Ein Stern für den Norden – Predigt zu Matthäus 4,12-17 von Nico Szameitat

Ein Stern für den Norden – Predigt zu Matthäus 4,12-17 von Nico Szameitat
4,12-17

Sie kann sich noch gut an damals erinnern. Was für ein Trubel da in Bethlehem. Und das auch noch kurz nach der Geburt. Am eindrücklichsten waren diese drei reichgekleideten Männer gewesen, die eines Tages kamen und wertvolle, aber doch seltsame Geschenke brachten. Maria hatte gar nicht gewusst, was sie ihnen anbieten sollte. Die Drei hatten von einem Stern gesprochen, dem sie gefolgt waren. Einem großen leuchtenden Stern.
Maria musste damals lächeln. Ihr Stern lag in ihrem Arm: Ihr Sohn, ihr Augenstern.
Doch das alles war schon lange her. Jesus war ein guter Junge. Eigentlich hatten Josef und sie gehofft, dass er den elterlichen Betrieb übernehmen würde. Dann wäre er Zimmermann geworden, hier in Nazareth. Oder irgendwo hier in der Gegend. Galiläa ist doch groß und schön.
Aber nein, eines Tages brach er auf. Er musste ja in das ach so schöne und feine Südreich mit der Hauptstadt Jerusalem. Maria hörte, dass er sich einem gewissen Johannes angeschlossen hatte. Der hatte ihn angeblich im Jordan untergetaucht und dann lief Jesus ihm hinterher. Und dann hatte sie gehört, dass dieser Johannes nun verhaftet worden war: wegen aufrührerischem Verhalten. Darauf stand die Todesstrafe.
Und dann stand er heute Morgen auf einmal wieder vor ihr: Ihr Sohn, ihr Augenstern.
„Ich hole nur meine Sachen“, sagte er.
Und dann war er wieder weg. Maria könnte heulen.

Da nun Jesus hörte, dass Johannes gefangen gesetzt worden war, zog er sich nach Galiläa zurück. Und er verließ Nazareth, kam und wohnte in Kapernaum, das am Galiläischen Meer liegt im Gebiet von Sebulon und Naftali, auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten Jesaja, der da spricht: »Das Land Sebulon und das Land Naftali, das Land am Meer, das Land jenseits des Jordans, das Galiläa der Heiden, das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen; und denen, die saßen im Land und Schatten des Todes, ist ein Licht aufgegangen.« Seit der Zeit fing Jesus an zu predigen und zu sagen: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!
(Mt 4,12-17, Lutherbibel 2017)

Jesus ist noch jung. Und er fängt gerade erst an, wie jeder junge Mensch.
Die erste Rebellion gegen die Eltern. Was ich beruflich mache – keine Ahnung! Bestimmt nicht, was ihr macht. Und ich bleibe bestimmt nicht in Nazareth oder Duisburg!
Und dann die Idole, die Vorbilder: Ich werde auch Model oder Sängerin, ich werde Täufer. Und dann kommt die erste Enttäuschung.
Sarah und Pietro trennen sich, das Supermodel hat Bulimie, und Johannes muss in den Knast.
Und dann heißt es, wirklich, endlich einen eigenen Weg zu finden.

Im Osten geht die Sonne auf, im Süden nimmt sie ihren Lauf, im Westen wird sie untergehen, im Norden ist sie nie zu sehen.
Alle Welt, alle Himmelsrichtungen stehen ihm offen, und er geht ausgerechnet nach Norden. Warum nur?
Habt Ihr schon gehört von Sebulon und Naphtali?
Sebulon und Naphtali: Zwei Söhne Israels. Zwei von Zwölfen.
Als in ferner Zeit die Zwölf in das Land Israel kamen, und jeder sein Gebiet erhielt, bekamen Sebulon und Naphtali ihr Land im Norden.
Schön gelegen, so zwischen Mittelmeer und See Genezareth, ein wenig im Gebirge.
Leider wohnten da schon Leute. Ärger, Streit, immer wieder.
Wer war hier zuhause und wer waren die Ausländer?
Und dann kam der Krieg. Kaum eine Gegend wurde so sehr gebeutelt wurde wie Sebulon und Naphtali. Unter fremder Besatzung. Rebellen gegen Regierungstruppen. Viele wurden vertrieben, andere flohen. Frauen wurden vergewaltigt, Männer ermordet.
Das war nun schon lange her. Doch der Ruf blieb. Irgendwie waren diese Gebiete die ungeliebten Stiefkinder Gottes. Der Norden, das friedlose, dunkle Land.

Jesus überschreitet die Grenze. Er zeigt in die Finsternis und macht sie hell. Weil er in die Finsternis, in den Norden geht. Bewusst oder unbewusst erfüllt er dabei die Prophezeiung Jesajas.
Und dann fängt er an und hält seine erste Predigt:
„Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“
Es sind wortwörtlich dieselben Worte wie bei Johannes. Jesus muss seinen Weg erst finden. Er muss seine Botschaft erst entdecken.
„Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“
„Kehrt um, denn Gottes Reich ist da.“
„Kommt raus aus euren Sackgassen, ich bin hier, das Licht der Welt.“
„Geht hin zu allen Völkern. Tauft sie und erzählt ihnen alles, was ich euch beigebracht habe.“
Das Licht, das er in den Norden gebracht hat, sollen die Jünger weitertragen in alle Welt.

Mitten in der Kathedrale von Canterbury sieht man auf dem Boden einen Stern, nicht weit vom Taufbecken entfernt. Es ist nicht irgendein Stern. Es ist eine Kompassrose, deren Strahlen in alle Himmelsrichtungen zeigen. Mit der Taufe fängt es an, wie bei Jesus.
Geht in alle Welt! Verlasst Eure Sackgassen und selbstgemauerten Kämmerlein. Oder zumindest: Schaut über den Tellerrand!
Schaut nach Sebulon, nach Naphtali und Aleppo, wo es dunkel ist!
Ihr müsst ja nicht persönlich dahin, aber vergesst die dunklen Orte nicht.
Haltet die Hoffnung wach auf den Frieden.
Erzählt von dem Licht.
Wer, wenn nicht wir Christen sollten von der Hoffnung erzählen?
Erzählt, was euch in dunklen Tagen trägt.
Er ist der Stern, wir sind (nur) die Strahlen.
Von ihm bekommen wir Licht und Kraft.
Amen.

 

Perikope
08.01.2017
4,12-17

Die Nacht ist schon im Schwinden - Predigt zu Matthäus 24,1-14 von Peter Haigis

Die Nacht ist schon im Schwinden - Predigt zu Matthäus 24,1-14 von Peter Haigis
24,1-14

Liebe Gemeinde,

das ist kein Besuch eines Baudenkmals, so wie wir es kennen. Stellen wir uns vor, wir besichtigten den Petersdom in Rom oder Notre Dame in Paris oder auch den Kölner Dom und der Reiseführer würde uns mit Schilderungen bedrängen, die die radikale Vernichtung dieser Bauwerke beschreiben. Sofort stehen da Bilder der Angst auf: Terror und Schrecken des sogenannten „Islamischen Staates“ ziehen die Spur seiner Verwüstung durch Europa.

Den Jüngern mag es ähnlich ergangen sein: Eben noch haben sie ihrer Bewunderung über die Tempelbauten in Jerusalem Raum gegeben, da bedrängt sie Jesus mit Zerstörungsphantasien und reißt damit auch die inneren Bilder ihrer Bewunderung, ja vielleicht sogar ihres Gottvertrauens nieder. Freilich, den Schrecken eines Terrorangriffs beschwört Jesus nicht. Damals waren es eher die brandschatzenden Truppen feindlicher Nationen, vor denen man sich fürchten musste: Kriege und Kriegsgeschrei, ein Königreich erhebt sich gegen das andere. Doch damit nicht genug. „Ihr werdet hören von Hungersnöten und Erdbeben. Falsche Propheten werden auftreten. Und ihr selbst werdet gefangen genommen und getötet werden.“ (Mt 24,7-9*)

Die Liste der Grausamkeiten, die Jesus aufzählt, nimmt kein Ende. Und das platzt hinein in die adventliche vorweihnachtliche Stimmung, die – bei allem süßlichen Kitsch, der sich da hinein mischt – doch Ausdruck einer tiefen inneren Sehnsucht in uns nach Frieden ist. Es wäre ein Leichtes, hier Parallelen in die Gegenwart auszuziehen. Jesu Schilderungen sozusagen nur zu verlängern um das, was uns die Nachrichten in den Medien täglich vor die Füße kippen. Doch das erscheint mir zu wenig und zu billig zu sein, an einem Sonntag im Advent. Wie die Jünger am Ölberg sitze ich zu Füßen Jesu, aber ich frage nicht: „Wann, Herr, wird das alles geschehen?“ Ich frage: „Und was willst du dem entgegensetzen? Du, der du doch unser aller Hoffnung bist – Gottes Sohn, sein Gesandter, der Christus, ein Helfer und ein Heiland. Wo ist deine Botschaft in alledem? Wo ist dein Evangelium?“

Ich kann es finden, dieses Evangelium, die gute Nachricht. Man muss lange lesen, doch am Ende scheint sie auf wie das Licht nach einer langen Nacht, wie die Morgensonne, die an Wintertagen sich besonders lange Zeit lässt, ihre Strahlen zu schicken. Am Ende eben doch: „Die Nacht ist schon im Schwinden“. (eg 16)

Es beginnt mit einem ersten Vorboten, ein schwacher Widerschein, nur am Horizont. Und doch eine Ahnung von Licht: In Vers 12 sagt Jesus: „Weil die Ungerechtigkeit überhandnehmen wird, wird die Liebe in vielen erkalten“. Für mich ist das ein erster Schlüssel zum Verstehen all dessen, was hier geschieht und aus göttlicher Perspektive beschrieben wird. Es ist noch nicht die Heilsbotschaft selbst, aber ihre Ankündigung, ihre Vorbereitung: Die Ungerechtigkeit nimmt überhand und die Liebe erkaltet. Und beides steht in einem ursächlichen Zusammenhang. Vielleicht ist es eine Wechselbeziehung.
Vielleicht könnte man es auch umdrehen: Die Liebe erkaltet und die Ungerechtigkeit nimmt überhand. Spitzfindigkeiten! Entscheidend ist für mich, wie Jesus den Blick auf die Liebe richtet, die – eigentlich – zwischen Menschen regieren sollte. Und sie erkaltet.

Es ist kalt geworden zwischen den Menschen. Man begegnet sich mit Misstrauen und Missgunst. Statt der Liebe regieren die Emotionen der Wut und des Hasses. Ihnen freien Lauf zu lassen, ihnen eine Sprache zu geben, gilt als Meinungsäußerung. Aber dürfen freie Meinungsäußerungen andere verletzen und niedertreten? Egoismus und Selbstsucht machen sich breit – und das in einer Gesellschaft, die es sich immerhin leistet, verkaufsoffene Samstage und Sonntage vor Weihnachten zu etablieren, damit die Millionen, die sich der Handel erhofft, auch umgesetzt werden. Dies auch in einer Gesellschaft, in der die Arbeitslosenquote stetig abnimmt und das verfügbare Kapitaleigentum stetig wächst. Gewiss, es gibt sie die sogenannten Globalisierungsverlierer. In anderen Ländern zwar mehr als bei uns, aber es gibt sie auch hierzulande. Doch ich frage mich: Warum finden sie keine effektive Hilfe in diesem reichen Land? Warum regiert das Gesetz der Straße mit lautstarken Parolen des Hasses? „Weil die Ungerechtigkeit überhandnimmt, ist die Liebe in vielen erkaltet.“ (Mt 24,12)

Die Nacht ist schon im Schwinden, das Licht geht auf – auch in Jesu Rede über die sogenannte Endzeit. „Endzeit“ – das ist nicht das, was am Ende aller kosmischen oder auch nur menschheitlichen Tage geschieht. „Endzeit“ ist nach meinem Verständnis immer wieder dann, wenn es mit einem einfachen „Weiter so!“ eben nicht mehr weitergeht, wenn sich etwas ändern muss, wenn etwas endet, damit es sich wendet.

Gleich einen Vers später wird es noch eine Stufe heller an diesem winterlichen und kalten Morgen, in dem ich mich mit Jesu Worten und in meiner Weltzeit vorfinde. „Wer beharrt bis ans Ende, der wird selig werden“, sagt Jesus in Vers 13. Auf den ersten Blick irritiert mich dieser Satz. Also doch: Augen zu und durch! Es hört sich ja ganz so an, ganz und gar fatalistisch. Da fliegt euch die Welt um die Ohren, die Ungerechtigkeit nimmt überhand, die Liebe erkaltet, ihr aber haltet fein und still aus in euren Kämmerlein, auch in den Kämmerlein eurer Herzen! Haltet sie nur schön rein! Kann es das sein, sich den stillen inneren Seelenfrieden zu bewahren, wenn „draußen“ das Toben und Wüten kein Ende nehmen will?

Ich beziehe Jesu Wort aus Vers 13 nicht auf das Ausharren und Aushalten in einer Situation der Bedrängnis, wie er sie zuvor geschildert hat. Nicht auf das geduldige Ertragen des Martyriums. Ich beziehe es auf den unmittelbar vorangegangenen Vers: Die Ungerechtigkeit nimmt überhand, die Liebe erkaltet – wer aber in der Liebe beharrt, der wird selig werden. Das bedeutet: Haltet sie am Brennen, die Flamme der Liebe! Haltet sie am Brennen, diese schwach glimmenden Lämpchen, die gerade in diesen Morgenstunden so wichtig sind, die noch ein wenig ihren Schein verbreiten müssen, bis das Licht aufgeht.

Wer in der Liebe beharrt, der wird selig werden, denn selig sind die Sanftmütigen und die Friedfertigen, selig sind die Barmherzigen und die, die reinen Herzens sind. (Mt 5,5-9*) Jesu Auftakt zur Bergpredigt ist Zuspruch, aber er ist auch Zuweisung, eine Art Auftrag, seine Liebe zu üben.

Und nun das wirkliche Ende, die Wende, der Aufgang: „Siehe, ich mache alles neu!“ (Off 21,5) Die dürftigen Flämmchen unserer Liebe werden nicht ewig brennen und schon gar nicht werden sie die nötige Wärme bringen. Unsere Kraft ist zu schwach, unsere Reserven sind zu bald erschöpft. Wir vermögen das Reich Gottes nicht zu errichten. Ende, Wende und Neuanfang können nur geschehen, wenn sie aus Gottes Ursprung selbst hervorquellen, aus seiner Schöpfermacht. Doch genau mit diesem Ausblick schließt auch Jesus am Ende dieses Abschnitts: „Das Evangelium vom Reich wird gepredigt werden in der ganzen Welt“.(Mt 24,14) Das ist nur noch zu einem kleineren Teil unsere Sache. Verkündigen – das können wir. Bezeugen, aus welcher Kraft unsere Liebe auf kleinster Flamme brennt, weiterbrennt, wenn sie schon überall sonst erkaltet. Aber wirken können wir es nicht. Dass auch da steht, was gesprochen wird, dass das Reich des Evangeliums gebaut werde – das ist seine, Gottes, Christi Sache.

Uns bleibt an diesem Ende das Vertrauen. Und damit schließt sich der Kreis. Damit kehrt Jesus zum Anfang seiner Botschaft zurück: „Tut Buße, kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,14) Ohne Vertrauen auf Gottes Handeln in dieser Welt werden wir nichts ausrichten, sondern verzweifeln. Eine Welt, die dem Menschen und seiner Selbstsucht überlassen bleibt, ist vom Niedergang bedroht – das ist die ebenso bittere wie realistische Einsicht, die Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern gegenüber betont. Doch sie ist nicht das letzte Wort. Das letzte Wort hat Gott. Und er will unermüdlich, unbeirrbar die Heilung von Mensch und Erde. Er wird es auch tun – doch bis dahin halten wir unsere Lämpchen am Brennen und die kleine Flamme der Liebe am Glimmen.
Amen.

 

Perikope
04.12.2016
24,1-14

Noch nicht das Ende - Predigt zu Matthäus 24,1-14 von Christian Stasch

Noch nicht das Ende - Predigt zu Matthäus 24,1-14 von Christian Stasch
24,1-14

„Ich kann nicht mehr. Was, zwölf Kilometer noch? Ich bin am Ende“, seufzt Mike. Keucht er, ächzt er.
Das ist nun doch alles etwas hart für ihn. Sein erster und vielleicht auch letzter Marathon. Spaß in dem Sinne macht das überhaupt nicht. Ja, er hat sich vorbereitet, hat trainiert. Aber so schlimm, so brutal hat er sich nicht ausgemalt.
Die Beine sind ja seit Kilometer fünfzehn wie Blei. Er bekommt sie kaum noch hoch vom Asphalt.
„Wie lang ist es denn noch? Was, noch elf?“
Die Atmung flach, als wäre sein Brustkorb in ein Korsett eingespannt.
Der Bauch tut weh, dreht sich, „gleich übergebe ich mich, ich will nach Hause aufs Sofa.“
Eine andere Stimme in ihm: „Komm schon. Ausharren, Durchhalten, bis zum Ende!“
Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Wie lange noch? Ich bin jetzt schon am Ende.

„Ich kann nicht mehr. Ich bin am Ende“, sagt auch Sonja, seufzend.
Nach 22 Ehejahren. „Hätte nie gedacht, dass wir uns so auseinanderleben.“
Gespräche mit Freundinnen gab es viele. Paarberatung auch. Hat alles nichts gebracht.
Die Ehe ist ihr eigentlich ein hohes Gut. „Aber, Mensch, wie lange denn noch?“
Und wenn´s auf Trennung hinausläuft?
Das hat sie nie gewollt. Sie hat Angst davor, Angst was dann kommt: sich die Kinderzeiten aufteilen, den Frust und die Wut auf deren Rücken austragen?
Und wie wird es mit dem Alleinleben klappen?
Aber was soll´s, es ist einfach aussichtslos. Die Liebe, die einst so heiß war, ist in ihnen erkaltet, im Laufe der Jahre. Eisschrank statt Backofen.
War nicht ihr Traum. Aber um Träume geht es jetzt nicht. Sie muss den Tatsachen ins Auge schauen.
Eine innere Stimme sagt ihr: „Komm schon. Ausharren, Durchhalten, bis zum Ende.“
Aber: Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Ich bin jetzt schon am Ende.

Der Marathon von Mike läuft nicht wie erhofft.
Die Ehe von Sonja läuft nicht wie erhofft.
Das Leben läuft nicht wie erhofft. Auch nicht in der Adventszeit 2016.

Kein vernünftiger Mensch erhofft sich das Leid, das in unserem Predigttext Punkt für Punkt aufgezählt wird, als wäre es die Tagesschau: Krieg, Hungersnot, Erdbeben, Verfolgung.
Verknüpft mit Frage: „Seht ihr das alles nicht?“
Ja. Wir sehen. Sie passieren: Die Kriege in Syrien und im Irak, die Katastrophen in Haiti und Italien, die Niederlagen im politischen wie im persönlichen Leben, die Enttäuschungen.

Sie passieren. Und wir leiden darunter.
Auch wir gläubige Menschen leiden, denn wir haben kein dickeres Fell als andere, wir sind nicht abgebrüht und cool.
Wir Christen nicht, und Juden auch nicht, und Muslime auch nicht.

Und wie nun also umgehen mit den Erfahrungen und Zuständen, die zum Himmel schreien?
Man kann die Augen davor verschließen, man kann die Dinge schönreden, das hilft aber auf Dauer auch nicht.

Was hilft?
Könnte es vielleicht helfen, sich schon vorher die Dinge möglichst realistisch und vielleicht sogar auch durchaus negativ auszumalen?
Hätte es einem Läufer wie Mike geholfen, sich gar nicht so auf das Event zu freuen, also sich schon vorher klar zu machen, dass ein Marathon ungesund, knüppelhart und vielleicht auch zum Kotzen ist?
Hätte es einer Heiratswilligen wie Sonja geholfen, sich schon vor der Ehe auch über das mögliche Scheitern Gedanken zu machen, um dann nicht so negativ überrascht zu sein?
Ich bin skeptisch. Besonders sympathisch ist mir so ein Leben mit angezogener Handbremse nicht.

„Erschreckt nicht.“ So lautet ein Ratschlag in unserem Predigttext angesichts des Leids.
Und weiter wird dort argumentiert: Gewisse Dinge müssen geschehen. Es gibt eine Art festen Zeitplan. Da sind die negativen und bedrängenden Dinge mit enthalten, stehen aber nicht am Ende, haben nicht da letzte Wort. So wie die Wehen innerhalb der Schwangerschaft: Erst der Schmerz der Wehen und der Geburt, dann anschließend das Glück über das neugeborene Kind.
„Komm schon. Ausharren, Durchhalten, bis zum Ende.“ intoniert der Predigttext.
Kann das helfen? Trösten? Stabilisieren?

Mike – der vielleicht doch aufgeben musste.
Bei Kilometer 36 ausgestiegen ist. Eine Woche geknickt war. Jetzt hält er sich an die halbe Strecke: 21,1 statt 42,2 Kilometer – auch kein Pappenstiel. Aber er ist dankbar dafür, dass er die schafft.

Sonja – die sich vielleicht doch von ihrem Mann getrennt hat. Aber dankbar dafür ist, dass sie ziemlich guten Kontakt zueinander haben. Was die Kinder betrifft, aber auch sonst. Komischerweise ist es sogar besser geworden als vor der Trennung. Da war am Ende nur Schweigen, jetzt reden sie wieder miteinander.

Wir feiern Advent nicht als „fertige“ Menschen, sondern als ergänzungsbedürftige Menschen.
Trinken unseren Glühwein und essen den Stollen nicht als selbstzufriedene, sondern als sehnsüchtige Menschen.
Das, was uns zu schaffen macht an eigenem und fremdem Leid, das schieben wir nicht beiseite, sondern bringen es mit.
Anders sind wir nicht zu haben. Dem Slogan „Alles gut“ begegnen wir mit gesundem Misstrauen.

Ein beliebtes Argument gegen Gott lautet: „Wenn es ihn gäbe, dürfte es all das Leid in der Welt nicht geben.“ Ich würde mich verheben, wenn ich das Leid in der Welt erklären wollte, manches ist menschengemacht, anderes aber auch nicht.
Das Leiden an und in der Welt kann uns von Gott wegbringen, zugleich kann es uns aber auch zu Gott hinführen.
Ich bin froh darüber, eine Adresse für meinen Kummer und meine Klagen zu haben. Und ich bin froh darüber, einen ganzen Rucksack mit mir herumzutragen, voller Hoffnungsbilder und Hoffnungsgeschichten. Ich trage sie und ich werde getragen.
Dass Gott mir im Advent entgegenkommt, mein durchwachsenes Leben und meine Enttäuschungen teilt – das ist eines dieser Hoffnungsbilder.
Mit den Worten eines Adventsliedes:

Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld.
Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte hält euch kein Dunkel mehr.
Von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her. (eg 16)

Jochen Klepper hat dieses Lied geschrieben. Er ist ein Meister darin, Hoffnungsbilder in Sprache zu fassen. 1903 wird er in Schlesien geboren, er studiert Theologie, aber nicht zu Ende. Er arbeitetet bei einer Zeitung. Er verliebt sich in Johanna, eine jüdische Frau, die 13 Jahre älter ist als er und schon zwei Kinder hat, Brigitte und Renate. Viele, auch in seiner eigenen Verwandtschaft, schütteln den Kopf darüber. Heirat, Umzug nach Berlin, beruflicher Erfolg. Aber immer wieder wird Klepper beim Hör-Funk und beim Verlag vorübergehend freigesetzt. Bemerkung: Frau ist Jüdin.
Sie halten sich durch zwei Bücher über Wasser, die sich hervorragend verkaufen: „Der Kahn der fröhlichen Leute“ – eine literarische Liebeserklärung an die Oder, die sich durch Schlesien und Pommern windet. Und dann das Buch „Der Vater“ – über den „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. Es wird 1937 zum Lehrstück für die aktuelle Zeit, denn es beschreibt den „Soldatenkönig“ als den, der den Krieg meidet. Und der als „Landesvater“ ein Beispiel für Recht und Gnade ist und in allem auch nach Gott fragt. Erster Diener des Staates und kein Führerkult. Klepper erhält Lob von vielen Seiten, gerade auch preußische Offiziere der Wehrmacht greifen zu diesem Lesestoff.
Aber das persönliche Leben der Kleppers wird immer schwieriger. Ihnen wird wegen ihrer „nicht-arischen“ Situation das Leben zunehmend zur Hölle gemacht. Die Töchter dürfen nicht mehr in die Schule. Es gelingt immerhin, dass die Tochter Brigitte noch nach England ausreisen kann.
10. Dezember 1942: Drei leblose Gestalten liegen auf dem Küchenboden. Johanna Klepper in der Mitte, ihre Tochter Renate rechts von ihr. Links Jochen Klepper. Und neben ihnen einige leere Schachteln Schlafmittel.
Ein paar Stunden zuvor hatte er die Mitteilung erhalten: Renate darf nicht ausreisen. Damit wurde die Bedrohung übermächtig. Denn vier Tage nach dem Tod wird der Berliner Osttransport Nr. 25 eingesetzt. Zielpunkt: Auschwitz. Kleppers letzter Tagebucheintrag: „Nachmittags die Verhandlung auf dem Sicherheitsdienst. Wir sterben nun – ach, auch das steht bei Gott. Wir gehen heute Nacht gemeinsam in den Tod. Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben.“

Liebe Gemeinde, ein Glaubensmärtyrer des 20. Jahrhunderts. Ich lasse mir von ihm gern etwas ins Stammbuch schreiben und nehme es als Glaubensstärkung mit in diesen Advent, für mich, und für alle Mikes und alle Sonjas:

Beglänzt von Stern und Lichte,
hält uns kein Dunkel mehr.
Von Gottes Angesichte
kam (und kommt) uns die Rettung her. (eg 16)

Einen gesegneten 2. Advent!
Amen.

 

Perikope
04.12.2016
24,1-14

Wer aufbricht, kann hoffen

Wer aufbricht, kann hoffen
5,1-11

Die Predigt halten der sächsische  Landesbischof  Dr. Carsten Rentzing und sein katholischer Amtsbruder Heinrich Timmerevers, Bischof des Bistums Dresden-Meißen.

 

Bischof Heinrich Timmerevers:

Liebe Schwestern und Brüder!

Im Frühjahr 1986 stand ich, 200 Meter von hier entfernt, als junger Priester zusammen mit einigen Priesterkandidaten aus Münster auf meiner ersten Reise in die DDR vor den Ruinen der Frauenkirche und den Trümmerhaufen übriggebliebener Steine dieser Kirche, die gleichsam auf den Wiederaufbau warteten. Diese Bilder haben sich mir eingeprägt, ich habe sie lebendig vor Augen! Damals habe ich mich gefragt, wird sie je wieder aufgebaut, diese Frauenkirche? Wohl kaum, habe ich gedacht! Noch weniger habe ich mir vorstellen können, dass ich 30 Jahre später – heute – in der wiederaufgebauten Frauenkirche als Bischof des Bistums Dresden-Meißen hier stehen und zu Ihnen sprechen würde!

Liebe Festgemeinde!

Vor 26 Jahren durfte Deutschland im Nachgang der Friedlichen Revolution die Wiedervereinigung nach der leidvollen Teilung vollziehen und feiern. Bis heute bleibt das ein atemberaubendes Ereignis und ein großes Geschenk! Wenn es das nicht gegeben hätte, könnten wir heute diesen Gottesdienst hier nicht feiern!

Das Leben in Freiheit ist ein großes Geschenk! An diesem Tag kann uns das neu bewusst werden. 70% aller Menschen leben heute in Staaten, in denen Religionsfreiheit großen Beschränkungen unterworfen ist. Vielleicht suchen auch deswegen so viele Menschen Schutz und Geborgenheit in Europa. Wir sind dankbar, dass wir unsere Religion, unser Christsein, in diesem Land hier so selbstverständlich leben können. Viele erahnen schon gar nicht mehr, dass dies im weltweiten Maßstab gerade nicht selbstverständlich ist!

Geschenkte Freiheit! Einem Menschen wird etwas geschenkt, was er im Tiefsten seines Herzens erhofft. Er konnte es selbst nicht machen und es fällt ihm überraschend zu! Wer sich unverhofft beschenkt weiß, der wird in seinem Herzen dankbar!

Vor wenigen Tagen bin ich dem Kaplan der Hofkirche begegnet, der am 8. Oktober 1989 an der Demonstration auf der Prager Straße in Dresden teilgenommen hat. Die Volkspolizei hatte am Abend hunderte Menschen eingekesselt, die auf die durchrollenden Züge der Prager Botschaftsflüchtlinge aufspringen wollten. Er hat mir die Situation geschildert. Zusammen mit einem anderen Kaplan gelang es ihm, aus der Menschenmenge herauszutreten und mit einem Volkspolizisten zu sprechen, der wider alle Erwartung offen war für das Anliegen der Demonstranten. Dieser mutige Schritt der beiden gläubigen Christen mit dem Vertrauen auf die Mitwirkung Gottes hat das Tor geöffnet für eine friedliche Revolution. Dass die Sehnsucht nach Freiheit sich ohne Blutvergießen eine Bahn brechen konnte, ist ein solches Geschenk, das wir als gläubige Menschen bei all unserem Mühen als Gabe Gottes sehen dürfen.

Beim Wiederaufbau der Frauenkirche wurde unter den Trümmern auch das Kuppel-Kreuz gefunden, das nun hier in der Kirche seinen Platz gefunden hat. Dieses Kreuz ist gezeichnet von der Wucht der Zerstörung, und doch ist es nicht untergegangen! Was für ein Zeichen!

Mit Jesus Christus, der am Kreuz gestorben durch Gottes Macht vom Tode auferstanden ist, wird das Kreuz zu dem christlichen Hoffnungszeichen.

Beim Wiederaufbau der Frauenkirche wurde unter den Trümmern auch das Kuppel-Kreuz gefunden, das nun hier in der Kirche seinen Platz gefunden hat. Dieses Kreuz ist gezeichnet von der Wucht der Zerstörung, und doch ist es nicht untergegangen! Was für ein Zeichen!

Mit Jesus Christus, der am Kreuz gestorben durch Gottes Macht vom Tode auferstanden ist, wird das Kreuz zu dem christlichen Hoffnungszeichen. - Unter dem Kreuz wurden und werden Menschen aufgerichtet und wagen ihren Weg in eine unbekannte Zukunft.

Wenn der Christ auf das Kreuz schaut, kann er nie bei sich selbst stehen bleiben. Er ist herausgefordert, helfend und heilend sich dem Menschen zuzuwenden, der in Not ist! Jesus Christus ruft uns, in jedem Notleidenden ihn selbst zu sehen und dem Nächsten konkret zu helfen. Der Dienst der Nächstenliebe von Mensch zu Mensch ist für die Gesellschaft, ist für die Glaubwürdigkeit des Evangeliums von entscheidender Bedeutung. Überall da, wo der Mensch, der Christ diesem Dienst am Mitmenschen nachkommt, gewinnen wir als Christen Glaubwürdigkeit. Nicht zuletzt deswegen rief Papst Franziskus das Jahr der Barmherzigkeit aus und unterstreicht so die Notwendigkeit der „horizontalen Dimension“ des Kreuzes.

Barmherzigkeit im Zeichen des Kreuzes gehört zum Fundament des Christentums. Ohne Barmherzigkeit kann es keine wirkliche humane Gesellschaft und keine menschenfreundliche Religion geben.

Was kann uns beständig daran erinnern? Dazu ein Wort in ökumenischer Verbundenheit mit der „Sprachmusik“ aus Martin Luthers Morgensegen. Vor dem eigentlichen Morgen- und auch Abendsegen gibt uns der Erfurter Mönch und Wittenberger Theologe einen einfachen und dennoch immer wieder vergessenen Hinweis: „Des Morgens, wenn du aus dem Bette fährst, sollst du dich segnen mit dem Zeichen des heiligen Kreuzes.“

Liebe Schwestern und Brüder, ich lade Sie ein, sich täglich mit dem Zeichen des Kreuzes zu segnen, indem wir es unserem immer wieder ermüdeten und resignierten Dasein von der Stirn bis zur Brust, von einer Schulter zur anderen tatsächlich einzeichnen. Mit der Hoffnung auf Gottes Beistand geben wir unseren Beitrag zu einer menschenfreundlicheren Welt.

Landesbischof Dr. Carsten Rentzing, Predigt II

"Seid freundlich und herzlich untereinander". Oft ist das leichter gesagt als getan.

Immerhin leben wir in unruhigen Zeiten. Diese Unruhe greift nach uns, privat und gesellschaftlich. Unruhe kann auch produktiv sein. Gerade darin lag ja das Wunder der friedlichen Revolution. Heute sind wir bedroht von Zerwürfnissen, die in Unfrieden zu münden drohen. Unsere Gesellschaften, sogar unser ganzer Kontinent zerspalten sich an den Fragen der Gegenwart und Zukunft. Die Länder Europas streiten sich. Flüchtlinge irren umher. Terroristen säen mit ihren Morden Angst und Misstrauen. Hass erfüllt die sozialen Netzwerke.

In dieser angespannten Situation appelliert die Bibel: „Strebt voll Eifer nach Frieden mit allen“. (Hebräer 12,11) Das klingt weltfremd und vollmundig: Frieden mit allen! Aber Frieden ist eben nicht irgendeine zusätzliche Gabe. Friede ist vielmehr der Grund, auf dem ein segensreiches Leben überhaupt nur möglich ist. Die Erfahrung der zwei Weltkriege hat diese Erkenntnis tief in die Herzen der europäischen Völker eingebrannt. Und die kriegerischen Auseinandersetzungen der Gegenwart sollten uns eigentlich neuerlich daran erinnern, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit darstellt.

Das Nagelkreuz der zerstörten Kathedrale von Coventry mahnt uns auch in dieser Kirche daran, dies niemals zu vergessen.

In der rauchenden Ruine der Kathedrale von Coventry wurden nach der Zerstörung durch deutsche Bomben im 2. Weltkrieg aus dem Gebälk des Deckengewölbes einige mittelalterliche Zimmermannsnägel geborgen. Drei dieser Nägel sind später zu einem Kreuz zusammengefügt worden. Aus Teilen der Zerstörung entstand somit ein neuer Hinweis auf die christliche Hoffnung.

In den Schriften der Bibel meint das Wort Frieden allerdings noch mehr als die Abwesenheit von Waffengewalt. Frieden bedeutet dort eine umfassende Ordnung, die den einzelnen Menschen und die Völker geborgen sein lässt. Frieden umfasst deshalb auch Gerechtigkeit und Freiheit. Allen Menschen sollen wir solchen Frieden gewähren. Es ist gut für ein Volk an seinem Nationalfeiertag ein solches Wort zu hören. Es ist gut, an einem solchen Tag selbstkritisch zu fragen: Wie kann ich zum Freiden beitragen, wenn Menschen beleidigt und ausgegrenzt werden – in der Schule, in der U-Bahn, im Parlament, in den Kirchengemeinden?

Wir Christen distanzieren uns entschieden vom Geist des Unfriedens und der Gewalt, denn dieser Geist zerstört und  setzt die Grundlagen für ein gesegnetes Leben aufs Spiel. Dieses Land braucht den Geist des Friedens. Es braucht Menschen, die mit Eifer nach diesem Geist des Friedens streben.

Wie in der Zeit der friedlichen Revolution. So wie damals sollen wir auch heute ein Segen sein. Für unsere Familien. Für unsere Nachbarn. Für unsere Städte. Für unser Land. Darum lasst uns mit Eifer nach Frieden suchen – zusammen mit allen Menschen guten Willens.

Wir haben in diesem Gottesdienst schon vom Zeichen der Christen, dem Kreuz, gehört. Dieses Kreuz wird durch zwei Balken gebildet. Der horizontale Balken des Glaubens öffnet den Blick und die Arme nach links und nach rechts in die Welt hinein, die uns umgibt.

Christinnen und Christen sind dabei erfüllt vom Geist der Barmherzigkeit, der durch sie in unsere Welt fließen soll. Und sie vereinen sich darin mit all jenen, die ebenfalls barmherzig handeln. Es ist diese Barmherzigkeit, die unser Land so lebenswert macht, dass es zum Hoffnungspunkt für viele in dieser Welt wird. Freilich kann der horizontale Balken schnell zur Überforderung führen, wenn er nicht verbunden wird mit dem vertikalen Balken. Dieser vertikale Balken lenkt unsere Blicke empor. Er richtet sie aus auf Gott. Und dieser Blick ist heilsam. Frieden ist nicht allein das Werk der Menschen. Friede ist vielmehr Ziel des göttlichen Handelns. Friede ist göttlichen Ursprungs. Das gibt der Aufforderung, dem Frieden nachzujagen eine besondere Würde und damit eine besondere Dringlichkeit. Aber es entlastet uns Menschen zugleich auch.

Wir stehen in allem, was wir tun und lassen in Verantwortung vor Gott. So wie es auch die Mütter und Väter des Grundgesetzes formuliert haben. Aber wir dürfen uns gerade auch deshalb im Gebet an ihn wenden. - Er lässt uns in unserem Eifer für den Frieden nicht allein.

Das ist die Zuversicht des Glaubens, mit der dieses Gotteshaus einst errichtet wurde. Lasst uns mit dieser Zuversicht aufbrechen. Lasst uns den Herrn bitten für unser Land. Möge sein Frieden dieses Land und alle Menschen, die darin leben, erfüllen und uns eine gesegnete Gegenwart und Zukunft schenken. Amen.

Perikope
02.10.2016
5,1-11

Ansprache zur Trauerfeier im Münchner Dom am 31.7.16

Ansprache zur Trauerfeier im Münchner Dom am 31.7.16
Mt 11,28-29

Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen“ (Mt 11,28-29).

Ja, mühselig und beladen sind wir. Und wir bringen heute unsere Trauer, unser Erschrecken unsere Sorge um die Zukunft vor Gott. Hier im Münchner Dom und zusammen mit allen anderen, die jetzt über das Fernsehen dabei sind, teilen wir unsere Mühsal miteinander und mit Gott. Wir brauchen diese Gemeinschaft. Wir brauchen einander. Den Angehörigen der Toten kann niemand ihre Lieben wiedergeben. Aber wir können über alle religiösen und kulturellen Grenzen hinweg ihr Leid mittragen. Wir haben eben Worte des Gebets aus Judentum, Christentum und Islam gehört. Diese Worte haben Sprache gegeben für das Vertrauen, aus dem wir Gottsucherinnen und Gottsucher leben.

„Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. … so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen“ – für uns Christen sind diese Worte Jesu die große Hoffnung. Und diese große Hoffnung schafft uns – und vielleicht ja nicht nur uns – den Raum, um jetzt innezuhalten.

Nach dem Erschrecken der Tatnacht, dem Versuch zu verstehen, was da eigentlich passiert war, nach weiteren schlimmen Nachrichten von anderen Orten in und außerhalb Bayerns im Laufe dieser Woche und den politischen Diskussionen um die richtigen Reaktionen darauf, die nun längst entflammt sind, ist es heute Zeit, jenseits all dieser Diskussionen noch einmal innezuhalten. Denn uns alle bewegt die Frage, wie wir jetzt in die Zukunft gehen sollen, wie wir jetzt in die Zukunft gehen können.

Viele Menschen haben Sorge, manche haben Angst. Und keine noch so überzeugende Statistik über das unvergleichbar höhere Risiko, Opfer eines Autounfalls zu werden, kann die Bilder von der so plötzlich mitten in den unbefangenen Alltag einbrechenden Gewalt einfach löschen: Statistiken erreichen den Verstand. Bilder legen sich auf Herz und Seele.

In dieser Situation haben alle Verantwortung an ihrem jeweiligen Ort. Diejenigen, die politische Verantwortung tragen, müssen nach rechtsstaatlich tragfähigen Wegen suchen, um das Risiko weiterer Gewaltakte soweit wie möglich zu begrenzen. Alle, die medizinische und soziale Anzeichen für mögliche Gewalttaten erkennen können, müssen Frühwarnsysteme entwickeln, die entsprechende Planungen rechtzeitig stoppen helfen. Die Medien müssen ihre Berichterstattung reflektieren und für die Zukunft unterscheiden lernen, wo sie ihre Informationspflicht erfüllen und wo sie zu einer möglichen Hysterie beitragen, die niemandem hilft. Die Kirchen und Religionsgemeinschaften müssen sich um die Seele der Menschen, die Seele der ganzen Gesellschaft sorgen und Quellen der Zuversicht erschließen.

Es gibt vielleicht nichts, was uns in dieser Situation mehr helfen kann als neues Gottvertrauen. Das Vertrauen, dass – wie der Apostel Paulus sagt – „weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes“. Ein Vertrauen, was uns von der Lähmung in eine neue Freiheit führt, die am Ende das schlimme Ereignis, das uns heute zusammenführt, zum Ausgangspunkt einer neuen Kraft werden lassen kann.

Alle miteinander haben wir die Endlichkeit des Lebens vor Augen geführt bekommen. Der Tod ist auch sonst da, aber wir meiden ihn. Wir schieben ihn zur Seite, wo immer wir können. Wir ertragen ihn nur im Spielfilm am abendlichen Fernsehbildschirm. Vielleicht ertragen wir ihn auch noch, wenn wir ihn in den Nachrichten sehen und er weit weg ist. Und jetzt ist er aus dem Nichts heraus so nahe gekommen. Viele von uns hier in München konnten die Häuser nicht mehr verlassen oder hingen irgendwo in der Stadt fest. Ich höre noch immer das Knattern der Hubschrauber direkt über meinem Büro und die Polizeisirenen ringsum.

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ – heißt es in der Bibel. Vielleicht können diese Tage des Erschreckens über die Endlichkeit des Lebens Ausgangspunkt für eine neue Klugheit im Umgang mit unserem Leben sein. Indem wir merken, wie wenig selbstverständlich das Leben ist. Indem wir wahrnehmen, wie kostbar das Leben ist. Wie kostbar die Zeit mit unseren Lieben ist. Aus der Trauer, die wir jetzt empfinden, aus dem Erschrecken über das jähe Ende des Lebens der Menschen, die wir heute betrauern, kann etwas Neues wachsen: eine neue Achtsamkeit für die Kostbarkeit des Lebens. Ein neues Bewusstsein für das wunderbare Geschenk des Lebens.

Nehmt das mit aus diesem Gottesdienst. Denkt daran, wenn ihr nach Hause geht, wenn die Worte hier zu Ende gesprochen und die Trauermusik verklungen ist: Es ist nicht selbstverständlich, dass wir leben, dass wir unsere Lieben bei uns haben. Unsere Zeit ist endlich. Deswegen, werft sie nicht weg. Nehmt die Zeit aus Gottes Hand und nutzt sie. Lebt bewusst und: vergesst nicht, zu danken!

Viele Menschen hier in München haben gezeigt, dass wir der Gewalt nicht hilflos ausgeliefert sind. Sie haben mitten in der Angst und in dem Erschrecken über die Gewalt Zeichen der Menschlichkeit gesetzt. Wir haben in diesen schweren Tagen erlebt, wie reich unser Leben wird, wenn wir aufeinander achten und zusammen stehen. Wenn wir einander nicht Konkurrenten sind, sondern Mitmenschen. Wenn wir unsere Häuser füreinander öffnen und Gemeinschaft erfahren. Wenn wir nicht nach Hautfarbe, Nationalität oder Religion fragen, sondern nur danach ob einer unsere Hilfe braucht. So wie es die äthiopische Gemeinde gezeigt hat, die die ganze Nacht über 60 Personen beherbergte, die sich dorthin geflüchtet hatten. Oder wie es der anonym gebliebene Mann aus Tunesien gezeigt hat. Er hat gestrandeten Menschen in der Münchner Amoknacht spontan angeboten, sie nach Hause zu fahren. Ein Ehepaar hat ihm mangels Namen und Adresse über einen Leserbrief in der Zeitung gedankt. Es war von ihm mitgenommen worden, als der Unbekannte bereits seine neunte Fuhre beförderte. Er hat den Segen eines Menschen erfahren, der einfach nur anderen helfen wollte.

Der anonyme Helfer ist damit zusammen mit vielen anderen zum Zeugen dessen geworden, was Dietrich Bonhoeffer in schwerer Zeit im Widerstand gegen den Nationalsozialismus so formuliert hat:

„Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.“

Aus diesem Vertrauen lasst uns leben. Hass und Gewalt werden keine Macht über unsere Herzen gewinnen. Die Liebe ist stärker.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

AMEN.

Ein mutiger Sklave unterwandert das Finanzsystem - Predigt zu Matthäus 25,14-30 von Margot Runge

Ein mutiger Sklave unterwandert das Finanzsystem - Predigt zu Matthäus 25,14-30 von Margot Runge
25,14-30

Einleitung zu Beginn der Predigt: "Besonders hohe Renditen erzielte in den vergangenen zwölf Monaten etwa der Aberdeen Global Indian Equity Fund. Vor allem ein Regierungswechsel katapultierte die Börse auf dem Subkontinent in neue Höhen und der Fonds legte um 51 Prozent zu. Auf Drei-Jahres-Sicht zählt der Franklin Biotechnology Fund mit durchschnittlich 46 Prozent Jahresplus zu den Besten. Besonders attraktiv für Sicherheitsorientierte war der Emerging-Markets-Bond-Fund von Aberdeen. Er erzielte auf Fünf-Jahres-Sicht elf Prozent Plus per annum. Alle drei wurden im Fondstacho der Ratingagentur Assekurata mit ‚sehr gut‘ bewertet." http://www.handelsblatt.com/finanzen/vorsorge/altersvorsorge-sparen/fondspolicen-im-vergleich-teil-vii-mehr-rente-mit-spezial-investments/11023456.html

Lesung Mt 25,14-30

In dieser Beispielgeschichte hören wir bei den "Talenten" im Hinterkopf vor allem „Fähigkeiten“. Du hast ein Talent. Wir verstehen es sofort im übertragenen Sinne. Doch die Leute, denen Jesus diese Geschichte ursprünglich erzählt hat, wussten, was ein Talent wirklich ist: ein riesiger Barren Silber, so viel, wie ein Mensch gerade noch tragen kann, 30 bis 40 Kilogramm. Ein Talent, das sind 17 Jahreseinkommen einer armen Familie (à 350 Denare). Und die 8 Talente eines Investors, die investiert werden, entsprechen 140 bis 160 Jahreseinkommen. Wenn eine Familie an der Armutsgrenze heute 20.000 Euro zur Verfügung hat, entspräche das 2,8 Millionen Euro.

Der Sklavenbesitzer verfügt über weit mehr. Denn er braucht diese 8 Talente nicht für den laufenden Betrieb, sondern hat sie zusätzlich zur freien Verfügung und kann sie investieren, ohne seine sonstigen Geschäfte zu beeinträchtigen. Solche Vermögen lassen sich nicht mit eigener Hände Arbeit aufbauen. Das ist auch heute so. Geld gebiert Geld. Der größte Gewinn wird heute nicht durch Produktion erwirtschaftet, sondern durch Kapital selbst. Geld wird angelegt und verzinst und wird als Aktien an den Börsen durch die Welt geschoben.

Die acht Talente in der Geschichte von Jesus bringen tatsächlich Traumrenditen von 100 Prozent, jedenfalls sieben der acht Talente. Das sind keine Peanuts – „du warst im Kleinen zuverlässig, ich beauftrage ich mit Größerem“ –, sondern riesige Kapitalmengen. Und sie verdoppeln sich. Aus fünf werden zehn, aus zwei vier. Kann das mit rechten Dingen zugehen? Können aus fünf Millionen unversehens zehn werden? Wo kommen solche gigantischen Gewinnspannen her? Spätestens seit der Finanzkrise 2008 wissen auch Wirtschaftsunkundige, dass sich eine solche Performance nicht mit ehrlichen Methoden erwirtschaften lässt, sondern nur in hoch spekulativen Bereichen, im Menschen- und Drogenhandel, durch Betrug und gnadenlose Ausbeutung. Solche Gewinne lassen sich nur durch Immobilienspekulationen erzielen, durch Heuschreckenmethoden, „land grabbing“. Hungerlöhne werden gezahlt, Umweltschutzauflagen umgangen, Arme enteignet. Es wird betrogen und erpresst. Hinterzimmer, Abzocker, Briefkastenfirmen lassen grüßen.

Die Beispielgeschichte führt uns in die Welt der Superreichen und ihrer Praktiken. Wer solchen Gewinn erwartet, weiß wahrscheinlich – oder hoffentlich –, dass das nicht mit legalen Mitteln möglich ist. Wer seine Mitarbeitenden dennoch beauftragt, dass sie das Geld so anlegen, fordert sie auf, sich skrupelloser Methoden zu bedienen.

Doch anders als die Broker an der Wallstreet sind die Fachleute in der Beispielgeschichte von Jesus keine freien Menschen. Sie sind Sklaven. Obwohl sie offensichtlich für ihre Aufgaben spezialisiert sind und weitreichende Handlungsvollmachten haben, sind sie Abhängige. Qualifizierte Sklaven in Führungspositionen oder auch Sklaven, die Abgaben eintreiben müssen, sind in der Antike durchaus üblich. Und sie können ohne weiteres ausgepeitscht oder eingesperrt werden, wenn sie ihrem Besitzer nicht willfährig sind oder wenn sie Fehler machen. Ihr Herr bindet sie also ein in seine schmutzige Geschäftspraxis. Er macht sie, die Abhängigen, zu Mittätern. Die Sklaven tragen dazu bei, dass andere Familien ihr Hab und Gut verlieren, in Sklaverei verkauft werden.

Aber einer macht nicht mehr mit. Er beteiligt sich nicht mehr daran, ein System am Laufen zu halten, das die einen bereichert auf Kosten der anderen. Er sagt seinem Besitzer die Wahrheit ins Gesicht: „Herr, ich wusste, dass du ein harter Mann bist: Du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst ein, wo du nicht ausgestreut hast; und ich fürchtete mich, ging hin und verbarg deinen Zentner in der Erde. Siehe, da hast du Deines.“ (Mt 25, 24 f.)

Wie viele Nächte wird dieser Sklave wachgelegen haben und sich mit seiner Entscheidung herumgeschlagen haben? Das, wozu er ausgebildet ist – Geld zu investieren – ist ihm immer fragwürdiger erschienen. Er hat seinem Herrn nichts entzogen, keinen einzigen Denar. Im Gegenteil. Er hat das Eigentum seines Herrn treu bewahrt. Er hat sich sogar an den rabbinischen Frömmigkeitsregeln orientiert, als er es in der Erde vergraben hat.

Sein Besitzer wertet sein Verhalten als einen Affront ohnegleichen. Zumal ein Sklave es wagt, dem Herrn den Spiegel vorzuhalten und ihn als Dieb bezeichnet. Der Besitzer streitet das Urteil mit keinem Wort ab. Aber er bestraft ihn und wirft ihn ins Gefängnis.

Der Sklave landet dort, wo auch die anderen Opfer sitzen. Im Gefängnis sitzen Arme, die in Schuldhaft geraten sind, die ihre Schulden nicht zurückzahlen können. Im Gefängnis sitzt Johannes der Täufer. Im Gefängnis sitzt Jesus selbst mit seinen Freundinnen und Freunden. „Ich war gefangen und ihr habt mich besucht“, sagt er (Mt 25,36).

Auch heute sind Gefängnisse eher Orte der Armen, Abgehängten und Gescheiterten. Die Reichen können sich Anwälte leisten. Sie genießen Annehmlichkeiten, werden schneller zu Freigängern oder kommen auf Kaution frei. Für Peanuts halten sie die Summen, die sie in ihre Taschen gewirtschaftet haben. Selten, dass ein Josef Ackermann, Sepp Blatter oder Thomas Middelhoff verurteilt wird und seine Strafe auch voll absitzt. Doch andere wandern schon wegen Schwarzfahrens oder Ladendiebstahls hinter Gitter. In vielen Ländern sind die Zellen voller Leute, die ohne Verfahren eingesperrt und misshandelt werden. Gefängnisse dienen als Druckmittel gegen die lokale Bevölkerung. Hier landen kleine Bäuerinnen und Bauern, die sich gegen Enteignung wehren, Journalist*innen, die über Korruption recherchieren, Oppositionelle und Whistleblower wie Bradley Manning und (wenn es nach der Regierung ginge) Edward Snowden.

Der dritte Sklave kooperiert nicht mehr. Er lässt sich nicht mehr einspannen. Er folgt seinem Gewissen. Er sagt die Wahrheit. Er hält sich an die Regeln der Tora und beherzigt die Mahnung von Jesus: Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Geld, dem Mammon (Mt 6,24).

Er zahlt einen hohen Preis. Aber die Bibel ist davon überzeugt: Willkür und Gefängnis haben nicht das letzte Wort. Denn Jesus erzählt die Geschichte weiter. Nach dem Unrechtsurteil – „Werft diesen nutzlosen Sklaven in den finstersten Kerker. Dort wird er schreien und vor Todesangst mit den Zähnen knirschen“ – wird noch einmal Gericht gehalten: „Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf seinen himmlischen Richterstuhl setzen. Und alle Völker werden sich versammeln. Er wird die Menschen voneinander scheiden, wie ein Hirte die Schafe von den Böckchen trennt. Er wird denen zur Rechten sagen: Kommt heran, ihr Gesegneten Gottes, erbt Gottes Reich. Ich war hungrig, ihr gabt mir zu essen; ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr habt mich besucht. Was ihr für eines dieser meiner geringsten Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan.“ (aus Mt 25,30-36.40, Bibel in gerechter Sprache).

Der Sklave, der sich weigert, findet sich an der Seite von Jesus wieder. Die Welt bleibt am Ende nicht in den Händen der Gierigen und Gewalttätigen, sondern wird den Armen und Barmherzigen zufallen und denen, die für Gerechtigkeit eintreten.

Sklaverei gehörte im 1. Jahrhundert zum Alltag der Menschen um Jesus herum. Aus dem letzten Kapitel des Römerbriefes schließen wir, dass mindestens die Hälfte der Gemeindemitglieder in Rom Sklavinnen und Sklaven oder Freigelassene waren. In den Gemeinden, für die Matthäus um 80 n.Chr. herum sein Evangelium schrieb, wird es nicht anders gewesen sein. Viele haben also Unfreiheit am eigenen Leib erfahren. Ihnen erzählt Jesus diese Geschichte. Wie wird sie in ihren Ohren geklungen haben?

Wir leben in Mitteleuropa in einer freien Gesellschaft. „Ich kann ja nichts tun“, sagen trotzdem viele, „ich bin nur ein kleines Licht. Mir sind die Hände gebunden.“ Die Bibel glaubt nicht daran, dass Menschen nur willen- und wirkungslose Rädchen im Getriebe sind. Wir brauchen nicht mitzulaufen. Die Verhältnisse sind nicht alternativlos. Wir haben immer die Möglichkeit, uns Spielraum zu erobern, und sei er noch so klein. Selbst ein Sklave lässt sich seine Entscheidungsfreiheit und Autonomie nicht nehmen. Wir können und sollen für eine andere Welt einstehen. Jesus erzählt, wie jemand das selbst in extremsten Abhängigkeitsverhältnissen wagt. Eine Mutmachgeschichte. Auch für uns.

 

Literatur:
Schätzungen nach Marlene Crüsemann: Wahre Herrschaft: Das Gleichnis
von den Talenten und das Gericht Gottes über die Völker. In: Marlene
Crüsemann, Claudia Janssen, Ulrike Metternich (Hrsg): Gott ist anders.
Gleichnisse neu gelesen. Gütersloh 2014, 56 – 69 Die Predigt folgt der
Auslegung von Marlene Crüsemann sowie der Gleichnistheorie von Luise
Schottroff: Die Gleichnisse Jesu. Gütersloh 2007 (2. Auflage),
insbesondere S. 290-294
 

 

 

 

Perikope
24.07.2016
25,14-30

Bleiben wir wach! - Predigt zu Matthäus 25,1-13 von Mira Stare

Bleiben wir wach! - Predigt zu Matthäus 25,1-13 von Mira Stare
25,1-13

Bleiben wir wach!

Liebe Schwestern und Brüder,

wir feiern heute den letzten Sonntag im Kirchenjahr, der in der evangelischen Kirche auch als Ewigkeitssonntag bekannt ist. Dem Gedenken an die Verstorbenen ist dieser Sonntag gewidmet. Unsere Gedanken gehen dabei auf der einen Seite in die Vergangenheit, in welcher wir mit unseren Verstorbenen noch hier auf der Erde beisammen waren. Dabei können wir mit dem Blick auf unsere Verstorbenen Dankbarkeit erleben, manchmal aber auch Traurigkeit, weil sie nicht mehr hier sind, und weil wir sie nicht mehr von Angesicht zu Angesicht sehen können. Auf der anderen Seite lenkt das Evangelium vom heutigen Tag unseren Blick in die Zukunft, nämlich zum Kommen Jesu bei der Vollendung der Zeit, das sich auch sehr bald ereignen kann. Es erfüllt uns mit Hoffnung auf das, was kommt, und ruft uns zur Wachsamkeit auf.

Im Evangelium erzählt Jesus ein Gleichnis mit dem er das Geschehen betreffend das Himmelreich vergleicht. Den Hintergrund des Gleichnisses bildet ein besonderer Hochzeitsbrauch: Junge Frauen empfangen den Bräutigam mit einem Licht-Tanz. Im Gleichnis gibt es zehn Jungfrauen, die dem Bräutigam entgegen gehen, um ihn in das Haus der Braut zum Hochzeitsfest zu begleiten. Unter diesen jungen Frauen gibt es im Gleichnis zwei Gruppen: Die Hälfte von ihnen ist töricht, weil sie nur die Lampen, aber kein Öl zur Reserve mit sich haben. Die andere Hälfte ist klug, denn sie haben nicht nur die Lampen, aber auch Reserveöl in Krügen mit. Tatsächlich brauchen sie dann sowohl die Lampen als auch das Öl. Denn die Ankunft des Bräutigams verspätet sich. Er kommt erst in der Nacht. Den törichten Jungfrauen ist nun in der Dunkelheit bitter bewusst, dass sie kein Öl mithaben und sie ihre Lampen nicht länger verwenden können. Sie versuchen sich das Öl von den anderen Jungfrauen auszuleihen. Das gelingt ihnen jedoch nicht. Die klugen Jungfrauen haben ausgerechnet, dass ihnen das Öl dadurch auch ausgehen kann. Sie geben der ersten Gruppe nur den Rat, sich das Öl zu kaufen. Der Rat wird befolgt, aber der Bräutigam kommt ausgerechnet zur gleichen Zeit. Demzufolge gelingt es den mit Einkauf beschäftigen Jungfrauen nicht mehr, rechtzeitig beim Bräutigam zu sein und mit ihm in den Hochzeitssaal zu gehen. Sie bleiben vor der geschlossenen Tür. Jesus beendet das Gleichnis mit dem Aufruf zur Wachsamkeit: „Seid also wachsam! Denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde“ (Mt 25,13).  Es geht um den Tag und die Stunde des Wiederkommens des Menschensohnes bei der Vollendung der Zeit.

Liebe Schwestern und Brüder, wir sind jeden Tag und jede Stunde neu zur Wachsamkeit für das Kommen Jesu aufgefordert. Das Gleichnis zeigt uns, dass dieses schon bald geschehen kann. Dieses Kommen Jesu kann sich aber auch noch verzögern. Wir können jedoch daran glauben, dass wir am Ende unseres irdischen Lebens Jesus, dem Menschensohn, von Angesicht zu Angesicht begegnen werden. Wir vertrauen, dass für unsere Verstorbenen diese Begegnung mit dem auferstandenen und verherrlichten Jesus  bereits die Wirklichkeit geworden ist und dass sie mit ihm – mit dem Bild aus dem Gleichnis ausgedrückt – bereits am Tisch im Hochzeitssaal im Reich Gottes sind. Das Bild vom Hochzeitsmahl ist eines der schönsten Bilder sowohl für das Leben der Menschen auf der Erde als auch für das Leben im Reich Gottes. Dieses Bild bringt Hoffnung und Freude mit sich. Das Leben mit Jesus geht auch nach dem irdischen Tod weiter und dies mit seiner schönen und fruchtbaren Seite. Wir können uns darauf schon jetzt freuen. Wir brauchen keine Angst vor dem Leben nach dem Tod zu haben. Was wir aber brauchen, ist die Wachsamkeit und Aufmerksamkeit für Jesus und sein Kommen in unserem Leben sowohl jetzt als auch am Ende unseres irdischen Lebens. Bleiben wir wach und standhaft in Erwartung auf ihn, von dem wir zu seinem Mahl schon hier auf der Erde wie auch zum großen Festmahl im Reich Gottes eingeladen sind. Bleiben wir in Vorfreude wach – sowohl am Tag als auch in der Nacht.

Perikope
22.11.2015
25,1-13

Ruht in Frieden, Engel! - Predigt zu Matthäus 25,1-13 von Wolfgang Vögele

Ruht in Frieden, Engel! - Predigt zu Matthäus 25,1-13 von Wolfgang Vögele
25,1-13

Ruht in Frieden, Engel!

„Dann wird das Himmelreich gleich sein zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und gingen aus, dem Bräutigam entgegen. Aber fünf unter ihnen waren töricht, und fünf waren klug. Die törichten nahmen Öl in ihren Lampen; aber sie nahmen nicht Öl mit sich. Die klugen aber nahmen Öl in ihren Gefäßen samt ihren Lampen. Da nun der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein. Zur Mitternacht aber ward ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam kommt; geht aus ihm entgegen! Da standen diese Jungfrauen alle auf und schmückten ihre Lampen. Die törichten aber sprachen zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, denn unsere Lampen verlöschen. Da antworteten die klugen und sprachen: Nicht also, auf daß nicht uns und euch gebreche; geht aber hin zu den Krämern und kauft für euch selbst. Und da sie hingingen, zu kaufen, kam der Bräutigam; und die bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit, und die Tür ward verschlossen. Zuletzt kamen auch die anderen Jungfrauen und sprachen: Herr, Herr, tu uns auf! Er antwortete aber und sprach: Wahrlich ich sage euch: Ich kenne euch nicht. Darum wachet; denn ihr wisset weder Tag noch Stunde, in welcher des Menschen Sohn kommen wird.“

Liebe Gemeinde,

mit dem Bericht einer jungen Frau will ich anfangen: „Es war nur ein Freitagabend bei einem Rockkonzert. Es herrschte eine gute Atmosphäre, alle tanzten und lachten. Als die Männer durch den Haupteingang kamen und mit dem Schießen begannen, glaubten wir ganz naiv, das sei ein Teil der Show. Es war nicht der Angriff von Terroristen, es war ein Massaker.“ Das schrieb eine Studentin aus Südafrika. Am vorletzten Freitag sah das Konzert im Bataclan-Konzertsaal in Paris. Sie überlebte den Anschlag, weil sie sich liegend für mehr als eine Stunde totstellte.

Einen Tag später schrieb sie auf, was sie bewegte. Ihr Bericht endet so: „Als ich da im Blut fremder Leute lag und auf die Kugel wartete, die meinen 22 Jahren ein Ende setzen sollte, sah ich vor meinen Augen jedes Gesicht, das ich je geliebt habe und dem ich zugeflüstert habe: Ich liebe dich. Ich dachte über die Höhepunkte meines bisherigen Lebens nach. Ich wünschte mir, daß die, die ich liebe, das auch wissen, wünschte mir, daß sie, unabhängig davon, was mit mir geschehen würde, weiter an das Gute in den Menschen glauben. Daß sie diese Leute nicht gewinnen lassen. In der letzten Nacht hat sich das Leben vieler Menschen für immer verändert, und es liegt an uns, nun bessere Menschen zu werden. Um ein Leben zu leben, daß sich die unschuldigen Opfer dieser Tragödie erträumt haben, das diese aber traurigerweise nie werden verwirklichen können. Ruht in Frieden, Engel! Wir werden euch nie vergessen.“[1]

Liebe Gemeinde, über eine Woche nach den Anschlägen von Paris schiebt sich immer noch das Erschrecken vor all die andere Trauer, die viele von Ihnen heute bewegt. Mir ist bewußt, daß im Bericht dieser jungen Frau keine Anspielung auf die Geschichte von den zehn Jungfrauen zu finden ist. Das ist im Moment nicht entscheidend. Aber die Trauer über die 135 Opfer der Anschläge soll am Ewigkeitssonntag eine Stimme haben und gehört werden.

Viele von Ihnen sitzen in diesem Gottesdienst mit ihren eigenen traurigen Erinnerungen. Erinnerungen an geliebte Menschen, die Sie im vergangenen Jahr zu Grabe getragen haben. Sie haben vielleicht die Worte des Pfarrers noch im Ohr: Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du wieder werden. Dann fällt raschelnd eine Schaufel Sand auf den Sarg.

Manche Menschen sterben von einem Moment zum anderen. Dann kommt die Trauer wie ein Überfall ohne Vorbereitungszeit. Andere, vor allem alte Menschen liegen über Monate im Sterben, und der Tod kommt als Erlösung. Die Angehörigen haben ihn erwartet. Wie dem auch sein mag: Der Tod eines Menschen löst ein Chaos von widersprüchlichen Gefühlen aus, die das Wort Trauer nur unzureichend umschreibt.

Der Tod eines lieben Menschen kann so vieles mit sich bringen: bitteren Schmerz über einen schweren Verlust, wiederkehrende angenehme Erinnerungen an Nähe, Zärtlichkeit und Gemeinsamkeit, an freundliche Tage, dann wieder bleierne Gedanken an zähen Streit mit Schreien und splitterndem Porzellan, Gedanken an vieles, was nicht aufgearbeitet wurde und was sich vor dem Sterben nicht mehr auflösen ließ, Gedanken an Überforderung und genauso an bewältigte Aufgaben, an Leistung, Stolz auf erreichte Ziele.

Die Toten sind begraben, seit ein paar Tagen oder Monaten. Die Toten leben weiter im Gedächtnis. Jeder Trauernde weiß: Ich kann noch etwas für sie tun. Ich gehe zum Friedhof und stelle mich vor das Grab und bete. Ich verbinde Worte der Hoffnung mit Erinnerungen. Zuhause blättere ich versonnen in alten Fotoalben oder Briefen. Ich sortiere Wäsche, Habseligkeiten und Erinnerungsstücke aus. Manche Trauernden kaufen eine Kerze, stellen sie zuhause auf, bringen sie später zum  Grab und zünden sie an.

Die Kerze erinnert an einen lieben Menschen. Sie bringt ein wenig Licht in die Dunkelheit trüber Novemberstimmung, in die Düsternis des Friedhofs, in die Trauerschatten der eigenen Seele. Kerzen erinnern an die Öllampen der klugen und der törichten Jungfrauen. Vielleicht waren die Öllampen auch Fackeln, das spielt aber für unseren Zusammenhang keine Rolle.

Kerzen, Öllampen und Fackeln spenden Licht. Alle drei waren schon zu Zeiten gebräuchlich, als noch niemand von Glühlampen und LED-Leuchten wußte. Alle drei Leuchter haben eine begrenzte Leuchtkraft. Sie setzen einen winzigen Lichtraum gegen die verbreitete Dunkelheit, nicht mehr. Sie heben die Dunkelheit nicht auf. Die Flamme einer Kerze setzt einen Punkt gegen die Dunkelheit, und sie brennt gegen mehrere Dunkelheiten, gegen die Dunkelheit der Trauer, gegen die Dunkelheit des Todes, auch gegen die Dunkelheit von Terror und Gewalt.

Die zehn Jungfrauen bereiten sich übrigens nicht auf den Tod, sondern auf die Ankunft des Bräutigams vor. Ich glaube nicht, daß die Jungfrauen festlich gekleidet waren. Sie glichen nicht den Brautjungfern aus Hollywood-Hochzeiten glichen, alle im gleichen rosa Kleid, von der gleichen Schneiderin, die auch das Hochzeitskleid entworfen hat. Ich kann mir nur schwer vorstellen, daß die Jungfrauen aus dem Gleichnis so ausgesehen haben.

Die klugen unter den Jungfrauen kaufen rechtzeitig und genügend Öl für ihre Lämpchen, die törichten auch, aber sie lassen es frühzeitig abbrennen. Als der Bräutigam erscheint, stehen sie als die Dummen da. Seid lieber wachsam! Laßt nicht nach in eurer Aufmerksamkeit. Das ist die Konsequenz am Ende des Gleichnisses.

Wachsamkeit und Aufmerksamkeit im Angesicht des Todes, den schließlich niemand verhindern kann? Wer trauert, ist nicht nur von einem einzigen Gefühl gefesselt. Wer trauert, sieht sich Böen von widerstreitenden und wiederkehrenden Gefühlen ausgesetzt. Sie stürmen über ihn hinweg. Für manches reicht die Aufmerksamkeit, es muß ohnehin geregelt werden: das Trauergespräch mit der Pfarrerin, der Bestattungsunternehmer, die Anzeige, ein paar Wochen später der Grabstein. Anderes bleibt unerledigt liegen: die alten Briefe noch einmal lesen, die Fotos sichten, die große Sammlung verkaufen, an der er so sehr gehangen hat. Trauern ist eine Achterbahnfahrt zwischen Vergessen, Verleugnen, Nicht-wahr-Haben-Wollen, Trost und Annehmen.

Trauergottesdienst und Bestattung stehen am Anfang dieser Phase. Er kann so etwas sein wie ein erstes schützendes Geländer. Gebete, Lieder, gute Worte, die alten, bekannten Psalmen. All das kann jedem, der trauert, den Angehörigen, den Freunden, den Nachbarn, über die Abgründe der Verzweiflung und des Schmerzes hinweghelfen. Erprobte Rituale schützen vor dem Chaos der Gefühle.

Manchmal trauern auch diejenigen sehr, die dem Verstorbenen eher ferne standen. Aufmerksamkeit und Wachsamkeit gelten plötzlich den öffentlichen Toten: den Schülern des Halterner Joseph-König-Gymnasiums, die beim Absturz von Germanwings Flug 9525 im März ums Leben kamen; den Karikaturisten und Autoren von Charlie Hebdo; den Opfern der Anschläge von Beirut und Paris. Ich bin überzeugt: Öffentliche Trauer ist genauso nötig wie persönliche Trauer, auch bei einzelnen Persönlichkeiten, in diesem Jahr bei Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt, Pierre Brice, Harry Rowohlt, Anita Ekberg.

Darum wachet, sagt Jesus am Ende der Geschichte von den Jungfrauen. Wachet! Seid aufmerksam! Laßt euch nicht ermüden! Wer wacht, richtet seine Aufmerksamkeit aus. Diese Haltung zielt in mehrere Richtungen. Sie zielt auf die Trauer über den Tod eines lieben Menschen. Diese Trauer soll sich niemand nehmen lassen. Sie zielt auch auf das eigene Sterben, dem niemand entgehen kann. Das Wachen zielt nicht zuletzt auf den Glauben.

Jesus meint eine Wachsamkeit im Angesicht der Ewigkeit. Und diese Wachsamkeit verbindet sich mit dem Warten. Trauer braucht Geduld und Abwarten, bis der Schmerz der Seele langsam abklingt. Wer über Jahrzehnte mit einem Menschen, der im letzten Jahr gestorben ist, zusammen gelebt hat, kann nicht von einem auf den anderen Tag umschalten auf Alleinsein oder die Verbindung mit einem neuen Partner. Trauer heißt auch Schmerz über die Trennung. Diesen Abschied vollzieht der Trauer in der Wohnung, im gemeinsamen Lebensraum und in der Seele.

Das christliche Warten richtet sich über die Trauer und das Bedenken des eigenen Todes weiter hinaus auf die Ewigkeit. „Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden“, schreibt der Psalmbeter (Ps 90,12). In der Klugheit des Glaubens warten die Menschen auf das Reich Gottes. Das ist die Hochzeit mit dem Bräutigam, von denen Jesus im Gleichnis mit den Jungfrauen spricht. Das Reich Gottes ist ein Fest, der Beginn einer großartigen Zeit, Hoch-Zeit zwischen dem Himmel Gottes und den Menschen der Erde.

Die Trauer um den Tod lieber Menschen, bekannter wie unbekannter, friedlich entschlafener wie bestialisch ermordeter Menschen, ist eingebettet in die Hoffnung auf das kommende Reich Gottes. Gottes Reich steht für die Hoffnung über den Tod hinaus. Ihr vertrauen wir uns an. Diese Hoffnung ist zerbrechlich, verletzbar, manchmal winzig, manchmal verborgen, und dennoch bleibt sie das einzige, was wir Christenmenschen der unbarmherzigen Gewalt des Todes entgegenzusetzen haben. Diese Hoffnung wächst aus dem Glauben an Jesus Christus, der durch den Tod zum Leben Gottes auferstanden.

Deswegen gilt den Verstorbenen das Hoffnungswort dieser jungen Studentin: Ruht in Frieden, Engel. Amen.


[1] Eigene Übersetzung. Wer sich das Original anschauen will, kann in Facebook auf die Seite von Isobel Bowdery gehen.

 

Perikope
22.11.2015
25,1-13

Predigt zu Matthäus 25,31-46 von Agnes Schmidt-Köber

Predigt zu Matthäus 25,31-46 von Agnes Schmidt-Köber
25,31-46

Die Tür geht auf. Eine junge Frau, mit langen braunen Locken, wird auf einer Trage ins Zimmer gebracht.
Nachdem die Sanitäter sie auf das freie Bett gehoben und den Raum wieder verlassen haben, sagt sie freundlich: hallo, ich bin Y., ich bin Musli...ää Türkin.
Spontan antworte ich: ich bin A. evangelisch.
Wirklich?  .... wir werden unterbrochen, die Nachtschwester kommt und führt die Aufnahmeregularien durch.
Danach erzählten wir uns unsere Einlieferungsdiagnosen.
Es entspann sich ein sehr nettes Gespräch, auch die bis dahin schweigsame 3. Frau, verschleiert durch ein Kopftuch, entpuppte sich als versierte und interessierte Gesprächspartnerin.
An diesem Abend im Juli 2013 ist es schwül-warm, Türen und Fenstern stehen weit offen, wir hören, wie die letzten Flugzeuge den Konrad-Adenauer-Flugplatz ansteuern, hören Babies, das Scheppern des Rollwagens auf dem Flur und vieles mehr.
An Schlaf ist nicht zu denken. Irgendwann nach 1 Uhr nachts fragt mich Y.: woran erkennt man einen Christen? A: dass er an den Dreieinen Gott glaubt, dass er sein Leben an der Bibel orientiert. Y: Ok, aber woran kann ich sehen, dass jemand Christ ist, gibt es etwas, was jeder Christ machen muss? Die Theologin denkt an  Artikel 6 des Augsburger Bekenntnisses (CA) und ich sage: nun ja, machen müssen müssen evangelische Christen nichts. Aber man kann am Handeln manchmal erkennen, wer gläubig ist. Dann fallen mir in jener Nacht die Werke der Barmherzigkeit ein:
Die stehen im 25. Kapitel des Matthäusevangeliums und sind Grundlage der heutigen Predigt:

31 Wenn der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit,
32 und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet,
33 und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.
34 Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt!
35 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.
36 Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.
37 Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben?
38 Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet?
39 Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?
40 Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
41 Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!
42 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben.
43 Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht.
44 Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient?
45 Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.
46 Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.

1. Hungrige speisen & Durstige tränken, 2. Nackte kleiden, 3. Fremde beherbergen, 4. Kranke besuchen, 5. Gefangene betreuen sind Dinge, die man als Folgen christlichen Glaubens verstehen kann. Später kam auch noch 6. Tote bestatten zu diesen Werken der Barmherzigkeit.
Meine beiden muslimischen Nachbarinnen stellen fest: das ist bei uns ganz ähnlich, dann ist euch Deutschen eure Religion ja doch nicht egal, so wie es „durch das Fernsehen“ aussieht. Nein, gewiss nicht. Schnitt. Szenenwechsel.

Heute, am Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres, wenn wir die Worte aus Matthäus 25 hören, können wir uns nicht nur auf die Werke der Barmherzigkeit beschränken, sondern müssen den gesamten Abschnitt beachten, aus dem ich die Werke der Barmherzigkeit herausseziert hatte.
Wir haben einen "Rahmen" um die Werke der Barmherzigkeit, der nicht einfach ignoriert werden kann:   Das sogenannte Weltgericht.
Lasst uns dieses Bild ein wenig näher betrachten: Der Menschensohn kehrt wieder zum Gericht – zu einem unbekannten Zeitpunkt. Er stellt sich als einen Hirten dar, der mit einer Schafherde zu tun hat. Weibliche Schafe und Böcke werden im jungen Alter voneinander getrennt. Die weiblichen Tiere versprechen Nachwuchs und Milch, die Böckchen hingegen werden ausgesondert und geschlachtet, da sie sonst keinen Nutzen bringen. Das Vorgehen des Hirten ist den Menschen zu Jesu Zeit vertraut und wird auch heute noch in Ländern mit reger Transhumanz praktiziert.

Während der Predigtvorbereitung ist in mir folgender Gedanke gereift:
Das Gericht im Evangelium kommt unverhofft und unerwartet. Niemand drängt sich dahin, sondern die beiden Gruppen stellen fest: wir sind mittendrin. Es geht darum zu sehen, wo sie stehen und was für Folgen ihr Handeln hat. Sie stehen für Menschen, so wie sie sind: die einen, die sensibel, mit geschärften Sinnen durchs Leben gehen, die innere Kraft haben, den Nächsten zu sehen und ihn wahrzunehmen und ihm bei Bedarf helfen und nützlich zu sein. Ihnen gegenüber stehen Menschen, die den Anderen, den Nächsten nicht erkennen können, die wohl mit sich selbst zu viel haben, die keine Antennen besitzen für das Ergehen ihrer Mitmenschen und ihnen demzufolge nicht nützen.
Erstere, die „Schafe“,  tragen dazu bei, dass das Elend ihrer Mitmenschen gelindert wird und nicht in „Hölle“ ausarten… sie werden ihnen zu Engeln. Letztere, die „Böcke“, belassen – unbeabsichtigt – ihre Mitmenschen in ihrem Elend. Aus dem Elend kann man sich selbst nicht oder nur sehr schwer befreien. Allein gelassen gerät man immer tiefer hinein.
Um seinen Jüngern die Bedeutung des Gerichtes zu erklären, vergleicht Jesus den Richter mit einem Hirten, der die Schafe und die Böcke voneinander trennt. Ebenso trennt der Menschensohn bei seiner Wiederkunft die Erwählten von den Verworfenen, die „Guten“ von den „Gleichgültigen“.

Es drängt sich mir die Frage auf: wie passt das heutige Evangelium zum Volkstrauertag?
Der Volkstrauertag hat seinen Ursprung in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg.
Viele Menschen fanden ihr frühes Ende und hinterließen viel Elend und Trauer.
Die Gefallenen des 2. Weltkrieges – ihrer zu gedenken, ist bis heute eine schwierige Angelegenheit in unserem Land: auf der einen Seite haben wir da die geschichtliche Verantwortung unseres Landes für das unsägliche Leid, auf der anderen Seite stehen da die vielen Opfer auf deutscher Seite: die Tote an den Kriegsfronten,  in den Gefangenenlagern, in den sowjetischen Arbeitslagern: Väter, Brüder, Großväter, Onkel. Dann die Verwandten die aus den deutschen Gebieten im Osten fliehen mussten und auf diesem gefährlichen Weg ihr Leben ließen.

In Ausnahmesituationen wird sichtbar, ob man glaubt und wie ernst man seinen Glauben nimmt. Im Kriegsgeschehen und in Kriegszeiten zeigt sich, wes Geistes Kind man ist. Kriegszeiten sind Zeiten, in denen der Glaube besonders herausgefordert ist, in dem sich Glaube und gelebte (Nächsten)Liebe bewähren müssen.
In vielen Erzählungen und Berichten habe ich gehört, dass es an der Ostfront immer wieder zu zwischenmenschlichen Begegnungen (zwischen den Kriegsgegnern) gekommen ist: dass beide Seiten miteinander Proviant und Wasser teilten und das Kriegstreiben nicht verstanden. Oder: Menschen, die in russische Gefangenschaft geraten waren, hatten auch als Feinde Nahrung bekommen, gerade genug, um nicht vor Hunger/Durst und Kälte zu sterben. Es wäre ein leichtes gewesen, die Feinde verhungern zu lassen - die Russen hatten selbst nichts. Diese Menschen, die den Nächsten sehen und ihm helfen, sind solche "Schafe", die nicht lang nachdenken, was sie tun, die auch im Feind den Nächsten erkennen und ihm helfen.
Sie sind nicht absichtlich in die Situation geraten, wie die Herde im Gleichnis.
In jedem Hilfsbedürftigen begegnet uns Jesus. Durch seine Liebe, durch seine Hingabe ans Kreuz befähigt er auch uns, heute, (Nächsten)Liebe zu üben.

Conclusio: Man ist nicht Christ, weil man die Werke der Barmherzigkeit übt, sondern anders herum: weil man Christ ist, weil man Gott vertraut, weil man sich mit allen Bedürfnissen in Gottes Liebe aufgenommen weiß, wird man fähig zu selbstlosem Handeln - in Kriegs- und in Friedenszeiten.

Eine richtig unbequeme Botschaft enthält dieser Bibelabschnitt, die kann ich nicht weglassen: es gibt auch ein Zuspät. Der Gedanke des Gerichtes will uns keine Angst machen, sondern wachrütteln, dass wir erkennen, wo wir verantwortlich sind. Es gibt auch Verantwortung, die uns niemand abnehmen kann.

Die Werke der Barmherzigkeit öffnen einen Weg, der zur guten Verständigung unter den Religionen und zum Frieden führen kann. Sie sind der Garant für ein menschenwürdiges Leben.
Ich glaube: wenn Menschen, über alle religiösen Grenzen hinweg, sich getragen und angenommen wissen, dann lässt jeder jeden leben.
Dann müssen künftige Generationen das Wort „Krieg“ im Lexikon nachschlagen, weil keine Kriege mehr geführt werden. Dann wären auch Gedenktage wie der heutige überflüssig, es gäbe keine Tränen, kein Leid mehr. Hach. 
Amen

 

Perikope
15.11.2015
25,31-46

Selig sind die Barmherzigen - Predigt zu Matthäus 25,31-46 von Katharina Wiefel-Jenner

Selig sind die Barmherzigen - Predigt zu Matthäus 25,31-46 von Katharina Wiefel-Jenner
25,31-46

Selig sind die Barmherzigen

Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.

Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.

Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.

Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht.

Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.

Der Tag der Urteilsverkündigung kommt. Das Verfahren ist langwierig und schwierig. Misstrauenserklärungen gegen den Richter gehören zum guten Ton. Täglich werden neue Unterstellungen über ihn verbreitet. Vor seinem Haus wird demonstriert. Man wirft seine Fenster ein, legt Brandsätze in seiner Garage, bedroht seine Familie. Die Kinder seiner Schwester haben Angst zur Schule zu gehen. Bomben fallen auf das Haus seines Bruders. Sein Cousin wurde verschleppt. Seine Cousine hielt es nicht aus und floh übers Meer. Mit ihrem Kind auf dem Arm hofft sie auf den Engel, der ihr erzählt, dass sie wieder nach Hause könnte.

Der Tag der Urteilsverkündigung kommt. Bis jetzt war das Verfahren quälend. An manchen Tagen zum Verzweifeln. Unglaublich, mit welchen Unverschämtheiten sich der Richter auseinandersetzen muss. Er wurde durchbohrt. Sein Anblick war zum Erschreckenden. Aber die Demütigungen gegen ihn haben ihn nicht gebrochen. Die Drohungen und Anschläge sind ins Leere gegangen. Er ist geblieben. Er ist lebendig. Er ist der Richter.

Der Tag der Urteilsverkündigung kommt. Der Andrang ist groß. Alle Welt wird da sein. Auch aus dem Ausland werden sie kommen. Der Große Saal wird bis auf den letzten Platz gefüllt sein. Niemand wird es verpassen. Alle werden dabei sein.

Erhebt euch, denn der Richter kommt, in seiner Robe, weiß wie der Schnee. Erhebt euch für den Menschensohn.

Der Tag der Urteilsverkündigung kommt - hört das Urteil!

„Kommt her“, sagt der Menschensohn. „Kommt her! Euch hat mein Vater gesegnet. Nehmt das Reich in Besitz, das Gott seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt hat.“ Was ist das für ein seltsames Urteil? Der Menschensohn richtet, als wolle er belohnen.

Er ist ein aufmerksamer Richter. Er hört genau hin und sieht genau hin. Keine Bewegung, keine Handlung, nicht ein Wimpernschlag bleiben vor ihm verborgen. Er sieht, wer arm ist, wer leidet, wer sanftmütig ist, hungrig und durstig. Er findet die Barmherzigen und die Friedfertigen. Unter den Vielen entdeckt er die mit dem reinen Herzen und auch die Verfolgten.

Der Große Saal ist voll. Alle sind da und verwundert reiben wir uns die Augen.

„Kommt her! Setzt euch zu meiner Rechten“, sagt der Menschensohn. „Das ist euer Platz. Bleibt in meiner Nähe. Bleibt an meiner Seite!“ Der Menschensohn richtet also, indem er sich seine Menschen an die Seite holt und sie mit seiner Nähe belohnt.

Er kennt uns Menschen. Dieser Richter ist ein großer Menschenkenner. Er weiß es, dass wir ohne diesen Lohn zu nichts Gutem in der Lage wären. Und der Menschensohn weiß, wie schlimm es ohne diesen Lohn um die Welt aussähe. Das möchten wir uns nicht vorstellen, wenn es niemanden gäbe, dem er zuriefe: Kommt her, seid an meiner Rechten. Was wäre das für eine Welt?

Es gäbe keine Tafeln, keine Suppenküche, kein echtes Saatgut für die Bäuerinnen in Kenia. Was wäre, wenn niemand zur Rechten des Menschensohnes säße? Niemand hätte mit Wasserflaschen am Bahnhof gewartet. Niemand würde darauf achten, dass die Alten genug trinken. Es gäbe keine Brunnen in der Sahelzone. Niemand würde sich um die Klimaveränderung scheren. Was wäre, wenn der Platz zur Rechten leer bliebe? Niemand würde sagen: Wir schaffen das! Die Kleiderkammern wären leer und die Flüchtlinge würden in Flipflops durch das zusammengekehrte Laub laufen. Was wäre, wenn niemand zur Rechten säße? Die Kranken schrien vor Schmerzen, die Gefolterten würden in ihren Kerkern vergessen und kein Verfolgter könnte hoffen. Was wäre, wenn zur Rechten Gottes Leere herrschte? Niemand würde Unrecht beim Namen nennen. Niemand hätte den Mut, die Mächtigen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Tyrannen und Diktatoren könnten weiter morden und niemand wäre da, vor denen sie sich in ihren Träumen und in der Stunde ihres Todes fürchten. Was wäre wenn, die Rechte Gottes leer bliebe? Keine Träne wäre um die Millionen auf den Schlachtfeldern Getöteter geweint worden, sie wären verloren und vergessen. Der Friede wäre ein Luftgespinst, nach dem sich niemand sehnt und für das niemand einen Finger krümmen würde.

„Kommt, setzt euch an meine Seite“, sagt der Menschensohn. „Euer Tun zeigt, wie die Welt eigentlich sein soll. Ihr seid gesegnet. Ihr zeigt den Weg zum Leben.“

Im Großen Saal ist alle Welt versammelt. Hinter uns die Presse. Sie wird festhalten, was hier passiert und die Sensation auf der Startseite bringen. Wir aber brauchen die fettgedruckten Schlagzeilen nicht. Wie sind dabei. Aus erster Hand erfahren wir es. Wir sehen mit eigenen Augen, wen der Menschensohn an seine rechte Seite ruft.

Das ist schon erstaunlich, wer dazu gehört. Das hätten wir nicht gedacht! Mit denen, die immer zu ihm gehalten haben, konnte man ja rechnen. Das wäre auch nicht fair, wenn sie nicht dazugehören würden. Sie haben sich in den Gemeinden abgekämpft, miteinander das wenige geteilt, was da war. Wenn nicht der Menschensohn zu ihnen stehen würde, wer würde es dann tun. Da sind aber auch die, von denen wir es nicht geahnt haben, dass sie sich schützend vor die Verfolgten gestellt haben. Wussten die überhaupt, wem sie geholfen haben? Wussten sie, wem sie Wasser und eine warme Jacke gereicht haben, die Anwalts- und Arztkosten bezahlt und eine Aufenthaltsgenehmigung besorgt haben? Gehören die überhaupt zu uns? Dem Menschensohn scheint es egal zu sein, woher sie kommen. Offensichtlich fragt er nur danach, ob sie barmherzig und sanftmütig sind, ob sie nach der Gerechtigkeit dürsten und dem Frieden dienen. Sie dürfen sich an seine Seite setzen, denn er weiß, wie gefährlich es ist, von denen Brot zu bekommen, die es nicht gut mit einem meinen. Sie sind nicht so. In ihnen erkennt er die, die seine Scham verstanden haben, als er nackt vor den Knechten der Mächtigen saß und verspottet wurde. In ihnen sieht er die, die ihm nicht Essig zu trinken gegeben hätten, als er durstig war. Sie sind für ihn die, die ihn aufnehmen, ohne dass sie wussten, wer er ist.

Der Tag der Urteilsverkündigung kommt. Der Große Saal wird bis zum letzten Platz gefüllt sein. Die Presseleute werden das Geschehen in Bildern festzuhalten versuchen. Diejenigen, die links liegen gelassen werden, interessieren niemanden mehr. Sie werden wie betäubt und ratlos sein, werden ihre Gesichter verbergen, vielleicht weinen. Wichtig wird nur das Urteil des Menschensohnes sein: „Die Gerechten werden in das ewige Leben eingehen!“ Das ist das letzte Wort des Richters. Er hatte oft genug gesprochen, immer wieder erklärt, was not ist. Jetzt braucht es keine weiteren Worte. Mehr gibt es nicht zu sagen. Für heute erhebt sich der Richter.

Der Tag der Urteilsverkündigung kommt. Es ist Zeit, an die Hecken und Zäune zu gehen, sanftmütig und reines Herzens zu sein, demütig mit Gott mitzugehen und barmherzig zu werden. Der Menschensohn wird wiederkommen. Aber wir kennen das Urteil schon heute.  Als wolle er belohnen, so richtet er die Welt.

 

Perikope
15.11.2015
25,31-46