Ansprache zur Trauerfeier im Münchner Dom am 31.7.16
„Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen“ (Mt 11,28-29).
Ja, mühselig und beladen sind wir. Und wir bringen heute unsere Trauer, unser Erschrecken unsere Sorge um die Zukunft vor Gott. Hier im Münchner Dom und zusammen mit allen anderen, die jetzt über das Fernsehen dabei sind, teilen wir unsere Mühsal miteinander und mit Gott. Wir brauchen diese Gemeinschaft. Wir brauchen einander. Den Angehörigen der Toten kann niemand ihre Lieben wiedergeben. Aber wir können über alle religiösen und kulturellen Grenzen hinweg ihr Leid mittragen. Wir haben eben Worte des Gebets aus Judentum, Christentum und Islam gehört. Diese Worte haben Sprache gegeben für das Vertrauen, aus dem wir Gottsucherinnen und Gottsucher leben.
„Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. … so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen“ – für uns Christen sind diese Worte Jesu die große Hoffnung. Und diese große Hoffnung schafft uns – und vielleicht ja nicht nur uns – den Raum, um jetzt innezuhalten.
Nach dem Erschrecken der Tatnacht, dem Versuch zu verstehen, was da eigentlich passiert war, nach weiteren schlimmen Nachrichten von anderen Orten in und außerhalb Bayerns im Laufe dieser Woche und den politischen Diskussionen um die richtigen Reaktionen darauf, die nun längst entflammt sind, ist es heute Zeit, jenseits all dieser Diskussionen noch einmal innezuhalten. Denn uns alle bewegt die Frage, wie wir jetzt in die Zukunft gehen sollen, wie wir jetzt in die Zukunft gehen können.
Viele Menschen haben Sorge, manche haben Angst. Und keine noch so überzeugende Statistik über das unvergleichbar höhere Risiko, Opfer eines Autounfalls zu werden, kann die Bilder von der so plötzlich mitten in den unbefangenen Alltag einbrechenden Gewalt einfach löschen: Statistiken erreichen den Verstand. Bilder legen sich auf Herz und Seele.
In dieser Situation haben alle Verantwortung an ihrem jeweiligen Ort. Diejenigen, die politische Verantwortung tragen, müssen nach rechtsstaatlich tragfähigen Wegen suchen, um das Risiko weiterer Gewaltakte soweit wie möglich zu begrenzen. Alle, die medizinische und soziale Anzeichen für mögliche Gewalttaten erkennen können, müssen Frühwarnsysteme entwickeln, die entsprechende Planungen rechtzeitig stoppen helfen. Die Medien müssen ihre Berichterstattung reflektieren und für die Zukunft unterscheiden lernen, wo sie ihre Informationspflicht erfüllen und wo sie zu einer möglichen Hysterie beitragen, die niemandem hilft. Die Kirchen und Religionsgemeinschaften müssen sich um die Seele der Menschen, die Seele der ganzen Gesellschaft sorgen und Quellen der Zuversicht erschließen.
Es gibt vielleicht nichts, was uns in dieser Situation mehr helfen kann als neues Gottvertrauen. Das Vertrauen, dass – wie der Apostel Paulus sagt – „weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes“. Ein Vertrauen, was uns von der Lähmung in eine neue Freiheit führt, die am Ende das schlimme Ereignis, das uns heute zusammenführt, zum Ausgangspunkt einer neuen Kraft werden lassen kann.
Alle miteinander haben wir die Endlichkeit des Lebens vor Augen geführt bekommen. Der Tod ist auch sonst da, aber wir meiden ihn. Wir schieben ihn zur Seite, wo immer wir können. Wir ertragen ihn nur im Spielfilm am abendlichen Fernsehbildschirm. Vielleicht ertragen wir ihn auch noch, wenn wir ihn in den Nachrichten sehen und er weit weg ist. Und jetzt ist er aus dem Nichts heraus so nahe gekommen. Viele von uns hier in München konnten die Häuser nicht mehr verlassen oder hingen irgendwo in der Stadt fest. Ich höre noch immer das Knattern der Hubschrauber direkt über meinem Büro und die Polizeisirenen ringsum.
„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ – heißt es in der Bibel. Vielleicht können diese Tage des Erschreckens über die Endlichkeit des Lebens Ausgangspunkt für eine neue Klugheit im Umgang mit unserem Leben sein. Indem wir merken, wie wenig selbstverständlich das Leben ist. Indem wir wahrnehmen, wie kostbar das Leben ist. Wie kostbar die Zeit mit unseren Lieben ist. Aus der Trauer, die wir jetzt empfinden, aus dem Erschrecken über das jähe Ende des Lebens der Menschen, die wir heute betrauern, kann etwas Neues wachsen: eine neue Achtsamkeit für die Kostbarkeit des Lebens. Ein neues Bewusstsein für das wunderbare Geschenk des Lebens.
Nehmt das mit aus diesem Gottesdienst. Denkt daran, wenn ihr nach Hause geht, wenn die Worte hier zu Ende gesprochen und die Trauermusik verklungen ist: Es ist nicht selbstverständlich, dass wir leben, dass wir unsere Lieben bei uns haben. Unsere Zeit ist endlich. Deswegen, werft sie nicht weg. Nehmt die Zeit aus Gottes Hand und nutzt sie. Lebt bewusst und: vergesst nicht, zu danken!
Viele Menschen hier in München haben gezeigt, dass wir der Gewalt nicht hilflos ausgeliefert sind. Sie haben mitten in der Angst und in dem Erschrecken über die Gewalt Zeichen der Menschlichkeit gesetzt. Wir haben in diesen schweren Tagen erlebt, wie reich unser Leben wird, wenn wir aufeinander achten und zusammen stehen. Wenn wir einander nicht Konkurrenten sind, sondern Mitmenschen. Wenn wir unsere Häuser füreinander öffnen und Gemeinschaft erfahren. Wenn wir nicht nach Hautfarbe, Nationalität oder Religion fragen, sondern nur danach ob einer unsere Hilfe braucht. So wie es die äthiopische Gemeinde gezeigt hat, die die ganze Nacht über 60 Personen beherbergte, die sich dorthin geflüchtet hatten. Oder wie es der anonym gebliebene Mann aus Tunesien gezeigt hat. Er hat gestrandeten Menschen in der Münchner Amoknacht spontan angeboten, sie nach Hause zu fahren. Ein Ehepaar hat ihm mangels Namen und Adresse über einen Leserbrief in der Zeitung gedankt. Es war von ihm mitgenommen worden, als der Unbekannte bereits seine neunte Fuhre beförderte. Er hat den Segen eines Menschen erfahren, der einfach nur anderen helfen wollte.
Der anonyme Helfer ist damit zusammen mit vielen anderen zum Zeugen dessen geworden, was Dietrich Bonhoeffer in schwerer Zeit im Widerstand gegen den Nationalsozialismus so formuliert hat:
„Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.“
Aus diesem Vertrauen lasst uns leben. Hass und Gewalt werden keine Macht über unsere Herzen gewinnen. Die Liebe ist stärker.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
AMEN.
Link zur Online-Bibel
Ein mutiger Sklave unterwandert das Finanzsystem - Predigt zu Matthäus 25,14-30 von Margot Runge
Einleitung zu Beginn der Predigt: "Besonders hohe Renditen erzielte in den vergangenen zwölf Monaten etwa der Aberdeen Global Indian Equity Fund. Vor allem ein Regierungswechsel katapultierte die Börse auf dem Subkontinent in neue Höhen und der Fonds legte um 51 Prozent zu. Auf Drei-Jahres-Sicht zählt der Franklin Biotechnology Fund mit durchschnittlich 46 Prozent Jahresplus zu den Besten. Besonders attraktiv für Sicherheitsorientierte war der Emerging-Markets-Bond-Fund von Aberdeen. Er erzielte auf Fünf-Jahres-Sicht elf Prozent Plus per annum. Alle drei wurden im Fondstacho der Ratingagentur Assekurata mit ‚sehr gut‘ bewertet." http://www.handelsblatt.com/finanzen/vorsorge/altersvorsorge-sparen/fondspolicen-im-vergleich-teil-vii-mehr-rente-mit-spezial-investments/11023456.html
Lesung Mt 25,14-30
In dieser Beispielgeschichte hören wir bei den "Talenten" im Hinterkopf vor allem „Fähigkeiten“. Du hast ein Talent. Wir verstehen es sofort im übertragenen Sinne. Doch die Leute, denen Jesus diese Geschichte ursprünglich erzählt hat, wussten, was ein Talent wirklich ist: ein riesiger Barren Silber, so viel, wie ein Mensch gerade noch tragen kann, 30 bis 40 Kilogramm. Ein Talent, das sind 17 Jahreseinkommen einer armen Familie (à 350 Denare). Und die 8 Talente eines Investors, die investiert werden, entsprechen 140 bis 160 Jahreseinkommen. Wenn eine Familie an der Armutsgrenze heute 20.000 Euro zur Verfügung hat, entspräche das 2,8 Millionen Euro.
Der Sklavenbesitzer verfügt über weit mehr. Denn er braucht diese 8 Talente nicht für den laufenden Betrieb, sondern hat sie zusätzlich zur freien Verfügung und kann sie investieren, ohne seine sonstigen Geschäfte zu beeinträchtigen. Solche Vermögen lassen sich nicht mit eigener Hände Arbeit aufbauen. Das ist auch heute so. Geld gebiert Geld. Der größte Gewinn wird heute nicht durch Produktion erwirtschaftet, sondern durch Kapital selbst. Geld wird angelegt und verzinst und wird als Aktien an den Börsen durch die Welt geschoben.
Die acht Talente in der Geschichte von Jesus bringen tatsächlich Traumrenditen von 100 Prozent, jedenfalls sieben der acht Talente. Das sind keine Peanuts – „du warst im Kleinen zuverlässig, ich beauftrage ich mit Größerem“ –, sondern riesige Kapitalmengen. Und sie verdoppeln sich. Aus fünf werden zehn, aus zwei vier. Kann das mit rechten Dingen zugehen? Können aus fünf Millionen unversehens zehn werden? Wo kommen solche gigantischen Gewinnspannen her? Spätestens seit der Finanzkrise 2008 wissen auch Wirtschaftsunkundige, dass sich eine solche Performance nicht mit ehrlichen Methoden erwirtschaften lässt, sondern nur in hoch spekulativen Bereichen, im Menschen- und Drogenhandel, durch Betrug und gnadenlose Ausbeutung. Solche Gewinne lassen sich nur durch Immobilienspekulationen erzielen, durch Heuschreckenmethoden, „land grabbing“. Hungerlöhne werden gezahlt, Umweltschutzauflagen umgangen, Arme enteignet. Es wird betrogen und erpresst. Hinterzimmer, Abzocker, Briefkastenfirmen lassen grüßen.
Die Beispielgeschichte führt uns in die Welt der Superreichen und ihrer Praktiken. Wer solchen Gewinn erwartet, weiß wahrscheinlich – oder hoffentlich –, dass das nicht mit legalen Mitteln möglich ist. Wer seine Mitarbeitenden dennoch beauftragt, dass sie das Geld so anlegen, fordert sie auf, sich skrupelloser Methoden zu bedienen.
Doch anders als die Broker an der Wallstreet sind die Fachleute in der Beispielgeschichte von Jesus keine freien Menschen. Sie sind Sklaven. Obwohl sie offensichtlich für ihre Aufgaben spezialisiert sind und weitreichende Handlungsvollmachten haben, sind sie Abhängige. Qualifizierte Sklaven in Führungspositionen oder auch Sklaven, die Abgaben eintreiben müssen, sind in der Antike durchaus üblich. Und sie können ohne weiteres ausgepeitscht oder eingesperrt werden, wenn sie ihrem Besitzer nicht willfährig sind oder wenn sie Fehler machen. Ihr Herr bindet sie also ein in seine schmutzige Geschäftspraxis. Er macht sie, die Abhängigen, zu Mittätern. Die Sklaven tragen dazu bei, dass andere Familien ihr Hab und Gut verlieren, in Sklaverei verkauft werden.
Aber einer macht nicht mehr mit. Er beteiligt sich nicht mehr daran, ein System am Laufen zu halten, das die einen bereichert auf Kosten der anderen. Er sagt seinem Besitzer die Wahrheit ins Gesicht: „Herr, ich wusste, dass du ein harter Mann bist: Du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst ein, wo du nicht ausgestreut hast; und ich fürchtete mich, ging hin und verbarg deinen Zentner in der Erde. Siehe, da hast du Deines.“ (Mt 25, 24 f.)
Wie viele Nächte wird dieser Sklave wachgelegen haben und sich mit seiner Entscheidung herumgeschlagen haben? Das, wozu er ausgebildet ist – Geld zu investieren – ist ihm immer fragwürdiger erschienen. Er hat seinem Herrn nichts entzogen, keinen einzigen Denar. Im Gegenteil. Er hat das Eigentum seines Herrn treu bewahrt. Er hat sich sogar an den rabbinischen Frömmigkeitsregeln orientiert, als er es in der Erde vergraben hat.
Sein Besitzer wertet sein Verhalten als einen Affront ohnegleichen. Zumal ein Sklave es wagt, dem Herrn den Spiegel vorzuhalten und ihn als Dieb bezeichnet. Der Besitzer streitet das Urteil mit keinem Wort ab. Aber er bestraft ihn und wirft ihn ins Gefängnis.
Der Sklave landet dort, wo auch die anderen Opfer sitzen. Im Gefängnis sitzen Arme, die in Schuldhaft geraten sind, die ihre Schulden nicht zurückzahlen können. Im Gefängnis sitzt Johannes der Täufer. Im Gefängnis sitzt Jesus selbst mit seinen Freundinnen und Freunden. „Ich war gefangen und ihr habt mich besucht“, sagt er (Mt 25,36).
Auch heute sind Gefängnisse eher Orte der Armen, Abgehängten und Gescheiterten. Die Reichen können sich Anwälte leisten. Sie genießen Annehmlichkeiten, werden schneller zu Freigängern oder kommen auf Kaution frei. Für Peanuts halten sie die Summen, die sie in ihre Taschen gewirtschaftet haben. Selten, dass ein Josef Ackermann, Sepp Blatter oder Thomas Middelhoff verurteilt wird und seine Strafe auch voll absitzt. Doch andere wandern schon wegen Schwarzfahrens oder Ladendiebstahls hinter Gitter. In vielen Ländern sind die Zellen voller Leute, die ohne Verfahren eingesperrt und misshandelt werden. Gefängnisse dienen als Druckmittel gegen die lokale Bevölkerung. Hier landen kleine Bäuerinnen und Bauern, die sich gegen Enteignung wehren, Journalist*innen, die über Korruption recherchieren, Oppositionelle und Whistleblower wie Bradley Manning und (wenn es nach der Regierung ginge) Edward Snowden.
Der dritte Sklave kooperiert nicht mehr. Er lässt sich nicht mehr einspannen. Er folgt seinem Gewissen. Er sagt die Wahrheit. Er hält sich an die Regeln der Tora und beherzigt die Mahnung von Jesus: Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Geld, dem Mammon (Mt 6,24).
Er zahlt einen hohen Preis. Aber die Bibel ist davon überzeugt: Willkür und Gefängnis haben nicht das letzte Wort. Denn Jesus erzählt die Geschichte weiter. Nach dem Unrechtsurteil – „Werft diesen nutzlosen Sklaven in den finstersten Kerker. Dort wird er schreien und vor Todesangst mit den Zähnen knirschen“ – wird noch einmal Gericht gehalten: „Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf seinen himmlischen Richterstuhl setzen. Und alle Völker werden sich versammeln. Er wird die Menschen voneinander scheiden, wie ein Hirte die Schafe von den Böckchen trennt. Er wird denen zur Rechten sagen: Kommt heran, ihr Gesegneten Gottes, erbt Gottes Reich. Ich war hungrig, ihr gabt mir zu essen; ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr habt mich besucht. Was ihr für eines dieser meiner geringsten Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan.“ (aus Mt 25,30-36.40, Bibel in gerechter Sprache).
Der Sklave, der sich weigert, findet sich an der Seite von Jesus wieder. Die Welt bleibt am Ende nicht in den Händen der Gierigen und Gewalttätigen, sondern wird den Armen und Barmherzigen zufallen und denen, die für Gerechtigkeit eintreten.
Sklaverei gehörte im 1. Jahrhundert zum Alltag der Menschen um Jesus herum. Aus dem letzten Kapitel des Römerbriefes schließen wir, dass mindestens die Hälfte der Gemeindemitglieder in Rom Sklavinnen und Sklaven oder Freigelassene waren. In den Gemeinden, für die Matthäus um 80 n.Chr. herum sein Evangelium schrieb, wird es nicht anders gewesen sein. Viele haben also Unfreiheit am eigenen Leib erfahren. Ihnen erzählt Jesus diese Geschichte. Wie wird sie in ihren Ohren geklungen haben?
Wir leben in Mitteleuropa in einer freien Gesellschaft. „Ich kann ja nichts tun“, sagen trotzdem viele, „ich bin nur ein kleines Licht. Mir sind die Hände gebunden.“ Die Bibel glaubt nicht daran, dass Menschen nur willen- und wirkungslose Rädchen im Getriebe sind. Wir brauchen nicht mitzulaufen. Die Verhältnisse sind nicht alternativlos. Wir haben immer die Möglichkeit, uns Spielraum zu erobern, und sei er noch so klein. Selbst ein Sklave lässt sich seine Entscheidungsfreiheit und Autonomie nicht nehmen. Wir können und sollen für eine andere Welt einstehen. Jesus erzählt, wie jemand das selbst in extremsten Abhängigkeitsverhältnissen wagt. Eine Mutmachgeschichte. Auch für uns.
Literatur:
Schätzungen nach Marlene Crüsemann: Wahre Herrschaft: Das Gleichnis
von den Talenten und das Gericht Gottes über die Völker. In: Marlene
Crüsemann, Claudia Janssen, Ulrike Metternich (Hrsg): Gott ist anders.
Gleichnisse neu gelesen. Gütersloh 2014, 56 – 69 Die Predigt folgt der
Auslegung von Marlene Crüsemann sowie der Gleichnistheorie von Luise
Schottroff: Die Gleichnisse Jesu. Gütersloh 2007 (2. Auflage),
insbesondere S. 290-294
Link zur Online-Bibel
Bleiben wir wach! - Predigt zu Matthäus 25,1-13 von Mira Stare
Bleiben wir wach!
Liebe Schwestern und Brüder,
wir feiern heute den letzten Sonntag im Kirchenjahr, der in der evangelischen Kirche auch als Ewigkeitssonntag bekannt ist. Dem Gedenken an die Verstorbenen ist dieser Sonntag gewidmet. Unsere Gedanken gehen dabei auf der einen Seite in die Vergangenheit, in welcher wir mit unseren Verstorbenen noch hier auf der Erde beisammen waren. Dabei können wir mit dem Blick auf unsere Verstorbenen Dankbarkeit erleben, manchmal aber auch Traurigkeit, weil sie nicht mehr hier sind, und weil wir sie nicht mehr von Angesicht zu Angesicht sehen können. Auf der anderen Seite lenkt das Evangelium vom heutigen Tag unseren Blick in die Zukunft, nämlich zum Kommen Jesu bei der Vollendung der Zeit, das sich auch sehr bald ereignen kann. Es erfüllt uns mit Hoffnung auf das, was kommt, und ruft uns zur Wachsamkeit auf.
Im Evangelium erzählt Jesus ein Gleichnis mit dem er das Geschehen betreffend das Himmelreich vergleicht. Den Hintergrund des Gleichnisses bildet ein besonderer Hochzeitsbrauch: Junge Frauen empfangen den Bräutigam mit einem Licht-Tanz. Im Gleichnis gibt es zehn Jungfrauen, die dem Bräutigam entgegen gehen, um ihn in das Haus der Braut zum Hochzeitsfest zu begleiten. Unter diesen jungen Frauen gibt es im Gleichnis zwei Gruppen: Die Hälfte von ihnen ist töricht, weil sie nur die Lampen, aber kein Öl zur Reserve mit sich haben. Die andere Hälfte ist klug, denn sie haben nicht nur die Lampen, aber auch Reserveöl in Krügen mit. Tatsächlich brauchen sie dann sowohl die Lampen als auch das Öl. Denn die Ankunft des Bräutigams verspätet sich. Er kommt erst in der Nacht. Den törichten Jungfrauen ist nun in der Dunkelheit bitter bewusst, dass sie kein Öl mithaben und sie ihre Lampen nicht länger verwenden können. Sie versuchen sich das Öl von den anderen Jungfrauen auszuleihen. Das gelingt ihnen jedoch nicht. Die klugen Jungfrauen haben ausgerechnet, dass ihnen das Öl dadurch auch ausgehen kann. Sie geben der ersten Gruppe nur den Rat, sich das Öl zu kaufen. Der Rat wird befolgt, aber der Bräutigam kommt ausgerechnet zur gleichen Zeit. Demzufolge gelingt es den mit Einkauf beschäftigen Jungfrauen nicht mehr, rechtzeitig beim Bräutigam zu sein und mit ihm in den Hochzeitssaal zu gehen. Sie bleiben vor der geschlossenen Tür. Jesus beendet das Gleichnis mit dem Aufruf zur Wachsamkeit: „Seid also wachsam! Denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde“ (Mt 25,13). Es geht um den Tag und die Stunde des Wiederkommens des Menschensohnes bei der Vollendung der Zeit.
Liebe Schwestern und Brüder, wir sind jeden Tag und jede Stunde neu zur Wachsamkeit für das Kommen Jesu aufgefordert. Das Gleichnis zeigt uns, dass dieses schon bald geschehen kann. Dieses Kommen Jesu kann sich aber auch noch verzögern. Wir können jedoch daran glauben, dass wir am Ende unseres irdischen Lebens Jesus, dem Menschensohn, von Angesicht zu Angesicht begegnen werden. Wir vertrauen, dass für unsere Verstorbenen diese Begegnung mit dem auferstandenen und verherrlichten Jesus bereits die Wirklichkeit geworden ist und dass sie mit ihm – mit dem Bild aus dem Gleichnis ausgedrückt – bereits am Tisch im Hochzeitssaal im Reich Gottes sind. Das Bild vom Hochzeitsmahl ist eines der schönsten Bilder sowohl für das Leben der Menschen auf der Erde als auch für das Leben im Reich Gottes. Dieses Bild bringt Hoffnung und Freude mit sich. Das Leben mit Jesus geht auch nach dem irdischen Tod weiter und dies mit seiner schönen und fruchtbaren Seite. Wir können uns darauf schon jetzt freuen. Wir brauchen keine Angst vor dem Leben nach dem Tod zu haben. Was wir aber brauchen, ist die Wachsamkeit und Aufmerksamkeit für Jesus und sein Kommen in unserem Leben sowohl jetzt als auch am Ende unseres irdischen Lebens. Bleiben wir wach und standhaft in Erwartung auf ihn, von dem wir zu seinem Mahl schon hier auf der Erde wie auch zum großen Festmahl im Reich Gottes eingeladen sind. Bleiben wir in Vorfreude wach – sowohl am Tag als auch in der Nacht.
Link zur Online-Bibel
Ruht in Frieden, Engel! - Predigt zu Matthäus 25,1-13 von Wolfgang Vögele
Ruht in Frieden, Engel!
„Dann wird das Himmelreich gleich sein zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und gingen aus, dem Bräutigam entgegen. Aber fünf unter ihnen waren töricht, und fünf waren klug. Die törichten nahmen Öl in ihren Lampen; aber sie nahmen nicht Öl mit sich. Die klugen aber nahmen Öl in ihren Gefäßen samt ihren Lampen. Da nun der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein. Zur Mitternacht aber ward ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam kommt; geht aus ihm entgegen! Da standen diese Jungfrauen alle auf und schmückten ihre Lampen. Die törichten aber sprachen zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, denn unsere Lampen verlöschen. Da antworteten die klugen und sprachen: Nicht also, auf daß nicht uns und euch gebreche; geht aber hin zu den Krämern und kauft für euch selbst. Und da sie hingingen, zu kaufen, kam der Bräutigam; und die bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit, und die Tür ward verschlossen. Zuletzt kamen auch die anderen Jungfrauen und sprachen: Herr, Herr, tu uns auf! Er antwortete aber und sprach: Wahrlich ich sage euch: Ich kenne euch nicht. Darum wachet; denn ihr wisset weder Tag noch Stunde, in welcher des Menschen Sohn kommen wird.“
Liebe Gemeinde,
mit dem Bericht einer jungen Frau will ich anfangen: „Es war nur ein Freitagabend bei einem Rockkonzert. Es herrschte eine gute Atmosphäre, alle tanzten und lachten. Als die Männer durch den Haupteingang kamen und mit dem Schießen begannen, glaubten wir ganz naiv, das sei ein Teil der Show. Es war nicht der Angriff von Terroristen, es war ein Massaker.“ Das schrieb eine Studentin aus Südafrika. Am vorletzten Freitag sah das Konzert im Bataclan-Konzertsaal in Paris. Sie überlebte den Anschlag, weil sie sich liegend für mehr als eine Stunde totstellte.
Einen Tag später schrieb sie auf, was sie bewegte. Ihr Bericht endet so: „Als ich da im Blut fremder Leute lag und auf die Kugel wartete, die meinen 22 Jahren ein Ende setzen sollte, sah ich vor meinen Augen jedes Gesicht, das ich je geliebt habe und dem ich zugeflüstert habe: Ich liebe dich. Ich dachte über die Höhepunkte meines bisherigen Lebens nach. Ich wünschte mir, daß die, die ich liebe, das auch wissen, wünschte mir, daß sie, unabhängig davon, was mit mir geschehen würde, weiter an das Gute in den Menschen glauben. Daß sie diese Leute nicht gewinnen lassen. In der letzten Nacht hat sich das Leben vieler Menschen für immer verändert, und es liegt an uns, nun bessere Menschen zu werden. Um ein Leben zu leben, daß sich die unschuldigen Opfer dieser Tragödie erträumt haben, das diese aber traurigerweise nie werden verwirklichen können. Ruht in Frieden, Engel! Wir werden euch nie vergessen.“[1]
Liebe Gemeinde, über eine Woche nach den Anschlägen von Paris schiebt sich immer noch das Erschrecken vor all die andere Trauer, die viele von Ihnen heute bewegt. Mir ist bewußt, daß im Bericht dieser jungen Frau keine Anspielung auf die Geschichte von den zehn Jungfrauen zu finden ist. Das ist im Moment nicht entscheidend. Aber die Trauer über die 135 Opfer der Anschläge soll am Ewigkeitssonntag eine Stimme haben und gehört werden.
Viele von Ihnen sitzen in diesem Gottesdienst mit ihren eigenen traurigen Erinnerungen. Erinnerungen an geliebte Menschen, die Sie im vergangenen Jahr zu Grabe getragen haben. Sie haben vielleicht die Worte des Pfarrers noch im Ohr: Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du wieder werden. Dann fällt raschelnd eine Schaufel Sand auf den Sarg.
Manche Menschen sterben von einem Moment zum anderen. Dann kommt die Trauer wie ein Überfall ohne Vorbereitungszeit. Andere, vor allem alte Menschen liegen über Monate im Sterben, und der Tod kommt als Erlösung. Die Angehörigen haben ihn erwartet. Wie dem auch sein mag: Der Tod eines Menschen löst ein Chaos von widersprüchlichen Gefühlen aus, die das Wort Trauer nur unzureichend umschreibt.
Der Tod eines lieben Menschen kann so vieles mit sich bringen: bitteren Schmerz über einen schweren Verlust, wiederkehrende angenehme Erinnerungen an Nähe, Zärtlichkeit und Gemeinsamkeit, an freundliche Tage, dann wieder bleierne Gedanken an zähen Streit mit Schreien und splitterndem Porzellan, Gedanken an vieles, was nicht aufgearbeitet wurde und was sich vor dem Sterben nicht mehr auflösen ließ, Gedanken an Überforderung und genauso an bewältigte Aufgaben, an Leistung, Stolz auf erreichte Ziele.
Die Toten sind begraben, seit ein paar Tagen oder Monaten. Die Toten leben weiter im Gedächtnis. Jeder Trauernde weiß: Ich kann noch etwas für sie tun. Ich gehe zum Friedhof und stelle mich vor das Grab und bete. Ich verbinde Worte der Hoffnung mit Erinnerungen. Zuhause blättere ich versonnen in alten Fotoalben oder Briefen. Ich sortiere Wäsche, Habseligkeiten und Erinnerungsstücke aus. Manche Trauernden kaufen eine Kerze, stellen sie zuhause auf, bringen sie später zum Grab und zünden sie an.
Die Kerze erinnert an einen lieben Menschen. Sie bringt ein wenig Licht in die Dunkelheit trüber Novemberstimmung, in die Düsternis des Friedhofs, in die Trauerschatten der eigenen Seele. Kerzen erinnern an die Öllampen der klugen und der törichten Jungfrauen. Vielleicht waren die Öllampen auch Fackeln, das spielt aber für unseren Zusammenhang keine Rolle.
Kerzen, Öllampen und Fackeln spenden Licht. Alle drei waren schon zu Zeiten gebräuchlich, als noch niemand von Glühlampen und LED-Leuchten wußte. Alle drei Leuchter haben eine begrenzte Leuchtkraft. Sie setzen einen winzigen Lichtraum gegen die verbreitete Dunkelheit, nicht mehr. Sie heben die Dunkelheit nicht auf. Die Flamme einer Kerze setzt einen Punkt gegen die Dunkelheit, und sie brennt gegen mehrere Dunkelheiten, gegen die Dunkelheit der Trauer, gegen die Dunkelheit des Todes, auch gegen die Dunkelheit von Terror und Gewalt.
Die zehn Jungfrauen bereiten sich übrigens nicht auf den Tod, sondern auf die Ankunft des Bräutigams vor. Ich glaube nicht, daß die Jungfrauen festlich gekleidet waren. Sie glichen nicht den Brautjungfern aus Hollywood-Hochzeiten glichen, alle im gleichen rosa Kleid, von der gleichen Schneiderin, die auch das Hochzeitskleid entworfen hat. Ich kann mir nur schwer vorstellen, daß die Jungfrauen aus dem Gleichnis so ausgesehen haben.
Die klugen unter den Jungfrauen kaufen rechtzeitig und genügend Öl für ihre Lämpchen, die törichten auch, aber sie lassen es frühzeitig abbrennen. Als der Bräutigam erscheint, stehen sie als die Dummen da. Seid lieber wachsam! Laßt nicht nach in eurer Aufmerksamkeit. Das ist die Konsequenz am Ende des Gleichnisses.
Wachsamkeit und Aufmerksamkeit im Angesicht des Todes, den schließlich niemand verhindern kann? Wer trauert, ist nicht nur von einem einzigen Gefühl gefesselt. Wer trauert, sieht sich Böen von widerstreitenden und wiederkehrenden Gefühlen ausgesetzt. Sie stürmen über ihn hinweg. Für manches reicht die Aufmerksamkeit, es muß ohnehin geregelt werden: das Trauergespräch mit der Pfarrerin, der Bestattungsunternehmer, die Anzeige, ein paar Wochen später der Grabstein. Anderes bleibt unerledigt liegen: die alten Briefe noch einmal lesen, die Fotos sichten, die große Sammlung verkaufen, an der er so sehr gehangen hat. Trauern ist eine Achterbahnfahrt zwischen Vergessen, Verleugnen, Nicht-wahr-Haben-Wollen, Trost und Annehmen.
Trauergottesdienst und Bestattung stehen am Anfang dieser Phase. Er kann so etwas sein wie ein erstes schützendes Geländer. Gebete, Lieder, gute Worte, die alten, bekannten Psalmen. All das kann jedem, der trauert, den Angehörigen, den Freunden, den Nachbarn, über die Abgründe der Verzweiflung und des Schmerzes hinweghelfen. Erprobte Rituale schützen vor dem Chaos der Gefühle.
Manchmal trauern auch diejenigen sehr, die dem Verstorbenen eher ferne standen. Aufmerksamkeit und Wachsamkeit gelten plötzlich den öffentlichen Toten: den Schülern des Halterner Joseph-König-Gymnasiums, die beim Absturz von Germanwings Flug 9525 im März ums Leben kamen; den Karikaturisten und Autoren von Charlie Hebdo; den Opfern der Anschläge von Beirut und Paris. Ich bin überzeugt: Öffentliche Trauer ist genauso nötig wie persönliche Trauer, auch bei einzelnen Persönlichkeiten, in diesem Jahr bei Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt, Pierre Brice, Harry Rowohlt, Anita Ekberg.
Darum wachet, sagt Jesus am Ende der Geschichte von den Jungfrauen. Wachet! Seid aufmerksam! Laßt euch nicht ermüden! Wer wacht, richtet seine Aufmerksamkeit aus. Diese Haltung zielt in mehrere Richtungen. Sie zielt auf die Trauer über den Tod eines lieben Menschen. Diese Trauer soll sich niemand nehmen lassen. Sie zielt auch auf das eigene Sterben, dem niemand entgehen kann. Das Wachen zielt nicht zuletzt auf den Glauben.
Jesus meint eine Wachsamkeit im Angesicht der Ewigkeit. Und diese Wachsamkeit verbindet sich mit dem Warten. Trauer braucht Geduld und Abwarten, bis der Schmerz der Seele langsam abklingt. Wer über Jahrzehnte mit einem Menschen, der im letzten Jahr gestorben ist, zusammen gelebt hat, kann nicht von einem auf den anderen Tag umschalten auf Alleinsein oder die Verbindung mit einem neuen Partner. Trauer heißt auch Schmerz über die Trennung. Diesen Abschied vollzieht der Trauer in der Wohnung, im gemeinsamen Lebensraum und in der Seele.
Das christliche Warten richtet sich über die Trauer und das Bedenken des eigenen Todes weiter hinaus auf die Ewigkeit. „Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden“, schreibt der Psalmbeter (Ps 90,12). In der Klugheit des Glaubens warten die Menschen auf das Reich Gottes. Das ist die Hochzeit mit dem Bräutigam, von denen Jesus im Gleichnis mit den Jungfrauen spricht. Das Reich Gottes ist ein Fest, der Beginn einer großartigen Zeit, Hoch-Zeit zwischen dem Himmel Gottes und den Menschen der Erde.
Die Trauer um den Tod lieber Menschen, bekannter wie unbekannter, friedlich entschlafener wie bestialisch ermordeter Menschen, ist eingebettet in die Hoffnung auf das kommende Reich Gottes. Gottes Reich steht für die Hoffnung über den Tod hinaus. Ihr vertrauen wir uns an. Diese Hoffnung ist zerbrechlich, verletzbar, manchmal winzig, manchmal verborgen, und dennoch bleibt sie das einzige, was wir Christenmenschen der unbarmherzigen Gewalt des Todes entgegenzusetzen haben. Diese Hoffnung wächst aus dem Glauben an Jesus Christus, der durch den Tod zum Leben Gottes auferstanden.
Deswegen gilt den Verstorbenen das Hoffnungswort dieser jungen Studentin: Ruht in Frieden, Engel. Amen.
[1] Eigene Übersetzung. Wer sich das Original anschauen will, kann in Facebook auf die Seite von Isobel Bowdery gehen.
Link zur Online-Bibel
Predigt zu Matthäus 25,31-46 von Agnes Schmidt-Köber
Die Tür geht auf. Eine junge Frau, mit langen braunen Locken, wird auf einer Trage ins Zimmer gebracht.
Nachdem die Sanitäter sie auf das freie Bett gehoben und den Raum wieder verlassen haben, sagt sie freundlich: hallo, ich bin Y., ich bin Musli...ää Türkin.
Spontan antworte ich: ich bin A. evangelisch.
Wirklich? .... wir werden unterbrochen, die Nachtschwester kommt und führt die Aufnahmeregularien durch.
Danach erzählten wir uns unsere Einlieferungsdiagnosen.
Es entspann sich ein sehr nettes Gespräch, auch die bis dahin schweigsame 3. Frau, verschleiert durch ein Kopftuch, entpuppte sich als versierte und interessierte Gesprächspartnerin.
An diesem Abend im Juli 2013 ist es schwül-warm, Türen und Fenstern stehen weit offen, wir hören, wie die letzten Flugzeuge den Konrad-Adenauer-Flugplatz ansteuern, hören Babies, das Scheppern des Rollwagens auf dem Flur und vieles mehr.
An Schlaf ist nicht zu denken. Irgendwann nach 1 Uhr nachts fragt mich Y.: woran erkennt man einen Christen? A: dass er an den Dreieinen Gott glaubt, dass er sein Leben an der Bibel orientiert. Y: Ok, aber woran kann ich sehen, dass jemand Christ ist, gibt es etwas, was jeder Christ machen muss? Die Theologin denkt an Artikel 6 des Augsburger Bekenntnisses (CA) und ich sage: nun ja, machen müssen müssen evangelische Christen nichts. Aber man kann am Handeln manchmal erkennen, wer gläubig ist. Dann fallen mir in jener Nacht die Werke der Barmherzigkeit ein:
Die stehen im 25. Kapitel des Matthäusevangeliums und sind Grundlage der heutigen Predigt:
31 Wenn der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit,
32 und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet,
33 und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.
34 Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt!
35 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.
36 Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.
37 Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben?
38 Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet?
39 Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?
40 Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
41 Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!
42 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben.
43 Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht.
44 Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient?
45 Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.
46 Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.
1. Hungrige speisen & Durstige tränken, 2. Nackte kleiden, 3. Fremde beherbergen, 4. Kranke besuchen, 5. Gefangene betreuen sind Dinge, die man als Folgen christlichen Glaubens verstehen kann. Später kam auch noch 6. Tote bestatten zu diesen Werken der Barmherzigkeit.
Meine beiden muslimischen Nachbarinnen stellen fest: das ist bei uns ganz ähnlich, dann ist euch Deutschen eure Religion ja doch nicht egal, so wie es „durch das Fernsehen“ aussieht. Nein, gewiss nicht. Schnitt. Szenenwechsel.
Heute, am Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres, wenn wir die Worte aus Matthäus 25 hören, können wir uns nicht nur auf die Werke der Barmherzigkeit beschränken, sondern müssen den gesamten Abschnitt beachten, aus dem ich die Werke der Barmherzigkeit herausseziert hatte.
Wir haben einen "Rahmen" um die Werke der Barmherzigkeit, der nicht einfach ignoriert werden kann: Das sogenannte Weltgericht.
Lasst uns dieses Bild ein wenig näher betrachten: Der Menschensohn kehrt wieder zum Gericht – zu einem unbekannten Zeitpunkt. Er stellt sich als einen Hirten dar, der mit einer Schafherde zu tun hat. Weibliche Schafe und Böcke werden im jungen Alter voneinander getrennt. Die weiblichen Tiere versprechen Nachwuchs und Milch, die Böckchen hingegen werden ausgesondert und geschlachtet, da sie sonst keinen Nutzen bringen. Das Vorgehen des Hirten ist den Menschen zu Jesu Zeit vertraut und wird auch heute noch in Ländern mit reger Transhumanz praktiziert.
Während der Predigtvorbereitung ist in mir folgender Gedanke gereift:
Das Gericht im Evangelium kommt unverhofft und unerwartet. Niemand drängt sich dahin, sondern die beiden Gruppen stellen fest: wir sind mittendrin. Es geht darum zu sehen, wo sie stehen und was für Folgen ihr Handeln hat. Sie stehen für Menschen, so wie sie sind: die einen, die sensibel, mit geschärften Sinnen durchs Leben gehen, die innere Kraft haben, den Nächsten zu sehen und ihn wahrzunehmen und ihm bei Bedarf helfen und nützlich zu sein. Ihnen gegenüber stehen Menschen, die den Anderen, den Nächsten nicht erkennen können, die wohl mit sich selbst zu viel haben, die keine Antennen besitzen für das Ergehen ihrer Mitmenschen und ihnen demzufolge nicht nützen.
Erstere, die „Schafe“, tragen dazu bei, dass das Elend ihrer Mitmenschen gelindert wird und nicht in „Hölle“ ausarten… sie werden ihnen zu Engeln. Letztere, die „Böcke“, belassen – unbeabsichtigt – ihre Mitmenschen in ihrem Elend. Aus dem Elend kann man sich selbst nicht oder nur sehr schwer befreien. Allein gelassen gerät man immer tiefer hinein.
Um seinen Jüngern die Bedeutung des Gerichtes zu erklären, vergleicht Jesus den Richter mit einem Hirten, der die Schafe und die Böcke voneinander trennt. Ebenso trennt der Menschensohn bei seiner Wiederkunft die Erwählten von den Verworfenen, die „Guten“ von den „Gleichgültigen“.
Es drängt sich mir die Frage auf: wie passt das heutige Evangelium zum Volkstrauertag?
Der Volkstrauertag hat seinen Ursprung in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg.
Viele Menschen fanden ihr frühes Ende und hinterließen viel Elend und Trauer.
Die Gefallenen des 2. Weltkrieges – ihrer zu gedenken, ist bis heute eine schwierige Angelegenheit in unserem Land: auf der einen Seite haben wir da die geschichtliche Verantwortung unseres Landes für das unsägliche Leid, auf der anderen Seite stehen da die vielen Opfer auf deutscher Seite: die Tote an den Kriegsfronten, in den Gefangenenlagern, in den sowjetischen Arbeitslagern: Väter, Brüder, Großväter, Onkel. Dann die Verwandten die aus den deutschen Gebieten im Osten fliehen mussten und auf diesem gefährlichen Weg ihr Leben ließen.
In Ausnahmesituationen wird sichtbar, ob man glaubt und wie ernst man seinen Glauben nimmt. Im Kriegsgeschehen und in Kriegszeiten zeigt sich, wes Geistes Kind man ist. Kriegszeiten sind Zeiten, in denen der Glaube besonders herausgefordert ist, in dem sich Glaube und gelebte (Nächsten)Liebe bewähren müssen.
In vielen Erzählungen und Berichten habe ich gehört, dass es an der Ostfront immer wieder zu zwischenmenschlichen Begegnungen (zwischen den Kriegsgegnern) gekommen ist: dass beide Seiten miteinander Proviant und Wasser teilten und das Kriegstreiben nicht verstanden. Oder: Menschen, die in russische Gefangenschaft geraten waren, hatten auch als Feinde Nahrung bekommen, gerade genug, um nicht vor Hunger/Durst und Kälte zu sterben. Es wäre ein leichtes gewesen, die Feinde verhungern zu lassen - die Russen hatten selbst nichts. Diese Menschen, die den Nächsten sehen und ihm helfen, sind solche "Schafe", die nicht lang nachdenken, was sie tun, die auch im Feind den Nächsten erkennen und ihm helfen.
Sie sind nicht absichtlich in die Situation geraten, wie die Herde im Gleichnis.
In jedem Hilfsbedürftigen begegnet uns Jesus. Durch seine Liebe, durch seine Hingabe ans Kreuz befähigt er auch uns, heute, (Nächsten)Liebe zu üben.
Conclusio: Man ist nicht Christ, weil man die Werke der Barmherzigkeit übt, sondern anders herum: weil man Christ ist, weil man Gott vertraut, weil man sich mit allen Bedürfnissen in Gottes Liebe aufgenommen weiß, wird man fähig zu selbstlosem Handeln - in Kriegs- und in Friedenszeiten.
Eine richtig unbequeme Botschaft enthält dieser Bibelabschnitt, die kann ich nicht weglassen: es gibt auch ein Zuspät. Der Gedanke des Gerichtes will uns keine Angst machen, sondern wachrütteln, dass wir erkennen, wo wir verantwortlich sind. Es gibt auch Verantwortung, die uns niemand abnehmen kann.
Die Werke der Barmherzigkeit öffnen einen Weg, der zur guten Verständigung unter den Religionen und zum Frieden führen kann. Sie sind der Garant für ein menschenwürdiges Leben.
Ich glaube: wenn Menschen, über alle religiösen Grenzen hinweg, sich getragen und angenommen wissen, dann lässt jeder jeden leben.
Dann müssen künftige Generationen das Wort „Krieg“ im Lexikon nachschlagen, weil keine Kriege mehr geführt werden. Dann wären auch Gedenktage wie der heutige überflüssig, es gäbe keine Tränen, kein Leid mehr. Hach.
Amen
Link zur Online-Bibel
Selig sind die Barmherzigen - Predigt zu Matthäus 25,31-46 von Katharina Wiefel-Jenner
Selig sind die Barmherzigen
Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.
Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.
Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht.
Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.
Der Tag der Urteilsverkündigung kommt. Das Verfahren ist langwierig und schwierig. Misstrauenserklärungen gegen den Richter gehören zum guten Ton. Täglich werden neue Unterstellungen über ihn verbreitet. Vor seinem Haus wird demonstriert. Man wirft seine Fenster ein, legt Brandsätze in seiner Garage, bedroht seine Familie. Die Kinder seiner Schwester haben Angst zur Schule zu gehen. Bomben fallen auf das Haus seines Bruders. Sein Cousin wurde verschleppt. Seine Cousine hielt es nicht aus und floh übers Meer. Mit ihrem Kind auf dem Arm hofft sie auf den Engel, der ihr erzählt, dass sie wieder nach Hause könnte.
Der Tag der Urteilsverkündigung kommt. Bis jetzt war das Verfahren quälend. An manchen Tagen zum Verzweifeln. Unglaublich, mit welchen Unverschämtheiten sich der Richter auseinandersetzen muss. Er wurde durchbohrt. Sein Anblick war zum Erschreckenden. Aber die Demütigungen gegen ihn haben ihn nicht gebrochen. Die Drohungen und Anschläge sind ins Leere gegangen. Er ist geblieben. Er ist lebendig. Er ist der Richter.
Der Tag der Urteilsverkündigung kommt. Der Andrang ist groß. Alle Welt wird da sein. Auch aus dem Ausland werden sie kommen. Der Große Saal wird bis auf den letzten Platz gefüllt sein. Niemand wird es verpassen. Alle werden dabei sein.
Erhebt euch, denn der Richter kommt, in seiner Robe, weiß wie der Schnee. Erhebt euch für den Menschensohn.
Der Tag der Urteilsverkündigung kommt - hört das Urteil!
„Kommt her“, sagt der Menschensohn. „Kommt her! Euch hat mein Vater gesegnet. Nehmt das Reich in Besitz, das Gott seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt hat.“ Was ist das für ein seltsames Urteil? Der Menschensohn richtet, als wolle er belohnen.
Er ist ein aufmerksamer Richter. Er hört genau hin und sieht genau hin. Keine Bewegung, keine Handlung, nicht ein Wimpernschlag bleiben vor ihm verborgen. Er sieht, wer arm ist, wer leidet, wer sanftmütig ist, hungrig und durstig. Er findet die Barmherzigen und die Friedfertigen. Unter den Vielen entdeckt er die mit dem reinen Herzen und auch die Verfolgten.
Der Große Saal ist voll. Alle sind da und verwundert reiben wir uns die Augen.
„Kommt her! Setzt euch zu meiner Rechten“, sagt der Menschensohn. „Das ist euer Platz. Bleibt in meiner Nähe. Bleibt an meiner Seite!“ Der Menschensohn richtet also, indem er sich seine Menschen an die Seite holt und sie mit seiner Nähe belohnt.
Er kennt uns Menschen. Dieser Richter ist ein großer Menschenkenner. Er weiß es, dass wir ohne diesen Lohn zu nichts Gutem in der Lage wären. Und der Menschensohn weiß, wie schlimm es ohne diesen Lohn um die Welt aussähe. Das möchten wir uns nicht vorstellen, wenn es niemanden gäbe, dem er zuriefe: Kommt her, seid an meiner Rechten. Was wäre das für eine Welt?
Es gäbe keine Tafeln, keine Suppenküche, kein echtes Saatgut für die Bäuerinnen in Kenia. Was wäre, wenn niemand zur Rechten des Menschensohnes säße? Niemand hätte mit Wasserflaschen am Bahnhof gewartet. Niemand würde darauf achten, dass die Alten genug trinken. Es gäbe keine Brunnen in der Sahelzone. Niemand würde sich um die Klimaveränderung scheren. Was wäre, wenn der Platz zur Rechten leer bliebe? Niemand würde sagen: Wir schaffen das! Die Kleiderkammern wären leer und die Flüchtlinge würden in Flipflops durch das zusammengekehrte Laub laufen. Was wäre, wenn niemand zur Rechten säße? Die Kranken schrien vor Schmerzen, die Gefolterten würden in ihren Kerkern vergessen und kein Verfolgter könnte hoffen. Was wäre, wenn zur Rechten Gottes Leere herrschte? Niemand würde Unrecht beim Namen nennen. Niemand hätte den Mut, die Mächtigen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Tyrannen und Diktatoren könnten weiter morden und niemand wäre da, vor denen sie sich in ihren Träumen und in der Stunde ihres Todes fürchten. Was wäre wenn, die Rechte Gottes leer bliebe? Keine Träne wäre um die Millionen auf den Schlachtfeldern Getöteter geweint worden, sie wären verloren und vergessen. Der Friede wäre ein Luftgespinst, nach dem sich niemand sehnt und für das niemand einen Finger krümmen würde.
„Kommt, setzt euch an meine Seite“, sagt der Menschensohn. „Euer Tun zeigt, wie die Welt eigentlich sein soll. Ihr seid gesegnet. Ihr zeigt den Weg zum Leben.“
Im Großen Saal ist alle Welt versammelt. Hinter uns die Presse. Sie wird festhalten, was hier passiert und die Sensation auf der Startseite bringen. Wir aber brauchen die fettgedruckten Schlagzeilen nicht. Wie sind dabei. Aus erster Hand erfahren wir es. Wir sehen mit eigenen Augen, wen der Menschensohn an seine rechte Seite ruft.
Das ist schon erstaunlich, wer dazu gehört. Das hätten wir nicht gedacht! Mit denen, die immer zu ihm gehalten haben, konnte man ja rechnen. Das wäre auch nicht fair, wenn sie nicht dazugehören würden. Sie haben sich in den Gemeinden abgekämpft, miteinander das wenige geteilt, was da war. Wenn nicht der Menschensohn zu ihnen stehen würde, wer würde es dann tun. Da sind aber auch die, von denen wir es nicht geahnt haben, dass sie sich schützend vor die Verfolgten gestellt haben. Wussten die überhaupt, wem sie geholfen haben? Wussten sie, wem sie Wasser und eine warme Jacke gereicht haben, die Anwalts- und Arztkosten bezahlt und eine Aufenthaltsgenehmigung besorgt haben? Gehören die überhaupt zu uns? Dem Menschensohn scheint es egal zu sein, woher sie kommen. Offensichtlich fragt er nur danach, ob sie barmherzig und sanftmütig sind, ob sie nach der Gerechtigkeit dürsten und dem Frieden dienen. Sie dürfen sich an seine Seite setzen, denn er weiß, wie gefährlich es ist, von denen Brot zu bekommen, die es nicht gut mit einem meinen. Sie sind nicht so. In ihnen erkennt er die, die seine Scham verstanden haben, als er nackt vor den Knechten der Mächtigen saß und verspottet wurde. In ihnen sieht er die, die ihm nicht Essig zu trinken gegeben hätten, als er durstig war. Sie sind für ihn die, die ihn aufnehmen, ohne dass sie wussten, wer er ist.
Der Tag der Urteilsverkündigung kommt. Der Große Saal wird bis zum letzten Platz gefüllt sein. Die Presseleute werden das Geschehen in Bildern festzuhalten versuchen. Diejenigen, die links liegen gelassen werden, interessieren niemanden mehr. Sie werden wie betäubt und ratlos sein, werden ihre Gesichter verbergen, vielleicht weinen. Wichtig wird nur das Urteil des Menschensohnes sein: „Die Gerechten werden in das ewige Leben eingehen!“ Das ist das letzte Wort des Richters. Er hatte oft genug gesprochen, immer wieder erklärt, was not ist. Jetzt braucht es keine weiteren Worte. Mehr gibt es nicht zu sagen. Für heute erhebt sich der Richter.
Der Tag der Urteilsverkündigung kommt. Es ist Zeit, an die Hecken und Zäune zu gehen, sanftmütig und reines Herzens zu sein, demütig mit Gott mitzugehen und barmherzig zu werden. Der Menschensohn wird wiederkommen. Aber wir kennen das Urteil schon heute. Als wolle er belohnen, so richtet er die Welt.
Link zur Online-Bibel
Kein Open End - Predigt zu Matthäus 25,31-46 von Manfred Wussow
Kein Open End
Kunstgenuss
Ich gehe gerne ins Museum. In bunten Farben gemalt, ist selbst das große Weltgericht ein Kunstgenuss. Es gibt tolle Bilder von dem großen Weltgericht, eins gewaltiger als das andere! In den bedeutendsten Museen! Da stehen wir dann davor, mit großen Augen. Wir schauen, rätseln, staunen. Wir sehen: Menschen, die von Engeln geleitet, schwerelos nach oben gleiten und von den Heiligen in Empfang genommen werden - dann Menschen, mit Erschrecken auf den Gesichtern, von Dämonen und Teufeln gejagt, im Rachen eines Ungeheuers verschwinden.
Wir blicken nach oben, nach unten. Oder von rechts nach links. Einerseits könnte die Welt jetzt in Ordnung sein – „gut“ und „böse“ endlich und endgültig säuberlich und fein voneinander geschieden – andererseits beschleicht uns ein Unbehagen, weil die Grautöne fehlen. Und die Farben dazwischen. Die Entschuldigungen, die Gründe, die Erklärungen. Alles schwarz und weiß - unheimlich. Wir spüren das Grauen.
Im Museum stellt sich die Frage nicht, zu welcher Gruppe ich gehöre. Gehören werde. Habe ich alles gesehen, trinke ich einen Kaffee. Satt von den vielen Eindrücken. Ein Stückchen Kuchen gönn‘ ich mir auch. Ich blättere im Katalog. Ein ziemlich teures, dickes Ding. Was für ein Kunstwerk! Wie gut: Es ist alles weit weg. Hängt an der Wand – und läuft mir nicht nach.
Evangelium
Das große Weltgericht.
Jesus hat dazu eine Geschichte erzählt. Matthäus überliefert sie. Nachlesen können Sie sie im 25. Kapitel – schon fast am Ende des Evangeliums.
Jesus sagt:
Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.
Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten:
Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt!
Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben.
Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben.
Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.
Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet.
Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht.
Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.
Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben?
Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet?
Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?
Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!
Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben.
Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben.
Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen.
Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet.
Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht.
Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient?
Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.
Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.
Höllenschlund
Der Höllenschlund geht mir nicht aus dem Sinn. Ich sehe ihn weit geöffnet. Doch die Teufel haben menschliche Gesichter - oder unmenschliche. Vor 100 Jahren, 1914 hatte der Erste Weltkrieg begonnen. Wie viele Opfer waren schon zu beklagen? Werden noch zu beklagen sein? Der Krieg macht unschuldige Menschen obdachlos, reißt Familien auseinander, bringt Vertreibungen und Flucht. Auf den Koppeln der Soldaten steht: Gott mit uns. Aber die Erde blutet. Wie die Menschen - Ein Jahr später, 1915, sind die Illusionen längst geplatzt. Aber die Menschen wussten nicht aufzuhören. Wer schuldig ist, wird bis heute diskutiert. Wer hat angefangen, wer mitgemacht, wer Geschäfte gemacht?
100 Jahre später kommen Menschen von weit her - ich kann die Länder nicht einmal alle aufzählen -zu uns. Sie werden Flüchtlinge genannt, Asylanten oder einfach auch nur „die“ Ausländer. Sie haben ihre Heimat verlassen, um überhaupt noch eine Zukunft zu haben. Unter ihnen sind viele sogar minderjährig. Mit jedem Gesicht verbindet sich eine eigene Geschichte. Eine Leidensgeschichte. Weltweit - und doch zum Teil unbemerkt - sind Menschen auf der Flucht. Die Nachrichten platzen - wir können nicht einmal mehr alles wahrnehmen. Von dem Hunger, der immer noch nicht besiegt ist, reden wir kaum noch.
Höllenschlund. Wie viele Menschen werden in ihn getrieben - ohne Urteil, ohne Schuld, ohne Spielraum. Aber das sind doch nicht die Verdammten - schreie ich...
Weltgericht
Jesus erzählt uns ein Gleichnis. Ein Thron, ein Richterstuhl ist aufgestellt, in Licht getaucht. Herrlichkeit ist das Zauberwort. Aber was sich dann abspielt, gleicht einem Traum, vielleicht mehr noch einem Albtraum. Säuberlich getrennt erstehen vor unseren Augen und Ohren zwei Lager - getrennt wie Schafe und Böcke. Die einen werden das Reich Gottes in Besitz nehmen, das von Anfang an für sie bestimmt ist - die anderen werden in ewiges Feuer geworfen, das den Teufeln und Dämonen zukommt. Selbst farbig gemalt ist es alles "schwarz - weiß". Keine Frage: hier ist alles eindeutig! Hier wird alles eindeutig gemacht!
Der Richter hält sich auch nicht lange mit Zeugenvernehmungen und Plädoyers auf. Sein Urteil ist wohl begründet: "Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan." Oder: "Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan."
Aufgezählt werden sieben Erfahrungen, die Menschen machen, wenn sie aus der geordneten Welt herausfallen: Hunger und Durst, Nacktheit, Obdachlosigkeit und Flucht, Krankheit und Gefangenschaft. Die Worte reichen nicht, auszudrücken, was es heißt, wenn Menschen hungern, verdursten, nackt und schutzlos sind, ohne Heimat, ohne ein Zuhause, krank und gefangen. Wie klein, abgehängt, verloren sie sind! Jesus nennt sie "meine geringsten Brüder (und Schwestern)". Der Richter kennt keine Distanz mehr - und Neutralität auch nicht. Das ist schon ein besonderes Verfahren, dem wir beiwohnen - ungewollt.
Ich horche auf. Ich sehe Jesu Verwandtschaft! Brüder! Schwestern! Als ob ich das vorher hätte wissen müssen - ganz selbstverständlich. Die Herrlichkeit, von der im Evangelium die Rede ist, legt sich über die Szene. Menschen, die Jesus als seine geringsten Brüder und Schwestern ansieht, werden in ein Licht getaucht, das sonst - und anderswo - nur denen zukommt, die groß, bedeutend, klug, reich und herrschaftlich zu punkten wissen. Hier wird die Welt auf den Kopf gestellt. So passt sie nicht einmal mehr in mein Weltbild. Ich sehe eine andere Welt. Ich kneife ein wenig die Augen zu: Sind denn diese "geringsten" Brüder und Schwestern per se besser? Aber: besser als "wer"? Besser als "ich"? Jesus wägt nicht ab. Hier ist alles auf eine Karte gesetzt!
Liebe
Weltgericht! Die ganze Welt ist versammelt. Und Jesus solidarisiert sich - vor den Augen aller Menschen und Völker - mit „seinen“ geringsten Brüdern und Schwestern! Sind es auch meine? Jesus fragt nicht einmal nach Schuld, nach Hintergründen, nach Erklärungen. Er stellt sich auf ihre Seite. Er ist einer von ihnen! Er wird auch bei ihnen bleiben! Der Weltenrichter ! Der Weltenrichter auch hungrig, heimatlos, auf der Flucht. Ist das – womöglich – die Herrlichkeit, die von diesem Thron ausgeht? Ist das – endlich – das Licht, dass auch die Schatten leuchtend macht?
Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit …
Ich muss zugeben, diese Geschichte zu kennen! Oft schon habe ich sie gehört – und überhört,
oft habe ich sie schon auf farbenprächtigen Bildern gesehen – und meine Augen vor ihr geschlossen. Dabei ist ihre Pointe so einfach wie glücklich. Es geht um Liebe!
In der Zeitung lese ich von vielen Menschen, die nicht satt werden, die ihre Kinder nicht oder nur schlecht ernähren können, die in Lagern kampieren. Kaum auszumalen, wenn sie alle zu uns kämen – mit dem Mut der Verzweifelten.
Im Fernsehen sehe ich viele Menschen, die auf der Flucht sind. In Nussschalen bringen Schlepper sie übers Mittelmeer an die Küsten Europas. Viele überleben das Abenteuer nicht. In der Statistik, die geführt wird, gehen sie in Zahlen unter. Sie haben alle einen Namen – ich kenne sie nicht. Wenn aber ihre Gesichter bei uns auftauchen, stoßen sie zum Teil auf Vorbehalte und Vorurteile. Ich habe ja nichts gegen Fremde, aber … so heißt es dann. Vielsagend. Und nichtssagend. Dass sich unsere Gesellschaft ändern wird, überrascht nicht, versetzt manche aber in Angst. Selbst das Geld ist oft nur vorgeschoben. Für viele Fragen haben wir auch noch keine Lösung. Aber ein Weg beginnt mit einem ersten Schritt.
In meiner unmittelbaren Nachbarschaft, dem Viertel, in dem ich wohne, weiß ich auch von Menschen, die am Rande des Existenzminimums leben. Sie haben zu essen, können sich kleiden, wohnen bescheiden – und gehören nicht dazu. Am gesellschaftlichen Leben nehmen sie nicht teil. Gerne gesehen sind sie auch nicht. Sie werden auch nicht mithalten können. Ihre Angst, noch weiter herunterzufallen, verstehe ich wohl – aber die Rechnung geht nicht auf, Not und Elend zu verrechnen. Aufzurechnen. Die Hoffnung, wir könnten eine gerechte Gesellschaft schaffen, ist schon sehr klein geworden. Wir geben den Sachzwängen die Schuld – und überhaupt den Verhältnissen. Als ob wir mit ihnen nichts zu tun hätten.
Dann freue mich, dass sich viele Menschen große Mühe geben, Menschen zu begleiten, sie aufzufangen – und auch Flüchtlinge bei uns willkommen zu heißen! Am Erntedankfest – lange ist es noch nicht her – haben manche Gemeinden nicht Erntegaben auf und an den Altar gelegt, sondern Kleidungsstücke, Lebensmittel, Spielzeug – für die, die neu zu uns gekommen sind. Mancher Altar hätte platzen können! Von hier geht Hoffnung aus – klein, gewiss, aber unübersehbar. An diesem Ort feiern wir auch das Abendmahl. Wir hören die Einsetzungsworte, wir teilen Brot und Wein. „Für dich gegeben“.
Dem Evangelium wird nachgesagt, eine Option für die Armen zu haben. Eine Option? Wenn Jesus von dem großen Weltgericht erzählt, erzählt er nicht von einer Option - er stellt die Welt nicht nur auf den Kopf, er gibt ihr ein Herz. Ab jetzt werden wir unsere Blicke, unsere Denkansätze, unsere Hoffnungen neu ausrichten müssen. Auf die Verwandtschaft Jesu, auf seine geringsten Brüder und Schwestern. Schwierig ist die Frage schon: Lässt sich "gering" steigern? Gering, geringer - am geringsten?
Ich möchte Jesus lieben. Ihm mein Herz, alles, öffnen. Ich möchte mich zu ihm ausstrecken. Aber ich kann ihn nicht in den Arm nehmen, ihn nicht streicheln: Jesus lieben heißt, ihn in seinen "geringsten Brüder und Schwestern" zu sehen. Aufzuheben. An den Tisch zu setzen. Das Leben, die Zukunft mit ihnen zu teilen. Das so vertraute, vielleicht sogar abgewetzte Evangelium, entpuppt sich in unserer Mitte als - Liebesgeschichte. Liebesgeschichten sind immer voller Überraschungen. Wer liebt, kann sich darüber freuen - wer nicht liebt, bekommt Angst.
Gottes Reich
Der Sonntag heute heißt „Volkstrauertag“. Über die Geschichte des Tages könnte ich viel erzählen, fürchte aber, schon genug geredet zu haben. Aber darf ich fragen: Worüber trauern wir? Unser Volk?
Trauern heißt nicht klagen, auch nicht Rechthaben wollen, schon gar nicht, über andere den Stab zu brechen. Trauern heißt auch nicht, in Sack und Asche zu gehen, mit gesenkten Häuptern und gesenkten Augenlidern. Trauern heißt, sich dem Schmerz zu stellen – und sich die Zeit zu geben, neu durchzustarten.
Ich gehe gerne ins Museum. In bunten Farben gemalt, ist selbst das große Weltgericht ein Kunstgenuss. Es gibt tolle Bilder von dem großen Weltgericht, eins gewaltiger als das andere! In den Farben des Lebens gemalt, ist das große Weltgericht eine Liebesgeschichte. Eine königliche! Wir schauen, rätseln, staunen. Es geht um Gottes Reich. Aber was sehen wir? Der Weltenrichter präsentiert uns: Hunger und Durst, Nacktheit, Obdachlosigkeit und Flucht, Krankheit und Gefangenschaft. Mehr noch: seine "geringsten Brüder und Schwestern".
"Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle Völker werden von ihm zusammengerufen werden..."
Ist das Ende wirklich noch offen?
Übrigens: Ich bin nicht angeklagt und klage nicht an. Zeuge bin ich! Zeuge für die Wahrheit und das Leben. Damit ihr das nur wisst: Die Liebe vermag sogar, den Höllenschlund zu schließen. Auch wenn sich das wie eine Formel anhört: um Christi willen!
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.
Link zur Online-Bibel
Die Menschheit hat den Verstand verloren! - Predigt zu Matthäus 25,31-46 von Elke Markmann
Die Menschheit hat den Verstand verloren!
„Die Menschheit hat den Verstand verloren!“ Unter diesem Titel sind in diesem Jahr die Tagebücher aus der Zeit des zweiten Weltkrieges von Astrid Lindgren in Deutschland erschienen. (2015 erschienen im Ullstein Buchverlag) Bevor die große schwedische Kinderbuchautorin mit Pippi Langstrumpf ihr erstes Kinderbuch schrieb, führte sie während der Kriegszeit von 1939 bis 1945 Tagebücher. Die sind erst jetzt von ihrer Tochter veröffentlicht worden.
Mit sehr feiner Beobachtungsgabe beschreibt Lindgren darin die Unmenschlichkeit des Krieges: Frauen und Kinder werden von Flugzeugen gejagt und erschossen. Unzählige Menschen leiden unter sinnloser Gewalt, die nur wenig mit den großen strategischen Zielen zu tun zu haben scheint.
Scheinbar hat die Menschheit immer wieder den Verstand verloren – auch heute, im Jahre 2015, ist es nicht anders. Menschen verfolgen einander, ermorden und vergewaltigen einander. Längst ist ein Krieg nicht mehr eine Auseinandersetzung zwischen bewaffneten Truppen, die speziell dazu ausgebildet werden – wenn er dieses überhaupt je war. Zivile Opfer gehören selbstverständlich zum Krieg dazu.
Wenn sich diese Menschen dann aus lauter Verzweiflung auf den Weg machen und eine neue Heimat suchen, in der sie leben und arbeiten – zumindest aber erst einmal überleben können, stehen sie vor verschlossenen Grenzen, in überfüllten kalten Zeltlagern, kommen auf überfüllten Booten um und lernen eine ganz neue Dimension des Grauens kennen. Nur wenige können in friedlichen Ländern Zuflucht finden.
Ungefähr 60 Mio Menschen sind weltweit auf der Flucht.
Dagegen steht dieser Predigttext:
(Text lesen)
Wo werden wir stehen? Wo stehen wir heute?
Klagen wir über die Überfremdung und die Bedrohung durch die Fremden?
Oder nehmen wir die Hungrigen und die ohne Dach über dem Kopf auf?
Es scheint so einfach zu sein! Warum streiten sich Menschen in Europa über den richtigen Weg?
Der Predigttext des heutigen Tages spricht von den selbstverständlichen Aufgaben der Nächstenliebe. Diese Selbstverständlichkeiten gelten in jeder Religion. Auch die Muslime und die Jüdinnen, die Buddhisten und die Hindu – alle leben nach diesen selbstverständlichen Grundwahrheiten: den Nächsten und die Nächste aufzunehmen, ihr zu essen und zu trinken und ihm Kleidung zu geben – es sind Selbstverständlichkeiten der reinen Menschlichkeit.
Durch diesen biblischen Text aus dem Matthäusevangelium wird die Selbstverständlichkeit zum Prüfstein des wahrhaft Gottes gläubigen Menschen. Denn obwohl diese Grundsätze in allen Religionen und Weltanschauungen Selbstverständlichkeiten sind, werden sie immer wieder missachtet. Immer wieder ist das eigene Wohlergehen wichtiger. Immer wieder siegen die Ängste über die Nächstenliebe.
Wir werden die Kriege und bewaffneten Auseinandersetzungen kaum verhindern können. Umso wichtiger ist es, an diesem Volkstrauertag auf diejenigen hinzuweisen, die Opfer von Gewalt, Krieg und Terror geworden sind. Umso wichtiger ist es, an diese Menschen zu denken und ihren Tod und ihr Leid zu beklagen!
Am Volkstrauertag werden in Deutschland seit 1922 die Menschen betrauert, die im Krieg gefallen sind. Auch mit diesem Tag und diesem Gedenken ist schlimme Politik betrieben worden. Oft genug war der Tag nicht einfach ein Tag des Gedenkens, sondern vor allem unter Hitler eher ein Tag der Heldenverehrung, mit dem junge Männer wieder in den Kampf geschickt wurden.
Darum geht es aber eben nicht! An diesem Tag, dem Volkstrauertag, denken wir an die Opfer der Kriege und der bewaffneten Auseinandersetzungen. Jeder Mann und jede Frau, jedes Kind, das in diesem Zusammenhang stirbt, ist ein Toter oder eine Tote zu viel. Jede Tote mahnt uns und erinnert uns an die Aufgabe, die Gott an uns stellt: „Du sollst Gott lieben und deine Nächsten. Sie sind wie Du!“
Wir werden die Kriege und bewaffneten Auseinandersetzungen kaum verhindern können.
Umso wichtiger ist es, das eigene Verhalten immer wieder zu überprüfen: Zu welcher Gruppe gehöre ich? Gebe ich den Hungrigen und Durstigen, denen ohne Heimat und ohne Kleidung, was sie brauchen? Besuche ich Menschen im Gefängnis oder in ihren heillosen Verstrickungen?
Wo stehe ich selbst?
So gerne würde ich sagen können, ich stehe auf Gottes rechter Seite. Tue ich das? Die Menschen im Predigttext wissen nichts davon, ob sie Hungrigen, Durstigen, Nackten oder Menschen ohne Obdach geholfen haben. Für die einen ist es eine solche Selbstverständlichkeit, dass sie es nicht wahrnehmen. Für die anderen ist es eine Haltung, von der sie meinen, sie würden danach leben. Dabei merken sie nicht, wie wenig sie sich danach richten. Sie sind blind für die Wirklichkeit geworden.
Am Ende der Tage wird es sich dann erweisen, wer sich an diese Grundregel des menschlichen Lebens gehalten hat, so schreibt der Evangelist Matthäus. Am Ende werden wir spüren, ob wir die Hungrigen und Durstigen gesehen haben.
Wollen wir so lange warten? Ist nicht heute schon jeder Hungrige einer zu viel?
Wir müssen gar nicht erst auf die großen Flüchtlingsströme durch Europa sehen. Auch direkt vor der Haustür, mitten in unserer Stadt, sehen wir Menschen, die um Kleidung, Nahrung, um Unterstützung bitten. Aber was machen wir mit den Bettlern, die uns um Hilfe anflehen? Was machen wir mit den Frauen und ihren Kindern, die in der Fußgängerzone um Unterstützung bitten?
Wir finden schnell Ausreden: Die werden ja nur von Schleppern ausgenutzt! Die könnten doch genug haben! Es gibt doch Hartz IV für alle, die nichts haben. Warum betteln sie dann?
Bei denen, die nach Deutschland und Europa kommen und ein Dach über dem Kopf suchen, ein Leben in Frieden – wir sehen sofort die Familienangehörigen, die auch noch kommen werden, die vielen Menschen, die versorgt sein wollen.
Unser Helfen ist oft durch Angst und Bedenken gelähmt. Lieber sollen andere helfen – ich lieber nicht!
Müssen wir dann noch rätseln, auf welcher Seite wir stehen werden, wenn eines Tages gerichtet wird?
1 Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, 32 und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, … 34 Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! 35 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. 36 Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.
Was dereinst sein wird, ist schon jetzt: Wer heute hilft, ist auf dem richtigen Weg, verwirklicht in dieser Welt Gottes gerechte Welt.
Was dereinst sein wird, ist schon jetzt: Wer heute Hilfe verweigert, hält die Welt als einen Ort der Ungerechtigkeit und Rücksichtslosigkeit lebendig.
„Die Menschheit hat den Verstand verloren!“ so kommentierte Astrid Lindgren das Gegeneinander der Menschen im zweiten Weltkrieg. Dagegen schrieb sie später an. Sie schuf mit ihren Kinderbüchern Vorbilder: Kinder, die selbstbewusst und selbstständig ihren Weg gehen wie Pippi Langstrumpf; Kinder, die selbstverständlich die Not sehen und den Armen zu essen geben, wie Michel aus Lönneberga, als er den Armen und Alten aus dem Armenhaus die Vorratskammer öffnete.
Link zur Online-Bibel
Mehr Barmherzigkeit wagen - Predigt zu Matthäus 25,31-46 von Thomas Ammermann
MEHR BARMHERZIGKEIT WAGEN!
Liebe Gemeinde!
Heute ist Volkstrauertag. Im außerkirchlichen Raum ist dies - mit Schweigeminuten und politischen Symbolakten - vielerorts ein Tag nachdenklichen Rückblickens auf das, was hinter uns liegt – als Volk und als Einzelne, die mit seiner Geschichte verbunden sind. Und ein Tag des Besinnens im Dienst der Besonnenheit hinsichtlich dessen, was wir vorhaben, was heute für uns zu tun ansteht.
In dieser Predigt wollen und können wir nicht auf unsere deutsche Geschichte in der Vergangenheit eingehen – der Predigttext für den heutigen Sonntag bietet dafür auch nur wenig Ansatzmöglichkeiten -, uns wohl aber dem Nachsinnen darüber widmen, was wir als Christen in Gegenwart und Zukunft tun können und warum wir es versuchen sollten. Lassen Sie mich in diesem Sinne einmal beginnen, mit der Vorstellung von einer kleinen „Schweigerunde“ im Kreis der Jünger Jesu...
Nachdenklich sitzen die Gefährten am Lagerfeuer. Jeder brütet stumm vor sich hin. Mit einem Stock zeichnet Jesus wieder unverständliche Symbole in den Sand vor seinen Füßen – wie so oft schon zuvor. Petrus spuckt unablässig in die Flammen.
Ein schwerer Tag liegt hinter ihnen. Sie sind gewandert, haben den Armen das Evangelium gebracht, diskutiert mit den Klugen, gestritten mit zänkischen Ortsvorstehern, schlecht gegessen (vor allem zu wenig) sich auslachen und vertreiben lassen und und und ... Die Jünger sind erschöpft. Und jetzt ist da wieder das nagende Gefühl einer tiefen Sinnlosigkeit: Wozu das alles?! Will Gott das wirklich von uns? Wer sind wir denn, dass wir uns einbilden, wir könnten mit unserem Auftreten die Welt verändern, etwas bei den Menschen bewirken?! Wer ist dieser zerlumpte Zimmermann, der uns zu dem gemacht hat, was wir sind?! – Gottes Sohn? Wer ist dieser Gott? ...
Da, plötzlich, mitten hinein in das Schweigen der düsteren Runde, hebt Jesus den Blick, schaut seine Jünger direkt an und – als habe er ihre Gedanken gelesen – erklärt: “Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan!”
Liebe Gemeinde!
Dieser Satz steht in der Bibel - Jesus Christus soll ihn gesagt haben. Gewiss kennen Sie alle diese Worte. Aber kennen Sie auch deren Bedeutung - ich meine: verstehen Sie, was das, diese Bitte, sich um Jesus willen für die Schwachen einzusetzen, für uns bedeutet?
“Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.” In dem Abschnitt der Bibel, zu dem dieser Satz gehört, stellt er so etwas wie eine Antwort dar, die Pointe, in der ein längerer Redegang über das Ende der Geschichte auf den Punkt gebracht wird. Hören Sie aus dem Evangelium nach Matthäus, Kapitel 25, die Verse 31 bis 46:
Vom Weltgericht
„Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.
Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt. Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.
Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?
Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen, und ihr habt mich nicht besucht.
Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient?
Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.“
Liebe Gemeinde!
Dramatische Sätze sind das und anscheinend auch ziemlich unmissverständliche! Es geht um die sog. „Werke der Barmherzigkeit“: Hungrige speisen, Dürstende tränken, Fremde aufnehmen, Nackte kleiden, Kranke besuchen, Gefangene nicht allein lassen... Jene moralischen Leistungen also, die einen guten Menschen – biblisch gesprochen: „den Gerechten“ – ausmachen. Und es geht darum, was all jene zu erwarten haben, die sich in dieser Weise verhalten haben – oder auch nicht! Von einem Strafgericht am Ende der Zeiten ist die Rede, in dem ausgerechnet der zu Lebzeiten so barmherzige Jesus, auf einem Thron sitzend erscheinen soll wie ein römischer Imperator über dem Aufmarschfeld, um alle Völker vor sich zu versammeln, die Menschen spiegelbildlich rechts und links von sich selbst anzuordnen und gleich darauf zu Tausenden in sein Reich zu berufen bzw. ins ewige Feuer zu verbannen. (Zwischen diesen Alternativen ist offenbar nichts vorgesehen.) Und das alles nach Maßgabe ihrer jeweiligen moralischen Leistungen oder Verfehlungen...!?
„...Er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! ... Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!...“
Wie gesagt, eine höchst dramatische Szenerie das. Ganz großes Orchester! Im Hintergrund der Rede vermeint man schier schon das „dies irae“ apokalyptischer Fanfarenbläser zu vernehmen. Wenn Ihnen darüber ein wenig flau im Selbstwert-Zentrum wird, ist das sicher keine Schande. Mir geht es ebenso. Denn automatisch fragt sich ja ein jeder von uns, wo er oder sie am Ende denn wohl selbst zu stehen kommt: auf der rechten, oder doch eher der linken Seite? Bei den guten Schafen oder den garstigen Böcken? – Und wenn wir ehrlich sind, müsste die Antwort wohl lauten: irgendwo dazwischen. Mal mehr auf der einen, dann wieder auf der anderen Seite. Denn die Realität unseres Alltags in dieser Welt ist nicht digital und das Leben und Handeln der Menschen darin meist viel zu komplex, als dass es nach eindeutigen Kategorien als gerecht oder ungerecht, gut oder böse gekennzeichnet oder gar beurteilt werden könnte! Die buchstäblichen Grau-samkeiten, von denen die Erde leider so voll ist, verdanken sich nicht zuletzt jenen vielschichtigen Umständen, die im Rahmen eines einfachen Schwarz-Weiß-Schemas gewiss nicht zu erfassen sind. Denken Sie nur an die dieser Tage mehr oder weniger differenziert geführten politischen Auseinandersetzungen um das Für und Wider einer Reform des Asylrechts. Die meisten meinen es dabei sicher gut, aber hinsichtlich der Frage, was denn „gut“ und wer dessen würdig sei, gehen die Meinungen meist wieder auseinander. Und auch wir selbst – jeder Einzelne – denken sicher häufig mit echtem Mitgefühl an jene „Nächsten“, die da an den Grenzen und Bahnhöfen stehen, tun vielleicht auch das ein und andere zur Linderung ihrer Not (Kleiderspenden z.B.), doch wenn man es genau nimmt mit Jesu Anspruch „den Fremden“ aufzunehmen, könnte es viel mehr sein. Und auch wieder nicht, wenn man bedenkt, dass wir ja auch noch andere legitime Interessen, Sorgen und „Nächste“ haben, für die wir da sein wollen. Nicht zuletzt uns selbst. Am Ende bleibt oft nur ein schales Gefühl...
Was also soll das Ganze? Kann diese pompöse Gegenüberstellung von Guten und Bösen mit Christus als dem Richter und Imperator in der Mitte überhaupt mehr sein, als ein theatralisches Konstrukt aus der Gedankenschmiede vordemokratischer Verunsicherungs-Rhetorik? Und kann es bei uns mehr bewirken, als dass wir entweder an uns selbst oder an unserem Jesus-Bild zweifeln und natürlich erst recht nicht wissen, wie wir uns konkret verhalten sollen?
Ich glaube ja! Denn die ganze Inszenierung – wir können sie für Tatsache oder ein Fantasieprodukt des Matthäus halten - dient ja nur dazu, die überragende Bedeutung dessen zu unterstreichen, was die kirchliche Tradition als „Werke der Barmherzigkeit“ bezeichnet hat: Hungrige speisen, Dürstende tränken, Fremde aufnehmen, Nackte kleiden, Kranke besuchen, Gefangene nicht allein lassen! Jesus hat mit dieser beispielhaften und sicher mühelos zu verlängernden Aufzählung guter Werke nicht weniger, als die Forderung von Mitmenschlichkeit zur Chefsache gemacht: „...Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan!...“ - Das ist schon stark! Diese uneingeschränkte Identifikation des Mächtigsten mit den Schwächsten, des Höchsten mit den Erniedrigten, der göttlichen Macht mit menschlicher Bedürftigkeit. Darum geht es und davon kann es natürlich keine Abstriche geben!
Entsprechend hat das Nichtbefolgen der einschlägigen Anweisung unseres Herrn und Königs logischerweise als Majestätsbeleidigung bzw. Gotteslästerung zu gelten – mit allen Konsequenzen. Aber nicht die Strafandrohung sollte dabei im Fokus unserer Aufmerksamkeit stehen – so wenig wie irgendein verheißener Lohn für die Rechtschaffenen -, sondern das ethische Konzept hinter all dem: Die Idee von der bishin zur Identifikation unverbrüchlichen Solidarität Jesu mit den Bedürftigen und darin der Nähe Gottes zu den Menschen!
„Was ihr jenen tut oder antut, das tut ihr an mir!, sagt Jesus Christus.
Lassen Sie uns noch einmal auf die von Matthäus so beschriebene „Aufmarsch-Szenerie“ eingehen. Zugegeben, sie ist konstruiert. Und stark vereinfachend – vielleicht sogar zu stark. Eine mythologische Endzeitvorstellung in der Bildsprache des ersten nachchristlichen Jahrhunderts. Nichts, was man wörtlich nehmen muss! In symbolischer Hinsicht kann sie uns dennoch hilfreich sein:
Ich erkenne darin gewissermaßen zwei Spiegelachsen, eine vertikale und eine horizontale, die, wenn man so will, ein Kreuz bilden. Den waagrechten Balken diese Kreuzes stellt die sehr plakative Anordnung der versammelten Völker in eine rechte und eine linke Gruppe dar – die „Schafe“ auf der einen und die „Böcke“ auf der anderen Seite. Diese Unterscheidung spiegelt, über die Figur des „gerechten Weltenrichters“ in der Mitte, so etwas wie die jeweiligen menschlichen Extremhaltungen in punkto moralischen Verhaltens – mitsamt deren Konsequenzen. An dieser Stelle, hatten wir bemerkt, packt uns Heutige gern mal ein unbehagliches Gefühl. Denn wie bei einem Blick in den Spiegel, in dem man, auch auf der anderen Seite, vor allem sich selber findet, ahnen wir, dass wir keineswegs sicher sein können, auf der „richtigen“ Seite zu stehen, auch dann nicht, wenn wir von uns selbst meinen, alles richtig zu machen. Entsprechend wehren wir uns (zu Recht!) gegen allzu eindeutige moralische Zuordnungen in „die Guten“ auf der einen und “die Bösen“ auf der anderen Seite. Um unserer selbst willen!
Aber es geht hier gar nicht um uns, so wenig wie um die, im Umfeld dieses Bibeltextes oft diskutierten „Zugangsbedingungen zum Himmelreich“, nach dem Motto: Nur wenn ihr „alles richtig“ macht, wird Gott euch nicht verstoßen...! All das wäre viel zu schematisch gedacht und in seiner beunruhigenden Konsequenz kontraproduktiv.
Es geht nicht um uns und unsere eigene (mögliche) Zukunft – zumindest nicht direkt -, sondern um Jesus. Darauf weist die zweite, die vertikale Spiegelachse unseres Textes, die in dem zentralen Vers (40) besteht in dem Jesus erklärt: “Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, DAS HABT IHR MIR GETAN!” Um diesen Vers dreht sich die ganze Szene. Oder besser: Um die Person Jesus Christus, der, nach Johannes 14, 6, von sich sagte: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich!“
Mithin geht es um das, wofür Jesus zu Lebzeiten gestanden hat, um den Weg, den er so konsequent im Leben gegangen ist: Hungrige speisen, Dürstende tränken, Fremde aufnehmen, Nackte kleiden, Kranke besuchen, Gefangene nicht allein lassen... – kurz: Um die liebevolle Hinwendung zu den Schwachen, auch den „Schwachgewordenen“, den Sündern. Es geht um die Barmherzigkeit Jesu. Sie – und nicht die wilde Fantasie-Erscheinung eines rächenden Imperators – soll Orientierungspunkt und Maßstab unseres Verhaltens sein. Jesus ist „der Weg und die Wahrheit und das Leben“ und sein Lebens-Weg ist Barmherzigkeit!
Die also sollen wir auch üben, ihm sollen wir nachfolgen, damit nicht am Ende die ganze Welt in jenem „Feuer“ untergeht, das, wie es heißt „bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!“. Salopp gesagt: Damit wir nicht alle gemeinsam „in Teufels Küche“ landen! Denn vor Gott hocken wir ja gewissermaßen „im gleichen Topf“, keiner kann sich auf seine „guten Werke“, auf sein eigenes, vermeintliches Bessersein rausreden.
Deshalb die Botschaft der Stunde - Besinnung im Dienst der Besonnenheit zum Volkstrauertag: Sucht nicht euer eigenes Seelenheil, versucht nicht, auf die „rechte Seite“ zu kommen. Das gelingt ohnehin nicht, denn wie in einem Spiegel werdet ihr euch zugleich immer auch auf der anderen Seite finden – so ist halt die Welt! Sondern versucht, in allen, die euch begegnen, Jesus zu sehen und jenen einen wahren Weg zu gehen, auf dem er vorangeschritten ist. Das ist der Weg auf jene anderen zu, aus deren Antlitz uns der Herr entgegenblickt. Nur so kann Leben gelingen, gibt es eine Zukunft - für alle!
Und damit sind wir wieder bei den Jüngern, die, Sie erinnern sich, in unserer Eingangsvision schweigsam am Lagerfeuer saßen und sich, jeder für sich, fragten, welchen Sinn ihr Tun und Treiben in der Welt überhaupt hat. Ob sie sich damit auf dem richtigen Weg – oder überhaupt noch auf einem Weg – in die Zukunft befinden...
Ihr stummes Fragen „wozu das Ganze“ hat Jesus mit dem Hinweis beantwortet: „Ihr tut es für mich! Und damit zugleich für die Welt und euch selbst, für eure Zukunft auf und mit diesem Planeten. Denn“ - um noch einmal Johannes zu zitieren - „ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“, sagt Jesus. „Folgt mir einfach nach!“
Liebe Gemeinde, diese Botschaft, mitsamt der darin enthaltenen Verheißung, gilt auch für uns moderne „Jünger demokratischer Denkungsart in einer komplexen Welt“: Unser aller Zukunft auf dieser einen, doch allen gemeinsamen Erdkugel liegt im gelingenden Miteinander der verschiedenen Menschen, ihrer Ansichten und Wertvorstellungen. Für uns Christen soll Jesus die Mitte unserer Welt- und Selbstbesinnung sein. (Und das beileibe nicht bloß am besinnlichen „Volkstrauertag“.) An ihn, der „der Weg“ ist sollen wir uns halten, ihm sollen wir nachfolgen. Alles andere ist unnötiges Theater.
Konkret heißt das: Gebt nicht auf miteinander zu diskutieren, auch zu streiten, um den „rechten Weg“, die angemessene Form, in der wir „das Richtige“ (oder was wir gerade dafür halten) wagen sollen! Denn „der rechte Weg“ ist der der Auseinandersetzung. Unseres Engagements! Wo dies in Jesu Namen geschieht, ist es Nachfolge!
„Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“, sagt Jesus. Niemand, der diesen Weg ernsthaft zu gehen wagt, kann von Gott verworfen werden, egal, was er ansonsten auch „verbockt“ haben mag. - Jesu Verheißung für eine offene Zukunft im Antlitz Gottes!
AMEN
Link zur Online-Bibel
KONFI-IMPULS zu Matthäus 25,1-13 von Thomas Ebinger
Der Ewigkeitssonntag wird meist genutzt, um die Verstorbenen des vergangenen Kirchenjahres zu verlesen. Er ist von daher ein sensibel zu gestaltender Gottesdienst, in dem die Gefühle der häufig anwesenden trauernden Angehörigen nicht strapaziert oder gar verletzt werden sollten. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb machen viele Gemeinden gute Erfahrungen damit, dass Konfis diesen Sonntag mitgestalten, etwa indem sie die Kerzen für die Verstorbenen anzünden oder sogar die Namen verlesen. So kann dieser Sonntag eine besondere Lernerfahrung im Umgang mit Tod und Trauer zwischen den Generationen werden.
Der Predigttext – am besten in der Version der Basisbibel oder sogar in leichter Sprache – mit dem Gleichnis von den Zehn Brautjungfern ist anstößig und inspirierend zugleich. Für Konfis stellt sich unmittelbar die Fragen: Warum sind die „klugen“ Brautjungfern so egoistisch und so wenig hilfsbereit? Warum ist der Bräutigam so hartherzig und lässt die dummen Brautjungfern nicht mehr mitfeiern? Wer ist eigentlich der Bräutigam? Gott oder Jesus (Menschensohn)?
Im Hintergrund des Textes steht ein deutlich anderes Gottesbild als das landläufige, gut reformatorische vom gnädigen, jederzeit vergebungsbereiten Gott. Matthäus hat dieses Gleichnis als Gerichts- und Wachsamkeitsgleichnis zugespitzt. Für ihn gibt es ein unkorrigierbares „zu spät“, zumindest wird ein möglicherweise versöhnlicher Ausgang einen Tag später nicht miterzählt. Diese Tendenz des Textes sollte aber nicht dazu führen, in der Predigt mit platten Gerichtsdrohungen angesichts der Wiederkunft Christi oder des Todes eines Menschen Druck auszuüben. Viel eher dient dieses Gleichnis als Aufforderung zur Wachsamkeit und Klugheit mitten im Leben angesichts der bevorstehenden „göttlichen Party“, die wie das Reich Gottes immer gleichzeitig diesseitig und jenseitig, gegenwärtig und zukünftig zu versehen ist. Wie viele Gleichnisse Jesu gibt es eine sperrige Seite in diesem Gleichnis, die herausfordert, den Punkt zu suchen der gemeint ist. Hermeneutisch ist vermutlich genau das gewollt: Das Gleichnis zu „entsperren“, umzuerzählen, um den Punkt zu finden, den Jesus seinen Hörer/innen ans Herz legen wollte.
Möglichkeiten der Gestaltung mit Konfis:
· Der Text kann leicht als Theaterstück inszeniert werden, dies setzt aber intensive Vorbereitung voraus. Als Textvorlage kann die Dialogbibel dienen (Download http://bit.ly/dialogbibel ).
· Konfis können versuchen, die Geschichte weiterzuerzählen, umzuerzählen, andere Schlüsse zu finden. Ein sehr gelungener Versuch von Birgit Mattausch findet sich hier: http://bit.ly/andersherum
· Konfis lesen den Predigttext ein zweites Mal in leichter Sprache, den es dank Kirchentag hier gibt: http://bit.ly/maedchenleicht. Klug und töricht werden dadurch gegen den Strich gebürstet: Klug sind nicht die, die brav, angepasst und gut organisiert sind, immer alle Sachen für die Schule dabei haben, sondern die, die versuchen zu verstehen, die langsam sind, die sich mit ihren Verstehensmöglichkeiten geduldig Gottes Wort annähern. Ein Weheruf gegen die neunmalklugen Besserwissertypen ist sicher genauso im Sinne Jesu wie sein Loblied auf die geduldigen und gut vorbereitenden Brautjungfern.
· Konfis sammeln in einem Schreibgespräch Aussagen zum Thema: „Wie verhalte ich mich im Leben klug?“ „Wie verhalte ich mich im Glauben klug?“. Diese können von ihnen vorgetragen oder in der Predigt zitiert werden.
· Liedvorschlag: Bis ans Ende der Welt (NL 6)
Ein Tipp zum Schluss: Die exegetische Skizze für die Bibelarbeit beim Kirchentag ist ebenfalls online zu finden (http://bit.ly/dektexegese) und enthält einen anregenden Versuch, der Bedeutung des Gleichnisses näher zu kommen.