Predigt zu Jeremia 31,15-17 von Hans Joachim Schliep

Predigt zu Jeremia 31,15-17 von Hans Joachim Schliep
31,15-17

[15] So spricht Jhwh:
»Horch! Ein Wehklagen in Rama:
   Bitterliches Weinen!
Rachel weint um ihre Kinder,
   weigert sich, sich trösten zu lassen
   wegen  ihrer Kinder - ach, keines ist mehr.« 
[16] So spricht Jhwh:
»Versage deiner Stimme das Weinen,
   verwehre deinen Augen die Tränen,
denn es wird dir Lohn für deine Arbeit,
   Spruch Jhwhs:
deine Kinder kehren zurück aus Feindesland.
[17] Da ist Hoffnung für deine Zukunft, 
   Spruch Jhwhs:
die Kinder kehren zurück in ihre Heimat.«

[Eigene Übertragung; siehe Anm. unten.]

Liebe Gemeinde!

»Immer / dort wo Kinder sterben / werden Stein und Stern / und so viele Träume / heimatlos«. Mit diesen Worten erinnert Nelly Sachs in ihrem Gedicht ›Fahrt ins Staublose‹ an die Kinder, die der organisierten Inhumanität Nazi-Deutschlands zum Opfer gefallen sind. Sie gelten - Gott sei’s geklagt - heute noch, wenn Kinder vernachlässigt, verprügelt, vergewaltigt werden, verheizt als Kindersoldaten, verbraucht als billige Arbeitskräfte in Steinbrüchen, Bergwerken, Fabriken. Und wieviele Kinder ertrinken im Mittelmeer, ›mare nostrum‹, Europas derzeit größtem Massengrab?!

In welcher Todesgefahr Jesus, das Kind von Maria und Josef, von Anfang an war, davon haben wir heute gehört in der biblischen Geschichte vom ›Kindermord zu Bethlehem‹ (Mt 2,13-18). In der wird an Rachels Weinen und Wehklagen in Rama erinnert. Mag die Geschichte historisch zweifelhaft sein, unzweifelhaft spricht aus ihr die schockierende Wahrheit: Durch Menschenschuld sterben Kinder, bevor sie wirklich leben können. Wo Kinder fehlen, fehlt das Erleben von Anfänglichkeit. Ohne Anfänglichkeit aber gibt es keine Freiheit. Denn frei ist, wer etwas anfangen kann. Mit der Preisgabe von Kindern verachtet die Menschheit ihre Gegenwart, bevor sie sich ihre Zukunft verbaut.

Davor bewahre uns der Himmel!

Dem Himmel sei Dank, es gibt den ›Tag der unschuldigen Kinder‹!

   Seit dem 6. Jahrhundert begeht ihn die Christenheit - wenige Tage nach dem Fest der erbärmlichen Geburt Jesu im ärmlichen Stall. Von Region zu Region und je nach christlicher Tradition unterschiedlich. Im Bayerischen soll es den ›Fetzertag‹ geben, an dem Kinder Späße machen wie zum 1. April. Die am 28. Dezember übliche Wahl eines ›Kinderbischofs‹ wurde im Mittelalter auf den ›Nikolaustag‹ vorverlegt. Im Grunde geht es, vom Kind in der Krippe angestoßen, um Kinder als die verletzlichsten, schutzbedürftigsten Menschenwesen: »Stein und Stern und Träume» sollen wieder eine Heimat haben. Statt dorthin verbannt, sollen sie herausgeholt werden aus dem Exil, aus dem Feindesland, aus der unerreichbaren Ferne. Im lauten Wehklagen und bitteren Weinen wird diese Ferne erreicht, näher herangeholt: »Horch! Ein Wehklagen in Rama: Bitterliches Weinen! Rachel weint um ihre Kinder, weigert sich, sich trösten zu lassen wegen  ihrer Kinder - ach, keines ist mehr.«

▷ Orgel: Melodie EG 50

   Wer ist diese Rachel, diese „Stimme“ in Rama? Nach 1. Mose 29 bis 35 eine der biblischen Erzmütter: Eine hübsche Hirtin, ihr Name: „Mutterschaf“. Jakobs erste Liebe und zweite Frau. Trotz ihrer Eifersucht hilft sie ihrer älteren Schwester, damit Jakob erst morgens merkt, statt mit ihr hat er mit Lea die Hochzeitsnacht verbracht. Doch den jahrelangen Gebärwettstreit mit Lea verliert sie. Rachel: schön, begehrenswert, aber lange Zeit kinderlos. Eine Gotteskämpferin wie Jakob: ständig geht sie Gott um Kindersegen an, doch sie muss sich zunächst mit dem einen Sohn Josef begnügen. Wenn es um den Segen geht, eine Trickserin wie ihr Mann: Beim heimlichen Wegzug stiehlt sie Vater Laban dessen Hausgötter und verhindert mit Hinweis auf ihr Frausein jedes Nachforschen. Doch unüberlegt verflucht Jakob die Person, die Laban bestohlen hat. Deshalb machen Teile der jüdischen Tradition ihn für Rachels Tod verantwortlich: Sie stirbt unter der Geburt ihres zweiten Sohnes Benjamin - in der Wüste, bei Rama, nahe Bethlehem.

   Die Erzmutter Rachel wünschte sich nichts sehnlicher als Kinder. Sie starb, als sie ihre letzte „Lebenskraft“ ihrem Kind schenkte. So wurde sie zur Erinnerungsfigur für das ganze Volk Israel, mehr als Sara, Rebekka und andere Frauen eine „Heldin zum Anfassen“ (Christine Ritter). Der Name ›Rachel‹ hat in der jüdischen Tradition Spuren hinterlassen: als Fürsprecherin für alle Nachkommen in Nöten und Gefahren, als prophetische Stimme, als Stimme des zur Toratreue mahnenden und ermutigenden Geistes Gottes selbst. Noch heute ist Rachels Grab bei Rama die meistbesuchte Pilgerstätte im Heiligen Land, vor allem für Frauen, die um Kinder bitten. Zudem gehört Rachels Klage zu den Texten zu ›Rosh ha-Schanah‹, dem jüdischen Neujahrsfest: ein neues Jahr, ein neues Beginnen, Anfänglichkeit pur. So wird ihre Stimme immer noch gehört. Im Blick auf das Exil, in das Israel immer wieder gerät, und die Shoa wird Rachels Klagelied zum poetisch-politischen Totengesang. Auch in der modernen säkularen Lyrik Israels, z. B. bei Rachel Bluwstein und Dahlia Ravikovitch, spielt Rachel eine wichtige Rolle als spezifisch weibliche Identifikationsfigur, subversiv und tragisch. Stefan Zweig rückt Rachel sogar in die Nähe von Hiob: „Rachel rechtet mit Gott“. Thomas Mann schildert in „Joseph und seine Brüder“, wie Rachel ebenso listig wie geduldig auf ihren geliebten Jakob wartet, aber einen schmerzvollen Tod am Wegesrand erleiden muss, weil Jakobs Leidenschaft für Gott größer war als die für seine Frau.

   Dabei gilt Rama als der Ort, an dem sich die gesamte judäische Oberschicht mit vielen anderen aus dem Volk Israel zum erzwungenen Wegzug ins Exil sammeln musste, als Jerusalem erobert und im Jahr 587 v. Chr. von den Babyloniern der Tempel zerstört wurde. Israels Kinder sind Rachels Verwandte, Freunde, Nachbarn, ihr eigenes Volk im Exil - um sie weint Rachel bitterlich, ihnen gilt ihr Wehklagen zu Gott. So finden in Rachels Trauer Menschen jüdischen Glaubens ihre eigene wieder. Gleichermaßen erhoffen sie sich Rettung durch Rachels mutiges Eintreten, hinter dem sie Gottes Geist selbst wahrnehmen.

▷ Orgel: Melodie EG 50

   Rachel: voller Liebe, List und Leidenschaft für das Leben. Warum weigert sie sich, sich trösten zu lassen? Weil der schnelle Trost ganz und gar unangebracht ist. Denn der gewaltsame Verlust von Menschen, erst recht der von Kindern muss bleibend beunruhigen. Gerade im Weinen über ihren Verlust bleibt die Erinnerung bewahrt an das, was Kinder bedeuten: neues Beginnen, offene Möglichkeiten. Rachels Weigerung hat darum noch eine andere Seite als die unstillbarer Trauer. Sie ist Widerstand. „Mir reicht’s!“ Zuallererst muss ja auch das Ende von Gemeinheit und Gewalt, von Verachtung und Vernichtung verlangt werden. Mit ihren Tränen pro-testiert Rachel für das Leben. Mit ihrer widerständigen, ja widerborstigen Weigerung bietet sie dem Tod die Stirn statt des Nackens. So kehrt sie um zu Gott, zum Leben selbst, zu der Segenskraft, die noch in unseren Verdrehtheiten und Versehrtheiten, Beschädigungen und Begrenzungen waltet. Vor keinem anderen als Gott schüttet sie ja auch ihr Herz aus. Indem sie zu Ende sprechen will, was nicht das letzte Wort behalten soll, vernimmt sie eine große Verheißung: So spricht Jhwh: »Versage deiner Stimme das Weinen, verwehre deinen Augen die Tränen, denn es wird dir Lohn für deine Arbeit, Spruch Jhwhs: deine Kinder kehren zurück aus Feindesland.«

 War jetzt schon mit dieser Verheißung zu rechnen? Unverkennbar ist ja der Bruch zwischen Vers 15, der von Rachels Untröstlichkeit handelt, und Vers 16, der die Rückkehr der Betrauerten ankündigt und vorher die Trauernde unvermittelt, ja geradezu barsch dazu auffordert, das Klagelied und den Tränenfluss zu beenden. Der Bruch ist unvermeidbar. Denn aus menschlicher Sicht ist die Verheißung etwas derart anderes, dass sie sich vom Klagelied deutlich und eindeutig unterscheiden muss. So stehen ja auch unsere Gefühle bisweilen gegeneinander, gibt es in unserem Leben unauflösbare Widersprüche. Es ist wie mit dem Schmerz: Ich beklage ihn und verlange sein sofortiges Ende - doch gerade so gehört er zu mir, zu meinem verletzlichen Selbst, ohne ihn, den ich unbedingt und unverzüglich loswerden möchte, wäre ich nicht, der ich bin. In ähnlich widersprüchlicher Weise ist Rachels Trauergesang mit Gottes Lebensverheißung verbunden. So wirkt Gott in der weinenden Rachel - und sie kann auf Gottes andere Stimme achten. Dafür gibt uns der kurze Text Jeremia 31,15-17 drei Anhaltspunkte:                                               

   Zunächst handelt es sich um den Teil eines Gedichts, um Poesie also. In der Erzählung kommt es, damit sie verständlich bleibt, auf einen einigermaßen geradlinigen Handlungsverlauf an. Im Gedicht darf sich alles reiben, hart aufeinander treffen, sich widersprechen. Sodann wird das gesamte Gedicht durch ein zweimaliges So spricht Jhwh und ein zweimaliges Spruch Jhwhs, den Ausdrücken für das allgemeine Gotteswort und für die prophetische Gottesrede, zusammengehalten. Auch Rachels Klagelied, ihr Weinen, ja selbst ihre Weigerung, Ruhe zu geben, sind hier mehr als der Ausdruck menschlicher Befindlichkeit, sondern eingebettet in Gottes Wort! Rachels Geschrei - Gott ist es recht! Gott ist ihr gerade darin unendlich nahe! Das gehört zum Unsagbaren zwischen Gott und Mensch, zum Geheimnis des Glaubens.

   Schließlich wird hier eine Verheißung ohne Vorbedingung ausgesprochen: als sei das kommende Befreiende schon in dem noch zu Beklagenden enthalten, als müsse das neue Leben nur aus dem Tod erweckt werden. Sonst im Prophetenbuch Jeremia folgt die Rückkehr der Verbannten der Umkehr des Volkes. Hier ist es anders. Hier geht allein die Verheißung voraus, sie trägt die Klage, die Trauer, das Weinen - die Umkehr beginnt. Indem sie Rückkehr in die Heimat verspricht, ermöglicht sie Umkehr zu dem, dem wir Hoffnung auf Zukunft verdanken. Ja, auch in Rachels Klage ist Gott gegenwärtig. Deshalb bedeutet der Bruch keine Zurechtweisung. Umso kraftvoller jedoch fordert der Stimmenwechsel zwischen Vers 15 und Vers 16 zu einem neuen Wahrnehmen auf: Weil Rachel im Recht und Gott schon ganz bei ihr ist, gibt es noch ein anderes Wort für sie. Hat sie darauf schon gewartet? Jedenfalls soll sie es jetzt hören: »Da ist Hoffnung für deine Zukunft, Spruch Jhwhs: die Kinder kehren zurück in ihre Heimat.« Gottes schlechthin unvergleichliches Wort. Das Wort, das wir uns nicht selbst sagen können. Das Versprechen der Rückkehr aus dem Exil, eines vorbehaltlosen, restlosen Neubeginns. Ein solches Wort erheischt, damit der Anfang nicht verpasst wird, eine unbedingte, ungeteilte Aufmerksamkeit. Und verhindert, sich an den eigenen Tränen zu verschlucken, in der Trauer keinen Weg mehr finden zu können.

   Trauern ist mehr, als im Abschied zu verharren und den Verlust zu beklagen. Es bedeutet zugleich, im Gedenken an die Toten und so in ihrer Gegenwart zu leben. Wo Gott, in dem auch die Toten aufgehoben sind, in uns lebendig ist, sind sie wie in einer zweiten Gegenwart bei uns, in der „Gemeinschaft der Lebenden und der Toten“. Dann blicken wir gemeinsam in jene Zukunft, in der Gott alle Tränen abwischen und der Tod nicht mehr sein wird (OffJoh 21,4). In diesem Sinn war Rachels bitterliches Weinen, war schon ihre Arbeit beim Aufwachsen und bei der Geburt der Kinder alles andere als umsonst. Es ist immer richtig, sich vor Gott für neues Leben einzusetzen - und für gefährdete, bedrohte Menschen, auf der Seite der Opfer zu stehen, statt die Verbrechen der Täter stillschweigend hinzunehmen. Zwar erfüllt Gott nicht alle unsere Wünsche, aber alle seine Verheißungen (Dietrich Bonhoeffer). So wollen auch wir zu Ende sprechen, was nicht das letzte Wort haben darf. Zugleich rechnen wir damit, dass Gott uns ins Wort fällt. Im Licht der Verheißung, dürfen wir alles anders, im Ende den Anfang sehen.

▷ Orgel: Melodie EG 50

  Heute erweist Rachel uns wieder einen wichtigen Dienst. An ihr erkennen wir, wie zu unserem Menschsein das „untröstlich Ungetröstete“ (Andrea Peschke) gehört. Wir sind nämlich ›pathische Existenzen‹. Zwar wollen ›Transhumanisten‹ unsere biologische Ausstattung so verbessern, dass wir bis zu 1.500 (!) Jahre alt werden können. Solcher und anderer Glücksversprechen unserer Zeit zum Trotz: Wir bleiben verwundbar und sterblich, verletzlich und hinfällig. Doch in dieser Welt voller Sieger - wer achtet da schon unserer Verwundbarkeit? Wir selbst scheuen uns davor - und tragen unsere Wunden lieber innen. Dagegen legt ein Wehklagen - wie das der Rachel - die verborgenen Wunden offen und vertraut sie Gottes Erbarmen an.

   Für das ›Pathische‹ unserer Existenz steht unverwechselbar Jesus Christus, vom Beginn bis zum Ende seines Lebens. Am Anfang der Stall - am Ende der Galgen. Jesus stellte sich immer wieder an die Seite weinender, bedrängter Frauen. Kraft seiner eigenen Wunden und Schmerzen, kraft seines Rufes: Mein Gott, warum hast du mich verlassen?!, mit dem er am Kreuz auf Golgatha den großen jüdischen Klagepsalm 22 betete, ist Gott uns auch im Leiden und Sterben nah. Seither geht der Sinn unseres Lebens über die bloße Intaktheit unserer Sinne hinaus. Kontrollverlust ist kein Würdeverlust. Wir dürfen einander „zur Last“ fallen. Wir brauchen uns weder zu optimieren noch zu perfektionieren. Auch die Kinder, die Jesus segnete, waren einfach nur Kinder, die die Welt entdecken, die das Anfangenkönnen erproben und in der Welt Platz und Heimat finden wollten.

   Mut machte in den Adventstagen diese Meldung: Den Friedensnobelpreis 2014 erhielt die erst 17-jährige Kinderrechtlerin Malala Yousafzai aus Pakistan, auf die ein Taliban-Trupp einen Mordanschlag verübt hatte. In ihrer bewegenden Dankesrede sagte Malala: „Soweit ich weiß, bin ich einfach nur eine engagierte und sture Person, die eine gute Ausbildung für alle Kinder, gleiche Rechte für Frauen und Frieden in jeder Ecke der Welt sehen will.“ Und scherzhaft fügte sie hinzu, sie streite noch mit ihren jüngeren Brüdern: „Ich will, dass überall Frieden ist, aber meine Brüder und ich arbeiten noch daran.“ Malalas 60-jähriger indischer Mitpreisträger Kailah Satyarthi hat es, ähnlich wie Nelly Sachs, in seiner Dankesrede auf den Punkt gebracht: „Es gibt keine größere Gewalt, als unseren Kindern ihre Träume zu verwehren.“ Und denken wir an die junge Frau Tuğçe Albayrak, die zu Tode geprügelt wurde, als sie zwei andere junge Frauen vor Übergriffen in Schutz nahm.

Diese Gewalt hat ihr Recht verloren. Aber sie hat noch Macht. Deshalb steht uns eine Zeit des Weinens bevor. Lassen Sie es mich persönlich sagen: Das jetzt vergehende Jahr 2014 empfinde ich als Schlüsseljahr für die nächsten 100 Jahre. Vor zwei Wochen sind wir bei der Klimaschutzkonferenz in Lima wieder nur bei einem Minimalkonsens gelandet. Die Energiewende wird nur mit halber Kraft in Angriff genommen. Die Endlagersuche brauchte mehr Unterstützung. Wie sollen wir denn unserer wichtigsten Aufgabe gerecht werden, unserer Langfristverantwortung, unseren Nachkommen eine lebenswerte Welt zu hinterlassen?! »Da ist Hoffnung für deine Zukunft, Spruch Jhwhs: die Kinder kehren zurück in ihre Heimat.« Warum tun wir soviel gegen Gottes Verheißung?! So wenig wir sie erfüllen können, so sehr sollen wir uns an ihr orientieren, statt ihr im Weg zu stehen! Noch etwas macht mir große Sorge: Der Ukraine-Konflikt, vor allem aber der IS-Terror im Nahen Osten lässt mich vermuten, dass wir eine jahrzehntelange Friedlosigkeit und Unsicherheit vor uns haben. Schon mit unseren bisherigen Mitteln ließen sich die Nester des Hasses nicht befrieden, die Brandsätze der Brutalität nicht löschen. Hat die Politik des Westens das alles mitverursacht? Wer von einer „Islamisierung des Abendlands“ schwafelt, baut einen Popanz auf. Dafür gibt es weder einen Grund noch ist dieser Irrweg von Vorurteil und Furcht ein Weg für Christen. Der christliche Weg ist, Menschen, vor allem Kindern neue Heimat zu geben, wenn ihre alte Heimat ihnen zur Fremde gemacht wurde. Das wird, keine Frage, gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen bei uns zur Folge haben. Unsere Lebensformen werden zerbrechlicher als je zuvor. Umso mehr brauchen wir die Kräfte, die uns von Jesus Christus, dem gekreuzigten Gott, her zuwachsen.

Eine Lösung ist noch zu entwickeln. Wir brauchen keine weitere ›Hominisierung der Welt‹, die Inbesitznahme von allem und jedem, sondern eine tiefere ›Humanisierung des Menschen‹. Sie beginnt damit, dass wir Kindern in die Augen blicken, ihrem Gespür fürs Anfangen folgen - und in den Augen der Kinder heute die Kinder morgen erkennen. Wer wollte dann garantieren, dass es keine Hoffnung, keine Zukunft gibt?! Im Licht der Verheißung Gottes, das aufging über Rachel, als sie weint um ihre Kinder, wird unser Mut stets eine Spur stärker sein als unsere Furcht. Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. (Psalm 126,5) Weil wir über diese Welt hinaus hoffen, hoffen wir in sie hinein. Amen.

▷ Orgel und Gemeinde: „Du Kind, zu dieser heilgen Zeit…“ - EG 50,1-5

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Anmerkungen:

1. Statt Jhwh bitte Adonaj lesen. Wer eine andere Übertragung als die obige des Predigt-Vf. verwenden will, dem sei die der ›Zürcher Bibel 2007‹ empfohlen, die ebenfalls versucht, die Gedichtform von Jer 31,15-22, dem 6. Gedicht im ›Trostbuch für Ephraim‹, erkennbar zu lassen.

2. Neben den einschlägigen Kommentaren sei verwiesen auf folg. Literatur: Anat Feinberg: Biblische Motive in der hebräischen Dichtung, Freiburger Rundbrief - Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung NF 2/2006, S. 104-110 [‹www.freiburger-rundbrief.de]; Siegfried Herrmann: Die prophetischen Heilserwartungen im Alten Testament, BWANT 85, Stuttgart 1965; Siegfried Herrmann: Jeremia. Der Prophet und das Buch, Darmstadt 1990; Sven Chr. Puissant: Rachel und das Gottesvolk. Ein Vergleich von Jer 31 mit den Genesistraditionen, Heidelberg 2006 [‹http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/6476/›]; Christine Ritter: Rachels Klage im antiken Judentum und frühen Christentum, Leiden u. a. 2003. Mit Chr. Ritter gehe ich davon aus, dass es in Jer 30+31 um die Exilierten aus dem Nordreich im 7. und die aus dem Südreich im 5. Jh. v. Chr. geht. Der Text dürfte aus nach-exilischer Zeit stammen. Der Ort Rama wird in 1. Mose 35,19 zwischen Jerusalem und Bethlehem (Efrata) lokalisiert, in Jer 31,15 dürfte eher angespielt werden auf 1. Sam 10,2, wonach Rachels Grab nördlich von Jerusalem an einer Wegmarke an der Grenze des Stammes Benjamin liegen soll.

3. Aus der Literatur des 20. Jh.s sei hingewiesen auf: Stefan Zweig: Rachel rechtet mit Gott, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1990; Thomas Mann: Joseph und seine Brüder, 15. Aufl., Frankfurt/M. 1991

4. Für den Gottesdienst muss die Predigt gekürzt werden.

5. Für die Liturgie empfohlen wird das wenig bekannte Jochen-Klepper-Lied „Du Kind, zu dieser heil’gen Zeit…“ (EG 50,1-5), dessen Melodie einige Male zwischen den Predigtabschnitten von der Orgel gespielt und nach der Predigt von der Gemeinde gesungen werden könnte. Eine Liedpredigt zu EG 50 bei Hans Joachim Schliep: Mehr als meine Augen sehen - Kronsberger Predigten 3, Saarbrücken 2013, S. 86-91.

 

Perikope
28.12.2014
31,15-17

Predigt zu Jeremia 8, 4-7 von Christoph Hildebrandt-Ayasse

Predigt zu Jeremia 8, 4-7 von Christoph Hildebrandt-Ayasse
8,4-7

Schriftlesung: Lukas 15, 11-24 Das Gleichnis vom verlorenen Sohn

Lied: EG 655 – Freunde, dass der Mandelzweig

4 (Jeremia,) sprich zu ihnen: So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?

5 Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für? Sie halten so fest am falschen Gottesdienst, dass sie nicht umkehren wollen.

6 Ich sehe und höre, dass sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt.

7 Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen.

 

Liebe Gemeinde,

ordnen wir die Worte der Bibel, die wir gehört haben, zunächst einmal in ihren geschichtlichen Zusammenhang ein.  Jeremia, der Prophet, tritt etwa um das Jahr 626 v. Chr. auf. Es ist eine schwierige und unsichere Zeit. Die politische Großwetterlage zwingt die Regierung zu diplomatischen Winkelzügen. Sie schwankt zwischen Anbiederung an und Krieg gegen mächtige Staaten in der Nachbarschaft; immer auf der Suche nach einem eigenen, selbstbewussten Stand in unsicherer Zeit.

In dieser schwierigen Zeit wird Jeremia zum Propheten Gottes berufen. Er soll Gottes Sprachrohr sein. Den Menschen seines Landes und seiner Zeit soll er Gottes Wort sagen. Nicht seine eigenen Einschätzungen und politischen Analysen soll er seinen Zeitgenossen mitteilen. Nein, Gottes Wort soll er seinen Zeitgenossen sagen. Gott sagt ihm, was er ihnen auf den Kopf zu sagen soll. „Jeremia! Sprich zu ihnen: So spricht der Heilige…“

Und die Worte Gottes, die Jeremia übermitteln muss, sind leider keine erbaulichen oder beruhigenden oder tröstenden. Sie sind hart und reden von Untergang und Vertreibung. Jeremia wird für diese Worte Gottes gehasst, verstoßen, ins Gefängnis geworfen. Er wird zum Ziel von Mordanschlägen. Aber er muss Gottes Wort weitergeben.

Und Jeremia zerbricht schier an seinem Auftrag. Er distanziert sich nicht von dem, was um ihn herum geschieht. Er fühlt sich nicht überlegen als Verkündiger der göttlichen Wahrheit. Er weiß, er erlebt, er spürt: die harten Worte Gottes treffen auch mich; mich, der ich in diesem Land und unter diesen meinen Landsleuten lebe und diese schwierigen Zeiten miterlebe. Am Ende wird man auch ihn, mit einer letzten fliehenden Gruppe seines untergehenden Landes, nach Ägypten verschleppen. Dort verlieren sich seine Spuren.

Schon einige Zeit vorher waren wohlhabende Bürger vom übermächtigen Babylonien nach Babylon verschleppt worden. Jeremia schreibt ihnen einen Brief. Darin finden sich die bekannten Gottesworte: „Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohl geht, so geht's auch euch wohl.“

Gottes Wort soll, muss und kann an jedem Ort und zu jeder Zeit, in jeder Situation gehört und befolgt werden. Für andere Beten, das soll, muss und kann man an jedem Ort und zu jeder Zeit, in jeder Situation. Das dient zum Besten für das eigene Wohl; und auch zum Besten für das Gemeinwohl. Der Prophet wollte, ja er konnte sich an keinem Ort und zu keiner Zeit aus seiner Bürgerschaft und Zeitgenossenschaft heraushalten. Gottes strafendes Wort galt für seine Zeitgenossen; und auch ihm, dem Propheten des Wortes Gottes. Wie kein anderer Prophet litt Jeremia unter seinem Auftrag.

Aber warum muss es denn so kommen? Sehenden Auges rennen die Menschen immer wieder in ihr Verderben. Muss das so sein? Das fragt in unserem Abschnitt aus dem Buch des Propheten Jeremia der Prophet; ja das fragt ein an seinen Menschen verzweifelter Gott selbst.

Von meinem Großvater wurde mir berichtet: Als ihm fanatisch erhitzte Nachbarn von dem Geschehen in der Reichsprogromnacht vor 75 Jahren berichteten, da soll er gesagt haben: „Die Juden sind Gottes Augapfel. Und wer ihn antastet, mit dem geht es nicht gut aus.“ Nein, er war kein aktiver Widerständler im 3. Reich. Zumindest hat er nie davon berichtet, was er getan hat und was nicht. Aber dass Gottes Wort gilt, zu jeder Zeit und an jedem Ort, davon war er als ostpreußischer Pietist überzeugt. Vielleicht fühlte er sich als ein Zeitgenosse, der würde mitleiden müssen, so wie Jeremia. Aufbegehren und protestieren, das kannte er als Kind des Kaiserreiches nicht.

Und meine Großmutter schlug, als der Russlandfeldzug begann, einfach ihren Atlas auf; blickte auf das riesige russische Reich und fragte sich ganz nüchtern: „Ja, wo wollen die denn hin? Was haben wir Deutschen denn da verloren?“ Einer ihrer Söhne kehrte von dort nicht mehr zurück.

Ganz einfacher Menschenverstand könnte schon vor der Katastrophe bewahren. Der Heilige - durch den Mund des Jeremia:  „Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen.“ Selbst die Vögel wissen, was natürlich richtig ist. Sie wissen, wann es Zeit ist, umzukehren. In kalten Landstrichen zu bleiben, würde sie umbringen. Man muss es ihnen nicht sagen. Wenn die Zeiten kalt und ungemütlich und gefährlich werden, dann verändern sie sich.

Umso mehr müssten wir Menschen etwas ändern, wenn die Zeiten kalt und ungemütlich und gefährlich werden. Aber da reagieren wir eher wie das Schlachtross, wie der Hengst, den Jeremia als Beispiel anführt. Dem Hengst, wie jedes Pferd eigentlich ein Fluchttier, kann der Mensch das: „Augen zu und durch“ antrainieren. „Der Mensch ist ein Reittier“, sagt Martin Luther. „Entweder er wird von Gott oder dem Teufel geritten.“ Es ist unsere Wahl, sagt Jeremia; sagt durch ihn der Ewige.

Es muss aber nicht so sein. Man kann den Reiter wechseln. Je früher, desto besser. „Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?“ Aber dazu muss man erst einmal erkennen, was einen da geritten hat. Wir haben in der Schriftlesung das Gleichnis vom Verlorenen Sohn gehört. Es ist eine wunderbare, ganz jüdische Auslegung unseres Heilandes Jesus Christus; eine Auslegung, eine Veranschaulichung der Worte des Predigttextes aus dem Buch des Propheten Jeremia: „So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?“

Also, alles ganz einfach?

Aber warum dann so furchtbare Verbrechen am Volk Gottes wie in der Reichsprogomnacht? Warum die grässlichen Morde, warum die abscheulichen Taten, die sofort danach folgten? Warum der Hass, warum die Lügen, die zum Totschlag führen? „Ich sehe und höre, dass sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan!“

Warum? Weil wir nicht innehalten. Nicht nachdenken. Nicht Gottes Wort zu Hilfe nehmen. Um Abstand zu gewinnen. Um uns zu verändern. Um neu hin zu hören. Um neu auf Gott zu hören. Um unsere vorschnellen Antworten einmal beiseite zu legen; oder unsere Gleichgültigkeit; oder unsere Überforderung: was soll man da ändern? Am Leid unserer Schwestern und Brüder in Syrien, in Ägypten; ja am Leid der Verfolgten, aus welchen Gründen auch immer.

Die Worte des Propheten Jeremia für den heutigen Volkstrauertag setzen uns ein Stopp-Zeichen. Zwar sind wir Zeitgenossen von Geschehnissen, die Opfer und Leid und Elend hervorbringen. Zwar sind wir mit da hinein verstrickt; zum Beispiel und ganz wörtlich: durch Strickwaren aus den Elendsfabriken der Armutsländer. Und vielleicht erfahren wir das Elend der Welt sogar persönlich am eigenen Leib oder am Grab eines Gefallenen oder am Schicksal eines Bekannten, einer Freundin irgendwo in der uns so klein gewordenen Welt.

Aber wir haben, so wie Jeremia, als Glaubende das Privileg inne zu halten. Und auf Gottes Wort zu hören; und niemanden durch den Geist und die Kraft Jesu Christi verloren zu geben. Und so ganz anders - und den Horizont erweiternd Zeitgenossen zu sein: mitleidend und mitdenkend und mitgestaltend in der Nachfolge unseres Herrn Jesus Christus.

Ich will, zum Schluss, noch einmal einen Blick auf den mitleidenden Propheten Jeremia lenken: als Prophet des Gerichtes Gottes durfte er doch auch ein Zeichen des Lebens und der Hoffnung schauen: einen blühenden Mandelzweig, ein Zeichen der Hoffnung.

„Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt,
ist das nicht in Fingerzeig, dass die Liebe bleibt.“

1942 schreibt der jüdische Theologe Schalom Ben-Chorin diese Zeilen. Und wir wollen dieses Lied nachher miteinander singen. „Das Zeichen“ nennt er sein Gedicht. Er schreibt es, als sich die Schreckensmeldungen über den Krieg und die Vernichtung seines Volkes häufen. Wenn Schalom Ben-Chorin, der 1935 aus Nazi-Deutschland floh, verzagt und hoffnungslos ist, tröstet ihn die leise Botschaft des Mandelbaums, das Zeichen, das Jeremia schauen durfte. Denn der Mandelbaum blüht, wenn ringsum noch alles kahl und ungemütlich und lebensfeindlich ist.

Amen

 

Perikope
17.11.2013
8,4-7

Predigt zu Jeremia 8, 5-7 von Christiane Borchers

Predigt zu Jeremia 8, 5-7 von Christiane Borchers
8,5-7

Liebe Gemeinde!
In meiner Kindheit gab es wohl kein Wohnzimmer, in dem nicht die Fotografien der gestorbenen oder vermissten Ehemänner und Söhne aus den vergangenen beiden Kriegen in Deutschland an den Wänden hingen. Alte Schwarzweißaufnahmen, fast wie aus einer anderen Welt, erinnern an glückliche Zeiten, die unwiederbringlich verloren sind. Diese Fotos sind heutzutage fast überall verschwunden. Aber ich habe sie noch gut in Erinnerung; sie hingen bei uns zu Hause, bei Verwandten und Nachbarn.
 
Volkstrauertag, inzwischen an manchen Orten lieber Friedenssonntag genannt, ist ein Gedenktag in Deutschland, der widersprüchliche Gefühle auslöst. Es werden Gedenkfeiern an Denkmälern gehalten, die an die Opfer der beiden Kriege erinnern, verbunden mit der Mahnung: Nie wieder Krieg! Junge Leute haben kaum einen Bezug zu diesem Gedenktag. Sie kennen die dunkle Geschichte unseres Volkes nur aus Erzählungen. Die Generation, die den letzten Krieg miterlebt hat, stirbt bald aus. Der Schatten, der seitdem über Deutschland liegt, ist aber damit noch nicht verschwunden. Die Verbrechen des Krieges und der damit verbundene Holocaust darf nicht dem Vergessen preisgegeben werden. Wer sich nicht erinnert, begeht dieselben Fehler. Es ist wichtig, die Erinnerung an Leid und Unrecht im Gedächtnis wachzuhalten, um der Opfer und um unserer selbst willen, damit wir menschlich werden und bleiben. Es geht nicht darum, die ältere Generation für schuldig zu erklären; es geht darum, aus der Geschichte zu lernen und den Frieden zu wahren. Trauer und Schuld zuzulassen, ist schwer. Aber ohne Aufarbeitung und Hinsehen, sich dessen bewusst zu werden, was geschehen ist und wie es zu solch schwerem Versagen und Verbrechen kam, geht es nicht. Wer sich nicht darüber im Klaren ist, was Unrecht ist, steht in Gefahr, in die Irre zu gehen und neues Unrecht zuzulassen. 

Umkehr ist das zentrale Thema des Propheten Jeremia, der das Volk Irsael ermahnt auf einem gottwohlgefälligen Weg zu bleiben. Juda und Jerusalem drohen der politische Untergang. Das mächtige Babylon mit seinen fremden Göttern und Machthabern erstarkt, Nordisrael ist bereits in die Hände der Feinde gefallen. In Juda und Jersusalem lebt nur noch ein Rest in Freiheit. Aber auch das Schicksal dieses Restes ist besiegelt, prophezeit Jeremia, wenn die Menschen nicht umkehren und ablassen von ihrem falschen Weg. Jeremia warnt vor der falschen Politik der Oberen; ihre Bündnispolitik ist verkehrt, sie wird sie in den Untergang führen. Jeremia klagt ebenfalls den falschen Gottesdienst an; sie dienen fremden Göttern und nicht dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, dem Gott, der sie aus der Sklaverei befreit hat. "Siehst du nicht, was sie tun?" zürnt Gott Jeremia in der sogenannten Tempelrede (Kap 7). "Die Kinder lesen Holz, die Väter zünden das Feuer an und die Frauen kneten den Teig, dass sie der Himmelskönigin Kuchen backen und fremden Göttern spenden sie Trankopfer mir zum Verdruss (Jer 7,18).

Gott hat Jeremia gesandt, um das Volk zu warnen. Er wirbt um seine geliebten Menschenkinder, sie sollen ablassen von ihrem Irrweg. Sie laufen falschen Göttern nach, verbreiten Lügen, tun Böses und Unrecht. Das Schlimmste ist, dass ihnen ihre Bosheit noch nicht einmal Leid tut. Sie haben keine Einsicht und kein  Unrechtsbewusstsein. Was soll Gott mit diesem halsstarrigen Volk anfangen? Wie es zur Einsicht bringen und zur Umkehr  bewegen? In Bildern verdeutlich Jeremia ihnen ihre Situation.

Seine Worte haben höchste Autorität. "Sprich zu ihnen", redet Gott zu Jeremia "So spricht Gott: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gerne wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?" Die Bilder sind einfach und bestechend. Natürlich steht ein Mensch, der hingefallen ist, sofort wieder auf; es sei denn, er hat sich schwer verletzt, dass er sich nicht ohne fremde Hilfe wieder aufrichten kann. Der gesunde Menschenverstand und die Erfahrung lehren: Wenn jemand hinfällt, wird er automatisch versuchen, wiederaufzustehen. Das ist ganz natürlich. Ebenso natürlich ist es auch, dass ein Mensch, der die Orientierung verloren hat, sie wieder sucht. Das ist verständlich. Jeder Mensch hat den Wunsch, zurechtzukommen.  "Warum will denn mein Volk zu Jerusalem das nicht?", fragt Gott durch den Mund des Propheten, "Warum will es in die Irre gehen?" Das Volk zu Jerusalem, damit sind neben dem Volk in erster Linie die Oberen gemeint, die den Kurs der Stadt bestimmen. "Sie halten fest an Unwahrheiten", heißt es im hebräischen Text. Luther übersetzt: "Sie halten fest an falschem Gottesdienst." So verkehrt ist die Übersetzung Luthers nicht. Falscher Gottdienst und Unwahrheit bedingen sich hier an dieser Stelle. Lüge, Bosheit und falscher Gottesdienst gehen einher.

"Ich sehe und höre, dass sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemanden, dem seine Bosheit Leid täte und spräche: Was habe ich getan!", resümiert Jeremia. Vom falschen Gottesdienst würden wir heutzutage nicht reden, im Rahmen von Ökumene und großen Weltreligionen ist Deutschland von Toleranz geprägt. Aber wenn Jeremia Lügen und Uneinsichtigkeit und umrechtes Tun kritisiert, so ist das brandaktuell. Fassungslos wie Jeremia vor den Handlungsweisen seines Volkes, stehen wir vor dem Desaster, was uns geldgierige und rücksichtlose Bankmanager eingebrockt haben. Fassungslos und ohnmächtig blicken wir auf Entscheidungsträger, wie Geld für Panzer und Rüstungsindustrie ausgegeben wird, anstatt für den Aufbau von lebensfördernden Maßnahmen. Fassungslos sehen wir zu, wie Tonnen über Tonnen von guten Lebensmitteln vernichtet werden, damit der Preis gehalten wird, während ein großer Teil der Weltbevölkerung hungert. Fassungslos stehen wir vor Umweltzerstörung, vor  Ausbeutung der Tiere und der Natur. Umkehr von diesem falschen unrechten Weg ist die einzige Möglichkeit, wenn die Welt in Frieden leben will. Gerechtigkeit für die gesamte Schöpfung, zu der der Mensch, die Tiere und die Natur gehören, ist unabdingbar. Umkehr und Ablassen von bösen Taten führt ins Leben.

Angesichts des Volkstrauertages müssen wir uns heute selbstkritisch fragen, warum sich wieder rechtsradikale Gruppen bilden, kaum dass nur wenig mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem zweiten Weltkrieg vergangen ist. Schon länger machen rechtsradikale Parolen die Runde, Hass und Terror gegen Ausländer werden geschürt. Haben wir nichts aus der Vergangenheit gelernt? Schon lange können wir rechtsradikale Aktivitäten nicht mehr leichtfertig mit dem Argument abtun, es gäbe sie nur vereinzelt. Mit wenigen fing es auch im sogeannten Dritten Reich an. Wir müssen die rechtsradikale Szene ernstnehmen, begreifen, welche Bedrohung von ihr ausgeht und  Gegenmaßnahmen einleiten.

Es geschieht viel Unrecht, bei uns und weltweit gegenüber Menschen, Tieren und der Natur. Eins ist nicht schlimmer als das andere. Ein Unrecht kann nicht mit einem noch schlimmeren  Unrecht bagatellisiert werden. Unrecht bleibt Unrecht, Böses muss Böses genannt werden. Wo stehen wir heute zum gegenwärtigen Standpunkt? Was ist mit Menschlichkeit und Barmherzigkeit? Sind wir auf einem guten Weg oder gehen wir in die Irre? Nun ist es ja nicht so, dass es nur Böses gibt. Es gibt viele, die bemühen sich um ein gottwohlgefälliges Leben. Sie treten für Gerechtikgeit und Frieden ein, üben Nächstenliebe, stehen mit ihrer ganzen Lebensführung für ein respektvolles Miteinander ein.
Umkehr ist vonnöten, wo wir auf einem falschen Weg sind, der in die Finsternis, ins Verderben führt: persönlich, politisch und gesellschaftlich. Der erste Schritt ist die Einsicht: "Was habe ich  getan?" bzw.: "Was haben wir getan?" Umkehr fängt bei mir selber an. Umkehr hat mit Reue zu tun. Wer seine bösen Taten bereut, kann umkehren und einen neuen Anfang machen.

Der Gott Israels, der auch unser Gott ist, ist ein Gott des Lebens . Er hat keinen Gefallen an unserem  Untergang. Er wirbt um die Kinder Israels und um uns. Wir sollen uns nicht selbst von der Lebensquelle abschneiden und ins eigene Verderben rennen wie Schlachtrösser, die gegen ihre Natur, wild ins Gemetzel laufen. "Warum will denn dieses Volk in die Irre gehen?", klagt Jeremia. "Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt." Mit Pferden hat Israel schlechte Erfahrungen gemacht. Pferde spielen im alten Orient nur als Kriegspferde eine Rolle. Die Feinde, die Ägypter und die Assyrer, sind mit Pferden ausgestattet, während David noch auf Esel und Maultier ritt.

Der Prophet Jeremia verwendet das Bild von den durchgegangenen Hengsten, die ungestüm im wilden Lauf ins Kreigsgetümmel laufen. Von Natur aus flieht ein Pferd bei Gefahr, es ist ein Fluchttier. Schlachtrössern wurde der Instinkt abtrainiert, sie sollen der Gefahr entgegenlaufen. So wie diese aufgescheuchten und in Panik geratenen Pferde rennen die Menschen, die sich von Gott und seinen lebensspendenden Geboten abgewandt haben, in ihr Unglück. "Bleibt stehen", fordert Jeremia den wildgewordenen Haufen sinngemäß auf. "Kommt zur Besinnung und seht, wohin euer Lauf euch führt!"

Gibt es Rettung für diese wildgewordenen aufgescheuchten Rossnaturen? Wer oder was reitet dich? Diese Frage hat Martin Luther sein Leben lang umgetrieben. Ist es der lebendige Gott, der Leben stiftet, von dem du dich bestimmen lässt? Wenn nicht, wer oder was reitet dich dann? Im Bild gesprochen: der Teufel; oder bist du es selbst, der dich zu Tode reitet?  Dieser Höllenritt, dieser notorische Irrweg ist es, an dem Jeremia so furchtbar leidet. Es ist für ihn eine Qual, wenn Menschen sich von Gott abwenden und in die Irre laufen. Kehrt um! Kommt zur Einsicht und missachtet nicht so schändlich das Leben. Das ist  die Botschaft Gottes an uns, übermittelt durch den Mund des Propheten. Sogar Storch und Turteltaube, Kranich und Schwalbe wissen es besser. Sie kennen ihren naturgegebenen Rhythmus und halten ihn ein. Die Zugvögel kennen ihre Zeiten. Sie wissen, wann sie aufbrechen und wann sie wiederkehren müssen. Jeremia verwendet weisheitliche Erkenntnis und bezieht sich auf ein Naturgesetz. Storch, Turteltaube, Kranich und Schwalbe wissen ihre Zeiten, halten sie ein, aber Gottes Volk will Gottes Recht nicht wissen. Die Zugvögel werden uns als Vorbilder hingestellt.

Was die Tiere selbstverständlich tun, warum ist das für den Menschen so schwer? Warum richten sie sich nicht nach lebensspendenden Gesetzen! Wie ist das nur möglich, dass Menschen - ausgestattet mit Vernunft und Verstand - sich weigern, für das Leben zu kämpfen?! Auch hier   Fassungslosigkeit und Unverständnis des Propheten. Die Zugvögel jedenfalls am Himmel kennen ihre Gezeiten. Das Geheimnis der Zugvögel, umzukehren, liegt sowohl in ihrer Natur. Storch hat im Hebräischen die Bedeutung von treu, gütig, gnädig. Der Storch verweist durch seinen Namen auf  den treuen, gnädigen Gott, der zur Umkehr ruft und Güte walten lässt.

Der enttäuschte Jeremia redet nicht nur von durchgegangenen Schlachtrössern, sondern auch vom Storch, dem Tier, das die prophetische Hoffnung auf Heil und Heilung für die gesamte Schöpfung versinnbildlicht. Am Ende aller Zeiten werden sich  Menschen, die sich wie wild gewordene Hengste in der Schlacht gebärden und sich von Gott abgewandt haben, verwandelt und neu geschaffen. Wie Störche werden sie sein, die ihre Gezeiten kennen und zu ihrem Schöpfer umkehren und heimkehren. An diesem Tag öffnet sich der Himmel und es wird Gericht gehalten. Der Retter wird kommen. Auf einem weißen Pferd wird er reiten und die große Umkehr einleiten. Das weiße Pferd ist eine Vision aus der Offenbarung über die Endzeit. Jeremia steht mit seinem Bild von den wilden Pferden neben der Kriegstradition in der apokalyptischen Offenbarung  der Endzeit. Der heutige Sonntag ist der Beginn der Buß- und Bettagswoche. Die Fragen im Kirchenjahr richten sich auf  Vergänglichkeit, Umkehr und Gericht. Der Volkstrauertag als Gedenktag der Einsicht und der Umkehr passt in diese Zeit. Einst müssen wir alle offenbar werden. Wir werden gefragt: Was hast du getan? Wir werden zur Rechenschaft gezogen. Gott hat uns das Leben zugedacht, Jesus Christus hat uns Weisung und Orientierung gegeben. Wir werden gemessen an dem, wie wir unseren Schwestern und Brüdern begegnet sind. Es hat immer wieder Menschen gegeben, die mahnen und warnen, jeglicher Zerstörung Einhalt zu gebieten und sich dem Leben zuwenden. Gottes gutes Gesetz ist uns ins Herz geschrieben. Jesus Christus hat uns gezeigt, was es heißt, menschlich zu leben. Lasst uns umkehren zum Leben. Amen. 

Perikope
17.11.2013
8,5-7

Kurzandacht zu Jeremia 8, 4-7 von Johannes Neukirch

Kurzandacht zu Jeremia 8, 4-7 von Johannes Neukirch
8,4-7

"Sprich zu ihnen: So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme? 5 Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für? Sie halten so fest am falschen Gottesdienst, dass sie nicht umkehren wollen. 6 Ich sehe und höre, dass sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt. 7 Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen."

Ist er sauer? Oder macht er sich nur Sorgen? Es ist ja manchmal schwierig, das auseinanderzuhalten. Eltern sagen gerne, "wir machen uns doch nur Sorgen um dich" wenn sie losschimpfen. Aber wie ist das bei Gott? Auf jeden Fall ist es für ihn ein völliges Rätsel, warum das Volk Israel – und das nehme ich nun mal stellvertretend für uns alle – warum wir also "das Recht des Herrn nicht wissen" wollen. Der Prophet Jeremia drückt das in Bildern aus, die wir heute noch genau so gut verstehen wie die Menschen vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren. Erstaunlich – bestimmte Verhaltensweisen scheinen sich nie zu ändern… "Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt".

Über den Propheten Jeremia lässt Gott ausrichten: Es ist gar nicht so schwer, den richtigen Weg zu gehen! Wenn der Storch, die Turteltaube, Kranich und Schwalbe innehalten können und wissen, wann es genug ist mit dem blinden Zorn – warum könnt ihr das dann nicht? Eigentlich – eigentlich! – ist es doch so: Wenn jemand fällt, steht er gerne wieder auf, und wenn jemand in die Irre geht, dann kehrt er doch gerne wieder um.

Ist das so? "Jeder ist fähig, einen anderen zu töten" behauptet der Biochemiker Hans Günter Gassen in seinem neuesten Buch. Es liege in unseren Genen und sei ein Teil unseres Verhaltens, das wir nicht loswerden können. Dass Menschen Böses tun, so Gassen, liege eben ganz einfach daran, wie sich die Menschen von der Steinzeit an entwickelt hätten. Das für den Überlebenskampf zuständige Stammhirn sei schuld. Eine Erziehung zum Guten verhindere nur das Schlimmste. Also doch: "Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt"?

Grundsätzlich sind sich Gassen und der Prophet einig: Menschen sind fähig, Böses zu tun und den falschen Weg zu gehen. In der Folge ist der Unterschied dann aber doch gewaltig: Gott lässt ausrichten, dass er im Blick auf uns doch noch Hoffnung hat! Wir können wieder aufstehen, wir können wieder zurechtkommen – wenn wir innehalten, wenn wir uns dessen bewusst werden, dass das Recht der Herrn – Frieden, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Güte – ein möglicher Weg für uns ist. Mit anderen Worten: Gott hat einen gnädigen Blick auf uns, er sieht ein großes Potenzial, wenn wir die Wahrheit reden, wenn uns die Bosheit leid wird und wenn wir reuig sagen: „Was hab ich doch getan!“

Niemand lässt sich gerne ermahnen. Aber Tausend Mal lieber lasse ich mich auf den erhobenen Zeigefinger Gottes ein als auf das ungnädige und unbarmherzige Menschenbild eines Biochemikers!

Perikope
17.11.2013
8,4-7

Umkehr ist Not wendig - Predigt zu Jeremia 8, 4-7 von Andreas Schwarz

Umkehr ist Not wendig - Predigt zu Jeremia 8, 4-7 von Andreas Schwarz
8,4-7

Umkehr ist Not wendig

4 Sprich zu ihnen: So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?
5 Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für? Sie halten so fest am falschen Gottesdienst, dass sie nicht umkehren wollen.
6 Ich sehe und höre, dass sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt.
7 Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen.

Liebe Gemeinde,
Umkehr ist nötig.
Der Prophet tritt auf im Namen Gottes. Er sagt dem Volk, dass Umkehr notwendig ist, lebensnotwendig.
In der Umkehr allein liegt die Kraft, Not zu wenden.
Dass Not herrscht, daran besteht kein Zweifel. Das sehen und erleben alle.
Aber zur Umkehr muss gerufen werden, und zwar eindringlich. Das versteht sich scheinbar nicht von alleine. Warum eigentlich nicht? Die Lage ist doch für Alle offensichtlich.
Eindringlich, so berichten die Medien übereinstimmend, war das Votum des Vertreters der Philippinen auf dem Weltklimagipfel in Warschau vergangene Woche.
So kann es nicht weitergehen, war der Tenor seines Votums. Natürlich auf dem Hintergrund aktueller, dramatischer Erfahrungen in seinem Heimatland. Ein Tornado mit bisher nicht gekannter Geschwindigkeit hat Tod und Zerstörung angerichtet, dass Worte nicht ausreichen, das auch nur annähernd zu beschreiben.
Die Menschheit als Ganzes, die Summe aller Staaten dieser Erde sind zu einem veränderten Verhalten genötigt. Sonst werden Katastrophen dieser Art und Stärke zunehmen.
Über den Einfluss menschlichen Handelns auf solche Szenarien muss nicht ernsthaft diskutiert werden.
Das Problem ist, dass alle die Probleme sehen, aber viele eine Änderung nicht wollen.
Sie wäre aber nötig, notwendig, die Not vieler Menschen wendend. Eine Umkehr ist angesagt.
Eindringlich war das Votum des Vertreters der Philippinen, weil er nicht nur geredet hat, sondern seinen Worten Nachdruck verliehen hat. Er hat angekündigt, keine Nahrung mehr aufzunehmen, bis sich auf dem Weltklimagipfel wirklich etwas bewegt. Inzwischen haben sich ihm Mehrere angeschlossen.

Leider braucht es oft Katastrophen, damit Menschen anfangen, nachzudenken und eine Umkehr überhaupt in Erwägung zu ziehen.
Der amerikanische Journalist Weisman hat gerade ein Buch veröffentlicht. Es trägt den Titel: ‚Der Countdown fürs Überleben läuft‘. Dabei beschäftigt er sich mit den Folgen der Überbevölkerung auf der Erde und was das für die Ressourcen bedeutet, vor allem, wenn es um Wasser und Nahrung geht. In einem Interview wurde ihm dazu auch die Frage gestellt:
Wir müssen also umdenken?
Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass die Wirtschaft permanent wachsen muss und dass konstantes Wachsen ein Zeichen von Gesundheit ist. Reichtum kann auch bedeuten, ein erfülltes Leben zu führen, Zeit zu haben, weniger zu arbeiten und nicht nur immer neue Sachen zu kaufen.

Umdenken als Impuls zur Umkehr, zu einem veränderten Verhalten.
‚Da ging er in sich‘ heißt es nach Luthers Übersetzung in Jesu Gleichnis vom verlorenen Sohn. Der auch eine Katastrophe brauchte, um ins Nachdenken zu kommen. Solange das Geld ausreichte und der Magen gefüllt werden konnte, schien eine Umkehr gar nicht nötig.
Aber in der Gesellschaft von Schweinen sah das dann doch anders aus.
Solange alles gut geht, ist ein Umdenken nicht dran und eine Umkehr nicht nötig.
Aber wenn deutlich erkennbar ist, so kann es nicht weitergehen, dann muss doch etwas geschehen.
Wie kann jemand sehenden Auges einfach immer so weitermachen, wenn man doch sieht, wohin das führt?
Es kann doch nicht sein, ist die passende Aussage.
Kopfschütteln ist das angemessene Körperverhalten.
Weil es eine so augenscheinliche Diskrepanz gibt zwischen dem, was man erlebt, als Not erlebt, und den Konsequenzen, die man daraus zieht.
Die großen und weltweiten Probleme geben den Anschauungsunterricht für sehr grundlegendes, menschliches Verhalten. Im Kleinen lässt sich das nachbuchstabieren, wenn es ums Rauchen geht, um die Art und Weise der Ernährung, um den Mangel an Bewegung. Die Erfahrung, dass da etwas nicht stimmt, ist gar nicht zu leugnen, aber die praktischen und lebendigen Konsequenzen daraus ziehen, ist etwas ganz anderes.
Es kann doch nicht sein, ist die passende Aussage.
Kopfschütteln ist das angemessene Körperverhalten.

Die entscheidende, also die notwenige, die Not wendende Frage legt Gott dem Propheten in den Mund: Was habe ich doch getan?
Also gegen den natürlichen Reflex: wer ist schuld? Was haben andere verbockt – getreu dem uralten Sündeverschiebespiel, das mit Adam und Eva im Paradies begonnen hat. Die anderen und die Umstände sind schuld, ich nicht.
Diese Frage ‚wer ist schuld?‘ bewegt nichts, verändert nichts.
Ändern kann nur ich mich, wenn ich die Frage nicht auf das Volk Israel schiebe, zu dem Jeremia redet. Sondern sie an mich heranlasse: Was habe ich doch getan?
Mein Leben, mein Verhalten sind im Blick, wenn es um meine Gottesbeziehung und um die Beziehung zu meinen Mitmenschen geht.
Die Richtung ist falsch, sagt Jeremia im Auftrag Gottes. Also gar nicht so sehr dieses oder jenes einzelne falsche Verhalten, sondern die Grundausrichtung ist nicht richtig. Deswegen kommt es zu falschen Einzelentscheidungen.
Was leitet und bestimmt mich in meinem Leben, wonach richte ich mich aus, warum sage ich, was ich sage, warum sage ich es, wie ich es sage, warum tue ich, was ich tue? Diese Fragen für mich zuzulassen öffnet Antworten.
Die könnten lauten: Weil es mir persönlich nutzt. Weil ich davon überzeugt bin, Recht zu haben. Weil es mir Spaß macht. Weil die Andern sich irren und mich ärgern oder verletzen. Weil ich für Gottes Wort gerade keine Zeit habe, mir für das Gebet die Ruhe fehlt; weil ich mich um andere Dinge kümmern muss.
Falsche Richtung, sagt Gott, Lug und Trug, Bosheit.

Was habe ich doch getan?
Mich wie ein Hengst verhalten, der nur eine Richtung kennt: vorwärts, mit aller Macht, ohne Rücksicht auf Verluste. Dass da manch einer rechts oder links liegen bleibt, ist nicht nur unvermeidbar, sondern bewusst in Kauf genommen. Pferde in der Bibel sind fast ausnahmslos Kriegstiere. Das geht es nicht um Verständigung, um Einigung. Da geht es auch schon gar nicht um Umdenken oder gar Umkehr. Da geht’s nur mit vollem Tempo nach vorn, mit Scheuklappen. Da geht es ums Gewinnen, koste es, was es wolle.
Weil ich mich verrannt habe, geht viel kaputt, verloren. Das will ich nicht, das will niemand. Wenn ich merke, dass die Richtung nicht stimmt, möchte ich gern stehen bleiben, die Richtung ändern, umkehren.
Wie der verlorene  Sohn zurück zum Vater.
Die Botschaft, die Jeremia im Auftrag Gottes an das Volk richtet, ist sehr ernüchternd. Es gibt niemanden, dem sein Tun Leid täte und sie wissen auch alle nichts vom Recht des Herrn. Da ist keine Aussicht.
Bloß der Hinweis, dass selbst die Vögel ein Gespür dafür haben, wohin der Zug gehen muss, damit Leben möglich ist.

Ob uns die Vögel zum Evangelium werden können?
Dafür, eine Richtung im Leben zu haben, die gut ist. Die befreit und verbindet.
Befreit von den Scheuklappen des Schlachtrosses. Verbindet mit dem Wort des lebendigen Gottes. Das ermutigt, sich selbst kritisch zu sehen. Vielleicht habe ich doch nicht recht oder es ist gar nicht so wichtig zu wissen, wer Recht hat, sondern dass wir in einem gemeinsamen Zug sind. Wie die Vögel. Dahin, wo das Leben möglich ist.
Das Wort, das mir sagt, ich habe es nötig umzukehren, von mir selbst und meinen Behauptungen und Rechthaberein, die doch nur trennen. Hin zum Umdenken und Umkehren, was dem Leben mit Gott und dem Mitmenschen dient.
Barmherzigkeit. Liebe. Vergebung.
An Jesus Christus erleben wir das. Immer wieder. Unaufhörlich.
Darin liegt die Kraft zur Umkehr. Denn ich weiß durch Christus, warum und wohin. Zu ihm, zum Leben und damit auch zu den Andern.
Umkehr ist nötig. Tatsächlich.
Umkehr zum Leben. Amen.

 

Perikope
17.11.2013
8,4-7

Flattervogel auf Crashkurs oder Gefangenschaftsflüchtling mit Lufthoheit - Predigt zu Jeremia 8, 4-7 von Markus Kreis

Flattervogel auf Crashkurs oder Gefangenschaftsflüchtling mit Lufthoheit - Predigt zu Jeremia 8, 4-7 von Markus Kreis
8,4-7

Flattervogel auf Crashkurs oder Gefangenschaftsflüchtling mit Lufthoheit

Was haben Waschbären, Mustangs und Mandarinenten mit Gott gemeinsam? Sie sind allesamt Gefangenschaftsflüchtlinge. Ein Gefangenschaftsflüchtling ist ein Exemplar einer gebietsfremden Tierart. Dieses Tier ist aus menschlicher Obhut geflüchtet, oder wurde ausgesetzt. Und es kann frei lebend beobachtet werden.

Mustangs sind keine Wildpferde. Sie bilden die Nachkommen verschiedener Hausrassen, welche zuerst die spanischen Konquistadoren in die Neue Welt einführten. Das waren zumeist Araber und die in Spanien zu dieser Zeit heimischen Hauspferderassen - später auch die Pferde anderer europäischer Einwanderer. Viele dieser Tiere entkamen als Gefangenschaftsflüchtlinge, verwilderten und vermehrten sich hin zu einer stabilen Bevölkerung.

Manchmal gelingt es Gefangenschaftsflüchtlingen über längere Zeit in der freien Natur zu überleben und sich dabei fortzupflanzen. Schaffen dies die Tiere über mindestens drei Generationen hinweg, so spricht man von Neozoen. Ähnlich wie bei Pflanzen, deren Verbreitung sich durch Zutun des Menschen verändert hat, wie z.B. Mais, können Gefangenschaftsflüchtlinge die Artenvielfalt eines Lebensraums verändern. Wenn sie die Artenvielfalt eines Raumes gefährden, dann nennt man sie invasive Gefangenschaftsflüchtlinge. Erweitern sie die Artenvielfalt, dann heißt man sie nicht-invasiv.

Gott ist ein invasiver Gefangenschaftsflüchtling! Gott ist gefangen in der Blindheit seiner Geschöpfe, im Irrtum seines Volkes. Gott? Ein Gefangener? Ein Gefangener seiner eigenen wenn auch vornehmsten Geschöpfe?

Die Menschen merken ja nicht, dass wir entgegen den Gesetzen Gottes ihr Leben am Laufen halten. Das drückt unser Predigtext bildreich aus. Die Menschen ahnen noch nicht einmal, dass ihr Lebenswandel Gottes Willen und Wirken zuwider läuft. Sie halten sich sogar für fromm und Gott zu Diensten (V. 5b).

Und der scheint keine Chance zu haben, sie zu erreichen, sie auf ihr Verfehlen aufmerksam zu machen, ihnen ihre wirkliche Lage vor Gott einsichtig zu machen. Was ja noch längst nicht heißt, dass sie bereuen und sich ändern. Den Menschen scheint es gelungen, Gott aus ihrem Leben und Weben zu verbannen und wegzusperren. Insofern ist Gott als ein Gefangener zu verstehen.

Gut, dass Gott ein Gefangenschaftsflüchtling ist. Wie sollte es sich auch anders verhalten. Hat er doch Israel aus der Knechtschaft in Ägypten herausgeführt. Seinen Sohn aus dem Verlies des Todes befreit. Wie sollte der, welcher andere befreit hat und noch befreit - wie sollte der sich selbst nicht befreien können? Gott ist ein echter Gefangenschaftsflüchtling.

Und nicht nur das. Gott ist ein invasiver Gefangenschaftsflüchtling. Gott ist sich nicht selbst genug, sondern er geht hilfreich zur Hand und in den Kopf. Ein invasiver Gefangenschaftsflüchtling, das habe ich vorhin gesagt, der verändert die Artenvielfalt. Und mit der Artenvielfalt den Lebensraum derer, denen er sich zuwendet. Denn er lebt über Generationen hinweg.

So erzählen es Israel und die christlichen Heiden von Alters her: Gott greift ein und verändert die sündige Welt. Und damit auch die Menschen. Aus Ahnungslosen werden nur mehr Fromme, aus Irrenden nur mehr Wahrhaftige, aus Gierigen nur mehr Gerechte, aus reulosen Heuchlern nur mehr reuige Sünder, aus Bösen nur mehr Gute. Diesen Wandel erschafft der Gott im Himmel, dank seiner hoheitlichen Gnade und Vergebung.

In Wahrheit verhält es sich ja so, dass wir die Gefangenen sind. Wir finden aus unserem begrenzten Leben nicht heraus. Und gleich Gott flüchten wir in unsere Hoheit. Aber der vor uns liegende ferne Fluchtpunkt ist ein gewaltiger Crash. Wie kann man so etwas sagen?

»Wir sind Lügner und Betrüger, durch und durch« So bilanziert ein Biologe namens Trivers schonungslos menschliches Verhalten. (Ich folge hier mehr oder weniger dem Artikel von Ulrich Schnabel in der ZEIT 2011/50: Wie man sich selbst auf den Leim geht) Seine Bilanz ist unterfüttert mit zahlreichen Belegen und Studien. Dabei betrachtet er die Welt mit einem Blick, der fragt: Warum hat sich dieses oder jenes Verhalten durchgesetzt? Welchen Nutzen bringt es im Licht der Auswahlvorgänge?

Aus dieser Sicht ist zunächst festzuhalten: Überall in der Natur wird getrickst und getäuscht, der Betrug und dessen Aufdeckung zählen zu den wichtigsten Waffen im Kampf ums Weiterleben. Das beginnt schon auf der Ebene der Viren. Der HIV-Erreger etwa überlistet das menschliche Immunsystem, indem er ständig seine Oberflächenstruktur ändert. Auch für viele Tiere ist eine gute Tarnung – Winterfell, abschreckend »giftige« Färbung, Anpassung und Nachahmung – lebenswichtig.

Der Mensch hat schließlich die Kunst der Täuschung in besonderem Maße entwickelt. Die Fakten sprechen für sich: Im Alter von sechs Monaten lernen Kinder, sich durch vorgetäuschtes Weinen Vorteile zu verschaffen. Mit zwei Jahren können sie so tun, als ob ihnen angedrohte Strafen keine Angst machten – auch wenn das Gegenteil der Fall ist. Zwei Drittel aller Zweieinhalbjährigen zeigen in Studien häufig ein entsprechendes Täuschungsverhalten – stets mit dem Ziel, sich einen Vorteil zu verschaffen.

Brisant dabei ist, dass die Fähigkeit zu lügen mit der Intelligenz zusammen hängt. Je heller der Kopf, umso kreativer ist er beim Formulieren von Ausreden.

Dies haben Forscher getestet: Sie ließen Kinder in einem Raum allein und forderten sie auf, nicht in eine dort stehende Schachtel zu schauen. Natürlich konnten die meisten der Versuchung nicht widerstehen. Wurden die Kinder später gefragt, ob sie gegen die Anweisung verstoßen haben, zeigte sich: Je besser sie zuvor in Intelligenztests abgeschnitten haben, umso größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihr wahres Verhalten geschickt vertuschten.

Hohe Intelligenz geht also nicht zwangsläufig mit besonders untadeligem Verhalten einher, im Gegenteil. »Wer auf seine intellektuellen Fähigkeiten stolz ist, sollte sich fragen, ob er öfter andere und dann auch sich selbst täuscht«, kommentiert Trivers. »Er hat jedenfalls das Zeug dazu, dies besonders gut zu können.«

Jede besondere Fähigkeit aber provoziert in der Natur eine Abwehrstrategie. Deshalb sind wir alle Experten darin, die Täuschungsabsichten anderer zu erkennen. Wir registrieren, ob unser Gegenüber Zeichen von Unsicherheit oder innerer Anspannung zeigt, ob seine Stimme höher wird, ob er unserem Blick ausweicht oder aus Nervosität Übersprungshandlungen begeht.

Auch die Sprache ist verräterisch: Beim Vertuschen vermeiden Menschen gern Pronomen wie »ich« oder »mir« und bevorzugen stattdessen unpersönliche Umschreibungen (»Die Firma geriet in Schwierigkeiten«, sagt dann der

Chef, der sonst für jeden Erfolg persönlich verantwortlich ist). Auch der so genannte Freudsche Versprecher kann darunter fallen.

Natürlich versuchen wir Menschen, verräterische Signale zu unterdrücken. Das allerdings erfordert dauernde Willensanstrengung. Und stets besteht die Gefahr, sich in schwachen Momenten doch zu verplappern. Deshalb hat das menschliche Gehirn im Laufe seiner Entwicklung einen genialen Ausweg aus dieser Zwickmühle gefunden:

Es verdrängt die Wahrheit ins Unterbewusstsein. Und überzeugt sich damit selbst davon, dass die Lüge der Realität entspricht. Auf diese Weise kann ein Lügner entspannt und glaubhaft hanebüchenen Unsinn vertreten, ohne sich mit der Selbstwidersprüchlichkeit herumschlagen zu müssen:

»Täuschung führt zur Selbsttäuschung, um die Täuschung zu perfektionieren«.

Vielleicht wenden sie ein: Das geht nicht ohne Risiko. Und sie haben Recht: Wer allzu verbissen die Realität verleugnet, wird am Ende leicht Opfer des eigenen Wahns. In Maßen aber scheint das Verschönern des eigenen Selbstbilds eher hilfreich. So überschätzen viele auf Partnersuche das Interesse, das ihnen fremde Menschen entgegenbringen. Da diese Selbsttäuschung sie aber zu mehr Annäherungsversuchen motiviert, erhöht sich die Chance, am Ende tatsächlich einen gleich interessierten Partner zu finden.

Vor allem bei Menschen, die nach Macht streben, ist dieser Mechanismus aktiv. Wer sich selbst als tollen Hecht wahrnimmt, wird leichter von anderen für einen solchen gehalten. Zudem verschafft die Selbsttäuschung das nötige Selbstvertrauen, dem Gegendruck standzuhalten, in Machtposition unabdingbar.

Deshalb, so Trivers, hat der Mensch im Laufe der biologischen Entwicklung Mechanismen entwickelt, die ebendiese Selbstüberschätzung befördern. Studien zeigen, dass wir unbewusst Informationen bevorzugen, die unsere vorgefasste Meinung bestätigen. Widersprüchliches wird geflissentlich verdrängt. Vielleicht gilt das ja auch für diese Predigt.

Als Psychologen etwa Befürworter und Gegner der Todesstrafe mit verschiedenen Fakten (pro und contra Todesstrafe) konfrontierten, hatten sich am Ende die Positionen nicht angenähert, sondern noch weiter voneinander entfernt. Jede Seite hatte vor allem jene Fakten zur Kenntnis genommen, die ins eigene Weltbild passten.

Auf ähnliche Weise schönen wir unsere Erinnerungen: Unliebsame Ereignisse, die am Selbstbild kratzen, werden verdrängt oder vom Gehirn automatisch weiter zurückdatiert (»Jugendsünden«), positive Erinnerungen dagegen gepflegt. Der Prozess des Erinnerns entspricht eben nicht dem Abrufen einer gespeicherten Computerdatei, sondern eher dem Erzählen einer alten Mär, die immer wieder an die Gegenwart angepasst wird.

Insofern ist die Feier des Volkstrauertags ein echter Zugewinn in Sachen Selbsterkenntnis und Realitätswahrnehmung! Wie das überhaupt für die evangelische Einsicht gilt, Sünder und Gerechter zugleich zu sein! Auch wenn das einem zuweilen schwer zu schaffen macht. Zurück zur Erinnerung.

Wer sich etwa einredet, in seiner Doktorarbeit nicht getäuscht zu haben, speichert irgendwann dies als Erinnerung ab. Fatalerweise verstärken sich solche unbewussten Selbsttäuschungsprozesse massiv, wenn wir in Machtpositionen geraten. »Macht korrumpiert unsere mentalen Prozesse beinahe sofort«, diagnostiziert Trivers und zitiert eine Reihe von Experimenten, die das zeigen.

Werden Menschen befördert und mit mehr Macht versehen, dann reagieren sie so: Sie achten weniger auf ihre Umgebung und sind stärker überzeugt von der eigenen Position. Damit einher geht zweierlei: die Neigung, sich moralisch überlegen zu fühlen (»sonst wäre man ja wohl kaum an der Macht«) und das Verhalten anderer verstärkt abwertend zu beurteilen. Dass das nicht nur zu Bank- und Börsencrashs führt, sondern zu Zusammenbrüchen in allerlei Lebensbereichen, das ist offensichtlich. Ungerechte Gewalt beginnt mit Täuschung und Selbstbetrug. Da muss es oft gar nicht mehr zu einem Ausbruch körperlicher Gewalt kommen.

Niemand ist vor Selbstbetrug gefeit. Diese Einsicht kann uns schützen, wenn sie uns um Gnade und Vergebung bitten lässt. Auf dass wir unter altem Recht neu miteinander leben können. Auf dass sich aus erkanntem Unrecht neues Recht entwickelt, das ein neues Zusammenleben eröffnet.

Dank der hoheitlichen Gnade und Vergebung Gottes im Himmel, der unseren Selbstbetrug durchbricht. Und Ahnungslose zu nur mehr Frommen, Irrende zu nur mehr Wahrhaftigen, Gierige zu nur mehr Gerechten, und reulose Heuchler zu nur mehr reuigen Sündern wandelt. Amen.

Perikope
17.11.2013
8,4-7