7.12.2014 Witten "Geben wir die Gnade weiter"
Amazing Grace – was für ein Klang. Gänsehautklang. Das wäre was als Filmmusik. Für den Film: The Last Day, der Jüngste Tag, Jesus kommt wieder. Als Weltenrichter voller Gnade und alles wird gut. Aber – so weit sind wir ja noch nicht. Es ist noch lange nicht alles gut in unserer Welt. Leider.
Offensichtliche Sklaverei, wie John Newton sie kannte, erleben wir zwar nicht. Wir sind auch keine Sklavenhändler. Trotzdem geht uns seine Geschichte etwas an. Denn „blind“ für manchen Missstand um uns herum sind wir durchaus – wie John Newton. Mancher von uns kennt auch sein Lebensgefühl: verloren zu sein im eigenen Leben, nicht geliebt zu werden. Oder die Erfahrung, gescheitert zu sein mit den eigenen Überzeugungen, untergegangen in Sturm und Wellen mit den Lebensplänen.
"Blind", verloren, gescheitert – wer das kennt, weiß: In solchen Zeiten brauche ich niemanden, der mich auch noch fertig macht, weil ich alles verbockt habe. Ich brauche jemanden, der mich in den Arm nimmt, oder auch aufrüttelt, in jedem Fall barmherzig mit mir umgeht. Barmherzig, das heißt: mit einem freundlichen Herzen mich aufnimmt, gnädig eben. Das können Menschen sein, das kann
Gott sein.
John Newton damals hat Gott genau so erfahren: positiv – barmherzig, gnädig. Gott rettete diesen Schurken vor dem Untergang. Und der konnte neu anfangen. Das hat seinen Glauben verändert. John Newton begriff: Gott und Gnade gehören zusammen, Gott und Rettung – nicht Gott und Strafe. Gnade – in unseren Ohren klingt dieses Wort heute fremd: so abstrakt. Früher wusste jedes Kind: Gnade kommt von dem alten deutschen Wort "genadt, genadet", das heißt: sich annähern, hinneigen. Zum Beispiel: Die Sonne genadet sich der Erde, die Sonne neigt sich der Erde zu, berührt sie sogar. Gnade ist was ganz Konkretes, eine schöne Angelegenheit.
Und die kennen wir auch. Wir leben davon, dass Menschen gnädig mit uns sind. Schon bei Kleinigkeiten: Zum Beispiel im Straßenverkehr: Wenn ich mich in eine falsche Spur eingeordnet habe, dann bin ich erleichtert, wenn mich jemand kurz vor knapp noch in seine Spur reinwinkt. Was für ein Glück, dass es sie gibt: die Menschen, die nicht auf ihr Recht pochen und auf mein Unrecht. Die gnädig mit mir sind. Was für ein Glück in harmlosen Angelegenheiten, erst recht in schweren, belastenden: Wenn ich mich schuldig gemacht habe jemandem gegenüber und unser Leben gestört ist. Dann bitte ich um "Ent-Schuldung" und hoffe, dass er mir verzeiht, dass wir noch einmal neu anfangen können.
Genauso leben wir davon, dass Gott gnädig mit uns ist. Dass er nicht alles aufrechnet, was schief läuft. Nicht einmal die schweren Dinge, wo wir uns und andere kaputt machen, absichtlich oder unabsichtlich. Wir leben davon, dass selbst solche Dinge vergeben werden können, dass Gott einen neuen Anfang mit uns macht. Gnade ist Glück, Befreiung aus einem heillosen Zustand. Sie geschieht uns unverdient, einfach, weil ein Mensch – oder Gott, oder beide! – uns freundlich zugeneigt ist, uns nahe kommt durch Worte oder Gesten. Gnade macht gutes Leben überhaupt erst möglich.
Und wir brauchen sie jeden Tag. Daran erinnert Paulus, der große christliche Theologe, mit einem Prophetenwort: "Gott spricht: Zu der Zeit, als ich dir Gnade schenkte, habe ich dich erhört. Am Tag der Rettung bin ich dir zu Hilfe gekommen. Seht doch! Jetzt beginnt die Zeit, in der Gott Gnade schenkt. Seht doch! Jetzt ist der Tag der Rettung." (2. Korinther 6,2)
Paulus war wichtig: Gnade Gottes passierte nicht nur in alten Zeiten, auch nicht erst irgendwann in Zukunft, am Ende der Zeit. Gnade Gottes passiert jetzt! Heute! Gott neigt sich uns Menschen zu, berührt uns, er macht unser Leben möglich. Genau das hat John Newton auf seiner Fahrt durch Sturm und Wellen mit einem Mal kapiert: Gott ist der Herr über das Leben, nicht ich. Gott hat alles Leben geschaffen, nicht mir habe ich es zu verdanken. Das Leben ist Geschenk – jeden Tag aufs Neue.
Und mit der Zeit hat er auch immer klarer begriffen: Gott rettet mich nicht nur aus den Wellen. Gott kann mich auch von allem anderen retten. Wo ich Leben missachte, wo ich schuldig werde bei mir, bei anderen. Gott kann Schuld zunichtemachen. Er kann das, weil er – als Schöpfer des Lebens – aus Nichts Etwas machen konnte. Und umgekehrt aus Etwas Nichts machen kann. Gott kann Schuld vergeben, so dass sie nicht mehr ist. Das ist Gnade, wunderbare Gnade. Sie lässt mich aufatmen, anders leben.
Manchmal braucht es vielleicht Grenzerfahrungen, bis man solche wichtigen Dinge begreift. Allerdings dauerte es bei John noch etwa 20 Jahre, bis er auch das andere Wichtige begreift: Gnade Gottes, gutes Leben, das gilt nicht nur mir allein, Das gilt auch anderen. Alle sollen gut leben können. Paulus hat das so formuliert: "Ihr seid jetzt nämlich alle Kinder Gottes – weil ihr durch den Glauben mit Christus Jesus verbunden seid. Denn ihr alle, die ihr getauft worden seid und dadurch zu Christus gehört, habt Christus angezogen. Es spielt keine Rolle mehr, ob ihr Juden seid oder Griechen, unfreie Diener oder freie Menschen, Männer oder Frauen. Denn durch eure Verbindung mit Christus Jesus seid ihr alle wie ein Mensch geworden." (Galater 3, 26-28)
Ihr seid alle wie ein Mensch geworden in Christus. Einen Menschen kann man nicht teilen, das gute Leben, Glück und Heil gilt der Menschheit komplett. Das hat John Newton begriffen und irgendwann auch danach gehandelt. Sein Glaube wurde politisch. Er engagierte sich gegen die Sklaverei, für ein freies Leben aller. Leider leben 200 Jahre nach seinem Tod weltweit immer noch geschätzt über 27 Millionen Menschen als Sklaven in unsichtbaren Ketten. 27 Millionen Opfer: Kinder, Männer und Frauen! Das sind zum Beispiel Kindersoldaten. Minderjährige als Ehefrauen. Schneider für internationale Modelabels, die sich bis an ihr Lebensende verschuldet haben. Oder Mädchen, die hinter unseren deutschen Bahnhöfen auf den Strich geschickt werden.
Ja, es liegen noch viele dunkle Schatten über unserer Welt. Manche Missstände haben wir zu verantworten – und wir können etwas dagegen tun. Andere sind weit weg von uns, nur über´s Fernsehen kriegen wir davon mit. Aber selbst da können wir hinsehen. Und sogar etwas tun. Auch wenn wir nicht die Welt retten können. Die Welt retten: Das tut ein anderer. Der zweite Advent heute erinnert uns an ein Versprechen von Jesus: Ich werde noch ein zweites Mal in die Welt kommen. Es wird meinen zweiten Advent geben, am Ende der Zeiten, am Jüngsten Tag – The Last Day. Dann werden Täter und Opfer "zu Recht gebracht und alle Menschen werden in Frieden und Gerechtigkeit miteinander leben. Jesus Christus wird kommen als Weltenrichter und Weltenretter, er wird uns erlösen von Gewalt, Unrecht und Schuld. Dann wird alles gut. Und wir können alle einstimmen in das Lied "Amazing Grace".
Bis dahin jedoch gilt der Satz von Dietrich Bonhoeffer: "Mag sein, dass der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht." Denn Gott will jetzt schon ein gutes Leben, für alle, das glauben wir Christen. Und dafür engagieren wir uns – zusammen mit anderen. Damit auch die, deren Leben voller Schatten ist, eine helle Zukunft haben. Kommende Woche ist der "Internationale Tag der Menschenrechte", genau die richtige Woche, um damit anzufangen: Geben wir die Gnade weiter, von der wir selbst leben! Damit wir – alle miteinander – gut leben können. Atmen können, frei sein können.
Amen.
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Sehnsucht nach Zuhause - Predigt zu 2. Korinther 5,1-10 von Helmut Dopffel
Sehnsucht nach Zuhause
Denn wir wissen: wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel. Denn darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, dass wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet werden, weil wir dann bekleidet und nicht nackt befunden werden. Denn solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert, weil wir lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden wollen, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben. Der uns aber dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist gegeben hat. So sind wir denn allezeit getrost und wissen: solange wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn; denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen. Wir sind aber getrost und haben vielmehr Lust, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn. Darum setzen wir auch unsre Ehre darein, ob wir daheim sind oder in der Fremde, dass wir ihm wohlgefallen. Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse.
Liebe Gemeinde,
ein Mensch ist ein Mensch. Und auch wenn sich in zweitausend Jahren viel mehr verändert hat als wir uns vorstellen können, nicht nur politische Landkarten und Ordnungen, Technik und Medizin und sogar die antiken Küstenlinien, sondern auch Haltungen und Denkweisen und Werturteile, so bleiben uns die Menschen von damals doch merkwürdig nahe, und wenn wir lesen was sie geschrieben haben so merken wir: Diese Fragen habe ich auch, diese Freude hat auch mich schon mitgerissen, diese Angst bricht auch in meinem Leben immer wieder auf. Diesen Hunger nach Anerkennung und Erfolg, diesen Liebesschmerz, diesen Stolz, diese Enttäuschung kann ich ganz genau nachfühlen, denn ich kenne sie. Leben, Sterben, und was kommt danach? Kommt noch etwas? Darüber schreibt Paulus, und das verstehen wir.
Das Leben: eine elende Hütte, in der wir stöhnen, eine Last, die es uns schwer macht; und manchmal fühlt sich das Leben so fremd und unsicher an, als gehörten wir gar nicht hierher, als verstünde uns keiner, als verstünden wir uns nicht einmal selber, als wären wir nicht einmal in unserem eigenen Körper zuhause, als wäre da niemand dem wir trauen könnten. Und doch kann es eine Ehre und ein Vergnügen sein, in dieser Hütte zu leben, diesen Leib zu haben und zu spüren, diese Last zu tragen. Und manchmal ahnen wir ein geheimnisvolles Mehr, wie ein Vorgeschmack auf der Zunge, wie Frühlingsduft in der Luft.
Und was kommt nach dem Tode? Auch das beschäftigt uns genauso wie die Menschen damals. Vor allem im November, vor allem an einem Tag wie heute, da wir der Toten der Kriege, aller Kriege gedenken. Wenigstens in der Erinnerung anderer fortzuleben, das hoffen die, die wenig hoffen. Oder in einem schönen, in sanften Farben gemalten Land. Paulus erhofft mehr: Dann werden wir zuhause sein, leicht und ohne Last, ein neues Kleid bekommen, in einem schönen Haus leben und nicht in einer Hütte, daheim sein beim Herrn. Unser Leben wird nicht einfach versinken in stummer Vergangenheit, sondern offenbar und gewürdigt werden, mit allen Licht- und Schattenseiten.
Aber deshalb gleich sterben? Die Hütte abbrechen, nackt dastehen, ins Nichts gehen, den Leib zurücklassen, vermodern oder verbrennen lassen, ausgeliefert sein? Nackt, bloßgestellt, da haben wir nichts mehr, nicht einmal mehr das letzte Hemd, da sind wir gar nichts mehr. Und der Zweifel: Werden wir vor Gott stehen – oder ins Nichts gehen? Davor haben wir nun doch auch Angst. Und wir dürfen Angst haben, auch ganz gläubige und christliche Menschen dürfen Angst vor dem Tod haben. Sogar Paulus hat Angst
Paulus beschönigt weder das Leben noch das Sterben. Und obwohl er sich sehnt nach dem Glanz des Himmels und der Ewigkeit und der Nähe Gottes, und obwohl er ja eigentlich diese elende Hütte von Leib verlassen will und bei Gott sein, fürchtet er das Sterben, und setzt genau das auch bei den anderen Christen voraus, denn er spricht ja von „wir“. Der Tod – was bleibt da von uns noch? Denn die Erinnerung an uns wird verblassen, und auch die Liebe, die andere Menschen für uns empfinden, wird verschwinden, allen gegenteiligen Versicherungen auf Todesanzeigen zum Trotz. Stürzen wir dann in das Vergessen und die Lieblosigkeit? So scheint es ja, wenn wir nur Irdisches wahrnehmen.
Was lässt sich angesichts dessen sagen? Was lässt sich angesichts dessen christlich sagen?
Zuerst: Es gibt keine genaue Beschreibung des Weges nach drüben, durch den Tod und in die himmlische Welt. Keine Landkarte; kein Jenseits-Navi. So etwas kennt Paulus nicht, und davon finden wir auch sonst merkwürdig wenig in der Bibel. Das ist offenbar nichts, was wichtig wäre, nichts, auf das wir uns verlassen sollen und können.
Und zweitens: Sehnsucht. Sehnsucht nach Heimat, Sehnsucht, zuhause zu sein. Heimat, Zuhause: das sind wir da, wo sich alles von selbst versteht, wo alles einfach und klar ist und nichts mühsam erklärt werden muss. Woher kommt diese Sehnsucht? Man könnte nun Paulus missverstehen und sagen: Die Sehnsucht kommt aus dem Lebensüberdruss. Und ein bisschen klingt das bei Paulus auch so, wenn er von der elenden Hütte schreibt und der Last, und das ist ja nicht nur angesichts dessen, was er alles durchgemacht hat in seinem Leben verständlich. Auch wir selbst können das ja sehr gut nachvollziehen, das Gefühl: Es ist genug! Es reicht! Ich kann nicht mehr, und ich mag nicht mehr. Es sind ja nicht nur die großen Katastrophen, die Menschen auszehren, es sind auch die kleinen unguten Kompromisse, die kleinen Lügen, das Frisieren der eigenen Fassade, um den schönen Schein aufrechtzuerhalten. Das wird alles so furchtbar anstrengend. Und wir werden uns selbst fremd auf unserem Lebensweg und verlieren unsere eigene Wahrheit. Wo sind all die Indianer hin? Wer bin ich eigentlich?
Aber vor allem: Wir können Gott mit unseren Augen nicht sehen, mit unseren Ohren nicht hören, mit unseren Händen nicht spüren. Und auch unser Glaube ist eben nur Glaube und nicht Schauen, ist weit von Gott.
Speist sich daraus unsere Sehnsucht, aus dem Mangel, den Defiziten, aus dem Weltschmerz, aus der Verzweiflung, aus all dem, was uns fehlt? Man könnte Paulus so verstehen, und es wäre auch plausibel. Aber: Seine Sehnsucht nach dem Himmel, nach der Ewigkeit, nach Gott kommt nicht aus dem was fehlt, aus dem Mangel, aus der Enttäuschung, aus dem Gefühl: das kann doch nicht alles gewesen sein. Die Sehnsucht des Paulus speist sich aus dem was er empfangen hat: Unterpfand des Geistes nennt er es. Unterpfand, das ist wie ein Vorgeschmack, wie ein Duft der in der Luft liegt. Ich hab‘s geschmeckt, ich hab‘s gehört, ich hab‘s gesehen.
Der Vorgeschmack: Wie schmeckt denn die Ewigkeit, der Himmel? Wie schmeckt – Gott?
Vielleicht so wie Musik die uns verzaubert und wir vergessen Zeit und Raum? Wie ein Abend am Strand? Wie ein Mensch, der uns glücklich macht? Wie die große Freude, die in uns aufsteigt und alles schön und leicht und heiter macht? „…und die Blüte / Irdischer Liebe nahm ich mir zum Pfand / Für eine Welt des Geistes und der Güte.“ (M. L. Kaschnitz).
Vielleicht liegt auch in den großen Sehnsüchten des Lebens ein überirdischer Kern, obwohl sie so irdisch sind. Oder gerade weil sie so irdisch sind. Denn auch das Irdische trägt noch das Siegel Gottes. Deshalb: Gelobt sei der Staub… Die große Liebe. Das große Glück. Der große Frieden. Gerechtigkeit, nicht nur Recht. Freiheit, nicht nur außen, sondern auch in uns. Heimat, alles da, alles selbstverständlich. Kein Lied, kein Geschrei, keine Tränen. Das erhoffen und erwarten wir, und was wäre das Leben ohne diese großen Sehnsüchte? Vielleicht schmeckt der Himmel auch so?
Noch mehr schmecken wir Gott, wenn wir unterwegs und in der Fremde sind und plötzlich spüren: Diese Menschen, die mir jetzt freundlich begegnen und mich einladen, sind meine Brüder und Schwestern, oder die, die zu uns kommen als Flüchtlinge und Fremde, aus der ganzen Welt, aus allen Nationen, Rassen, Völkern, Kulturen. Sie sind meine Schwestern und Brüder, denn sie sind Kinder Gottes, wie ich.
Und wir schmecken Gott in den Geschichten von Jesus. In der Einladung zu Brot und Wein. Im Wort: Fürchte dich nicht. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein.
Und drittens: Dann, dort, am Ort unserer Sehnsucht, werden wir „überkleidet“. Alles was an uns sterblich ist wird vom Leben „verschlungen“. Das ist wie eine Umarmung, wie ein Kuss, der neues Leben einhaucht. Wir erhalten ein neues Kleid, nicht von uns gemacht, nicht von uns gekauft, nicht von uns verdient. Und doch passt es, es ist unser Kleid, und noch mehr, es ist schön, nein, wir sind schön darin, und alle sehen es und sagen: Du siehst aber toll aus! Und keiner schaut neidisch oder eifersüchtig oder verächtlich, sondern alle freuen sich. Dann sind wir angekommen, sind zu Hause, in der Heimat. Dann schauen wir. Schauen – da muss man nur noch die Augen aufmachen, und alles ist ganz klar und einfach und eindeutig und ohne jeden Zweifel.
Ankommen, zuhause sein, Heimat finden: Ohne diese Hoffnung, ohne diesen Vorgeschmack können wir nicht leben. Vielleicht erklärt das auch, warum die Flüchtlinge, die aus aller Herren Länder heute zu uns kommen, vielfach freundliche Aufnahme in unserem Land finden. Natürlich gibt es auch immer noch die dumpfen Vorbehalte und aggressive Ablehnung. Natürlich sind die staatlichen Regelungen trotz mancher Verbesserungen immer noch unzureichend und manchmal beschämend. Und natürlich ist die Abschottung an den Außengrenzen der EU, die über Leichen geht und darin dem Terror des IS ähnlich ist, verwerflich und ein Schlag in Gottes Angesicht. Und dennoch: Die Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, erfahren hier viel Hilfe und Unterstützung durch staatliche Stellen und vor allem durch die sogenannte Zivilgesellschaft. Und oftmals sind Kirchengemeinden die Orte, wo sich Asylarbeitskreise und Flüchtlingsinitiativen organisieren. Woher kommt das? Offenbar ein Mitgefühl, die Fähigkeit, mitfühlen zu können mit denen, die ihre Heimat verloren haben, die in die Fremde fliehen, wo alles anders ist, wo sie kein Bett und kein Dach und kein Einkommen haben, die Sprache nicht sprechen, die Kultur nicht verstehen, schutzbedürftig auf der ganzen Linie. Offenbar wissen wir, wie sich das anfühlt. Weil ja auch wir einmal unsere Heimat verlieren könnten? Oder weil wir wissen, dass jeder Mensch ein Recht auf Heimat hat?
Und so wendet sich das Ende wieder zum Anfang. Es ist eine Ehre, Gott wohlzugefallen, schreibt Paulus. Hier und Jetzt, in diesem Leben. Denn wir werden alle offenbar werden. Wir werden gewürdigt, vor Christus zu stehen. Wir werden gewürdigt, unser Leben wird gewürdigt, angeschaut zu werden. Was haben wir gemacht, hier, in der Fremde, mit unseren Sehnsüchten, mit unserem Glauben, mit den Menschen um uns? Wie wird das sein? Man kann davon nur persönlich sprechen. Ich verstehe Paulus so: Da steht mir einer gegenüber, der alles weiß, der mich kennt, der mich besser kennt als ich mich selbst kenne. Und zugleich einer, der mich liebt, von Anbeginn der Zeiten. Er wird mir meine wahre Lebensgeschichte erzählen. Alles Gute und alles Böse und alles was dazwischen liegt und von dem ich nicht weiß wie ich es einordnen darf. Und ich werde mich wiedererkennen und mein ganzes Leben. Es wird schrecklich sein. Es wird gut sein.
Amen
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Sehnsucht nach dem Himmlischen - Predigt zu 2. Korinther 5,1-10 von Christoph Römhild
Sehnsucht nach dem Himmlischen
Liebe Gemeinde,
in Dresden am Zwinger geht ein Paar vor mir auf der Straße, sie will fotografieren. Sie hält in der Bewegung inne, als die Sonne hinter einer Wolke verschwindet. Ausgerechnet jetzt verschwindet die Sonne! „Das war ja klar“, sagt sie. Ich bin überrascht, warum sagt sie dass es ja klar sei? Macht sie öfter die Erfahrung, dass ein perfekter Moment flüchtig ist? Dass ein Vorhaben, wie hier das Fotografieren, misslingt? Das war ja klar. Es ist schwer, Momente des Glücks festzuhalten. Ist das schon ein kollektives Empfinden?
Am Volkstrauertag fragen wir uns, worüber unser Land traurig ist. Worüber sind wir kollektiv traurig, was lässt uns verzagen, was lässt uns mutlos sein, was macht uns starr und bewegungsunfähig? Was lässt uns manchmal verzweifeln?
Neben der individuellen Traurigkeit durch einen Verlust gibt es eine kollektive Traurigkeit, Anlässe, die uns gemeinsam betreffen und betroffen machen. Umstände, die uns hilflos machen.
Ich nenne nur einige dieser kollektiven Anlässe:
* Die jährlich wiederkehrende Angst vor einer weltweiten Seuche, wie jetzt Ebola.
* Die Trauer und Verzweiflung über die Flüchtlingsdramen, die sich vor der Mauer Europas abspielen.
* Die vage Angst vor einem Klimawandel, der durch Stürme und Überflutungen Menschen weltweit bedroht.
* Die Traurigkeit über Kriege und Gewalt, die teilweise sogar unter dem Deckmäntelchen der Religion geschieht: der Islamische Staat (IS), Syrien, die Ost-Ukraine, Nigeria…
* Die vage Angst vor einer erneuten Banken- oder Wirtschaftskrise.
Jeder dieser einzelnen Punkte ist Grund zu Sorge und Entsetzen, gemeinsam bilden sie eine diffuse Bedrohung. Nach Ende des Kalten Krieges wähnten wir uns in einer Phase der verbesserten Sicherheitslage, mit den Anschlägen auf New York am 11. September 2001 relativierte sich das. Mit der Ukrainekrise und ihren Machtdemonstrationen von beiden Seiten scheint der Kalte Krieg nicht mehr so lange her. Mit der Entschlossenheit und Brutalität der IS scheint die Humanität verloren zu gehen. In diesem Jahr gedachten wir des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren, des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren. Und nun flackern wieder überall Konflikte auf. Gibt es denn keinen Fortschritt? Gibt es keinen Frieden?
In diese Lage spricht unser heutiger Predigttext, aus dem 5. Kapitel des 2. Korintherbriefes, die Verse 1-10.
(Predigttext ggf. verlesen)
Unsere irdischen Häuser sind eigentlich nur Hütten, so Paulus hier. Und tatsächlich haben wir ja mit unseren irdischen Häusern so unsere Probleme. Denken wir an die Hamburger Elbphilharmonie oder den Berliner Flughafen – beides Großprojekte, die ungleich teurer werden als erwartet und die immer noch nicht fertig gestellt sind. Das griechische Wort für Haus ist oikos – es begegnet uns auch in Worten wie Ökonomie und Ökologie, deren Probleme schon angesprochen wurden.
Paulus stellt dagegen die Aussicht auf ein himmlisches, ein ewiges Haus, in dem wir geborgen sein werden. Nach diesem Haus sehnt sich Paulus. Nach diesem Haus sehnen auch wir uns. In aller Angst, in aller Sehnsucht nach Anerkennung durch andere, nach Sicherheit in dieser Welt: In unseren Herzen haben wir diese Sehnsucht nach der zukünftigen Welt, diese tiefe Sehnsucht, nach Hause zu kommen. Diese Sehnsucht ist unvergänglich in uns gepflanzt. Es ist ein Sehnen nach dem Wohnen in dem unvergänglichen ewigen Haus.
Paulus spricht davon, dass sogar unsere Körper vergehen werden; auch sie sind nur Hütten, und wir werden neue Kleider bekommen, wir werden einen neuen Leib bekommen, wir werden verwandelt werden (1. Kor 15).
Es gibt einen wunderbaren Gospel von Mahalia Jackson, in dem sie dieses Motiv der neuen Kleider aufnimmt:
Von allen Himmelsrichtungen aus allen Nationen werden die Menschen herbei strömen, in weiß gekleidet.
Die himmlischen Kleider werden strahlend weiß sein, mit Diamanten besetzt.
Im neuen Jerusalem werden wir diese Kleider tragen.
Wir werden singen und die Straßen aus Gold entlang schreiten im Heimatland der Seele.
Dort wird das große Festmahl der Völker gehalten werden und Gott wird uns in seinen Reden loben.
Unsere Seele schaut zurück in Verwunderung, wie sie das alles durchstehen konnte.
* * *
„How I got over“ heißt dieser Gospel, der mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung eng verbunden ist.
Mahalia Jacksons wundervolle Stimme erzählt von ihrer Furcht, ihrem Glauben und ihrer Hoffnung.
Dieses großartige Lied, das so oft kopiert worden ist, verbindet für mich in wundervoller Weise eine tiefe Frömmigkeit und die Sehnsucht nach dem zukünftigen Jerusalem mit der Sehnsucht nach einer gerechteren Welt im Diesseits.
Ihre Sehnsucht nach der zukünftigen Welt lässt sie die hiesige Welt nur umso genauer sehen und das Unrecht nur umso genauer wahrnehmen. Fünf Jahre nachdem dieses Lied erschien, wurde Martin Luther King erschossen.
* * *
Wir können uns diesen Gospel zum Vorbild nehmen. Wir können uns also nach der zukünftigen Welt strecken, wir können nach dieser zukünftigen Welt streben und dennoch das Diesseits im Blick behalten.
Bei aller Sehnsucht nach der kommenden Welt sollen wir keine Weltflucht betreiben, sondern Weltverantwortung wahrnehmen und die Probleme nicht ausblenden. Paulus weiß dies, wenn er sich intensiv um seine Gemeinden kümmert und um das gute Zusammenleben in ihnen.
Aber die Sehnsucht nach der zukünftigen Welt relativiert die Konflikt, die wir sehen, die Ängste, die wir haben: Denn alles dies sind Hütten. Alles dies steht unter dem Vorbehalt, dass ein zukünftiges, ewiges Haus auf uns wartet, das schon für uns bereitet ist. Damit relativiert sich auch die Angst und die Traurigkeit, die wir haben.
Damit vergrößern sich aber auch die Möglichkeiten in diesen Konflikten: Gewalt ist vielleicht eine ultima ratio, aber nie eine Lösung. Strukturen und Machtverhältnisse sind nie ewig oder unabänderlich, sondern sind immer Hütten, sind immer zeitlich und politisch veränderlich.
Dafür steht unser Glaube, der selbst dem Tod die Macht genommen hat. Letzen Sonntag haben wir dem 9. November 1989 gedacht. An diesem Tage, in diesen Monaten ging von den Kirchen und den Gebeten eine friedliche Revolution aus, die die Mauer zum Einsturz brachte. Auch diese Mauer, die so unabänderlich schien, war nur eine vergängliche Hütte. Wir können die Dinge zum Guten wenden, wie Bundeskanzlerin Merkel sagte.
Solche Strukturen und Machtverhältnisse stehen immer unter dem Vorbehalt, dass jede Ungerechtigkeit, jede Gewalt, jedes Wegsehen abgelöst werden wird durch ein gemeinschaftliches Wohnen in einem Haus mit vielen Wohnungen, in dem Toleranz und Dauer, Friede und Gerechtigkeit wohnen werden.
* * *
Der Vorschein dieser zukünftigen Welt sind für mich die Ortsgemeinden, sind unsere Gemeinden vor Ort, auch diese Gemeinde, unsere Gemeinde.
Im gemeinsamen Abendmahl zeigt sich, wie diese Gemeinde von Jesus Christus lebt und bestimmt ist. Dies strahlt aus in den Gottesdienst, in die ganze Gemeinde und den ganzen Stadtteil, die ganze Stadt. Dieses Leben von Jesus Christus her, der schon in dem zukünftigen Haus lebt, verändert alles.
Und ich möchte diese Gemeinde loben!
Sie bewahrt das Wissen um die Auferstehung Jesu Christi. Sie lebt im Abendmahl von ihm her. Sie alle hier, Sie sind diese Gemeinde, wir alle hier; Sie achten aufeinander, Sie sorgen füreinander, Sie sind füreinander da. Sie haben eine gemeinsame Vision von einem Zusammenleben in dieser Gemeinde und weit darüber hinaus. Sie lösen Konflikte nicht mit Gewalt oder Ausgrenzung, sondern im Gespräch und in Achtung voreinander. Hier finden Menschen Geborgenheit, hier verlieren sie ihre Angst und ihre Trauer, über die wir heute am Volkstrauertag nachdenken. Hier gewinnen Menschen neue Visionen in den gemeinsamen Gesprächen, hier finden Menschen neuen Mut, legen ihre Verzagtheit und Vagheit ab und gehen gemeinsam neue Schritte.
Hier leben Generationen in lebendigem Austausch miteinander. Hier sind Kinder und Jugendliche Willkommen und die Älteren ebenso. Menschen die sich einsam fühlen, werden aufgenommen, niemand ist alleine. Auf dem Basar und Flohmarkt packt jeder mit an oder bringt Kuchen und Spenden mit. Es ist Raum für Muße und Kultur. Wir lesen zusammen in der Bibel, tauschen uns aus, singen zusammen im Chor. In diakonischen Einrichtungen kümmern wir uns um Arme und Kranke. All dies strahlt aus in den Stadtteil und verändert die Welt. Unterschätzen wir das nicht.
Das wünsche ich Ihnen und uns: Das wir uns diese Gemeinschaft bewahren, sie uns immer neu geschenkt wird und wir das Ziel immer vor Augen behalten:
In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen.
Amen
Mögliche Lieder
398
150
153
147
295
428
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Predigt zu 2. Korinther 5,1-10 von Jochen Riepe
I
‚Unterpfand des Geistes‘: Der Ring, den ich trage … Das Wasser , das mir die Stirn kühlt… das Gebet , das für mich gesprochen wird … die Hand , die mich hält … die Augen , die mich ansehen … Geistes-Kraft : Menschen können lieben, denken , gestalten , loslassen – Gott arbeitet an uns und mit uns gegen die Macht des Todes. ‚Und wie das Mädchen so da stand , Mütze ,Leibchen und Röcklein abgegeben und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel‘.*
II
Wenn in unserer Nachbarschaft einer zu Grabe getragen wurde , sagten die zurück gebliebenen Alten : ‚Er hat es geschafft‘. Wenn ich heute in einem Trauerzug mitgehe , höre ich manchmal den Satz : ‚Er hat es hinter sich‘. Als neulich die Nachricht vom Tode Siegfried Lenz‘ durch die Medien ging , schrieb sein Schriftstellerkollege Martin Walser : ‚Da denke ich natürlich : Warum er und nicht ich? Eine Spur von Neid. Da das Sterben das Schwerste ist, diese Empfindung : Er hat’s geschafft‘ **.
III
Von den letzten Dingen . Paulus , liebe Gemeinde, schreibt darüber beneidenswert gewiß . Er vertraut darauf : Uns alle erwartet nach dem Abbruch unseres ‚irdischen Hauses‘ ein von Gott erbautes ‚Haus …, das ewig ist im Himmel‘. Dieser Leib ist vergänglich und wird abgerissen und zerfallen. Umso freudiger dürfen Christen in der Kraft des Geistes einen ‚verklärten‘, unvergänglichen Leib erhoffen und dieser Hoffnung entspringt die Sehnsucht ‚ endlich ‚daheim zu sein bei dem Herrn‘. Dann wird vollendet werden, was einst begonnen wurde und alles Vorläufige, Beschwerliche und Schmerzliche wird vom Leben verschlungen sein. Mögen manche Zeitgenossen sich nach Ruhe und Frieden im ‚Nichts‘ sehnen. Für den Apostel ist das Ende Beginn eines Neuen . Leben bei Gott. Vollendung.
IV
‚So weit , so … bekannt‘ , mag mancher jetzt denken : ‘Das ist die Lehre von den letzten Dingen‘. Und dann doch fragen : Ist zwischen Hier und Dort , Irdischem und Himmlischen nicht noch an jene Zäsur zu erinnern , die wir Sterben nennen? ‚Das Schwerste‘ – der Tod, der bittere Tod . Wissen und Sehnsucht sind das eine, fromme Hoffnungen auch. Aber zuvor sollten wir jenes X bedenken , jenen Augenblick , da wir wie das Sterntaler-Kind im ‚dunklen Wald‘ stehen, ‚gar nichts anhaben‘ werden und nackt sind. Paulus selbst drückt das etwas rätselhaft oder unklar aus , als sei dieser Einwand wie ein Einspruch oder Zwischengedanke , der plötzlich seinen Gedankengang auf-stört : Sehnend lassen wir sozusagen die Todesschwelle hinter uns liegen , wollen ‚überkleidet‘ werden , ohne zuvor ‚entkleidet‘ zu sein - aber so verständlich diese Aussparung oder dieser Sprung sind , die Wirklichkeit des Menschen ist anders. Man kann fromm oder unfromm zu den Sternen reisen und sich -wie vielleicht manche in der Gemeinde in Korinth – bereits im neuen , im Auferstehungs-Leben wähnen. Aber in der Nachfolge Jesu , des Gekreuzigten und am Kreuz Schreienden, kommt man um die Härte des ‚Zur-Erde-Müssens‘ nicht herum.
V
‚Er hat es geschafft‘ , schreibt der Schriftsteller über den Tod seines Kollegen und dann : ‚Warum er und nicht ich. Eine Spur von Neid. Da das Sterben das Schwerste ist‘. Neid - vielleicht darf man das so verstehen : Vorbei sind die Schmerzen und Ängste , das Ausgeliefertsein und die Abhängigkeiten eines Sterbe-Weges . Vorbei die bange Frage : Wie wird man mit mir umgehen? Wie über mich sprechen? Vor allem aber : Wo ist Gott , da mir ‚am allerbängsten wird um das Herze sein‘ (eg 85.9) ? ‚Entkleidet-werden‘ : Stück für Stück hat das Ich sein Leibchen und Röcklein und schließlich sein ‚letztes Hemd‘ abgegeben und mit der Kleidung seine Selbstbestimmung , seinen Willen , vielleicht auch das Bewußtsein . Nacktheit. Mag alles Menschenmögliche getan worden sein , die Pflegenden fürsorglich gesorgt , die Ärzte mit palliativmedizinischen Mitteln die Schmerzen gelindert haben - , daß ein Sterbender los-läßt und damit dem eigenen Nicht-(Mehr-)Sein ‚zustimmt‘, das ist jene abgründige Zäsur , die so manchem schon im Leben zusetzt und ängstigt . Paulus selbst nennt den Tod entsprechend den ‚letzten‘ , den stärksten ‚Feind‘*** - er trifft den Menschen ‚mit aller Wucht‘****.
VI
‚ Unterpfand des Geistes‘ : Der Ring an meiner Hand, die Augen des anderen , das Foto auf dem Nachttisch … das Wasser , das mich reinigt … Es gehört , liebe Gemeinde, zum Kreuzes-Realismus der apostolischen Lehre , daß sie die ganze Schwere des Weges zum Sterben zuläßt und umso mehr darauf besteht : Eben dieses Entkleidetwerden ist uns von Gott auferlegt – ja, in ihm begegnen wir Gott, unserem Schöpfer, dem Vater Jesu Christi. Im Letzten ist sozusagen der ‚Aller-Letzte‘, der Bürge meines Daseins, gegenwärtig , sein Schutz , seine Umarmung , seine Lebendigkeit, und all die Dinge, die diesen Weg erleichtern und begleiten sind gleichsam liebevolle Verleiblichungen - Augen, Hände ,Wasser, Wein und Brot - jenes Gottes-Geistes , der uns als ‚Unterpfand‘ gegeben wurde. Dieser Geist ist es , der uns die Kraft der Liebe, der Vernunft , der Kreativität auch in den letzten Dingen schenkt. Dieser Geist ist es , der Gottes Schaffen mit unserem Tun verbindet , und der uns im Angesicht des größten Feindes nicht zu Zynikern werden , sondern die kleinsten Zeichen der Verbundenheit ,gleichsam die Lebens-Reste , achten läßt .
VII
Auch das Umgekehrte ist ja menschenmöglich : Der Tod macht alle gleich , alles gleichgültig , alles häßlich und zum Müllhaufen und Krankenhäuser und Heime zu geist-losen, lieblosen, vernunftlosen oder gar bösen Entsorgungsstellen mit den entsprechenden abgebrühten oder notorisch überforderten Experten. Ja, wir sind in der ‚Fremde‘ , aber unser Fleisch , dieser Körper, angeschlossen an Schläuche , mit Sonden versorgt , mit einer Atemmaske bedeckt ,trägt ‚in Gott‘ schon die Lebendigkeit des neuen Leibes. Geist-lich baut Gott an diesem Wesen , das irdisch zu Ende geht und doch allezeit ein ‚Tempel des lebendigen Gottes‘ (2.Kor.6,16) bleibt. Wo immer einer unsere Schutzlosigkeit ausnützt, wo immer wir beschämt und beleidigt unterzugehen drohen , wo immer man uns die ‚Dinge des Lebens‘ , die ‚letzten Dinge‘ nimmt, da vergeht man sich an diesem Geist und seinen Zeichen und Trägern .
VII
Vollendung. Leben bei Gott. ‚Und wie es so dastand und gar nichts mehr hatte , fielen auf einmal die Sterne vom Himmel …‘ Was der Märchenerzähler unter der Überschrift ‚Es war einmal‘ für das Kind im ‚im dunklen Wald‘ ‚er-schaut‘ und was der Märchenhörer so gern annimmt, der Prediger kann in der Kraft des Geistes euch zusagen : Gott ‚wird es schaffen‘ , er wird sein Versprechen , er wird das Unterpfand einlösen ,wir werden schauen und solange mögen wir jenen Glauben erbitten , der –‚ob wir daheim sind oder in der Fremde‘ – ihm ‚wohlgefällt‘.
*Kinder-und Hausmärchen Gesammelt durch die Brüder Grimm, o.J., S. 508
** SZ vom 8.10.14
*** 1.Kor. 15,26
**** s. Chr. Gestrich , Die Seele des Menschen und die Hoffnung des Christen. Evangelische Eschatologie vor der Erneuerung. 2009, S. 206
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Predigt zu 2. Korinther 3,3-9 von Thomas Bautz
Liebe Gemeinde!
Die Frage des Paulus, ob sie - nämlich er und andere Apostel - etwa erneut anfingen, sich selbst zu empfehlen, kann nur rhetorisch gemeint sein (cf. Bernd Kuschnerus: Die Gemeinde als Brief Christi, 150ff). Denn er schreibt im gleichen Brief später (2 Kor 10,18): „Nicht wer sich selbst empfiehlt, gilt als bewährt, sondern wen der Herr (Kyrios) empfiehlt.“
Aber nicht die „Selbstempfehlung“ als solche wird als problematisch empfunden, sondern die Art und Weise sowie der Zusammenhang. So können sich Paulus und andere Apostel als Gründer der Gemeinde „empfehlen“, aber nicht in erster Linie aufgrund einer Qualifikation zu All-round-Talenten, sondern vielmehr auf Grund ihrer im wahrsten Sinne höheren Berufung in den Dienst an den ihnen anvertrauten Menschen. Worin kann ein solcher Dienst bestehen? Ich möchte Sie dazu anregen, zunächst darüber nachzudenken.
Es geht sicher nicht darum, dass Paulus (u.a.) bestimmte Empfehlungen bräuchte, etwa im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens, wie sie heutzutage auch im kirchlichen Raum längst üblich sind. Da entscheiden weniger „geistliche“ Qualitäten wie die Motivation zum Dienen, sondern eher Organisationstalent; Eignung für Leitungsfunktionen und Teamarbeit in einem; Professionalität bei Finanzierungen, insbesondere im Bauwesen, wirtschaftliches Denken im Allgemeinen; seelsorgliche, pädagogische, liturgische, weniger wissenschaftliche Kompetenz. Wenn jemand dies und noch mehr erfüllt, ist er oder sie als Geistlicher für heutige Gemeinden bzw. Presbyterien „empfehlenswert“.
Gespräche an den „Rändern“ der Kirchengemeinden zeigen mir, dass meist noch ganz andere Gaben im Umgang mit Menschen gefragt sind: Gemeinsame Vorbereitung auf die Taufe eines Kindes: Eltern, Familien, die in freudiger Erwartung sind; ähnlich die gemeinsame Planung einer Hochzeit im Kirchenraum. Beide Fälle erfordern die Gestaltung des Gottesdienstes im Einvernehmen mit den Beteiligten. Das Miteinander von Pfarrer und den Gemeindegliedern, die meiner Erfahrung nach selten zur Kerngemeinde gehören, beim Hausbesuch ermöglicht oft gegenseitiges Kennenlernen, schafft Gemeinschaft.
Selbst bei der gemeinsamen Vorbereitung einer Trauerfeier kann der Hausbesuch eine gewisse Nähe schaffen; allerdings ist der Teil, den der Geistliche übernimmt, in diesem Fall meist etwas größer. Die angetroffene Atmosphäre der Trauer bestimmt Art und Intensität des Umgangs. Zurückhaltung und behutsames, sensibles Einfühlungsvermögen sind gefordert.
Der Zeitfaktor bei den Hausbesuchen ist nicht zu unterschätzen. Der Dienstkalender eines Pfarrers sollte die Qualität seines Dienstes nicht beeinträchtigen. Andernfalls beraubt er sich der Möglichkeit authentischer, lebendiger Begegnungen mit Menschen. Pointiert gesagt: Geht es mir vorwiegend um das Abarbeiten von Amtshandlungen (ein schrecklich unpersönliches Wort!) oder die Abwicklung von Geschäften und Veranstaltungen, oder sind mir vorwiegend die Gemeindeglieder als solche wichtig? Man muss auch delegieren können!
Öfter als man vielleicht vermutet, ergeben sich bei der Begegnung mit Menschen „in ihren eigenen vier Wänden“ tiefgründige Fragen philosophischer oder theologischer Art, etwa zur Bibelauslegung oder zur heutigen Rolle der Kirche in der Gesellschaft. Mitunter wird auch „traditioneller Glaube“ dem individuellen Ringen nach geistiger, religiöser Orientierung kritisch gegenübergestellt. Es geht eben um weit mehr als die formale Planung und Organisation einer kirchlichen Veranstaltung. Je persönlicher die Vorbereitungen sich gestalten, desto lebendiger, feierlicher und authentischer werden die Gottesdienste sein.
Ich habe manchmal den Eindruck gewonnen, dass ehrenamtlich Dienende in der Gemeinde oftmals mehr Nähe bei ihren Begegnungen mit Menschen entwickeln als Hauptamtliche, das Pfarrkollegium inklusive. Vermutlich liegt das u.a. an dem überberstenden Terminkalender. Andererseits sind Offenheit und Nähe sicher auch von Veranlagung, Begabung, persönlicher Entwicklung des Engagierten abhängig; nicht jeder sucht das Gespräch.
Ich behaupte einmal, dass die Art der Gemeinschaft, wie sie sich bei Hausbesuchen durchaus entwickeln kann, etwas Lebendigeres ist als die Gemeinsamkeit, die Sonntag für Sonntag in einem Gottesdienst erfahren wird. Trotz Reformbestrebungen kranken diese Veranstaltungen immer noch an ihrer mangelhaften Annäherung an einen Sprachgebrauch, wie er andernorts auf unterschiedliche Weise geübt wird: Sei es Alltagssprache oder gehobener Sprachgebrauch, sei es Poesie, Literatur, Sprachgebrauch in den Medien oder Wissenschaftsjargon - die in den Gottesdiensten und oft auch bei Amtshandlungen gepflegte Sprache fällt aus dem Rahmen.
Theoretisch ließe sich auch der Standpunkt vertreten, die Sprache geistlicher Veranstaltungen sei einer Fachsprache vergleichbar und müsse daher ihren besonderen Charakter wahren. Wenn sich für dieses Verständnis eine Mehrheit fände oder dies einfach weiterhin praktiziert würde, bliebe die Kerngemeinde im Großen und Ganzen isoliert. Sie ließe sich dann auch die Chance der inhaltlichen, religiösen, kulturellen Weiterentwicklung entgehen.
Viele Mitglieder der Kerngemeinde „fühlen sich wohl“ in dem gewohnten liturgischen Ablauf, möchten auch den üblichen Sprachgebrauch nicht missen, andere aber sind aufgeschlossen auch gegenüber Änderungen, die den Ablauf etwas auflockern, lebendiger gestalten lassen.
Ich finde es hochinteressant und gleichermaßen sehr gewagt, wie Paulus in seinem Zweiten Brief an die Gemeinde zu Korinth dieselbe charakterisiert und sich und anderen Aposteln dabei selbst ein tüchtiges Lob erteilt (2 Kor 3,2-3; cf. Menge-Bibel; Thomas Schmeller: EKK VIII/1, S. 169; zur Auslegung, cf. op.cit., 175-181):
Unser Empfehlungsbrief seid ihr, eingeschrieben in unser Herz, erkannt und gelesen von allen Menschen; ihr seid erkennbar als Brief Christi, dem unser Dienst gilt, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf Herzenstafeln von Fleisch.
Danach ließe sich die Qualität des Aposteldienstes an der Qualität der Gemeinde ablesen. Befähigung, Profil, Wesensmerkmal, Bedeutung beider wären gegenseitig transparent oder würden einander widerspiegeln (cf. Kuschnerus: Die Gemeinde als Brief Christi, 153-159). Darüber hinaus wird das Verhältnis des Apostels zur Gemeinde als Herzensangelegenheit, also als eine tiefere Beziehung beschrieben.
„Christus“ als Maßstab sowohl für die Legitimation des Paulus wie auch für den Grund des Bekanntwerdens der Gemeinde ist sehr hoch angesetzt, wobei dieses Kriterium an der Stelle inhaltlich unspezifisch bleibt. Stattdessen setzt Paulus seine Ausführungen mit merkwürdig anmutenden polarisierenden Metaphern fort: „Schreiben mit Tinte“ - „Schreiben mit dem Geist des lebendigen Gottes“; eine Gegenüberstellung, die in der Bibel sonst nicht zu finden ist (cf. Schmeller, 179). Und Schreiben „auf steinerne Tafeln“ - „Schreiben auf Herzenstafeln von Fleisch“. Mit der letzten Polarisierung bereitet der Apostel eine Argumentation vor, die er mit Hilfe einiger Anspielungen an die hebräische Bibel verknüpft (cf. Schmeller, 180f).
Aber zunächst beteuert er (mit anderen Aposteln) sein Gottvertrauen darauf, dass seine (und ihre) Befähigung zum Dienst aus „Gott“ käme; dazu gehöre auch die geistliche Einschätzung. Paulus geht dann einen entscheidenden Schritt weiter (2 Kor 3,6): Gott habe sie befähigt
„zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.“
Mit der berühmten, sprichwörtlichen, thesenhaften Aussage hat Paulus vielen Auslegern der Alten Kirche (wie Augustinus), der Reformation (wie Luther) und modernen Kommentatoren heftige Kopfschmerzen bereitet und mitunter zu verhängnisvollen Fehlschlüssen verleitet.
Dieser Satz (V. 6) „ist einer der schwierigsten und umstrittensten“ im zweiten Brief an die Korinther (Schmeller, 183-190: 184; Scott J. Hafemann: Paul, Moses, and the History of Israel, 1). Die in der Wirkungsgeschichte später dogmatisch gedeutete Aussage des Paulus ist aber in einen biographischen Zusammenhang eingebettet. Es geht nicht mehr darum, wie er sich selbst einschätzt, sondern um die Erfahrung seiner Berufung in den Dienst. Es scheint allerdings, als müsse er diese Berufung zum Dienst vor seinen Gegnern rechtfertigen bzw. verteidigen. Zumindest verwendet er in seinem Brief häufig Ausdrücke aus dem Wortfeld „dienen“ (cf. Schmeller, 183).
Viele Ausleger versuchen, die nahezu polemisch wirkenden Antithesen (Polarisierungen), die Paulus im Brief verwendet, aus einer dauerhaften Auseinandersetzung mit gewissen Gegnern zu erklären. Diese sehen nämlich keinen Gegensatz zwischen dem auf Tafeln Geschriebenen und dem ins Innere Geschriebenen; zwischen „Gottes Ordnung“ und „Gottes Kraft“ (oder Geist). „Das Ins-Innere- und das Auf-steinerne-Tafeln-Geschriebensein“ schließt sich nicht gegenseitig aus, sondern können sich ergänzen (Dieter Georgi: Die Gegner des Paulus, 250).
Buchstabe und Geist stellen keinen Gegensatz dar; es entspricht eher gottgeschenkter Einsicht, ihre Beziehung zu erkennen und wie sie einander fordern. Nun steht der fürs Deutsche etwas unglückliche Begriff „Buchstabe“ in der hebräischen Bibel wie für die jüdische Tradition für verschiedene Textkorpora, für kleinere und größere: die Zehn Gebote (Dekalog), die Tora, die Figur des Moses im Sinne einer Personifikation, für „die Sammlung der heiligen Schriften des Judentums“ insgesamt (Dieter Georgi: Die Gegner des Paulus, 252).
Von diesem jüdischen „Kanon“ - angefangen bei der hebräischen Bibel - wird man nicht allen Ernstes behaupten dürfen, die darin bewahrten Worte würden „töten“, um dann womöglich einen massiven Gegensatz zu den Briefen des Paulus oder zum Evangelium oder gar zur Überlieferung von Jesusworten konstruieren zu wollen.
Liebe Gemeinde! Dieses uns - so meine Hoffnung, ja, Gewissheit - heute unmögliche und widersinnig erscheinende Denken spukte im Laufe der Geschichte des Christentum leider oft genug in den Köpfen und Herzen; es vergiftete das Verhältnis zu unserer historischen Wurzel und leistete antijudaistischen Bewegungen und politischen Kräften tüchtig Vorschub, zuletzt dem Größenwahn Adolf Hitlers, dem dummen Kadavergehorsam seiner Helfershelfer und der Mehrheit derer, die sich auch in den Kirchen der Ideologie des Nationalsozialismus beugten.
Die mächtigsten Herrscher der Geschichte - wie z.B. Lenin, Stalin, Hitler, Mao-tse Dong - waren von der Kraft des Buchstabens, von der manipulierenden Wirkung der Sprache, wenn man sie geschickt einzusetzen weiß, überzeugt. Leider brachte ihre Propaganda tatsächlich für Millionen den Tod.
Wenn ich unserem Sprachgebrauch zuhöre, drängt sich mir manchmal der Eindruck auf, dass es uns an Sensibilität für allgemein verständliche Sprache, aber auch an Verständnis für poetische, schöne, elegante Ausdrucksweise und auch an angemessener Rhetorik fehlt. Die praktische Theologie und entsprechende Publikationen haben längst den Weg dorthin gewiesen, aber leider fehlt offenbar vielerorts noch der fruchtbare Boden für die gestreute oder zumindest bereitete Saat.
Aber der sog. „Buchstabe“, das Wort, die Texte des Judentums, die Tora, die Weisung, die dem Leben Sinn verleiht, die religiöse wie kulturelle Bräuche regelt, Recht und Gesetze ordnet und mannigfaltige Anregungen für die geistige Entwicklung eines Menschen bietet - diese Tradition ist es allemal wert, beachtet zu werden.
Die heiligen Schriften des Judentums „machen den Menschen lebendig“ - sie beleben uns wie auch die Worte des Rabbi Jesus von Nazareth Leben in Fülle bereiten können. Denn Mose und Jesus widersprechen nicht einander: beiderlei Worte sind Geist und Leben. Ich weiß aber nicht, wo Paulus steht; ist er irgendwo dazwischen angesiedelt? Vom Rabbi Jesus lese ich bei ihm so gut wie nichts. War die sog. „Bekehrung“ des Paulus eher eine Art „Verkehrung“? Mit dieser ketzerischen Bemerkung möchte ich nicht schließen. Vielmehr verweise ich auf die Anspielungen auf die hebräische Bibel, die Paulus - wenn auch, wie bei ihm üblich – anführt:
Ich will mein Gesetz (Tora) in ihr Inneres hineinlegen und es ihnen ins Herz schreiben und will dann ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein (Jer 31,33).
Wenn (…), will ich ihnen ein anderes Herz verleihen und ihnen einen neuen Geist eingeben; ich will das steinerne Herz aus ihrer Brust herausnehmen und ihnen ein Herz von Fleisch einsetzen (Ez 11,19).
Und ich will euch ein neues Herz verleihen und euch einen neuen Geist eingeben: das steinerne Herz will ich aus eurer Brust herausnehmen und euch dafür ein Herz von Fleisch verleihen (Ez 36,26).
Wenn Paulus sich als „Diener des neuen Bundes“ bezeichnet und damit einen weiteren Kontrast schafft, nämlich die Antithese von „altem“ und „neuem“ Bund, und er des weiteren (scheinbar, aus Polemik?) nur dem neuen Bund Leben schaffende Wirkung durch Gottes Geist zuschreibt, dann verkennt er m.E. die Tatsache, dass die Kraft, der Geist Gottes schon in seiner eigenen Tradition mächtig wird.
Es gibt sogar einen Hinweis beim Propheten Ezechiel (Ez 18,31f), der eindeutig widerlegt, dass alles Aufrichtige, Gute, Gerechte, Hilfreiche und „Gott“ Wohlgefällige angeblich stets nur von „Gott selbst“ gewirkt werden könne:
„Werft alle eure Übertretungen, durch die ihr euch gegen mich vergangen habt, von euch ab und schafft euch ein neues Herz und einen neuen Geist! Denn warum wollt ihr sterben, Haus Israel? Ich habe ja kein Wohlgefallen am Tode dessen, der sterben muß“ - so lautet der Ausspruch Gottes des HERRN -; „darum kehret um, so werdet ihr leben!“
Dem Menschen wird hier mehr zugetraut, als dies bei Paulus und später im Christentum der Fall ist: schafft euch (selbst) ein neues Herz und einen neuen Geist! - Eines wird allerdings vorausgesetzt: Sie sollen umkehren, wenn sie einen falschen Weg eingeschlagen haben oder sich gar verkehrte Ziele im Leben gesetzt oder nach fragwürdigen Maßstäben gelebt haben. Diesen Hinweis verdanke ich dem jüdischen Gelehrten Hermann Cohen (Die Religion der Vernunft, 227). Ich überlasse dem Rabbi Jesus das Schlusswort, weil er auf unnachahmliche Weise aufzeigt, dass zumindest seine Autorität nicht im Widerspruch zur Tora steht:
„Denkt nicht, daß ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird vom Gesetz nicht ein einziges Jota und kein Strichlein aufgehoben werden, bis alles in Erfüllung gegangen ist. Wer also ein einziges von diesen Geboten aufhebt und die Menschen demgemäß lehrt, der wird der Geringste im Himmelreich heißen; wer sie aber tut und so lehrt, der wird groß im Himmelreich heißen“ (Mt 5,17-19). Amen.
Literatur
Thomas Schmeller: Der Zweite Brief an die Korinther, EKK VII/1 (2010), 168-191.
Scott J. Hafemann: Paul, Moses, and the History of Israel, WUNT 81 (1995).
Dieter Georgi: Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief, WMANT 11 (1964).
Hermann Cohen: Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919).
Bernd Kuschnerus: Die Gemeinde als Brief Christi, FRLANT 197 (2002).
Wai-Shing Chau: The Letter and the Spirit. A History of Interpretation from Origen to Luther, AmUSt.TR 167 (1995).
Arthur J. Dewey: Spirit and Letter in Paul (1996).
Peter von der Osten-Sacken: Die Heiligkeit der Tora. Studien zum Gesetz bei Paulus (1989).
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Predigt zu 2. Korinther 3,3-9 von Sibylle Reh
Paulus und die Korinther
Wie würden wir unsere Kirchengemeinde anpreisen bei Menschen, die uns noch nicht kennen?
Mit einen Hochglanzflyer oder einfach, indem wir uns selbst vorstellen?
Der Hochglanzflyer würde zweifellos ein sehr viel besseres Bild unserer Gemeinde zeichnen als die Begegnung mit uns, aber: Was würde jemanden dazu bringen, sich uns anzuschließen, der Hochglanz-Flyer oder die Begegnung von Mensch zu Mensch?
Warum sind Sie hier, weil Sie eine Werbebroschüre über Kirchen gelesen haben, oder weil sie mal mit jemandem mitgegangen sind, der in die Kirche gegangen ist?
Ich denke, die allermeisten werden zuerst von irgendjemandem, und sei es die Mutter oder Oma, in die Kirche geführt worden sein.
Der Predigttext ist aus einem Brief des Paulus an die Gemeinde in Korinth.
Paulus und seine Gemeinde in Korinth, hatte er da nicht schon immer seine liebe Not? Es gab Parteiungen in der Gemeinde, die einen wollten zu Paulus halten, die andern zu anderen Missionaren, andere weder zu den einen noch zu den anderen. Im 2. Korintherbrief antwortet Paulus auf Vorwürfe gegen ihn selber.
Paulus hatte seinerzeit die Gemeinde in Korinth durch seine Predigt ins Leben gerufen. Er war lange dort gewesen, hatte gepredigt, auch einzelne getauft. Dann waren andere Missionare dort gewesen. Viele in der Gemeinde fanden diese überzeugender als Paulus, andere hielten zu Paulus. Es kam zu Konflikten. Diese spitzten sich zu, so dass Paulus bei einem späteren Besuch in der Gemeinde sogar beleidigt wurde. Er musste vorzeitig abreisen. Die Leute sagten von ihm: ¨Er schreibt zwar tolle Briefe, aber sein Auftreten hier ist eher schwach.¨ Wie sollte sich Paulus da verhalten? Wir wissen aus Erfahrung, dass es schwer ist, aus einer solchen Situation heraus zu kommen. Wenn sich genug Menschen darauf geeinigt haben, das Verhalten eines anderen als Schwäche auszulegen, dann kann dieser eigentlich tun, was er will, protestieren, schweigen, die Situation ignorieren, die Gegner angreifen, alles wird ihm als Schwäche ausgelegt. Eigentlich ist dann nur noch der totale Rückzug möglich. Viele würden genau diesen Weg nehmen. Paulus tut etwas anderes. Er hält aus. Er versucht auch nicht direkt für sich selbst zu werben.
Paulus dreht den Spieß einfach um. "Ich soll für mich werben? Es werden Empfehlungsschreiben von mir verlangt? Ihr seid doch mein Empfehlungsschreiben! Aber nicht das Empfehlungsschreiben für mich, sondern für das Evangelium von Jesus Christus!¨ Damit weist er von der Kritik an seiner Person weg auf den Glauben, der alle, Paulus, seine Gegner und den Rest der Gemeinde vereint.
Und er weist damit vorsichtig darauf hin, dass es um die Gemeinde geht, nicht um ihn. Er war der Schreiber, derjenige der ausführte. Der Brief war die Gemeinde an sich, Autor der Schreibens war Jesus Christus. Und da die Gemeinde nicht ablehnt, Teil der Botschaft Jesu Christi zu sein, da können sie auch Paulus seinen Teil an der Geschichte nicht streitig machen, dass er ihnen nämlich zuerst von Jesus Christus erzählt hat.
Der Streit um die Person des Paulus wirkt geradezu lächerlich gegenüber der Botschaft, die es zu verkünden gilt.
Paulus kommt von dort aus zu seinem Lieblingsthema, dem Besonderen des neuen Glaubens.
Paulus war, wie viele seiner Gemeindeglieder, Jude. Und das Größte und Höchste, was er kannte, bevor er Jesus begegnete, war das „Gesetz“ - die Thora, der damals wichtigste Teil der jüdischen Bibel.
Er war sein Leben lang in dem festen Glauben, das die Thora „Heilig, gerecht und gut“ sei.
Nur erkannte er, dass es einen Zugang zu dem Gesetz gab, den er vorher nicht gesehen hatte, und das ist der Geist, der auf Jesu Verheißung auf die Anhänger Jesu herabgekommen war. Das heißt: Jesus Christus ermöglicht Zugang zu dem Gesetz.
Das Gesetz, die 5 Bücher Mose, handelt von Leben und Tod, von Anfang an. Es fängt mit der Erschaffung der Welt an. Danach leben Adam und Eva im Paradies. Nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies sind sie sterblich. Und schon im nächsten Kapitel gibt es den ersten Mord: Kain erschlägt seinen Bruder Abel. Seitdem sind Schuld und Tod endgültig auf der Welt.
Paulus findet im Tod und und in der Auferstehung Jesu Christi die Lösung von Schuld und Tod.
Liebe Gemeinde, wenn dieser Brief, der vor so vielen Jahren geschrieben wurde, noch für uns Bedeutung haben soll, dann müssen wir schauen: wo wir uns in dem Text wiederfinden können.
Bin ich ein Empfehlungsschreiben, eine Werbung für die Botschaft Jesu Christi? Was bedeutet das für mich? Das heißt, was Gemeinde ist, wird auch durch mich deutlich. Ich darf nicht auf einen anderen warten, der schöner, stärker oder redegewandter ist als ich, der im Rampenlicht steht und den ich dann mal machen lasse. Ob das Gemeindeleben gelingt, liegt auch an mir. Wenn ich darüber motze, dass die da oben in der Kirchenleitung meiner Meinung nach, alles falsch machen, nützt das gar nichts. Ich sollte lieber versuchen, hier unten möglichst viel richtig zu machen. Und darauf vertrauen, dass Gottes Geist da wirkt, wo Gemeinde ist.
(Kanzelgruss)
Sibylle Reh, 15344 Strausberg, sreh[at]gmx.de
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Predigt zu 2. Korinther 3,3-9 von Michael Plathow
“Ihr seid ein Brief Christi”
1. Liebe Gemeinde, da sind Krisen und Konflikte, wie eine Gemeinde und Kirche auf dem Weg sie immer wieder kennt, und der Apostel Paulus schreibt an sie in der multireligiösen Hafen- und Geschäftsstadt Korinth: “Ihr seid ein Brief Christi”.
“Ihr seid”, nicht “Ihr sollt sein” oder “Ihr werdet sein” - “Ihr seid”; das meint keine Festschreibung eigener Leistungskraft und eigenen Vermögens. Auch in einer sich säkularisierenden und religiös pluralisierenden Gesellschaft mit knapp 60% Kirchenmitgliedschaft ist es nicht geraten, selbstgenügsam allein auf die Sicherheiten des Staatskirchenrechtssystems der Bundesrepublik Deutschland zu bauen und zu beharren.
“Ihr seid”, liebe Gemeinde, das erweist sich als geltende und vergewissernde Zusage, eine Art kategorischer Indikativ, der das evangelische Christsein und Christwerden als “allgemeines Priestertum der Getauften” kennzeichnet. Bildhaft drückt es der Apostel aus: “Ihr seid ein Brief Christi”, eine lesbare Epistel, ein lebendiges Empfehlungsschreiben, ein Zeugnis des Schreibers, der sich in die Herzen eingeschrieben hat und Kraftzentrum und Schrittmacher geworden ist: der Christus präsens, “Christus als Gemeinde existierend“, wie D. Bonhoeffer sagt. Christus lebt in ihr und sie in Christus durch den Glauben in den Herzen der Menschen. Durch den Glauben, den der heilige Geist schenkt. Glaube, d. h. das grundlegende, Leben bestimmende Vertrauen auf den, der uns gut ist, auf Gott, “dessen wir uns versehen alles Guten und Zuflucht haben in allem Schweren” in und durch Jesus Christus.
Ohne Vertrauen klappt fast nichts, wie wir sowohl aus unseren zwischenmenschlichen Beziehungen, als auch aus den politischen und wirtschaftlichen Institutionen und Prozessen wissen.. Ist das Vertrauen und der Glaube weg, so ist alles weg. Der Glaube an Jesus, den Christus, und die gewisse Zuversicht auf ihn, glaub- und vertrauenswürdig gelebt, ist lesbar wie ein Brief, wie ein öffentliches Schreiben auch von anderen, auch von Nicht-Christen, auch von “frommen” und aggressiven Atheisten.
2. “Ihr seid ein Brief Christi, geschrieben mit dem Geist des lebendigen Gottes”.
Weil Wort und Geist zusammengehören, seid ihr der Resonanzboden der geistgewirkten Verkündigung des Evangeliums, die Verleiblichung des heiligen Geistes, die Aktualisierung der Wirklichkeit Christi. Da ist etwas anders anders geworden in und für euch, schreibt Paulus und erinnert an die im kulturellen Gedächtnis verankerte alttestamentliche Verheißung vom Neuen Bund der Gemeinschaftstreue Gottes, der als Wille Gottes zum Leben geschlossen ist im Herzen der Glaubenden (Jer 31, 31-34). Entsprechend verheißt der Heilsprophet Hesekiel im Bild von einer göttlichen Transplantation: “Ich will ihnen ein anderes Herz schenken und einen neuen Geist geben und will das steinerne Herz wegnehmen aus ihrem Leib und ihnen ein fleischernes Herz einpflanzen, damit sie in meinen Geboten wandeln und meine Ordnungen halten und ich will ihr Gott sein“ (Hes 11, 19f). Und Paulus vergewissert die Gemeinden ihrer Neuschöpfung, ihres neuen Lebenszentrums, ihrer neuen Wirklichkeit, “denn das Alte ist vergangen“ (1. Kor 5, 17). Alles erscheint in einem anders anderen Licht durch die neue Gemeinschaft mit Gott und die neue Offenheit für seinen zukunftsträchtigen Willen. Denn durch den heiligen Geist, der sich in die Herzen schreibt, wird der Glaube in der Liebe gelebt, glaub- und vertrauenswürdig im Dasein mit und für andere als Kirche Christi mit und für andere; und diese Anderen begegnen mir, der Nächster ist, heute in ihrer Anders- und Fremdheit als Flüchtlinge und Asylsuchende aus den blutig umkämpften Gebieten des Nahen Ostens. Vergessen wir nicht: auch wir Christen hier, liebe Gemeinde, sind ja Fremdlinge auf dem Weg.
3. Dem dient in der Kraft des Geistes, wer die Gerechtigkeit Gottes verkündigt in Wort und Tat.
Wort und Geist gehören zusammen. Als Hörer des Wortes verkündigen die Diener des neuen Bundes die Gerechtigkeit Gottes in und inmitten der Gemeinde. Diener sind sie, wenn sie verkündigen, was Menschen sich nicht selbst sagen und geben können, nicht selbst machen können. Nicht aus sich selbst reden sie, sondern im Auftrag Gottes, frei vom Drang, sich selbst darzustellen, sich selbst zu empfehlen.
“Gerechtigkeit Gottes” - das war es, was Luther - wir denken heute auch an den Reformationstag 2014 - als existentiell denkenden Schrift- und Frömmigkeitstheologen umtrieb. Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, weil Gott sie bedingungslos schenkt den Glaubenden, erschließt sich im Evangelium: “So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne eigenes Verdienst aus Gnade durch die Erlösung, die in Christus Jesus geschehen ist” (Röm 1, 17; 3, 24, 28). Als fremde Gerechtigkeit, die Gott wirkt in Jesus Christus durch den heiligen Geist, ist sie neuschaffende Macht des Erbarmens Gottes am einzelnen und in der Welt.
Da, da - wie Luther später schreibt - öffnete sich das neue Wirklichkeitsverständnis vor Gott in der Welt: die neue Gemeinschaft mit Gott im Hören auf seinen Leben fördernden und Zukunft erschließenden Willen in der “Freiheit eines Christenmenschen”. Wo der Geist Gottes sich in Kraft erweist, da ist gegen Ungeist und Kleingeist die Freiheit, zu der die Glaubenden Christus befreit hat, mich, uns, liebe Gemeinde (1. Kor 2, 4).
4. Der Buchstabe nämlich tötet, aber der Geist macht lebendig.
Liebe Gemeinde, ein fundamentaler Gegensatz deutet sich da an. Allerdings wissen wir, dass in sprachwissenschaftlichen und hermeneutischen Untersuchungen der Literalsinn und die Syntax buchstäblich Voraussetzungen für das Verstehen von Texten sind. Andernfalls spiegeln wir uns selbst und unsere Einsichten, Wünsche und Pläne in den Texten. Pervertiert wird diese Auslegungsregel durch einen Fundamentalismus, der Sicherheit verspricht, die, oft aus beengender Angst geboren, abschließende Beziehungslosigkeit und Feindseligkeit erzeugt: die sich verschließende und absichernde Buchstabenmentalität gegen die sich öffnende Gewissheit des lebendigen Geistes. Sicherheit auf Kosten von Freiheit: Unser Beharren im Festgefahrenen gehört hierher wie der Gruppenzwang der Normativität des Faktischen, der Megatrends und der sog. Eigengesetzlichkeiten. Auch unser Vertrauen, dass eigenes Machen, Herstellen und Haben es ist, was unsere Realität erstellt und darum Letztgültigkeit zuzusprechen ist. An der Verabsolutierung des Menschen als homo faber und homo oeconomicus und an einem “Schicksal “als “unbewusstes Machsal” (O. Marquard, Ende des Schicksal?, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, Reclam 1987, 70) bis zum selbstbestimmt gemachten Sterben klebt das Buchstabengesetz.
Aber “wir sollen Menschen und nicht Gott sein. Das ist die Summe”, wie Luther am 30. 6. 1530 während des Augsburger Reichstages an Spalatin schreibt. “Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen”. Gott nämlich ist es, “dessen wir uns versehen in allem Guten und bei dem wir Zuflucht haben in allem Schweren”. -
Und “der Geist macht lebendig”: Er schenkt neues Leben, indem er zum Glauben an Christus führt, uns Anteil gibt an der Auferstehung des gekreuzigten Christus und in der Gemeinschaft mit Christus das neue Wirklichkeitsverständnis des Glaubens eröffnet. Ja, “Christus ist uns gemacht von Gott zur Weisheit, zur Gerechtigkeit , zur Heiligung und zur Erlösung, auf dass, wie geschrieben steht (Jer 9, 22f): Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn” (1. Kor 1, 30), wie Luther immer wieder in seinen Predigten bezeugt. Darum “wandelt im Geist” (Gal 5, 16); “wo nämlich der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit” (2. Kor 3, 17) und lasst euch nicht wieder von den knechtenden Buchstaben einfangen (Gal 5, 1).
Seid, weil Ihr es schon seid, liebe Gemeinde, “ein Brief Christi, “zur Verherrlichung Gottes” (Eph 1, 12).
Und der “Geist des lebendigen Gottes” erweise an uns seine Kraft heute und an jedem Tag. Amen.
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Wie soll es weitergehen? - Predigt zu 2. Korinther 13,11-13 von Florian Wilk
„Wie soll es weitergehen?“
Liebe Gemeinde!
Was nun? Es gibt Situationen im menschlichen Zusammenleben, da stellt sich diese Frage. Oft genug erweist es sich als ziemlich kompliziert: Missverständnisse, Entfremdungsprozesse, Zerwürfnisse. Zaghafte, bisweilen hilflose Verständigungsbemühungen laufen ins Leere – wir kennen das …
Und dann fragt sich, wie es weitergehen soll.
Auch der Apostel Paulus hat sich das, wie seine Briefe zeigen, öfter fragen müssen. Wiederholt sah er sich Konflikten ausgesetzt, die kaum lösbar schienen.
Er sollte ja die frohe Botschaft in die Völkerwelt tragen. Petrus und andere übernahmen diese Aufgabe im jüdischen Volk; er wusste sich von Gott zu den Nichtjuden gesandt. So zog er im Mittelmeerraum umher, um Griechen, Römer und andere für Christus zu gewinnen. „Lasst euch versöhnen mit Gott!“, verkündete er – und hatte Erfolg. Immer wieder fand seine Predigt Gehör. Und mancherorts entstanden Gemeinschaften von Christusgläubigen: zuerst in der heutigen Türkei, wo er auf Geheiß seiner langjährigen Heimatgemeinde tätig war; später, als er selbständig missionierte, auch auf griechischem Boden. Bald reichte das Netzwerk seiner Gemeinden bis nach Korinth.
Mit der Gründung einer Gemeinde war es freilich nicht getan. Sie sollte wachsen und gedeihen, musste gehegt und gepflegt werden; auch dafür trug Paulus die Verantwortung. Gerade wenn er nicht vor Ort war, durfte die Beziehung zu ihm nicht abreißen. Glücklicherweise war er findig: Er schulte Menschen, die mit ihm zusammenarbeiteten, schrieb Briefe, die offene Fragen klärten, schickte Boten, die seine Weisungen erläuterten; hin und wieder kam er dann selbst zu Besuch.
Dennoch konnte er nicht verhindern, dass sich Probleme ergaben. In Korinth passierte das gleich mehrfach. Einige verglichen ihn mit anderen Aposteln, die einen gelehrteren Eindruck machten, und fraktionierten dadurch die Gemeinde. Manche hörten seine biblisch fundierten Weisungen mit Ohren, die eher Griechisches gewöhnt waren, und verfremdeten so ihren Sinn. Etliche maßen ihn an seinen eindrücklichen Briefen und waren daraufhin von seinem persönlichen Auftreten enttäuscht. Viele störten sich daran, dass er seine Reisepläne mehrfach änderte, und hielten ihn für unzuverlässig. Befremdlich wirkte auch, dass er zunächst jedes Ansinnen, ihn finanziell zu unterstützen, zurückwies – dann aber alle Gemeindeglieder aufrief, ihm Spenden für die Gemeinde im fernen Jerusalem anzuvertrauen.
Und dann traten mehrere Jahre nach der Gemeindegründung auch noch Konkurrenten auf. Sie wussten die Gläubigen in Korinth zu beeindrucken: Empfehlungsbriefe, Erinnerungen an den großen Mose, ekstatische Erlebnisse, kühnes Auftreten – Vieles sprach für sie und ließ sie Paulus und seinen Gehilfen überlegen erscheinen. Die Gemeinde war drauf und dran, sich von ihm abzuwenden. Entsprechend nachdrücklich versuchte er, verlorenes Vertrauen wiederherzustellen, und schrieb einen langen Brief: den zweiten Korintherbrief. In ihm zieht Paulus, unterstützt von seinem Mitarbeiter Timotheus, alle Register: Er bittet und erklärt, mahnt und argumentiert, lobt und tadelt, schimpft und ironisiert – immer in der Absicht, das wechselseitige Verstehen zu befördern. Letztlich eine einzige lange Werbeschrift: dafür, dass die Gemeinde und ihr Apostel beisammen bleiben. Gegen Ende kündigt er den lange erhofften, mehrfach verschobenen Besuch an. Und dann kommt er zum Schluss.
Der gerät nun freilich überraschend kurz und umfasst gerade einmal vier Sätze. Diese Sätze bilden den Predigttext, der für heute vorgesehen ist; sie lauten:
„11 Im Übrigen, Geschwister: Freut euch, lasst euch zurechtbringen, lasst euch zureden, seid eines Sinnes, haltet Frieden; und der Gott der Liebe und des Friedens wird mit euch sein. 12 Grüßt einander mit dem heiligen Kuss! Es grüßen euch alle Heiligen. 13 Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes (seien) mit euch allen.“
Was nun? Wie kann es weitergehen? Diese Fragen sucht Paulus mit seinem Brief zu beantworten. Und der Briefschluss zeigt, unter welchem Vorzeichen, in welchem Geist und auf welchem Weg er nach einer Lösung des Konflikts sucht. Vor allem nimmt er sich selbst zurück und nennt die Adressaten „Geschwister“. Der Brief als ganzer lässt keinen Zweifel daran, dass Paulus sich als Vater der Gemeinde begreift, dem sie besonders verpflichtet ist. Doch am Ende pocht er nicht auf seine Autorität. Vielmehr erinnert er daran, was ihm und den Korinthern gemeinsam ist: die Erwählung zur Gotteskindschaft, die sie und ihn zu Geschwistern gemacht hat.
Eben deshalb kann er seinen Schlussappell mit dem Ruf „Freut euch!“ eröffnen. Das klingt zwar zunächst merkwürdig. Welchen Anlass zur Freude bietet denn die verfahrene Konfliktlage? Und ist es überhaupt sinnvoll, jemanden zur Freude aufzufordern? Aber im Zusammenhang des Briefes hat der Aufruf seinen tiefen Sinn. Denn Freude entsteht nach Paulus dort, wo beide Seiten vor Gott einander wahrnehmen – und erkennen, was sie aneinander haben: ein Gegenüber, von Gott bereitet.
Die nächsten beiden Wendungen widersprechen dem nur scheinbar. „Lasst euch zurechtbringen, lasst euch zureden!“ – da könnte man natürlich einen reichlich selbstgewissen Ton heraushören; als ob der Apostel doch nichts anderes verlangte, als dass die Adressaten ihm endlich Recht gäben. Die Formulierung ist jedoch sorgsam gewählt. Denn Menschen wirklich zurechtbringen, ihnen so zureden, dass es zu Herzen geht, das vermag alleine Gott – so, wie Jesus Christus uns Gott erschlossen hat: als „Vater des Erbarmens und Gott allen Zuspruchs“ (2Kor 1,3), sei er nun tröstend oder mahnend. Und so bittet Paulus die Korinther am Ende ihres Streitgesprächs darum, sich für solch einen Zuspruch vonseiten Gottes zu öffnen.
Wenn es weiter heißt: „Seid eines Sinnes, haltet Frieden!“, so verweist dies auf die Notwendigkeit, auch die Zwistigkeiten innerhalb der Gemeinde beizulegen. Nach Meinung des Paulus tragen sie erheblich zu dem Konflikt zwischen den Korinthern und ihm bei. Gewiss lässt ein äußerer Gegner bisweilen interne Streitereien vergessen. Doch echte Verständigung mit einem Gegenüber kann nur gelingen, wenn man – als Gruppe oder als Individuum – auch mit sich selber im Reinen ist.
Die folgende Beistandszusage erinnert dann an das bewegende Moment aller Verständigungsbemühungen: „Und der Gott der Liebe und des Friedens wird mit euch sein.“ Dabei entspricht der Gedankengang des Paulus dem Gotteswort, das einst, wie die Bibel erzählt, dem Erzvater Isaak zuteil wurde: „Als Fremder wohne in diesem Land, und ich werde mit dir sein …“ (Gen 26,3). Wann immer Menschen Gottes Ruf und Weisung folgen, dürfen sie dieser Zusage trauen: „Ich werde mit dir sein“; in jedem Fall dann, wenn es um den Frieden geht.
Mit der Bitte, einander zu grüßen und die Grüße „aller Heiligen“ entgegenzunehmen, stellt Paulus sein Schlusswort zudem in einen ökumenischen Horizont. Sein Konflikt mit den Korinthern ist keine Privatangelegenheit, sondern vollzieht sich innerhalb der Gemeinschaft aller Christusgläubigen. Das lässt eine Verständigung umso dringlicher erscheinen, aber auch umso eher möglich.
Am Ende aber steht der Segenswunsch: „Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes seien mit euch allen.“ In keinem anderen Brief gerät er so ausführlich. Gerade die Korinther, die ihm so viel Mühe bereiten, vertraut Paulus mit großem Nachdruck dem Wirken Gottes an. Denn eben darin wurzelt seine Hoffnung auf Verständigung: dass Gott der Gemeinde nicht anders als ihm selbst mit Gnade und Liebe begegnet – und sich mit beiden so verbindet, dass auch die Gemeinschaft zwischen ihnen Bestand hat.
Wie also kann es weitergehen? Im geschwisterlichen Vertrauen auf den Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.
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Das Wichtigste steht am Schluss - Predigt zu 2. Korinther 13,11-13 von Karsten Matthis
„Das Wichtigste steht am Schluss“
Liebe Gemeinde,
Paulus zählt wohl sicherlich zu den bekanntesten Briefschreibern der Weltgeschichte. Viele seiner Worte werden immer wieder zitiert und begleiten Menschen nicht nur bei Hochzeiten und Beerdigungen.
Aber schreibt der Apostel? Redet, predigt Paulus nicht vielmehr zu seinen Gemeinden in seinen Briefen. Leidenschaftlich wendet er sich an seine Gemeinde in Korinth und setzt dabei sein rhetorisches Talent ein, um sie für das Evangelium zu gewinnen.
Am Ende seines zweiten Schreibens an die Gemeinde schließt der Apostel seinen Brief mit nachdrücklichen Appellen an die Korinther: „Lasst euch wieder zurechtbringen, lasst euch ermahnen, seid eines Sinns, habt Frieden…“ (2. Kor. 13,11). In einer modernen Übertragung könnte man formulieren: „Rauft euch wieder zusammen. Sucht das Gemeinsame und geht friedlich mit einander um.“
Inhaltsgleiche Sätze, gesagt von Mediatoren, von Streitschlichtern, fallen nicht nur in Kirchengemeinden, sondern auch heute in Betriebs- und Vereinsversammlungen. Jedoch stehen christlichen Gemeinschaften und ihre Mitglieder unter einem hohen Anspruch Frieden zu halten und eines Sinnes zu sein. Mit der Sache Gottes nach besten Wissen und Gewissen ernst zu machen. Dies wird von Kirchengemeinden deutlich mehr erwartet als von Belegschaften und Vereinsmitgliedern. Christen sollen das Salz der Erde und Licht der Welt sein, ein wahrlich hoher Anspruch.
Das Wichtigste steht am Schluss: Paulus fasst alle seine Gedanken noch einmal zusammen. Dies ist nicht nur in Romanen und Leitartikeln auf der ersten Seite überregionaler Tageszeitungen traditionell so, sondern auch der Apostel tut dies in einem allumfassenden Gruß:
„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.“ (2. Kor. 13,13).
So beschließt Paulus seine Korrespondenz mit einer schwierigen und bisweilen chaotischen In der Gnade Gottes führen alle Menschen ihr Leben (2. Kor. 1, 12).Gemeinde in Korinth. Sein Gruß gilt allen. Paulus nimmt niemanden aus und wendet sich in den letzten Zeilen auch an seine ärgsten Widersacher. Unabhängig von einem guten oder bösen Willen der Menschen spricht der Apostel alle Gaben göttlichen Heils zu: Gnade, Liebe und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes.
Den Gruß an die Gemeinde in Korinth gliederte der Apostel in drei Teile. Von Gnade spricht Paulus Apostel als die unverdiente und erwählende Zuwendung Gottes durch Christus schon von Ewigkeit her. In der Gnade Gottes führen alle Menschen ihr Leben (2. Kor. 1,12).
Diese Gnade gilt weiterhin, obwohl es in der Gemeinde von Korinth heftig zuging und böser Streit an der Tagesordnung war. Die Christenmenschen in Korinth sind aus Gnade berufen. Sie haben seinen Ruf gehört und haben sich taufen lassen. Die Taufe ist nicht mehr rückgängig zu machen, darum bleibt die Gnade bestehen. Als ihr Gründer und theologischer Lehrer dankt Paulus stellvertretend für die Gemeinde für das große Geschenk der Gnade. Der zweite Teil des Grußes berichtet von der Liebe Gottes, welche die Menschen trägt. Die Liebe ist der Grund für Gottes barmherziges Handeln. Die Liebe Gottes kommt zu den Menschen durch den Gekreuzigten und Auferstandenen. Paulus hat oft genug die Gemeinde ermahnt, dafür zu danken und nicht die eigenen Verdienste hoch zu schätzen.
Und schließlich der dritte Teil des Grußes: Dieser endet mit der Verheißung der Gemeinschaft des Heiligen Geistes. Jener gute Geist stiftet Gemeinschaft. Er verbindet die Christen damals wie heute miteinander. Der Heilige Geist schafft mit dem Wort, durch Taufe und durch das Abendmahl die Gemeinde von Schwestern und Brüdern. Diese besondere Verbundenheit ist das Fundament von Kirche und Gemeinde. Eine Verbundenheit, die sich darin zeigt, dass die Glieder einer Gemeinde miteinander wertschätzend umgehen. Die Schwachen geschont und gestützt werden. Die Starken ihre Macht nicht ausspielen. Die Gemeinschaft des Heiligen Geistes trägt uns durchs Leben und darüber hinaus.
In diesem einen dreifaltigen, trinitarischen Satz zum Ausgang des zweiten Briefes an die Gemeinde in Korinth steckt fast die gesamte paulinische Theologie. Wer sich unter die Gnade Gottes stellt und sich von der Liebe getragen weiß und im Frieden Gottes lebt, der hat den christlichen Glauben durchdrungen. Der erkennt Gottes Zuwendung in den Sakramenten unter seinem Wort.
Das Gottesbild des Paulus ist ein dynamisches. Der Gott Israel wendet sich den Menschen zu. Er ist ein lebendiger Gott, der die Menschen begleitet und ihnen gegenübertritt. Gott ist erfahrbar über das Gebet hinaus an Stationen unseres Lebens. So hat es Paulus vor Damaskus erfahren, darauf stützt er sich und leitet seine apostolische Autorität von dieser Begegnung ab.
Liebe Gemeinde, die Trinität ist den beiden Weltreligionen dem Judentum und Islam fremd. Im interreligiösen Dialog, der für den Zusammenhalt unserer bundesdeutschen Gesellschaft so wichtig ist, bleibt die Dreifaltigkeit ein schwieriges Kapitel. Die Vorstellung Gott trete in dreifaltiger Gestalt der Welt gegenüber, bleibt eine Klippe im Trialog der Religionen. Dass Gott Mensch geworden ist und sich auf die Welt und ihre Bedingungen eingelassen hat, bedeutet für fromme Juden und Muslime ein Rätsel. Sicherlich lässt sich über Jesus reden, den gelehrten Juden mit einem prophetischen Geist, aber dass jener ein fester Teil dieser Trinität bleibt, ist schwer vermittelbar.
Nach dem Geist der alten Kirche ist die Trinität jedoch sicheres Erkennungsmerkmal der Christen. Die Trinität macht die christliche Gemeinde aus, sie konstituiert sie zu dem, was sie ist: Ein Ort des Friedens, der Liebe, der Gnade und der Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott. So ist der Gruß des Apostels eine großartige Verheißung, was christliche Gemeinde bereits auf Erden sein kann. Eine Vorahnung auf das, was einst kommt, wenn Gottes Reich eintritt.
Gleichzeitig enthält dieser Gruß jedoch einen hohen Anspruch an die christlichen Gemeinden. Ein Anspruch dem Gemeinden fast nie gerecht werden können, weil Menschen selbstsüchtig, streitbar und unnachsichtig sein können. So geschehen vor Jahrhunderten in Korinth und bis heute in unseren Landeskirchen, Gemeinden und Diakonischen Einrichtungen. Gottes Zuspruch und Anspruch bleiben jedoch bestehen, jenseits von menschlichem Tun und Handeln.
Kanzelgrüße mit den Worten des Apostel Paulus eingangs von Predigten erinnern uns daran, dass Gott seine Liebe, Gnade und Frieden gestiftet hat, völlig unabhängig unserem Zutun.
Wie einst der Apostel Paulus grüßen Predigerinnen und Prediger mit den letzten Zeilen aus dem 2. Korinther Brief ihre Gemeinde eingangs der Predigt. Wie auch immer die Predigt verlaufen wird, die Heilsgaben Gottes und seine Verheißungen gelten allen. Sie bleiben unverrückbar bestehen. Selbst wenn die Predigerin oder Prediger die falschen Worte wählt oder wenig Herzens-Rhetorik bietet, setzt dies Gottes Verheißung nicht außer Kraft.
Jesus hat es uns in der Bergpredigt verheißen: „Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Matth.5, 45).
Amen
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Predigt zu 2. Korinther 13,11(12)-13 von Wolfgang Vögele
Liebe Gemeinde,
es ist Donnerstag, der 11.Januar 1945. In Deutschland herrschen die Nationalsozialisten. Alles ist vom Krieg bestimmt, aber der Krieg ist so gut wie verloren. In seiner Gefängniszelle sitzt der Widerstandskämpfer Helmuth James Graf von Moltke. Moltke hat Jura studiert, er gehört zum Kreisauer Kreis, einer Gruppe von Intellektuellen, Offizieren und hohen Beamten, die Widerstand gegen den Nationalsozialismus und den Krieg organisiert.
Moltke sollte niedergeschlagen sein, denn der Volksgerichtshof hat ihn heute zum Tod verurteilt. Nun sitzt er in seiner kargen Gefängniszelle und schreibt einen letzten Brief an seine Frau. Die Kraft, an der Liebe zu seiner Frau festzuhalten und die Schikanen der Richter und Wächter zu ertragen, schöpft Moltke aus seinem christlichen Glauben. Dieser Glaube gibt ihm auch die Ruhe, die Angst vor der unmittelbar drohenden Hinrichtung zu ertragen.
Fast ein Jahr hat es gedauert, bis endlich die Gerichtsverhandlung gegen Moltke angesetzt wurde. Nun haben die ungerechten Richter das Todesurteil gefällt. Moltke weiß nicht, daß bis dahin noch zwölf quälende Tage des Wartens vergehen werden. Seiner Frau schreibt er am Schluß des letzten Briefes: "Ich habe ein wenig geweint, eben, nicht traurig, nicht wehmütig, nicht weil ich zurück möchte, nein, sondern vor Dankbarkeit und Erschütterung über diese Dokumentation Gottes, (das letzte Abendmahl, das wir zusammen feiern durften). Uns ist es nicht gegeben, ihn [Gott] von Angesicht zu Angesicht zu sehen, und wir müssen sehr erschüttert sein, wenn wir plötzlich erkennen, daß er ein ganzes Leben hindurch am Tag als Wolke und bei Nacht als Feuersäule vor uns hergezogen ist, und daß er uns erlaubt, das plötzlich in einem Augenblick zu sehen. Nun kann nichts mehr geschehen... Mein Herz, mein Leben ist vollendet, und ich kann von mir sagen: er starb alt und lebenssatt. Das ändert nichts daran, daß ich Dich gerne noch ein Stück auf dieser Erde begleitete. Aber dann bedürfte es eines neuen Auftrages Gottes. Der Auftrag, den Gott für mich gemacht hat, ist erfüllt. Will er mir noch einen neuen Auftrag geben, so werden wir es erfahren. Darum strenge Dich ruhig an, mein Leben zu retten, falls ich den heutigen Tag überleben sollte. Vielleicht gibt es doch noch einen Auftrag.
Ich höre auf, denn es ist nichts weiter zu sagen. Ich habe auch niemanden genannt, den Du grüßen und umarmen sollst. Du weißt selbst, wem meine Aufträge für Dich gelten. Alle unsere lieben Sprüche sind in meinem Herzen und in Deinem Herzen. Ich aber sage Dir zum Schluß, kraft des Schatzes, der aus mir gesprochen hat und der dieses bescheidene Gefäß erfüllt: Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen."
So weit der letzte Brief dieses christlichen Widerstandskämpfers, der sein Leben im Kampf gegen das nationalsozialistische Unrecht gab. Mit ungeheuer bewegenden, zugleich auch ruhigen Worten nimmt Moltke Abschied von seiner Frau. Aus dem Brief sprechen Lebensfreude, Abschiedstrauer, Zuversicht und Gottesfurcht. Am Ende des Briefes nimmt Moltke sich selbst ganz zurück, um einen anderen sprechen zu lassen. Er, Moltke, dessen Leben vorbei ist und der nun nichts mehr tun kann, befiehlt seine Frau, Kinder, Freunde, Kollegen, Mitgefangene in die Hand Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Die Segenswünsche am Ende des Briefes übernimmt Moltke aus der Bibel, vom Ende des 2.Korintherbriefs.
Paulus verabschiedet sich von den Korinthern mit denselben Segenswünschen. Auch dahinter steckt eine bewegende Geschichte. Korinth um das Jahr 55 nach Christus. Seit ein paar Jahren feiert in dieser griechischen Großstadt eine christliche Gemeinde ihre Gottesdienste. Paulus, der Apostel hat die Gemeinde gegründet. Er ist inzwischen weitergereist, um andere Städte in Griechenland zu besuchen und weitere Gemeinden zu gründen. Zwischen der Gemeinde in Korinth und dem Apostel herrscht jedoch noch ein reger Briefverkehr. Zweimal hat Paulus die Gemeinde in Korinth besucht. Die Eintracht des enthusiastischen Beginns ist verflogen, inzwischen hat es großen Streit gegeben.
Andere Apostel sind aufgetreten: Sie polemisieren gegen Paulus, verunglimpfen ihn; sie spotten über ihn und ziehen ihn auf, weil er nicht frei reden und predigen kann. Paulus hört von diesen Intrigen in Korinth. Er weiß, wer gegen ihn undurchsichtige Pläne schmiedet und schreibt den Korinthern einen Brief.
Jedes Mal, wenn Paulus einen Brief schickt, versammeln sich die Christen in einem der Häuser der Gemeindeglieder, und der Brief wird vorgelesen. So auch dieses Mal. Die Christen in Korinth sitzen da und hören den Worten des Vorlesers zu. Paulus hat ihnen eine erschütternde Strafpredigt geschrieben. Er hält mit seinen Vorwürfen nicht zurück. Er verschweigt keinen Fehler, er klagt an, er kommentiert ironisch, er prangert an, er verteidigt sich selbst und er droht. Die Gemeinde wie vor den Kopf geschlagen, als sie die Vorwürfe hört. Man schweigt betreten.
In dieses Schweigen hinein spricht der Vorleser den Schlußabschnitt des Briefes. Nach allen Vorwürfen und Anklagen endet der Brief auf einem ganz anderen Ton. Ich lese nun den Briefschluß vor (2.Korinther 13,11-13):
"Freut euch, laßt euch zurechtbringen, laßt euch mahnen, habt einerlei Sinn, haltet Frieden! So wird der Gott der Liebe und des Friedens mit euch sein. Grüßt euch untereinander mit dem heiligen Kuß. Es grüßen euch alle Heiligen. Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen."
Liebe Gemeinde, die Schlußsätze kehren den Zorn und den Ärger nochmals um. Die Strafpredigt, die Drohungen und der Zornausbruch des Paulus gleiten hinein in einen Segenswunsch: Vater, Sohn und heiliger Geist, sie mögen mit euch sein. Sie mögen euch Gnade, Liebe und Gemeinschaft gewähren. Im Ernst, liebe Gemeinde, würden Sie das jemandem wünschen, der sie im Streit betrogen hat?
"Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen." Dieser eine Satz des Paulus faßt im Grunde den ganzen Glauben zusammen. Wir leben von der Liebe Gottes, von der Gnade Christi, von der Gemeinschaft des Geistes. Überall sprechen sich Christen den Segenswunsch des Paulus zu. Der Widerstandskämpfer von Moltke beendete so seinen Abschiedsbrief. Dieser eine Satz des Paulus war das letzte und wertvollste, was er seiner Frau weitergeben konnte. Dieser Segensspruch des Paulus bestimmt bis heute die Atmosphäre von Gottesdiensten, Gemeindeversammlungen, Bibelstunden und Gesprächskreisen. Bevor ein Pfarrer im Gottesdienst seine Predigt beginnt, grüßt er seine Gemeinde mit genau diesem einen Satz aus der Bibel. Viele Gottesdienstbesucher überhören das. Es ist schon so selbstverständlich, daß die Worte uns gar nicht mehr richtig anrühren.
"Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!" Die Worte beschreiben nicht die abgehobenen Labyrinthe der Dogmatik. Paulus redet so persönlich und direkt wie möglich. Es geht nicht um allgemeine, theologische Fragen, es geht Paulus um die Gemeinde, um jeden einzelnen in der Gemeinde. Er spricht von Gott, von Christus und von Heiligen Geist - in ihrer Beziehung zu jedem Einzelnen. Das will der Schluß dieses Briefes sagen: Du darfst im Namen Jesu lauter Gutes erwarten, denn ein freundliches Auge ist auf dich gerichtet. Das heißt "Gnade". Und du darfst im Namen Jesu ganz frei und ohne Beschränkung leben, denn du bist umfangen, beschützt von einer wunderbaren, sorgenden Liebe. Und damit nicht genug: Du darfst auch im Namen Jesu frei und herzlich mit anderen Menschen zusammenleben, darfst helfen, das Mißtrauen in der Welt abzubauen und brauchst keine Angst zu haben, daß du zu kurz kommst. So einfach kann das Wirken von Gott, Christus und dem Heiligen Geist beschrieben werden, obwohl es den Menschen doch ein Geheimnis bleibt. Gott ist ganz der deinige; Jesus Christus ist ganz nahe; und die Kraft des Trösters, der dich nicht allein läßt, wird dir so faßlich ins Herz gegeben, daß du es verstehen kannst; der Heilige Geist ist bei dir. Deine Sorgen werden kleiner, dein Vertrauen und dein Glauben werden größer.
Und Paulus verknüpft alles, was er sagt von der Gnade des Herrn Jesus Christus , von der Liebe Gottes und der Gemeinschaft des Heiligen Geistes, er verknüpft alles mit persönlichen, einfachen Weisungen, die man in Korinth und anderswo praktizieren kann. Bessert euch! Vertragt euch! Haltet Frieden! Freut euch! So könnte man bei sich denken: Das ist mir dann doch zu persönlich. Das kommt mir zu nahe, da beschränke ich mich lieber auf Beten und Bibellesen. Das Evangelium, liebe Gemeinde, besitzt eine überraschende Eigenheit: Zunächst liest und hört man bloße Wörter, Hauptwörter: Gnade, Liebe, Gemeinschaft, Gott, Christus, Heiliger Geist. Lauter alte Bekannte, möchte man sagen, Wörter, die schon zu selbstverständlich und darum abgenutzt sind. Aber dann werden aus diesen Hauptwörtern Zeit- und Tuwörter. Aus dem Wort "Gnade" wird: Ich, Jesus Christus erbarme mich deiner! Aus dem Wort "Gemeinschaft" wird: Ich, der Heilige Geist bin bei dir und tröste dich! Aus dem Wort "Liebe" wird: Ich, Gott, der Herr, sorge für dich und lasse dich nicht fallen. In meiner Hand bist du geborgen.
Der Segen Gottes, den Paulus den Korinthern wünscht, der Segen Gottes, den sich die Christen einander zusprechen, dieser Segen bleibt nicht wirkungslos. Und dann geschieht es, dann kommt alles in Bewegung. Die Macht der lebendigen Wahrheit ist nicht mehr aufzuhalten, und die ganze Welt verwandelt sich. Klage verwandelt sich in Dank, aus Streit wird Liebe, Trauer und Verzagtheit weichen der Freude. Das gilt im Alltag ebenso wie in den Grenzsituationen des Lebens. Helmuth von Moltke hat seinen Brief im Bewußtsein seines bevorstehenden Todes geschrieben. Moltke verdrängt die Trauer nicht, auch nicht das Weinen. Doch der Grundton, auf den sein Brief gestimmt ist, ist die Geborgenheit in Gott, der Glaube, von Gott geliebt zu werden. Kein Mensch, keine Drohung, keine Hinrichtung kann dieses Vertrauen in Gott, den Vater, den Sohn und Heiligen Geist erschüttern.
Was für die Grenzsituationen des Lebens gilt, gilt auch für unseren heutigen Alltag. Christen leben im Kraftfeld des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, im Kraftfeld von Gnade, Gemeinschaft und Liebe. Nicht Sterne vom Himmel holen, nicht Geschichte machen, ist unsere Aufgabe: nein, dem Nachbarn die Sonne der Freundlichkeit aufgehen lassen; die kleine Tageslektion der Güte wiederholen. Wer ins Kraftfeld von Gnade, Liebe und Gemeinschaft kommt, der sieht mit einem Male, wie viele auf ihn warten; und er hat nicht genug Hände für all das Gute, das er austeilen darf. Und am verborgenen Dienst der Barmherzigkeit fehlt es noch mehr als an großen Aktionen der Menschenliebe. Die Botschaft, die Jesus in die Welt brachte, wartet immer wieder auf ihre neue, wahre, getreue Übersetzung ins Leben. Es ist eine gute Sache, sich da mitnehmen, sich dafür ermuntern zu lassen. Es hat nicht nur einen Sinn; es hat sogar eine Zukunft, ja eine Verheißung.
Der Gott der Liebe und des Friedens und der Gemeinschaft möge mit euch sein und euch auf diesem Weg begleiten. Amen.