den Augen verloren. Die unterschiedlichen Lebenswege hatten sie auseinander geführt; sie hatten sich nur in großen Abständen getroffen. Die beiden Frauen versinken in Erinnerungen „Du konntest immer so schön singen. Du hättest eine Karriere als Opernsängerin anstreben sollen“, schwärmt die Freundin. Die Frau lächelt und erinnert sich: „Der Hauptlehrer war damals sogar mehrfach bei meinen Eltern, um ihnen ans Herz zu legen, dass ich eine Gesangsausbildung machen müsse. Das war bei uns zu Hause natürlich nicht denkbar. Mein Vater war ein einfacher Arbeiter, meine Mutter Hausfrau, die uns sieben Kinder großgezogen hat. Gesang galt als brotlose Kunst. Jetzt singe ich im Chor. Es ist immer ein besonderes Erlebnis, am Heiligen Abend in der Kirche zu singen.“ „Singst du ein Solo?“ „Das habe ich zuerst gemacht, jetzt reicht meine Stimme dafür nicht mehr, die Krankheit hat auch hier ihre Spuren hinterlassen.“ Der Nachmittag neigt sich dem Ende zu, die Freundin verabschiedet sich.
Die Frau bleibt zurück. Es ist still im Haus. Bald kommt ihr Mann von der Arbeit nach Hause. Sie wird ihm erzählen müssen, was der Arzt bei ihrem letzten Besuch gesagt hat. Sie haben bei ihr eine Stelle entdeckt, die entfernt werden muss. Sie hört ein Schlüsselgeräusch an der Tür, ihr Mann kommt von der Arbeit nach Hause. Sein erster Weg führt ihn sofort ins Wohnzimmer zu seiner Frau. Er setzt sich zu ihr aufs Sofa. „Ist dein Besuch schon wieder weg?“ „Ja.“ „War's schön?“ „Ja.“ Schweigen. „Du hast doch etwas?“, fragt der Ehemann. „Ich muss ins Krankenhaus“, gesteht sie, „sie haben bei mir eine Stelle gefunden, die operiert werden muss.“ Sie weint. Ihr Mann nimmt sie in den Arm, streichelt liebevoll über ihren Kopf und ihren Rücken: „Wir haben schon so viel geschafft, das schaffen wir auch noch.“ In gegenseitigem Verstehen klingt der Tag aus.
„Selig sind die Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“, schreibt Matthäus in den Seligpreisungen. Dürfen wir das glauben? „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.“ Das Erdreich besitzen, das bedeutet genügend Nahrung zu haben, einen Platz und eine Bleibe, wohin ich gehöre. „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“ Ein wunderbarer Gedanke, er ist Trost und Aufgabe zugleich. Der Evangelist Lukas benennt in seiner Feldrede eine Seligpreisung, die Matthäus nicht aufführt: „Selig sind die Weinenden, denn sie werden lachen (Lk 6, 21b).“ Weinende werden bald lachen, weil sich ihr Unheil in Heil verwandeln wird. Vielleicht nicht jetzt und sofort, vielleicht nicht so, dass wir sofort gesund werden, wenn wir krank sind, aber vielleicht indem wir getröstet werden, wenn wir in Not sind, dass uns jemand in den Arm nimmt, wenn wir Trost und Zuwendung brauchen. „Selig sind die, die geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich“, so beginnt Matthäus seine Seligpreisungen. Die erste Seligpreisung ist eine Art Überschrift. Die Menschen, die selig gepriesen werden, benennen Menschen in ihren Nöten, die ganz unterschiedlich sind. Da sind Leidtragende, Hungernde nach Gerechtigkeit, da ist von Menschen die Rede, die um Jesu und um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, die geschmäht und gegen die Lügen verbreitet werden. Die geistlich Armen sind keine anderen als diese Gruppe. Es sind Menschen, die mit schweren Schicksalsschlägen leben müssen, denen Unrecht getan wird, die Vertreibung und Gewalt ausgesetzt sind, die in einer Lage sind, in der ein Mensch eigentlich nicht überlebensfähig ist. Die geistlich Armen sind die Leidtragenden, die Verfolgten, die Hungernden und Dürstenden nach Gerechtigkeit. Manch ein leidtragender Mensch stellt selbst die Frage nach der Gerechtigkeit: Womit habe ich das verdient, das ich so viel Unglück erleben muss. Sie sind geistlich arm, denn das Himmelreich ist fern. Aber auch die werden selig gepriesen, die aufgrund ihrer guten Taten das Himmelreich ein wenig auf Erden aufleuchten lassen: die Sanftmütigen, die Barmherzigen, die reinen Herzens sind, die Friedensstifter.
Jesus redet in der Bergpredigt deutliche Worte. Er nimmt die Lebenswirklichkeit auf, in denen Menschen leben, verstärkt die menschenfreundlichen und Leben stiftenden Taten, lässt Men-schen, die im Unglück sind, nicht allein, tröstet, baut auf. Jesus nimmt Sehnsüchte, Herzenswünsche und Hoffnung nach einem heilvollen Leben auf, redet nicht klein, was groß ist, macht nicht klein, was schwer wiegt. Jesus wertet Taten der Barmherzigkeit als Früchte des Himmels. Menschen, die Gutes tun, werden ins Himmelreich eingehen. Jesus nimmt Menschen mit ihren Sorgen ernst, kleidet die Sehnsucht nach Heilwerden in Worte, gibt der Hoffnung der Leidtragenden Ausdruck und Zukunft. Die Bergpredigt ist aber auch eine ethische Forderung, Frieden zu halten, Barmherzigkeit zu üben, sich nicht an Verfolgung, Lügen, Schmähungen und Ungerechtigkeit zu beteiligen. Die Seligpreisungen fußen im Judentum. Der hymnische Stil findet sich in Texten aus dem Ersten Testament wieder, z. B. in den Psalmen und in dem Buch der Sprüche wieder. „Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen noch tritt auf den Weg der Sünder, ..., sondern der Lust hat am Gesetz des Herrn“ (Ps 1,1). „Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten und von Herzen dir nachwandeln“ (Ps 84,6). „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten“ (Ps 126,5). „Wohl dem Menschen, der Weisheit erlangt, und dem Menschen, der Einsicht gewinnt“ (Spr 3,13).
Der ersttestamentliche Hintergrund schimmert bei allen Seligpreisungen durch, ohne dass wörtlich zitiert wird. „Wohl dem Menschen, der dies oder jenes tut“ und „Selig sind, die …“ sind vergleichbare Einleitungsformeln. Es geht darum, nach Gottes lebensstiftenden Geboten zu handeln, Gottes Weisheit, Barmherzigkeit und Frieden sichtbar zu machen. Durch aufrichtiges, barmherziges und friedensstiftendes Verhalten leuchtet die Güte Gottes selbst. Wenn Gottes Gebote befolgt werden, leuchtet schon jetzt der Himmel in die gegenwärtige Situation. Das Himmelreich wird sichtbar auf Erden. Eine besondere Seligpreisung ist die fünfte: „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“ Diese Seligpreisung steht nicht zufällig zwischen zwei Seligpreisungen, die sich auf das Verhalten gegenüber anderen ausrichten, nämlich barmherzig zu sein und für den Frieden zu arbeiten. Anklänge aus Psalm 24 werden deutlich: „Wer darf auf Gottes Berg gehen und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte? Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist, wer nicht bedacht ist auf Lug und Trug..., der wird den Segen Gottes empfangen und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heils“ (Ps 24,3-5). Gern nimmt Matthäus den Gedanken der Herzensreinheit in seinen Seligpreisungen in der Bergpredigt auf. Herzensreinheit ist eine Geisteshaltung, die aufrichtig handelt und keine bösen Absichten verfolgt. Wahrhaftigkeit im Reden und Tun spiegeln Gottes Verlässlichkeit, Treue und Güte wider. Gott zu schauen, ist die große Sehnsucht eines frommen Juden, einer frommen Jüdin. Beim Besuch des Tempels schaut der Fromme Gottes Angesicht. Daraus erwächst in späterer Zeit die Erwartung, dass die Seelen der Gerechten Gott im himmlischen Paradies schauen werden.
„Die reinen Herzens sind, werden Gott schauen“ ist die einzige der acht Seligpreisungen, die Gott direkt als Ziel der Verheißung nennt. Die anderen sieben Seligpreisungen sprechen verhüllt von Gott. Den Seliggepriesenen wird das Himmelreich verheißen, sie werden das Erdreich besitzen, sie sollen satt werden, sie werden Barmherzigkeit erlangen, sie werden Gottes Kinder heißen. Die Schau Gottes, die hier auf Erden dem Menschen verborgen bleibt, wird im künftigen Reich Gottes Wirklichkeit. Im Himmelreich kommt es zur vollen Schau, wie sie jetzt nur Engeln zuteil wird (Mt 18,10). Was wir jetzt glauben, werden wir einst sehen. Der Apostel Paulus schreibt in seinem 1. Korintherbrief: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin“ (1.Kor 13,12).
Die Seligpreisungen sind keine billige Vertröstung auf das Jenseits, ihre Erfüllung ereignet sich schon jetzt auf Erden. Wer selig gepriesen wird, der wird die Seligkeit Gottes sehen. Gottes Welt leuchtet in die Menschen Welt hinein, wirft ein helles Licht auf dunklem Weg. Gott sendet Menschen, die helfen und trösten, die Barmherzigkeit üben und Frieden stiften. Selig sind, die die Liebe Gottes in der Welt sichtbar werden lassen.
Amen.
EG-Nr. 675,1-4: Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehen, dein Reich komme ... (Ev.-ref. Ausgabe)
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Auf der Achterbahn der Seligpreisungen - Predigt zu Matthäus 5,1-10 von Wolfgang Vögele
"Als [Jesus] aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm. Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:
Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.
Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.
Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.
Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.
Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich. (...)
Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden. Denn ebenso haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind."
Sommerabend
Liebe Schwestern und Brüder,
spätestens wenn es kälter und stürmischer wird, am Reformationstag Ende Oktober, wird die Einsicht unausweichlich, daß mit Frost und Schneeflocken der Winter kommen wird. Diese gute Gelegenheit will ich nutzen, um ein letztes Mal an Wärme und Sonnenstrahlen des Sommers zu erinnern. Wegen der Hitze waren die Mittagszeiten unerträglich. Erst wenn die Sonne sich dem Untergang zuneigte, kamen verschwitzte Menschen aus dem Schatten heraus und bevölkerten sanft Parks, Liegewiesen, Fußgängerzonen und Biergärten.
Ich genoß es sehr, mich an solchen Sommerabenden, wenn die Luft ein wenig abgekühlt war, unter die Menge zu mischen. Ich mochte es, mich abends auf eine Bank im Schloßpark zu setzen, ein ungelesenes Buch in der Hand, und wahrzunehmen, was um mich herum geschah: die spielenden Kinder, die mit Begeisterung im Brunnenwasser plantschten; die Freundinnen, die sich, auf eine Decke gelagert, lebhaft miteinander unterhielten; die Jungs mit den Skateboards, die ein Zitroneneis schleckten; das verliebte Paar, das Federball spielte; der ältere Mann im weit geschnittenen schwarzen Baumwollanzug, der seine Chi Gong Übungen praktizierte und sich um die Blicke der Menge nicht scherte; die beiden Abiturienten, die sich mit zwei Flaschen Bier zuprosteten; die vorsichtigen Mütter, die sich um ihre schlafenden Babies im Kinderwagen kümmerten und die Ruhe genossen; die beiden gebrechlichen Damen, die mühsam mit ihrem Rollator unterwegs waren.
In der Wärme und im orangenen Licht des vergehenden Abends konnte man Ruhe und Leben spüren und riechen und tiefen Atemzügen genießen. Alles war in geduldiger, friedlicher Bewegung, keinesfalls in Aufregung. Allmählich kehrten die Geduld und die Gelassenheit ein, die einen in Hitze überstandenen Tag kennzeichnen. Das Schwierige des Hitzetags lag hinter den Menschen, der Rest bis zur Dunkelheit, war Genießen und Ausruhen gewidmet.
Ich mußte die Augen nicht offen halten, um die Gegenwart der vielen Menschen zu spüren. Und ich fragte mich: Wo unter diesen vielen Menschen sind die Friedfertigen, von denen die Seligpreisungen reden? Wo die Leidtragenden? Wo die Friedensstifter? Wo die Menschen, die nach Gerechtigkeit streben? Ich wußte nicht, wer sie waren. Aber ich war mir sicher: Sie befanden sich auch in dieser Menschenmenge, die ein Sommerabend im Schloßpark zusammengebracht hatte.
Was ist auf dem Berg geschehen?
Der Evangelist Matthäus hat aus der Bergpredigt eine größere, theatralische Szene gemacht. Oft ist das gemalt worden: Der heilige Redner auf dem Berggipfel stehend, um ihn herum wie eine Leibwache die Jüngergemeinschaft, weiter weg die große Menge des Volkes. Oft ist das gemalt worden, leider sehr oft kitschig, zu viel falsche Demut, zu viel übertriebener Glaube, so als müßten die Volksmenge auf den Bergpredigtbildern ausdrücken, was den Gottesdienstbesuchern fehlt.
Viele Menschen finden heute reine Wortbeiträge, Vorträge, politische Reden und auch Predigten langweilig. Ihnen reicht das Wort nicht mehr. Mindestens die Bebilderungsmaschine von Powerpoint muß noch dazu kommen, so als würden die Redner ihren eigenen Worten nicht mehr trauen. Dann projizieren sie die Zerstreuung lieber auf einen Bildschirm. Denn die Augen des Zuhörers lassen sich leicht ablenken.
Ich bin ganz überzeugt, daß Jesus von Nazareth seinen eigenen Worten und ihrer Wirkung getraut hat. Genauso bin ich überzeugt, daß er die Worte der Bergpredigt, insbesondere die Seligpreisungen nicht gebrüllt hat. Er mußte dazu auch nicht wild mit den Armen rudern. Er brauchte die bunten Bilder von Powerpoint nicht. Ich stelle mir vor, daß Jesus von Nazareth die Seligpreisungen der Bergpredigt mit ruhiger, klarer, unaufgeregter Stimme gesprochen hat. Kein Einpeitscher, kein Aufwiegler, kein Krawallbruder, keiner, der Hetzparolen geifert oder sich des zackigen Kommandotons bedient. Ich stelle mir auch vor, daß die Menschen am Fuß des Berges, seine Zuhörer nach den Seligpreisungen nicht applaudiert haben. Die Seligpreisungen sind stille, tröstende Worte. Das fehlende rhetorische Getöse nimmt ihnen nichts von ihrer nachhaltigen Wirkung.
Achterlei
Eigentlich stehen da neun Seligpreisungen. Acht davon sind grammatisch ganz gleich gebaut, deswegen hat sich die Rede von der Serie der acht Seligpreisungen durchgesetzt: die geistlich Armen, die Leidtragenden, die Sanftmütigen, Menschen, die nach Gerechtigkeit hungern, die Barmherzigen, die Menschen reinen Herzens, die Friedensstifter, die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten.
Acht gilt im Christentum als eine besondere Zahl: Sieben Tage hat Gott für die Schöpfung benötigt, darunter den letzten Tag zum Ausruhen. Am achten Tag beginnt etwas Neues. Es beginnt die Fülle des Lebens auf dieser von Gott geschaffenen Welt. Es beginnt das Neue der Auferstehung, die das Seufzen der Kreaturen beendet. Deswegen sind berühmte Taufkirchen, darunter auch der karolingische (1) Teil des Aachener Doms, stets achteckig geplant worden. Denn der Tauftag ist der symbolische achte Tag, an dem mit der Taufe die Schöpfung neuen Glaubenslebens beginnt. Die acht Seligpreisungen zielen auf die Menschen, die nach dem Himmelreich, nach Gerechtigkeit und Frieden suchen. Ich bin überzeugt: Zu diesen Suchern gehören nicht nur die Getauften.
Moralische Verachtung
Man kann die Seligpreisungen leider auch im Sinne qualitativen Wachstums lesen, im Sinne eines moralischen Appells: Werdet barmherziger! Werdet friedlicher! Werdet sanftmütiger! Aber Barmherzigkeit, Frieden und Sanftmut vertragen keine Befehlssprache, auf gar keinen Fall die klerikale.
Deswegen gehören die Seligpreisungen zum Reformationstag. Der Glaube, der sich an den Seligpreisungen schult, muß unter allen Umständen verhindern, daß die klerikale Bürokratie Zugangskontrollen zum Reich Gottes errichtet (2). Denn über den Zugang zu Gottes Reich entscheidet allein Gott. Deswegen fällt jedes kirchliche Vorschriftengebäude, das den Zugang verwehren will, zuletzt wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Aus Vorschriften und Verordnungsblättern lassen sich keine klerikalen Absperrbänder drechseln und keine bigotten Stacheldrahtzäune errichten. Eine Kirche, die Mauern errichtet, hat von den Seligpreisungen, von Jesus von Nazareth und von Gottes Reich nichts verstanden. Dieser Jesus, der predigend auf dem Berggipfel stand, wollte den Menschen nicht Regeln einpeitschen. In den Seligpreisungen forderte er keinen Gesetzesgehorsam. Jesus sah Gott nicht als Obrigkeit, der Gehorsam zu leisten wäre.
Preisen
Man muß auf den Namen achten: Die Seligpreisungen wollen Menschen preisen. Sie heben sie auf Worten in den Himmel. Irgendwo in der Menschenmenge, auf dem Berg, wo Jesus redet, aber auch im Park in der Sommernacht, da verbergen sich unerkannt die Barmherzigen, die Friedensstifter, die Sanftmütigen. Jede Gemeinde und jede Gesellschaft braucht sie dringend als Gegengewicht zu all den glaubenden Mauerbauern, den kirchlichen Einzäunern, den frommen Türwächtern, Türhütern und Türstehern, zu den spirituellen Grenzpolizisten, den dogmatischen Besserwissern und vielen anderen, die den Gemeinden das Leben schwer machen.
Keine Frage: Der Jesus der Bergpredigt redet auch über das Gesetz, gerade über das Gesetz, das zum Glauben verhelfen soll. Aber diese Passagen gehören für ihn nicht an den Anfang. Am Anfang der Bergpredigt stehen Loben und Preisen. Preisen ist solch ein altmodisches Wort geworden, der Prediger traut sich kaum, es aufs Papier zu schrieben. Preisen übertrifft das banale und achtlose "Gefällt mir" der sozialen Netzwerke. Wer einen anderen Menschen preisen will, der muß ihn erst kennen lernen, der muß Ahnung haben von seinem Handeln, Denken und Fühlen. Noch viel mehr gilt das, wenn Jesus sagt: Gott preist die Menschen, die barmherzig sind. Gott preist die Menschen, die leiden. Gott preist die Menschen, die Frieden stiften.
Selig sind die Trauernden
Einen Tag nach dem Reformationstag beginnt der November. An seinem Ende steht der Ewigkeitssonntag, wenn die Trauernden Blumen und Kerzen auf die Gräber der Verstorbenen stellen. Der letzte Oktobertag erinnert an die Wärme des vergangenen Sommers und er weist voraus auf das traurige Totengedenken.
Ich kenne eine Pfarrerin, die liest die Seligpreisungen immer wieder bei Trauergottesdiensten vor. Als wir uns darüber unterhielten, sagte sie: "Mir helfen diese Zusagen in meiner Trauer. Ich finde mich darin wieder. Ich fühle mich durch diese Preisungen geborgen bei Gott. Und ich bin überzeugt, deswegen helfen diese Zusagen den Trauernden. Im Grunde helfen sie auch den Toten. So schlechte Menschen kann es gar nicht geben, daß sie nicht wenigsten ab und an in ihrem Leben Barmherzigkeit geübt oder ein wenig Frieden gestiftet hätten." Seitdem ich von der Pfarrerin gelernt habe, so auf die Seligpreisungen zu vertrauen, höre ich die Worte mit anderen Ohren, mit mehr Zuversicht und Vertrauen. Sie sind für mich zu einem Zeichen geworden. Gott läßt keinen Menschen allein. Das hat auch Martin Luther erkannt: Gott erweist seine Gnade ohne Vorbehalt. Und es genügt, wenn sich die Glaubenden auf diese Gnade verlassen.
Ohne Einreisegenehmigung
Selig sind die, die Gottes Gnade einfach und schlicht (ein zweites altmodisches Wort) im Herzen annehmen. Für das Reich Gottes benötigt niemand eine Aufenthaltserlaubnis, ein Visum, einen Reisepaß oder ein Gesundheitszeugnis. Selig seid ihr. Das Reich Gottes steht allen offen, die sich Gottes Gnade gefallen lassen.
Wer die Seligpreisungen ruhig und meditierend an- und nachhört, der erkennt mitten im Leben der Menschen Gottes Gnade, stets dann, wenn sich in Kleinigkeiten oder im Großen Barmherzigkeit, Gnade und Friede verwirklichen. Das ist nicht auf die wenigen Inseln frommen Glaubens beschränkt, ganz im Gegenteil. Die Seligpreisungen decken überall die kleinen Lichter im großen Schatten von Krankheit, Leiden und Unbarmherzigkeit auf. Ich bete zu Gott, daß solche Lichter auch in Syrien und im Irak brennen, bei den Menschen, die um ihres Glaubens (nicht nur des christlichen) willen verfolgt werden, bei den Menschen auf den Krankenstationen in Liberia, Sierra Leone und Guinea, die sich, gequält vom Ebolafieber, nicht mehr aufrichten können, bei den Menschen, die im Sterben liegen und das Bewußtsein schon halb oder ganz verloren haben.
Die Seligpreisungen leiten uns an, Leiden und Unbarmherzigkeit nicht zu vergessen. Aber machen sie uns genauso gewiß, daß am Ende Leid und Elend nicht triumphieren werden. Gott stiftet Menschen zu Barmherzigkeit, Frieden und Gerechtigkeit an, ohne moralischen Zeigefinger. Das macht die Schönheit, die Reinheit (das dritte altmodische Wort) der Seligpreisungen aus: Sie zeigen Trost und Schrecken gleichzeitig. Sie zeigen beides in ihrer ganzen Macht. Und sie zeigen, daß der Trost ein klein wenig größer ist als der Schrecken.
Amen. So soll es sein.
Wenn es doch so wäre! Keine noch so schön formulierte Seligpreisung wird die Zweifel, die sich im Angesicht von Epidemien, Terror und Bürgerkriegen melden, endgültig beseitigen. Und doch stiften die Seligpreisungen eine Wirklichkeit. Sie sprechen von bestimmten Menschen, den Barmherzigen, den Friedensstiftern, den Armen im Geiste. Liebe Schwestern und Brüder, der Trost verbirgt sich nicht allein in den Worten. Der Trost verbirgt sich darin, daß Ihnen diese barmherzigen, friedfertigen und geistlich armen Menschen täglich begegnen. Lassen Sie eine solche Gelegenheit nicht achtlos vorübergehen.
Segnen Sie ihn. Amen.
(1) Zu Karl dem Großen und der achteckigen Struktur des Aachener Doms vgl. die lesenswerte Biographie von Johannes Fried, Karl der Große, München 2013, besonders 419ff..
(2) Zum Verhältnis von Theologie und Kirchenleitung vgl. Wolfgang Vögele, Das Abendmahl der Aktenordner, Ta Katoptrizomena, Heft 90, 2014, http://www.theomag.de/90/wv12.htm.
Link zur Online-Bibel
Bilder gelingenden Lebens - Predigt zu Matthäus 5,1-10 von Søren Schwesig
Bilder gelingenden Lebens
Liebe Gemeinde,
der deutsche Protestantismus ist gegenwärtig gefragt in den Medien. Zweierlei Themen sind es, die Menschen gegenwärtig in unserem Land umtreiben und bei denen auch die Meinung der Kirche gefragt ist.
Zum einen die Diskussion um die Sterbehilfe. Wie sollen Christen in der Debatte um ein menschenwürdiges Lebensende entscheiden? Was sagt die Kirche? Die Mehrheit der Theologen spricht sich gegen einen ärztlich assistierten Suizid aus. Allerdings zeigt der Fall des EKD-Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider das Dilemma auf, in dem Menschen stecken können. Schneiders Frau ist an Krebs erkrankt. Deswegen beschloss er sein Amt als Ratsvorsitzender der EKD niederzulegen. In einem Interview sagte Schneider, er würde, falls seine Frau den assistierten Suizid wünsche, sie auf diesem Weg begleiten. „Aus Liebe“, auch wenn er damit gegen seine Überzeugung handeln würde.
Das andere Thema: Sollen Waffen an Kurden geliefert werden zur Abwehr der Terrororganisation „Islamischer Staat“? In der EKD ist man über diese Frage gespalten. Als Beispiel dienen zwei ehemalige EKD-Ratsvorsitzende. Margot Käßmann spricht sich als Pazifistin gegen Waffenlieferungen aus. Deutschland solle Frieden statt Waffen exportieren, erklärt sie in einem Interview. Wolfgang Huber dagegen fordert ein klares Bekenntnis zum Eingreifen im Nordirak. Die Menschen, die dort ihrer elementaren Rechte beraubt und auf grausame Weise umgebracht werden, müssen in ihrem Leben und ihren elementaren Rechten geschützt werden. So Huber.
Ja wirklich: Der deutsche Protestantismus ist gegenwärtig gefragt.
Aber nicht wegen dieser Themen sind wir heute hier. Heute ist Reformationstag. Heute erinnern wir uns an die alte Geschichte von Martin Luther, der sich im Kloster Tag und Nacht fragt: „Was muss ich tun, um selig zu werden? Was muss ich tun, um es Gott recht zu machen?“ Luther versucht alles, was ein frommer Mensch nach den damaligen Maßstäben tun kann: Er fastet, beichtet, kasteit sich, gibt sein Bestes. Aber das, was er sucht, einen gnädigen Gott, findet er nicht.
Bis er den Römerbrief liest – vor allem diesen Satz: „Die Gerechtigkeit von Gott kommt allein aus dem Glauben...“ Luther hört die Worte, sieht sie vor sich und weiß: Das ist es. Darum geht es. Sich Gnade zusagen lassen. Sich von Gott sagen lassen: „Du bist mir recht, bist mir lieb.“ Sich gerecht fühlen. Allein aus Glauben. Das ist es!
Heute hören wir ähnliche Worte wie dieses „Du bist mir recht.“ Ich lese aus der Bergpredigt Jesu die Seligpreisungen, Verse aus Mt 5:
1 Als er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm. 2 Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach: 3 Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich. 4 Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. 5 Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. 6 Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. 7 Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. 8 Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. 9 Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen. 10 Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.
Jesus malt uns in diesen Seligpreisungen großartige Bilder von gelingendem Leben vor Augen. Bilder von einem anderen, besseren, glücklichen Leben. Einem Leben, wie Gott es will und wie es Jesus in der Bergpredigt und in seinen Gleichnissen beschreibt.
Aber entspricht unser Leben dem, was wir in den Seligpreisungen hören? Doch eher nicht. Unser Leben war nie so voller Sanftmut und Barmherzigkeit. Unser Leben war nie so angefüllt mit brennender Sehnsucht nach Gerechtigkeit, nie so voller Hingabe für den Frieden.
So schön die Bilder der Seligpreisungen auch sind – sie bleiben Bilder. Bilder, denen wir nicht entsprechen und denen auch die Menschen vor uns nicht entsprochen haben. Dennoch sehnen wir uns nach einem gelingendem Leben.
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Woher kommt diese Sehnsucht? Vielleicht daher, dass wir spüren, dass unsere Welt nicht so ist, wie Gott sie will. Eine Welt, in der es oft hart und erbarmungslos zugeht. Eine Welt, in der die einen zurechtkommen, andere aber auf der Strecke bleiben. Eine oft menschenfeindliche Welt, die einer mal so umschrieben hat: Verraten sind die Armen, denn sie haben nichts einzubringen. Verraten sind die Leidtragenden, denn sie sind ausgeschlossen aus der Gesellschaft. Verraten sind die Sanftmütigen, denn sie werden an die Wand gedrückt. Verraten sind, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn Macht geht vor Recht und Geld regiert die Welt. Verraten sind die Barmherzigen, denn Undank ist der Welt Lohn. Verraten sind die, die reinen Herzens sind, denn sie werden übers Ohr gehauen. Verraten sind die Friedfertigen, denn sie werden zwischen die Fronten geraten. Verraten sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn am Ende ist alles umsonst.
Harte Worte. Aber sie geben wieder, was unzähligen Menschen täglich auf dieser Welt widerfährt.
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Aber inmitten dieser oft menschenfeindlichen Welt beschreibt Jesus in seinen Seligpreisungen, was für ihn gelingendes Leben ist. Gelingendes Leben ist für Jesus, wenn wir angesichts dieser Welt nicht resigniert sagen: `Das war schon immer so, da kann man nichts machen!´- sondern wenn wir dieser Welt entgegentreten und dabei nicht auf unsere eigene Kraft vertrauen, sondern alles von Gott erwarten. Das ist für Jesus gelingendes Leben. Und er malt uns für dieses gelingende Leben Vorbilder vor Augen. Aber was für Vorbilder! Es sind sämtlich Menschen, die nach den Maßstäben dieser Welt alles andere als Siegertypen sind.
Da sind die Armen. Armut ist eine Geißel der Menschheit und zugleich ihr ständiger Begleiter. Zwar nimmt die Zahl der Armen weltweit ab, aber man ist weit weg vom sogenannten Milleniumsziel der Vereinten Nationen, die bis zum Jahr 2015 die Zahl der Armen halbieren wollte. Armut gibt es auch bei uns in Deutschland. Die Diakonie gibt die Zahl der Straßenkinder in der Region Stuttgart mit 700 an. Kinder und Jugendliche, die aufgrund von Schlägen, Missbrauch, Kinderheim oder anderer Hintergründe auf der Straße gelandet sind. Arme tauchen bei uns in der Kirche kaum auf, höchstens in der Vesperkirche. Jesus richtet seinen Blick auf sie und sagt: Das Himmelreich ist ihrer. Es kommt eine Zeit, da wird es ihnen an nichts fehlen.
Dann die, die Leid tragen. Übergroß ist das Leid, das uns in den Ereignissen dieses Jahres begegnen. Wir starren wie paralysiert auf die Ereignisse im Irak und in Syrien. Fassungslos nehmen wir die Kämpfe in der Ukraine wahr und erleben, wie gefährlich rasch die Beziehungen zwischen Europa und Russland drohen sich in Richtung einer neuen Eiszeit zu bewegen. Und dann die Ebola-Katastrophe in Westafrika. „Es ist, als ob die Welt aus den Fugen gerät“, hat unser Außenminister angesichts dieser Ereignisse gesagt.
Im Leid verlieren Menschen vieles, manchmal alles, manche sogar sich selbst. Jesus sagt: Ihr sollt getröstet werden. Es wird eine Zeit kommen, da euer Lebensmut zurückkehren wird.
Die Sanftmütigen. Sanftmütig wird oft mit Schwäche verwechselt. Aber sanftmütige Menschen sind kostbar. Sie öffnen uns mit ihrem Tun unseren Horizont. Sie öffnen mit ihrem Tun für uns ein Fenster, durch das wir schauen und erahnen können, wie das Leben auch sein könnte. Unsere Welt braucht die, die darauf verzichten, ihre Ellbogen zu benutzen. Die sich weigern, anderen zu schaden. Jesus sagt: Ihr werdet das Erdreich besitzen. Ihr werdet die Welt bebauen und bewahren.
Dann die, die hungern nach Gerechtigkeit. Der Hunger nach Gerechtigkeit ist wesentlicher Bestandteil unseres Glaubens. Dass ein Christ für das Recht, Leben und Würde des Anderen eintritt, ist nicht sein persönliches Hobby. Der Hunger nach Gerechtigkeit ist Kernstück unseres Glaubens. Mit unseren Gaben für Brot für die Welt und andere Hilfsorganisationen versuchen wir diesen Hunger zu stillen. Manchmal aber verlieren wir den Kampf um Gerechtigkeit wieder aus den Augen. Möge es uns gelingen, dass wir den Hunger nach Gerechtigkeit in uns wachhalten. Jesus sagt: Wer so hungert, wird satt werden.
Die Barmherzigen. Scheinbar ist uns der Begriff `unbarmherzig´ viel geläufiger ist als das Wort ´barmherzig´, weil Unbarmherziges in unserer Welt so oft vorkommt. In der Bibel aber spielt `Barmherzigkeit´ eine bedeutende Rolle. Das Alte Testament nennt vor allem Gott selbst barmherzig, weil er seinem Volk hilft und vergibt, ohne daran Bedingungen zu knüpfen. Tun wir es ihm nach. Wenden wir uns dem Mitmenschen zu. Wenn wir in die Gesichter der Menschen schauen, werden wir das Ebenbild Gottes erkennen. Jesus sagt: Wer solches tut, wird Barmherzigkeit erlangen.
Die reinen Herzens sind. Das Herz ist das Innerste eines Menschen. Vielleicht ist das reine Herz die größte aller Sehnsüchte. Vielleicht beten Menschen deshalb bis heute: "Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz." Wer ein reines Herz hat, sieht die Welt und die Menschen anders. Wer ein reines Herz hat, sieht die Welt und die Menschen als von Gott geschenkt. Wer so sehen kann, kann dann auch seine Verantwortung erkennen. Jesus sagt: Die reinen Herzens sind werden Gott schauen. Dann wird alles licht sein und gut.
Die Friedensstifter. Menschen, die Frieden im Alltag schaffen, so dass Menschen wieder miteinander reden und leben und einander in die Augen schauen können. Das geschieht manchmal unspektakulär im Alltag oder auch durch einen Schritt, der Völker und Kulturen und Religionen einander näher bringt und das Kriegsbeil begräbt. Jesus adelt sie und sagt: Sie werden Gottes Töchter und Söhne heißen.
Zuletzt die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten. Menschen, die oft vergessen sind. Die für ihre Überzeugungen in Verließen und Gefängnissen sitzen. Jesus sagt: Die Verfolgten, aber auch die, die sich für sie einsetzen - ihnen gehört das Himmelreich.
Nach den Maßstäben dieser Welt alles keine Siegertypen. Aber für Jesus sind sie Vorbilder gelingendes Leben: Weil sie vor der Welt nicht resignieren, sondern ihr entgegentreten und dabei nicht auf ihre eigene Kraft vertrauen, sondern alles von Gott erwarten.
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Jesus verkündet sein gelingendes Leben im Horizont des Reiches Gottes. In der Erwartung, dass diese Welt nicht Gottes letzte Wort ist, sondern dass er ihr ein Ende setzen und sein Reich aufrichten wird. Ein Reich, in dem Menschen einander kein Leid mehr zufügen, weil sie sich von Gottes Geboten leiten lassen. Ein Reich, in der man keinen Hass mehr kennt und das Unrecht keinen Platz mehr hat. Ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit, der Barmherzigkeit und der Liebe.
Zwar sind die Seligpreisungen gesprochen im Horizont des kommenden Reiches Gottes, sie sind aber keine Vertröstungen auf eine kommende Welt – im Sinne von: „Haltet aus, dann wird es euch besser gehen und ihr belohnt werden!“ Vielmehr reden sie davon, dass Gottes Kraft oft genug ausgerechnet in den Schwachen mächtig ist. Diese Schwachen preist Jesus glücklich. Denn Gottes Kraft soll sie zu einem eigentlich paradoxen Verhalten befähigen: Sie sollen in aller Schwachheit den Aufstand wagen. Sie, die Armen, die Barmherzigen, die Friedfertigen – sie sollen den Aufstand wagen gegen eine gott- und menschenfeindliche Welt.
Dieser Aufstand beginnt oft ganz im Kleinen, im Gebet oder im mutigen Bekennen der eigenen Überzeugung. Auch Luther wusste im Jahre 1517 nicht, welchen Orkan seine 95 Thesen auslösen würden. Aber als später die mächtige Papstkirche ihn, den kleinen Mönch aus Wittenberg, bedrohte, erwartete er alles von Gott - bis hin zu seinem berühmten Satz vor Kaiser und Reich: „Hier stehe ich und kann nicht anders. Gott helfe mir.“
In dieser Nachfolge feiern wir heute den Reformationstag. Wir wollen ihn feiern als solche, die wir angesichts mancher Realitäten in dieser nicht Welt resignieren, sondern die sich diesen Realitäten entgegenstellen und dabei nicht auf ihre eigene Kraft vertrauen, sondern alles von Gott erwarten. Von ihm, der in den Schwachen mächtig ist. Von ihm, der sagt: „Ihr Armen, die Barmherzigen, die Friedfertigen – selig seid ihr!“
Amen.
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Predigt zum Thema: "Was macht Macht?"
Was macht Macht? Stellen Sie sich doch mal vor, wie es wäre, wenn Sie Macht hätten. Ich meine, nicht nur so ein bisschen Macht. Sondern richtig viel Macht. So dass es in Ihrer Macht läge, die Dinge wirklich zu verändern. Also dafür zu sorgen, dass …zB: in Israel und Palästina dauerhaft Frieden ist. Zum ersten Mal. Im Heiligen Land.
Wäre das nicht reizvoll? Und nehmen wir mal an, Sie würden eine solche Macht angeboten bekommen? Müssten Sie das nicht geradezu annehmen?
Das Matthäus-Evangelium erzählt eine Begebenheit, da hat Jesus ein solches Angebot bekommen. Hören Sie:
Lesung Matthäus 4, 1-11
Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde. Und da er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn. Und der Versucher trat zu ihm und sprach:
Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden.
Er aber antwortete und sprach:
Es steht geschrieben: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“
Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm:
Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab; denn es steht geschrieben: „Er wird seinen Engeln deinetwegen Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.“
Da sprach Jesus zu ihm:
Wiederum steht auch geschrieben: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.“
Darauf führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.
Da sprach Jesus zu ihm:
Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben: „Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.“
Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel zu ihm und dienten ihm.
Pastorin Anne Gidion:
Das waren doch verlockende Angebote, die Jesus da bekommt! Steine zu Brot – nie wieder Hunger. Stürzen ohne Schmerz – totale Unverwundbarkeit. Richtig König sein. Wirklich bestimmen können.
Aber Jesus reizt das nicht. Dreimal lehnt er ab. Dreimal entscheidet er sich gegen die Macht. – Was macht denn Macht?
Antonia Baitz ist heute unser Gast in diesem Gottesdienst. Sie ist weiblicher Sanitätsoffizier - so heißt das wirklich, es heißt nicht Sanitätsoffizierin, sondern weiblicher Sanitätsoffizier – bei der Bundeswehr.
Frau Dr. Baitz tritt vor.
Pastorin Anne Gidion: Frau Dr. Baitz, sie haben sich als junge Frau entschieden, in einem typischen Männer-Macht-Bereich zu arbeiten. Zurzeit sind Sie die einzige Frau im Generalstabslehrgang an der Führungsakademie der Bundeswehr. Was reizt Sie eigentlich genau daran? Macht auch – oder?
Antonia Baitz:
Mich hat immer die Kombination gereizt zwischen Offizier und Zahnarzt. Offiziere haben Verantwortung für die Führung, die Ausbildung und den Einsatz von Soldaten. Als Sanitätsoffizier Zahnarzt bin ich verantwortlich für die Gesunderhaltung und Einsatzfähigkeit unserer Soldaten und Soldatinnen.
Dies ist für mich Ehre und Belastung zugleich. Ja klar habe ich als Sanitätsoffizier in meinem Bereich eine gewisse Macht. Aber ich bin mir durchaus bewusst, dass damit eine große Verantwortung einhergeht. Je größer die Macht umso nachhaltiger sind die Folgen, die man zu verantworten hat. Mich stört manchmal, wenn der Begriff Macht ausschließlich negativ gebraucht wird. Wir alle haben ja in gewisser Weise Macht. Ein Lehrer hat Macht. Eltern haben eine gewisse Macht. Für mich kommt es darauf an, sich der Macht bewusst zu sein und verantwortlich damit umzugehen.
Pastorin Anne Gidion:
Ein Führungsoffizier bei der Bundeswehr ist ja schon etwas anderes als eine Lehrerin in Hamburg oder ein Zahnarzt hier in Blankenese. Beim Militär gibt es eine klare Hierarchie, Befehl und Gehorsam. In der Ausbildung arbeiten Sie nicht nur mit Zahnseide, sondern auch mit Waffen.
Klar, Sie sind Sanitätsoffizier. Aber trotzdem können Sie auch mit Waffen umgehen, wenn es wirklich darauf ankommt.
Ist Macht nicht doch gefährlich?
Antonia Baitz:
Mir ist wichtig, dass man sich immer wieder bewusst ist, warum man etwas tut. Also wenn jemand eine militärische Machtposition um der Macht willen anstreben würde, wäre er hier falsch am Platze. Alleine mit Macht wird alles Mögliche auf der Welt geführt: Schurkenstaaten, Arbeitslager, Diktaturen.
Ich finde, dass Macht durchaus ihre Gefährdungen hat. Und die muss man kennen. Und man muss damit umgehen, muss sie reiten wie ein Pferd beim Rodeo. Auch ein guter, erfahrener Reiter hat sein Pferd nicht immer zu hundert Prozent unter Kontrolle, aber er muss es versuchen, so gut es geht. Und dabei hilft eben, dass man sich der Verantwortung bewusst ist und immer weiß, dass man es mit Menschen zu tun hat. Ein pensionierter Offizier hat mir einmal gesagt: man führt die Soldaten zunächst mit Liebe und Humor. Auch wenn das mit Blick aufs Militär vielleicht zunächst komisch klingt – aber das ist hier wie überall für eine gute Führungskompetenz unabdingbar.
Pastorin Anne Gidion:
Was macht Macht? In der Geschichte von der Versuchung bietet der Teufel am Ende Jesus die totale Macht an. Er zeigt ihm alle Reiche dieser Erde und verspricht ihm die Herrschaft über das alles. Bei den ersten beiden Versuchungen zitiert der Teufel die Thora und die Psalmen – „Steine werden Brot“ – „die Engel werden dich auf Händen tragen“. Und Jesus kontert – Schrift gegen Schrift, wie ein Streit zwischen Rabbinern.
Beim dritten Überzeugungsversuch lässt der Teufel die Maske fallen. Er zeigt, wer er ist. „Das alles will ich dir geben, wenn du in die Knie gehst und mich anbetest.“ Sagt er.
Die totale Macht gibt es eben nur im Pakt mit dem Teufel.
Frau Baitz, eine Frage: gäbe es für Sie einen Punkt, wo Sie „Nein“ sagen würden? Also eine Versuchung, der Sie nicht erliegen möchten, selbst wenn es für Sie persönlich große Vorteile bringen würde?
Antonia Baitz:
Ich bin Sanitätsoffizier und Zahnarzt. Und da behandle ich sowohl einfache Soldaten als auch Vorgesetzte. Irgendwann mal hat mir jemand im Scherz gesagt, wenn da so jemand auf meinem Behandlungsstuhl sitzt, der Dir mal Unrecht getan hat – dann kannst Du Dich ja rächen.
Also, im Ernst: ich möchte niemals meine Stellung für mich selbst oder für etwas ausnutzen, was ich nicht gutheißen kann. Und zu der Versuchungsgeschichte von Jesus fällt mir ein, dass es zu einem verantwortlichen Umgang mit der Macht gehört, dass man auch um seine Grenzen weiß. Wenn jemand viel Macht hat, könnte ja ein Problem sein, dass man anfängt zu denken: jetzt kann mir keiner mehr etwas. Oder dass man anfängt, sich selbst zu überschätzen und zu denken, man könne und dürfe nun alles. Vielleicht kann man den Hinweis von Jesus ja so verstehen, wenn er sagt: man soll Gott allein anbeten. Also, dass wir menschlich bleiben müssen und unsere Grenzen kennen müssen.
Pastorin Anne Gidion:
Christenmenschen müssen wohl immer macht-skeptisch sein. Egal wo. „Denn Dein ist das Reich und die Macht und die Herrlichkeit „ – nicht umsonst beten wir das im Vaterunser. Wir geben Gott die Macht.
Aber ganz ohne Macht geht es auch nicht, oder? Nur begrenzen müssen wir sie. Balance of Power – Macht balanciert durch Gegenmacht. Also kontrollierte Macht. Wichtig ist für Christen: Macht ist auf der Welt nur geliehen. Wir bekommen sie nicht für uns. Nicht um sie zu haben. Sondern zum Schutz für die, die keine Macht haben. Die sonst untergehen. Macht ist genau das Gegenteil vom blanken Recht des Stärkeren. Sie muss helfen, das Zusammenleben zu fördern.
Noch ein Gedanke: Wenn ich den Fernseher anstelle, flackern in diesen Wochen ständig die Bilder von Krieg und Kampf auf – in Gaza, in der Ostukraine, im Irak. Ich sehe Männer mit Waffen, Männer in Panzern, Männer in Flugzeugen. Frauen werden gezeigt, wenn sie ihre toten Söhne beweinen und ihre Säuglinge schützen. Eine letzte Frage, Frau Baitz: Gehen Frauen mit der Macht vielleicht anders um als Männer?
Antonia Baitz:
Ich glaube nicht, dass der Umgang mit Macht geschlechtsspezifisch ist. Versuchung unterscheidet nicht zwischen Geschlecht oder Herkunft oder Nationalität. Dennoch agieren und reagieren Frauen und Männer manchmal unterschiedlich, die Machtmotive sind nicht immer die gleichen.
Pastorin Anne Gidion:
Der Begriff Macht bleibt schillernd. Macht kann dazu dienen, Schwächere zu schützen. Sie kann aber auch schlimm missbraucht werden. Jesus war im Umgang mit den Mächten und Gewalten ziemlich klar. Er wird König genannt und reitet auf einem Esel.
Der Teufel bietet ihm alle Macht der Welt und er will sie nicht. Seine Macht ist eine andere Voll-Macht. Sie kommt aus seinem Vertrauen in Gott. Und weil er den Leuten nah ist. Fischer verlassen ihre Boote, Kranke schöpfen in seiner Nähe Hoffnung, Frauen und Kinder fühlen sich ernst genommen. Aber die Ordnungsmächte seiner Zeit lassen seine Art Macht nicht zu. Der Gottessohn muss sterben. Die Herrschafts-Macht darf nicht in Frage gestellt werden. So kommt Jesus ans Kreuz statt auf den Thron. Weithin kann man ihn sehen – im Tod, statt im Prunk. Er wollte seine Macht nicht sichern.
Und dann? Aber das Grab wird leer und der Gottes Sohn lebt.
Er sagt seinen Leuten: Wenn ihr zusammen esst, wie wir gegessen haben, Brot und Wein, und wie Geschwister zusammen lebt – dann bin ich da. In meiner Weise. Mit all meiner Macht. Mit all meiner Liebe.
Amen.
Ein Lied, das nach Kampf klingt. Ein Lied, in dem Gott allein die Macht zugesprochen wird. Ein Lied des Glaubens. Wir singen: Ein feste Burg ist unser Gott.
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"Ich kann nicht anders" - ZDF-Predigt zu Matthäus 14,13-21
Bibeltext: Die Speisung der Fünftausend (Matthäus 14, 13-21)
Als das Jesus hörte, fuhr er von dort weg in einem Boot in eine einsame Gegend allein. Und als das Volk das hörte, folgte es ihm zu Fuß aus den Städten. Und Jesus stieg aus und sah die große Menge; und sie jammerten ihn und er heilte ihre Kranken.
Am Abend aber traten seine Jünger zu ihm und sprachen: Die Gegend ist öde und die Nacht bricht herein; lass das Volk gehen, damit sie in die Dörfer gehen und sich zu essen kaufen. Aber Jesus sprach zu ihnen: Es ist nicht nötig, dass sie fortgehen; gebt ihr ihnen zu essen. Sie sprachen zu ihm: Wir haben hier nichts als fünf Brote und zwei Fische. Und er sprach: Bringt sie mir her! Und er ließ das Volk sich auf das Gras lagern und nahm die fünf Brote und die zwei Fische, sah auf zum Himmel, dankte und brach's und gab die Brote den Jüngern, und die Jünger gaben sie dem Volk. Und sie aßen alle und wurden satt und sammelten auf, was an Brocken übrig blieb, zwölf Körbe voll. Die aber gegessen hatten, waren etwa fünftausend Mann, ohne Frauen und Kinder.
Liebe Gemeinde,
wann gab es in Ihrem Leben so eine Situation, in der Sie dachten: Diesen Schritt muss ich gehen! Ich muss jetzt was sagen! Hier darf ich doch nicht wegsehen! Ich bin überzeugt, solche Momente gibt es in jedem Leben. Da wird jemand angepöbelt und ich kann mich doch nicht raushalten. Du liest über die Rüstungsexporte und denkst: Doch, zu der Demonstration gehe ich hin. Das Kind nebenan schreit wieder so erbärmlich - dieses Mal klingelst du und fragst, ob du die Mutter vielleicht entlasten kannst. Oder: Nein, das Schnäppchen werde ich nicht machen, ich weiß doch, wo und wie sowas produziert wird. Ich kann anders! Hier spricht mein Gewissen!
Es tut gut, für uns selbst, solche Schritte zu gehen, ja Mut tut gut. Aber er kostet auch Kraft. Du musst die Hemmschwelle überwinden, um dich einzumischen, für andere da zu sein. Etwas sagen, Zuhören, Zeit finden, das ist nicht immer leicht. Und im Alltag, da gibt es doch eher die entmutigenden Stimmen: Was kann ich schon tun? Was soll das denn bringen fürs große Ganze? Da lässt sich halt nichts machen!
Das ist genau das Problem der Jünger in der Erzählung, die wir gehört haben. Sie sehen all die Menschen, die hoffen, Jesus kann ihnen helfen, ihre Krankheiten heilen, ihrem Leben Sinn geben. Da steht er nun und "sie jammerten ihn". Er kann nicht anders. Jesus könnte sagen: Verscheucht die Leute, ich brauche Ruhe. Aber er empfindet Empathie, Mitgefühl. Sie erwarten so viel von ihm, da will er die Menschen nicht enttäuschen. Als der Abend kommt, beginnen die Jünger sich Sorgen zu machen. Die Leute müssen doch etwas essen! Kein Supermarkt weit und breit. Wie soll das werden?
Deshalb wollen sie alle wegschicken. Jesus aber fühlt sich verantwortlich. Die Menschen sind so weit gelaufen, der Tag war lang. Er kann nicht anders und sagt: Gebt ihr ihnen etwas. Die Jünger sind skeptisch, was haben sie schon, fünf Brote und zwei Fische. Das reicht niemals, das ist nicht genug! Sie sind befangen, weil sie nur den Mangel sehen; das kann doch nicht reichen!
Jesus aber wird zum Gastgeber. Er nimmt die fünf Brote und zwei Fische, dankt und gibt sie den Jüngern, damit sie verteilen. Wer sich jetzt an das Abendmahl erinnert fühlt, liegt richtig. Genau das will der Evangelist Matthäus doch andeuten: Jesus lädt ein. Menschen sollen satt werden ganz real, aber auch im Glauben, in der Liebe und in der Hoffnung.
Ja, manchmal haben auch wir nicht den Mut. Da hab ich Angst, vor den Typen in der U-Bahn oder angeschnauzt zu werden von den Eltern des Kindes, was mich das denn wohl anginge. Oder wir denken: nein, heute nicht! Es war genug bei der Arbeit, ich hab keine Kraft, mich einzumischen. Oder: Wenn ich es nicht kaufe, dann kaufen es andere, was soll´s? Es ist doch geradezu tröstlich, dass sich auch die Jünger, die Jesus so nahe waren, oft so verzagt zeigen.
Das hilft uns heute, wenn wir nicht so heroisch sind, wie wir gerne wären. Auch unser Scheitern, unsere Ängstlichkeit können wir vor Gott bringen. Ja, wir können sogar Schuld bekennen und auf Vergebung hoffen. Das gilt für diejenigen, die 1914 den Krieg befürwortet haben, die 1939 der Nazi-Ideologie auf den Leim gingen, die 1989 nicht auf den Straßen von Leipzig, Dresden und Ostberlin demonstrierten. Das christliche Menschenbild weiß um die Schwäche von Menschen. Aber es traut Menschen zu, sich zu ändern, zu lernen, Neuanfänge zu wagen. Das ermutigt, finde ich.
Und die Erfahrung ist doch: Teilen verändert alle! Wie wird dieses Gefühl gewesen sein: Es reicht. Tatsächlich! Wow!
Gemeinsam sind wir stark oder mit einem Liedvers von Xavier Naidoo: Was wir alleine nicht schafften, das schaffen wir dann zusammen. Das muss doch wohl die Erfahrung gewesen sein, als auf einmal alle satt wurden.
Was war das nun damals am See Genezareth? Ein Wunder? Haben sich fünf Brote und zwei Fische vervielfältigt, einfach so? Oder war es vielleicht auch das Erleben, dass der eine noch ein Brot für den Notfall in der Tasche findet, die andere einen Fisch eingepackt hat und in dieser wunderbaren Stimmung der Egoismus wegbrach und ein Gemeinschaftsgefühl entstand, das alle getragen hat?
Wunderbar, solche Momente. Sie sind selten im Leben, aber sehr kostbar. Ich habe das einmal erlebt 1983 als Jugendliche aus aller Welt am Gedenktag für die Opfer des Atombombenabwurfs auf Hiroshima am Pazifikufer standen und für den Frieden gebetet haben. Andere haben das erlebt, als sie 1989 auf die Straßen gingen in der DDR. Menschen haben das erlebt auf dem Tahirplatz in Kairo und auf dem Maidan in Kiew.
Solche Hoffnung wird immer wieder enttäuscht, das wissen wir in diesen Tagen, wenn wir Richtung Ukraine blicken. Was können wir schon tun? Wie soll Frieden werden? Die Geschichte von der Speisung der 5000 macht uns erst mal Mut. Wir können etwas tun – und wenn es auch nur ein paar Brote und wenige Fische sind, die wir haben. Wir legen sie in die Hände Jesu – und siehe da, es entsteht Gemeinschaft und am Ende ist es mehr als wir gedacht hätten. Das ist nicht Ablenkung durchs Jenseits, sondern Ermutigung fürs Diesseits! Das ist gerade nicht Opium des Volkes mit dem sich Menschen betäuben, die Angst vor den Realitäten des Lebens und noch mehr Angst vorm Sterben haben.
Nein, das ist eine radikale Hoffnung, die es wagt, gegen die Gegebenheiten der Welt anzudenken auch über Enttäuschungen hinweg. Das ist der Mut, sich nicht mit "Was kann ich schon ändern" zufrieden zu geben. Das ist die Kraft zu sagen: "Und wenn es nur ein kleiner Schritt ist, ich werde ihn gehen."
Für diesen Mut steht auch Martin Luther, vor dessen Denkmal wir heute in Wittenberg Gottesdienst feiern. Es heißt, dass er 1521 auf dem Reichstag zu Worms gesagt hat: "Ich stehe hier, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen." Das ist verkürzt, aber dieser Satz wurde schon kolportiert, als er von Worms auf dem Weg zur Wartburg war, vogelfrei nun, und Schutz fand unter den Fittichen von Friedrich dem Weisen. Kaiser Karl V. hatte ihn ja gefragt, ob er seine Schriften "Von der Freiheit eines Christenmenschen" und "An den christlichen Adel deutscher Nation" widerrufen wolle.
Wörtlich hat er geantwortet: "… wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde - denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, daß sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben -, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!"
Solche Haltung ist auch heute möglich: Ich kann nicht anders! Wir haben die Beispiele gehört von den "rollenden Zahnärzten", Herrn und Frau Mannherz. Sie waren es leid, dass vielen schon an den Zähnen anzusehen ist, wie sehr sie sozial am Rande stehen. Von Frau Eckart, die erlebt, wie auf dem Land keine Angebote mehr für Kinder und Jugendliche zu finden sind, und jede Woche an einem Nachmittag die Kinder des Dorfes einfach einlädt. Oder denken wir an Herrn Steffen, der maßgeblich beteiligt war an einem Musikprojekt hier in dieser Region Wittenberg. Das alles sind Schritte, die zeigen: Menschen wie du und ich können etwas tun, um die Welt zu verändern.
Solches "Nicht-Anders-Können" kostet Kraft und Glaubensmut. 100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges denke ich an diejenigen, die dem Kriegstaumel widerstanden haben. Die zum Frieden riefen, als die Mehrheit den Krieg schön redete. 75 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges denke ich an diejenigen, die nicht eingestimmt haben in die Ideologie des Nationalsozialismus, sondern eingetreten sind für Juden, Homosexuelle, Kommunisten, Roma. 25 Jahre nach der Friedlichen Revolution denke ich an diejenigen, die in der DDR für freie Rede eingetreten sind, Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung auf die Tagesordnung gesetzt haben.
Um diese Haltung geht es. In Fragen von Glauben und Gewissen ist jeder Mensch frei! Sie wurde für Protestanten immer wieder zum Vorbild, wenn sie Widerstand wagten, wann immer sie sich in der Spannung sahen zwischen dem Gebot, der Obrigkeit untertan zu sein, das der Apostel Paulus vorgibt, und dem Satz aus der Apostelgeschichte: "Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen".
Am Ende waren es diejenigen, die den Widerstand wagten, die für unsere Kirche zu Vorbildern wurden. Diejenigen, die sich angepasst haben, das Leid ignorierten, die Opfer missachteten - sie zählen zur Schuldgeschichte unserer Glaubenstradition. Wir können beides hineinnehmen in unsere Geschichte und aus ihr lernen. Und wir können darum beten, dass wir den Mut und die Kraft haben, immer wieder, im Kleinen wie im Großen zu sagen: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Amen.