Führen und folgen - Predigt zu Johannes 10, 11-16, 27-30 von André Demut

Führen und folgen - Predigt zu Johannes 10, 11-16, 27-30 von André Demut
10, 11-16, 27-30

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!

 

Liebe Gemeinde!

Den Bibeltext für die heutige Predigt haben wir bereits als Evangelium gehört. Ich lese ihn noch einmal nach einer anderen Übersetzung:

Jesus Christus spricht: Ich bin der gute Hirt. Ein guter Hirt ist bereit, für seine Schafe zu sterben. Einer, dem die Schafe nicht selbst gehören, ist kein richtiger Hirt. Darum lässt er sie im Stich, wenn er den Wolf kommen sieht, und läuft davon. Dann stürzt sich der Wolf auf die Schafe und jagt die Herde auseinander. Wer die Schafe nur gegen Lohn hütet, läuft davon; denn die Schafe sind ihm gleichgültig. Ich bin der gute Hirt. Ich kenne meine Schafe und sie kennen mich, so wie der Vater mich kennt und ich ihn kenne. Ich bin bereit, für sie zu sterben. Ich habe noch andere Schafe, die nicht zu diesem Schafstall gehören; auch die muss ich herbeibringen. Sie werden auf meine Stimme hören, und alle werden in einer Herde unter einem Hirten vereint sein. … Meine Schafe hören auf mich. Ich kenne sie und sie folgen mir. Ich gebe ihnen das ewige Leben und sie werden niemals umkommen. Niemand kann sie mir aus den Händen reißen, weil niemand sie aus den Händen meines Vaters reißen kann. Er schützt die, die er mir gegeben hat; denn er ist mächtiger als alle. Der Vater und ich sind untrennbar eins.«1

 

„Führen und Folgen“ war die Überschrift eines Tanz-Workshops, an dem meine Frau und ich am letzten Wochenende teilnahmen.

Beim Tanzen sind die Rollen klar verteilt: Der Mann führt, die Frau lässt sich führen.  So zumindest die Theorie.  Wer das als Mann schon einmal versucht hat – oder gar regelmäßig tanzen geht – weiß, wie anspruchsvoll gutes Führen ist. Es kommt darauf an, dass ich selbst weiß, was ich als Nächstes machen möchte – und dass ich dies dann meiner Partnerin ohne Worte, nur durch meine Körpersprache, anzeige. Schlechtes Führen ist viel einfacher – und es passiert leider manchmal, dass ich schlecht führe.  Das kann dann so aussehen, dass ich gar nicht führe und meine Frau die Führung übernehmen muss, wenn wir bestimmte  Figuren tanzen wollen. Oder, die andere Variante schlechten Führens:  Ich weiß zwar, was ich als Nächstes machen will und ich mache auch die Bewegungen, die in die neue Figur führen sollen – doch mein Führen ist nicht wirklich ein Führen,  sondern ein Zwingen,  ein Drängen,  ein Überwältigen.

Die Partnerin kann sich dann nicht gut führen lassen, weil ihr jede eigene Freiheit genommen ist bei solch einer schlechten Führung. Wenn ich gut führe, biete ich durch meine Körperspannung und durch eindeutige Signale an, was wir als Nächstes machen können. Und meine Tanzpartnerin hat dann genügend Raum, genügend Luft zum Atmen, genügend Zeit zum Reagieren,  um sich auf das Führungsangebot einzulassen. Gute Führung zwingt die Geführten nicht, bedrängt sie nicht und überwältigt sie nicht. 

In unserem heutigen Bibeltext unterscheidet Christus gute Hirten von schlechten Hirten, gutes Führen von schlechtem Führen. Ein guter Hirte ist bereit, für die Geführten notfalls sein eigenes Leben zu geben. Ein schlechter Hirte lässt die Geführten im Stich, sobald ein ernsthaftes Problem auftaucht.  Ein guter Hirte kennt diejenigen wirklich, für die er Leitungsverantwortung trägt. Einem schlechten Hirten sind die Geführten im Grunde egal. Ein guter Hirte weiß, dass er selbst jemanden über sich hat, ich zitiere nochmal aus der Christus-Rede: „Ich kenne meine Schafe und sie kennen mich, 15 so wie der Vater mich kennt und ich ihn kenne … und der Vater ist mächtiger als alle.“ Ein schlechter Hirte tut so, als sei er niemandem außer sich selbst Rechenschaft schuldig.     

Wenn wir über das Johannesevangelium hinausblicken, sehen wir noch mehr, was einen guten Hirten, eine gute Führerin, einen guten Leiter ausmacht: „Und Jesus … sah die große Menge; und sie jammerten ihn, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und er fing eine lange Predigt an.“ (Mk 6, 34), so heißt es im Markusevangelium.

Man zuckt ein wenig, wenn man das liest: „Er fing eine lange Predigt an.“ Gott sei Dank wissen wir, wie die Geschichte weitergeht: Dieser Hirte wird sich dann auch um das leibliche Wohl der Volksmenge kümmern – es folgt nämlich die Geschichte der wunderbaren Brotvermehrung. Sie teilen das, was sie dabeihaben – und alle werden satt. Auf die Seelsorge folgt die Leibsorge. Leibsorge und Seelsorge gehören zusammen.Dieser Hirte speist die an Leib und Seele Geplagten nicht mit einer Predigt ab. Dieser Führer hat alle Bedürfnisse der ihm Anvertrauten im Blick. Doch dieser Leiter speist die Geführten auch nicht ab mit Brot und Spielen,

mit Wachstumsraten und Konjunkturdaten, mit abgedroschenen Phrasen und leeren Worthülsen. Dieser Hirte hat wirklich etwas zu sagen, weil er vorher selber genau hingehört hat,  er hält eine Predigt, er legt das Wort Gottes aus, er schenkt Orientierung: durch eine gute Rede, durch kluge Argumente, durch geistige Impulse, die den Zuhörenden wirklich etwas zu denken geben. Er nimmt die Geführten ernst, indem er ihnen geistige Nahrung für ihr eigenes Denken zumutet. Dieser Leiter tappt nicht in die Zynismus-Falle. Dieser Führer sagt sich nicht: „Die Schafe wollen eh nur einen gefüllten Magen haben. Denken wollen die nicht, dafür sind sie zu dumm und zu träge.“

Nein, dieser Hirte stellt die Predigt sogar an die erste Stelle, ehe er das Brot austeilt. Was für eine Freiheit beim Führen! Und wie viel traut er den Geführten zu! Dieser Hirte bietet eindeutige Signale an, was wir als Nächstes machen können. Dieser Führer überwältigt nicht. Dieser Leiter drängt nicht. Dieser Hirte manipuliert nicht. Von diesem Leiter werden die Geführten ernst genommen. Dieser Führer traut den Geführten zu, dass sie selbst mitdenken. Dieser Hirte kultiviert nicht das „dumme Schaf“, sondern, wenn wir mal im Hirt-und-Herde-Bild bleiben, das „intelligente Schaf“.    

 

Ein „intelligentes Schaf“ scheint ein Widerspruch in sich selbst zu sein. Doch Achtung: Vielleicht zeugt es einfach nur von unserer menschlichen Arroganz, wenn wir gern die Bildrede vom „dummen Schaf“ verwenden.  Eine Studie der Universität Cambridge förderte ein erstaunliches Ergebnis zutage: Stellen Sie sich vor: Zwei Bildschirme an der Wand, darunter je ein Ausgabeschacht für Leckerlis, in der Mitte ein Schaf. Per Zufallsgenerator werden sodann Fotos von Barack Obama und drei anderen Prominenten im Wechsel mit unbekannten Gesichtern, Gegenständen oder einem schwarzen Monitor gezeigt. Im Vorfeld der Studie waren dem Tier wiederholt Porträts der Prominenten gezeigt worden.

Das Schaf muss nun entscheiden, auf welchem Bildschirm ein Prominenter gezeigt wird. Irrt es sich, ertönt ein Hupton. Hat es recht, bekommt es zur Belohnung einen Getreidehappen. Die Versuchsergebnisse erstaunten die Wissenschaftler um die Neurobiologin Jenny Morton: Das Welsh-Mountain-Schaf war in acht von zehn Fällen in der Lage, im Abgleich den Prominenten zu identifizieren. Dass Schafe ihre Hirten erkennen können, war im Vorfeld des Versuchs bekannt - nicht jedoch, dass sie vier bekannte Gesichter von unbekannten unterscheiden können.2

„Führen und folgen“. Es gibt gute Hirten und es gibt schlechte Hirten. Die Guten trauen ihren Schafen etwas zu, sie respektieren sie als selbständige Gegenüber und sehen sie nicht als „dumme Schafe“.  Und für sich wissen die guten Hirten, dass sie selbst auch Führung und Orientierung brauchen, um anderen gute Orientierung geben zu können. Sie führen gut, weil sie auch folgen können – und nicht selbstherrlich um sich selber kreisen.

„Führen und folgen“ Niemand ist nur Hirte. Nicht einmal Christus. Und niemand ist ganz Schaf.  Oder anders gesagt:  Es ist keine Schande, sich führen zu lassen – es kommt nur darauf an, ein intelligentes Schaf zu sein: eins, das guter von schlechter Führung unterscheidet, eins, das sich verweigert, wenn es manipuliert und überwältigt werden soll eins, das Freude am Mitdenken hat eins, das sich am guten Hirten orientiert und weiß, worauf es ankommt beim „Führen und folgen“.  

Der Friede Gottes, der höher ist als aller Menschen Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn

 

1 I Joh 10, 11-16.27-30 Gute Nachricht

Perikope
05.05.2019
10, 11-16, 27-30

Wende zum Leben – Predigt zu Johannes 20,11-18 von Martina Janßen

Wende zum Leben – Predigt zu Johannes 20,11-18 von Martina Janßen
20,11-18

I. Mich rührt diese Ostergeschichte aus dem Johannesevangelium besonders an. Vielleicht deshalb, weil sie der Trauer Raum gibt. „Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte.“ Die anderen Jünger waren gegangen, nachdem sie gesehen hatten, dass das Grab leer und der Leichnam Jesu nicht da war. „Denn sie verstanden die Schrift noch nicht, dass er von den Toten auferstehen müsste. Da gingen die Jünger wieder zu den anderen zurück.“ Maria aber harrt vor dem Grab aus und weint. Bis auch sie wie die anderen vom Grab weggehen würde, ausgeweint, allein. Das wäre das Ende gewesen. Aber die Ostergeschichte erzählt nicht von einem Ende, sondern von einem Anfang. Auf den Maria sich einlässt, auf den sie zugeht, Schritt für Schritt.

Die Weinende erstarrt nicht, sie ist in Bewegung. Die, die draußen vor dem Grab steht, bleibt nicht stehen. Weder bei sich noch bei dem, was sie bedrückt. Maria bewegt sich. „Als sie nun weinte, beugte sie sich in das Grab hinein.“ Diese Bewegung ins Grab hinein öffnet ihr die Augen für den Lebenden. Aber nicht sofort. Sondern nach und nach. Schritt für Schritt, Wendung um Wendung. Maria sieht zwei Engel, sie hört eine Frage „Was weinst du?“ Maria lässt sich ansprechen, spricht aus, was sie bedrückt. „Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“ Sie weint um den, den man ihr genommen hat, aber sie verschließt sich nicht in ihrer Trauer. Sie findet sich nicht ab mit der Leere im Grab. Sie sucht den Toten. Sie bewegt sich, wendet sich um, um weiter zu suchen. Da sieht sie den Gärtner, den Lebenden sieht sie noch nicht. Und wieder hört sie die Frage: „Frau, was weinst du? Wen suchst du?“ Und wieder lässt sie berühren von den Worten, wieder antwortet sie, bewegt sich heraus aus ihrer Trauer, spricht aus, was sie bewegt. „Sage mir: Wo hast du ihn hingelegt? Dann will ich ihn holen.“ Wieder sucht sie den Toten, den sie weggenommen glaubt. Den Lebenden sucht sie noch nicht. Aber sie ist in Bewegung. Maria bewegt sich auf den Lebenden zu, unbestimmt und unbewusst. Da trifft sie das Wort. „Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister.“ Eine seltsame Szene, eigentlich eine Bewegung, ein Sich-Umwenden zu viel. Maria hatte sich schon zu dem zugewandt, den sie für den Gärtner hält, nun – nach dem Wort, das sie trifft: „Maria“ – wendet sie sich erneut um. Eine kleine Bewegung nur. Doch das ist der Wendepunkt in der Geschichte, die entscheidende Bewegung, das „entscheidende Mal, daß sie sich wendet und in diesem Sich-Wenden verwandelt wird […] in eine, die ihn erkennt“ (Patrick Roth) und bekennt: „Rabbuni“. Diese eine Sekunde zwischen zwei Worten: „Maria“- Rabbuni“ ist die Wende zum Leben. Maria hat Jesus erkannt. Nach und nach. Schritt für Schritt, Wendung um Wendung, jetzt ganz und gar. Nun sind sie – der Auferstandene und die, die neu aufersteht zum Leben – einander zugewandt, ganz nah, so als wurde sich in dieser Sekunde zwischen zwei Worten die ganze Wahrheit des neuen Lebens verdichten, licht und leicht. Am Ende geht auch Maria vom Grab weg ins Leben zu den anderen, befreit und beschenkt. Sie hat den Toten nicht gefunden, aber den Lebenden. Das ist mehr als sie je zu suchen gewagt hat. „Maria Magdalena geht und verkündigt den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen, und was er zu ihr gesagt habe.“ Das ist der neue Anfang für alle. „Im Tale grünet Hoffungsglück.“

II. Mich rührt diese Ostergeschichte an. Vielleicht deshalb, weil sie Missverständnisse zulässt, dem Weg ins Leben Raum und dem Suchen und Versuchen Zeit gibt. Leicht war das nicht für Maria, kein Osterspaziergang – „vom Eise befreit sind Strom und Bäche durch des Frühlings holden, belebenden Blick“.  Nein: „Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte.“ Leicht ist es eben nicht, von Tod und Trauer ins Leben zu finden. Manchmal braucht es viele Versuche, um aufzustehen, sich umzudrehen, aufzubrechen, neu zu leben. Dreimal musste Maria sich umwenden, bis sie den Lebenden gefunden hat, bis sie weitergehen und selber auferstehen konnte. Das berührt mich, diese Wendepunkte, dieses immer wieder neue Suchen, dieses Erkennen nach und nach, dieser Mut, immer wieder den nächsten Schritt zu tun. Da ist nicht alles mit einem Schlag leicht und licht, das sind alle Fragen und Tränen nicht mit einem Mal weggewischt. Diese Ostergeschichte ist kein triumphales Finale, kein Blitzsieg über den Tod, sondern ein langer Weg ins Leben Schritt um Schritt, nach und nach, Bewegung um Bewegung bis zum entscheidenden Wendepunkt, jener „Magdalenensekunde“ wie Patrick Roth sie nennt, wo die Weinende und der Lebende, wo Mensch und Gott einander zugewandt sind, wo Maria den Auferstandenen erkennt und selber neu zum Leben aufersteht. Sie rührt mich an, diese Maria Magdalena, die sich bewegt, die nicht bei sich und ihrer Trauer stehen bleibt, die sich immer wieder ansprechen lässt in ihrer Suche, sich immer wieder ins Leben wendet und am Ende mehr findet als sie jemals gesucht hat: Nicht den Toten, sondern den Lebenden. „Maria“ – Da spricht er, der vermeintlich Tote, der Verstummte, Verlorene. Eigentlich geht das nicht, eigentlich hat Maria das nicht erwartet. Aber Maria hört, lässt sich bewegen zu etwas Ungeahntem hin, bleibt nicht bei dem stehen, was erwartbar ist. Ein bisschen ver-rückt, ver-dreht, ver-kehrt, aber die Wendung zum Guten, zum Leben.

III. Mich berührt dieses Tasten und Suchen, dieses Sich-Wenden und Winden, dieses in Bewegung und in der Hoffnung Bleiben. Das möchte ich von Maria lernen: Angesichts der kleinen und großen Sorgen und all der Sackgassen im Leben nie aufhören, einen neuen Anfang zu suchen. Den Menschen, die mich weinen machen, immer wieder neu und offen zu begegnen. Bei den großen Plänen immer wieder wagen, den nächsten Schritt zu gehen, auch wenn ich das Ziel kaum erblicken kann. Das möchte ich von Maria lernen: Am Beginn eines jeden neuen Morgen dem, was auf mich zukommt, mit Hoffnung zu begegnen und offen zu sein für die Antworten auf meine Fragen, die erwarteten und die, die meine Erwartungen sprengen. All das möchte ich von Maria lernen und noch viel mehr. Maria – sie ist die, die ansprechbar ist für eine Gewissheit, die tiefer ist als alles, was ich je sehnen und suchen kann. Als Jesus sie beim Namen nennt, denkt sie nicht einen Moment: Ist das eine Täuschung? Woher kennt der Gärtner meinen Namen? Dass Jesus selbst es ist – wie könnte das sein? Nicht einen Moment stellt Maria solche Fragen, nicht einen Moment stellt sie die neue Wirklichkeit in Frage, bleibt nicht einen Moment bei dem stehen, was menschenmöglich ist, sondern bewegt sich auf das Wunder zu: „Da wandte sie sich um und spricht zu ihm Rabbuni!“ Eine kleine Bewegung, ein einziges Wort, eine Wendung hin zum Unmöglichen, das allein neues Leben ermöglicht. Von dieser Gewissheit möchte ich anstecken lassen, in all meinem Weinen und meiner Angst, in all meiner Mutlosigkeit und all meinem Suchen möchte durchlässig sein für das Wunder des Lebens. Dann kann es sein – in einer dunklen Stunde vielleicht oder dann, wenn das Leben vollkommen gelingt –, dann kann es sein, dass auch mich ein Wort trifft, ein Hauch, sein Geist, dann bin auch ich mitten drin jener Wende zum Leben, die alles neu macht, leicht und licht. „Halleluja, der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden, Halleluja. Im Tale grünet Hoffnungsglück.“

Amen

Perikope
21.04.2019
20,11-18

Kreuzabnahme – Predigt zu Johannes 19,16-42 von Sven Keppler

Kreuzabnahme – Predigt zu Johannes 19,16-42 von Sven Keppler
19,16-42

I. Das Leiden Jesu hat ein Ende gefunden. Schlaff liegt sein sehniger Körper in den Armen von zwei Männern. Leichenblass. Fast so farblos wie die Leinentücher, in die er gewickelt werden soll.

Die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet, kippt der Kopf nach hinten weg – die Leichen-starre ist noch nicht eingetreten. Der rechte Arm hängt leblos herab. Nur die Stellung von Zeige- und Mittelfinger könnte ein V andeuten. Ein zarter Hinweis, dass Jesus auch im Tod der Sieger bleibt.

Zwei Männer halten den Leichnam. Der rechte ist Nikodemus. Einer der Jerusalemer Honoratioren, ein gelehrter Lehrer Israels. Jahre zuvor hatte er mit Jesus in der Nacht über die Auferstehung gesprochen. Er hatte Jesus damals nicht verstan-den, obwohl er es aufrichtig versucht hatte. Aber nun war er unter dem Kreuz und brachte kost-bares Salböl.

Der andere dürfte der Jünger Johannes sein. Bartlos ist er, steht nahe bei Maria. Und er berührt die Seitenwunde Jesu, so wie nur der Jünger es tut. Weil Johannes dabei ist, könnte man das Bild für eine Kreuzabnahme halten. Auch die Anwesenheit der drei Frauen spricht dafür: Maria, die Mutter Jesu; Maria von Magdala; und Maria, die Frau des Klopas. Obwohl Josef von Arimathäa fehlt, geht es doch auch um die Grablegung: Nikodemus ist schon da. Und er steht mit Johannes auf der Steinplatte, die das Grab bedeckt.

Caravaggio verdichtet alles, was auf das Sterben Christi folgt, in einem einzigen Moment. Das Kreuz ist nicht mehr zu sehen, sondern nur noch der Tod: der Leichnam, die Grabplatte, und vor allem die trauernden Menschen. Männer und Frauen am Karfreitag. Sie müssen mit dem Tod Jesu umgehen lernen. Dieselbe Aufgabe, vor der wir heute stehen – immer noch und immer wieder.

Deshalb möchte ich heute die Aufmerksamkeit auf diese fünf Menschen lenken. Möchte Sie dazu einladen, dass wir uns gemeinsam mit ihnen dem Geheimnis des Karfreitags nähern.

 

II. Alle fünf, die Jesus umgeben, wirken auf mich ganz ratlos. Alle sind sie in Bewegung, vor allem mit den Händen. Und doch strahlen sie auf mich alle auch eine große Hilflosigkeit aus.

Am stärksten merkt man es bei Maria Magdalena, der mittleren der drei Frauen. Den Kopf hat sie nach vorne geneigt. Die Augen entweder geschlossen oder den Blick ins Leere gerichtet. Den Mund fragend geöffnet. Mit der Rechten stützt sie den Kopf ab. Jede Energie, jede Hoffnung scheint von ihr gewichen. Fassungslos, gebrochen, vor den Kopf gestoßen.

Auf den ersten Blick ganz anders verhält sich die Frau rechts neben ihr. Maria, die Frau des Klopas. Beide Arme breitet sie weit aus, streckt sie in den Himmel. Eine leidenschaftliche Geste der Klage. Der Blick ist fragend nach oben gerichtet. Aber ihr ausdrucksloses Gesicht zeigt, dass sie anscheinend auch von dort keine Antwort erwartet. Dieselbe Fassungslosigkeit wie bei der Magdalena. Nur dass sie sich in einem anderen Temperament ausdrückt.

Viel ruhiger, viel gefasster dagegen die Mutter Jesu. Eine gealterte Frau, mit ihrem blauen Gewand und weißen Tuch hier wie eine Nonne vorgestellt. Auch sie hat die Arme ausgebreitet, man kann es leider kaum sehen: die eine Hand über Jesu Haupt, die andere direkt unter der Brust der Klopasfrau. Als wollte sie ihren Sohn umfassen. Als wollte sie ihn beschwören, wieder zurück zu den Lebenden zu kommen. Aber er ist ihr entzogen. Hilflos deshalb auch sie.

Nikodemus dagegen packt kräftig zu. Er hat die gebeugten Beine Jesu umschlossen, hat die Initiative ergriffen. Wie es dem bedeutenden Mann gemäß ist. Aber nun, wohin mit ihm? Ratlos scheint er uns anzuschauen. Als wollte er fragen: Sollen wir den Gottessohn denn tatsächlich in ein Grab legen? Nikodemus sieht aus, als hätte Caravaggio ihm seine eigenen Züge gegeben, nur um 20 Jahre gealtert. In aller Tatkraft ist auch er hilflos und überfordert.

Und Johannes? Fürsorglich beugt sich der Lieblingsjünger über seinen Meister. Zärtlich umschließt er ihn mit beiden Händen, liebevoll. Blickt auf ihn mit großem Gefühl. Ganz versunken in den Moment. Aber seltsam unbeteiligt an dem Geschehen um ihn herum. Auch von ihm ist kein Impuls zu erwarten, wie es weitergehen soll.

Alle fünf drücken auf ihre Weise die Lähmung des Karfreitags aus. Die Ratlosigkeit und Verzweiflung. Alle fünf auf ganz unterschiedliche Art, je nach Temperament, nach Alter und auch nach ihrer Stellung zu Jesus.

 

III. Liebe Gemeinde, eben habe ich von der Hilflosigkeit der Menschen auf unserem Bild gesprochen. Wenn man jedoch genauer hinschaut, dann gibt es bei jeder Person etwas, das über die bloße Ratlosigkeit hinausweist. Darauf möchte ich jetzt den Blick lenken.

Beginnen wir wieder bei Maria Magdalena. Ihr Blick ist nach innen gerichtet. Woran mag sie denken? Steht ihr vielleicht die Szene vor Augen, wie sie Jesus zum ersten Mal begegnet war? Lukas berichtet, dass Jesus sie von sieben bösen Geistern geheilt hatte. Diese Erfahrung bleibt ihr. Der Tod kann sie nicht zerstören.

Oder Maria, die Frau des Klopas: Gewiss, ihr vor Trauer erschöpfter Blick scheint nichts mehr zu erwarten. Aber doch bringt sie die Kraft auf, die Arme in den Himmel zu recken. Sie zeigt an, von wo allein eine Antwort zu erhoffen ist. Eine Antwort, wie Gott sie am Ostermorgen auf wunderbare Weise gegeben hat.

Johannes hält Jesus liebevoll im Arm. Seine Hand fasst ihn genau dort, wo der Speer des Soldaten eine Wunde hinterlassen hat. Er legt sozusagen den Finger in die Wunde. Er weicht dem Schrecklichen nicht aus. Dass er das voller Hoffnung tut, das deutet Caravaggio durch das grüne Gewand des Jüngers an.

Dasselbe Grün wie die Pfanze unterhalb des Grabsteins. Auch so ein zarter Hinweis, dass aus dem Grab neues Leben hervorgehen wird.

Und Marias Geste – die ausgebreiteten Arme? Ist das nicht auch eine Segensgeste? Sie segnet ihren Sohn, der unschuldig sein Leben gelassen hat.

Nikodemus schließlich richtet seinen Blick auf uns. Welche Frage steht in seinen Augen? Ihr Menschen, ihr Versmolder – was wollt Ihr sagen zu diesem Tod? Wisst Ihr, dass er auch mit Euch zu tun hat? Dass er auch Euch ein neues Leben eröffnen soll?

 

IV. Lassen wir uns also die Frage stellen: Was sagen wir zu diesem Tod? Haben wir Verständnis für den Satz, dass Jesus für uns gestorben ist? Dass unsere Sünden zu seinem Tod beigetragen haben? Dass er unser Verhältnis zu Gott ins Reine gebracht hat, weil er die Strafen, die wir verdient hätten, für uns erlitten hat?

Immerhin haben diese Vorstellungen den christlichen Glauben von Anfang an geprägt. Erst seit der Aufklärung ist immer wieder die Frage gestellt worden, ob dies die angemessene Deutung von Karfreitag und Ostern ist.

Lassen Sie mich eine ganz persönliche Antwort auf diese Frage versuchen. Der fragende Blick des Nikodemus richtet sich an jeden einzelnen von uns. Wir alle sind herausgefordert, unsere ganz eigene Antwort zu geben.

Unser Glaube ist kein Schönwetterglaube. Unser Glaube ist mehr als die Freude über das Christkind. Mehr als der Dank für die gute Ernte. Mehr als die Segensbitte für Säuglinge und Brautpaare. Das alles ist wunderbar und gehört dazu. Aber unser Glaube soll uns auch helfen, mit dunklen, schweren Erfahrungen umzugehen.

Vermutlich jeder Mensch macht irgendwann dunkle Erfahrungen mit Gott. Dass er oder sie sich einmal Hilfe von Gott erhofft – und sie bleibt aus. Dass die Frage kommt, wie Gott das Leid zulassen kann, oder Unglücke – ganz aktuell nach der Katastrophe von Notre Dame. Oder dass der Tod eines Menschen so erlebt wird, dass Gott sich verfinstert und ferne ist.

Viele Menschen haben in solchen Verfinsterungen Gottes seinen Zorn gesehen. Haben ihr Unglück als eine Strafe Gottes gedeutet. Und sie können viele Stellen in der Bibel finden, die auch so sprechen.

 

V. Die wichtigste Frage des Glaubens ist doch: Wie können wir herauskommen aus solch einer Verfinsterung Gottes? Wie können wir den Gott wiederfinden, der unser guter Hirte ist? Den Gott, dem wir vertrauen. Und der uns trägt, auch in schweren Zeiten.

Ich glaube, am Karfreitag hat Gott selbst eine Antwort auf diese Frage gegeben. Seine Antwort ist: Er steigt selbst herab zu uns in die Dunkelheit. In seinem Sohn erlebt er selbst die Verlassenheit und die Angst des Todes. Er zieht uns nicht einfach zu sich ins Licht, sondern teilt mit uns die höchste Not.

Dadurch hat sich etwas Entscheidendes verändert. Von Karfreitag an können wir Gott nicht nur nahe sein, wenn die Nacht wieder dem Tag gewichen ist. Sondern auch in der einsamsten Not ist Gott bei uns.

Er entzieht sich uns nicht. Und wir brauchen seinen Entzug nicht mehr so zu deuten, dass er uns zürnt. Deshalb können wir sagen: Christus ist für uns gestorben. Damit uns nichts mehr von Gott trennen kann – auch nicht unsere Schuld. Damit wir leben. Amen.

Ergänzend:

Gemälde Caravaggios Kreuzabnahme

 

Perikope
19.04.2019
19,16-42

Der König hängt am Kreuz - Predigt zu Johannes 19,16-30 von Bernd Giehl

Der König hängt am Kreuz - Predigt zu Johannes 19,16-30 von Bernd Giehl
19,16-30

Liebe Gemeinde!

Der König hängt am Kreuz. Geht’s vielleicht noch ein bisschen dramatischer? Und wie ist diese Information überhaupt zu bewerten? „Jesus von Nazareth, König der Juden?“ Ist es Spott? Das könnte sein. Immerhin hat der Gefangene im Verhör ja behauptet, er sei ein König. Wenn auch ein König ohne Land. Oder genauer hat er gesagt: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Aber in welcher Welt könnte er sonst König sein?

Eigentlich hätte Pilatus leicht nachgeben können, als die Oberen des Volkes Israel ihn bitten, die Inschrift „Jesus von Nazareth, der König der Juden, zu verändern. Warum weigert er sich, hinzuzufügen, was sie wollen? „Schreibe doch: Er hat gesagt, er sei der König der Juden.“ Aber er tut es nicht. Er sagt: „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.“  

Es ist einer dieser Dialoge, wie sie für Johannes so typisch sind. Ein Dialog auf verschiedenen Ebenen, voller Missverständnisse, nur dass sonst Jesus sie führt, so wie zum Beispiel mit Nikodemus, dem er sagt, er müsse von neuem geboren werden, um ins Reich Gottes zu kommen. Woraufhin Nikodemus fragt, wie ein Mensch von neuem geboren werden könne; er könne doch nicht in den Bauch seiner Mutter zurückkriechen. Mag sein, dass man es beim ersten Mal nicht versteht und sich über diesen Jesus wundert, der nichts erklärt, sondern mit nur immer neuen Worten dasselbe sagt, ohne dass es dadurch auch nur einen Jota verständlicher wird. Der das Gespräch immer weiter und weiterführt, bis es gleichermaßen in Fetzen geht, ohne Rücksicht auf irgendwas oder irgendwen.  Und womöglich wundert man sich ja auch über die Gesprächspartner Jesu, die zwar nicht begreifen, aber den Dialog fortführen, , obwohl man an ihrer Stelle längst gegangen wäre. Aber wenn man es oft genug durchexerziert hat, wozu einem der Evangelist reichlich Gelegenheit bietet, begreift man: Es ist der Evangelist Johannes, der diese Dialoge inszeniert und seine Absicht ist es, etwas über Jesus auszusagen, was er vielleicht nicht anders sagen könnte.

Und nun ist es also Pilatus, der einen solchen Dialog herbeiführt. „Jesus von Nazareth, der König der Juden“, lässt er über das Kreuz setzen. Man könnte fragen, wie er darauf kommt und die Antwort müsste heißen, dass er Jesus schon beim ersten Verhör gefragt hat, ob er der König der Juden sei. Vielleicht wundert man sich über die Frage, weil sie so unvermittelt kommt, ohne jede Vorbereitung, aber Johannes lässt Jesus antworten, woher er das wisse; ob er selbst darauf gekommen sei, oder ob ihm ein anderer das gesagt habe. So geht es hin und her und bei Johannes versucht Pilatus, Jesus freizulassen, aber es gelingt ihm nicht, weil die jüdischen Ankläger drohen, Pilatus beim römischen Kaiser anzuschwärzen. Also lässt er Jesus kreuzigen. Aber seine subtile Rache ist das Schild über dem Kreuz „Jesus von Nazareth, der König der Juden.“

Diesen König jedenfalls haben sie nicht gewollt. Warum ausgerechnet dieser Titel?

Diese Inschrift gibt es auch bei Matthäus und Lukas. Nur dass die keinen besonderen Wert auf dieses Detail legen. Die sehen das Potenzial nicht, das in dieser Überschrift liegt. „Der König hängt am Kreuz“, so könnte man das formulieren. Johannes sieht es und nutzt es.

Jesus von Nazareth, der König der Juden. Eine doppelte Wahrheit. Eine Wahrheit jedenfalls, die nicht so leicht zu erkennen und zu formulieren ist.

Eine typische Wahrheit des Johannes- Evangeliums eben.

*

Aber sehen wir sie uns ruhig noch einmal von der negativen Seite an. In meinem Arbeitszimmer hängt ein Holzschnitt von Thomas Zacharias, der viele Bilder zur Bibel geschaffen hat.  Dieser Holzschnitt heißt „Jesus vor Pilatus“, und er zeigt die Konfrontation dieser beiden. Pilatus, ganz in Rot gehalten, nimmt gute zwei Drittel des Bildes ein. Man sieht ihn von der Seite, auf einem Thron sitzend, die Hand erhoben, als ob er beim Sprechen gestikuliere. Er ist mit einer Toga und Sandalen bekleidet, und immerhin: er scheint dem Gefangenen zugewandt zu sein.

Der wiederum steht seitlich von Pilatus. Er hat nur sehr wenig Platz. Vielleicht hält er deshalb die Hände vor den Körper Möglich aber auch, dass die Hände gefesselt sind; die gekreuzten Arme könnten darauf hindeuten. Er ist nackt, schutzlos, ausgeliefert. Das Drittel des Bildes das er noch beanspruchen darf, ist dunkelblau; er selbst ist in erdfarben gemalt. Er trägt die Dornenkrone.

Es könnte sein, dass die erhobene Hand des Pilatus auf Jesus zeigt und dass er gerade sagt: „Ecce homo. Seht, welch ein Mensch.“

Ist Spott in diesen Worten? Ganz bestimmt. Vielleicht auch ein wenig Bewunderung für einen Menschen, der seinen Weg so konsequent zu Ende geht, wie Jesus das tut. Aber das Bild zeigt: Menschen wie er dürfen nur sehr wenig Platz auf der Erde, wie sie ist, beanspruchen,

„Was ist Wahrheit?“ fragt Pilatus. Wahrheit, das ist etwas für Schwache und Suchende, aber nicht für einen Machtmenschen wie Pilatus.

Also wird der König ans Kreuz gehängt. Nackt, mit einer Dornenkrone. Wer will, kann sich einen Reim darauf machen.

*

„Der König hängt am Kreuz.“ Immerhin, seine Würde haben sie ihm noch gelassen. Der Bericht des Johannes ist weniger grausam als die Erzählungen der anderen drei Evangelisten. Viele kleine Zeichen sind in dieser Geschichte verwoben, die zeigen, dass Jesus, auch wenn er zum Opfer gemacht wird, doch einen Rest Würde behält. Jesus bricht nicht unter dem Querbalken des Kreuzes zusammen und Simon von Kyrene muss ihm deshalb auch nicht das Kreuz tragen. Später, als er schon am Kreuz hängt, sieht er seine Mutter und den Jünger Johannes und er schafft eine Verbindung zwischen ihnen, indem er zu Maria sagt: „Dein Sohn“ und zu Johannes „Deine Mutter.“ Selbst im Sterben denkt er nicht an sich selbst, sondern an Andere. Sie sollen den Verlust, den sie erleiden, nicht so spüren, sondern getröstet werden.  Als er sagt: „Ich habe Durst“ wird ihm ein Schwamm mit Wasser und Essig gemischt gereicht und anders als in den anderen Evangelien kann er es trinken.  Und seine letzten Worte sind nicht wie bei Matthäus „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“, sondern er sagt: „Es ist vollbracht.“

Es ist eine eigenartige Stimmung, die der Evangelist Johannes da erzeugt. Vielleicht merkt man es nicht beim ersten Lesen. Aber die meisten von uns haben ihn ja schon oft gehört; in Karfreitagsgottesdiensten oder anderswo. Es ist nicht mehr die Schwere der Berichte der anderen Evangelisten. Etwas wie Friede liegt über dieser Erzählung. Der Erlöser der Welt hat seine Aufgabe erfüllt und darf jetzt gehen. Das scheint mir der Sinn zu sein.

*

Ja natürlich. Da kommt noch etwas. Da muss noch etwas kommen. Anders wäre es nicht auszuhalten, dass der, der für Gottes Sache einstand wie kein anderer, auf diese Weise stirbt, während andere, wie der Mörder Barabas oder die Priester, die den Justizmord anstoßen, einfach so davonkommen. Natürlich kommt da noch die Auferstehung Jesu, die klarmacht: Gott bekennt sich zu dem Gekreuzigten. Auch Johannes berichtet von ihr.

Und doch hat man bei Johannes das Gefühl, dass eigentlich schon alles gesagt ist. Jesus ist der von Gott gesandte Sohn, der Gottes Wahrheit verkündigt. Er erleuchtet den Weg der Seinen. Er schließt sich ganz nah mit ihnen zusammen, sodass nichts sie trennen kann.

Das jedenfalls scheint mir der Sinn dieses seltsamen Königstitels zu sein, den Pilatus Jesus anheftet und den der Evangelist bejaht, wenn auch aus ganz anderen Gründen. „Jesus, der König der Juden.“ Warum ausgerechnet dieser Titel? Vielleicht weil Jesus in Jerusalem eingeritten war wie ein König. Weil er seinen Einzug nach dem Sacharja Wort eingerichtet hatte, der da sagt: „Siehe, dein König kommt zu dir, sanftmütig und reitend auf einem Esel.“ Wahrscheinlich hat er selbst oder das Volk daraus den Anspruch des Messias abgeleitet.

Für Pilatus ist dieser Titel einfach nur lächerlich. Juden, die mit dem Anspruch auftraten, der Messias zu sein, gab es viele und wenn sie gefährlich wurden, wusste man sie zu beseitigen. Aber welchen Wert hat der Titel des „Königs der Juden“ für Johannes? Für den Evangelisten, der das kritischste Bild von den Juden hat. Für den, der unterscheidet zwischen denen, die Jesus anhängen und den „Juden“. Für den das Wort „Jude“ schon fast klingt wie  „Feind Jesu“.

Vielleicht hat er den Titel nur vorgefunden und wollte oder konnte ihn nicht mehr ändern. Aber er interpretiert ihn anders. Jesus ist nicht nur König der Juden. Er ist vielmehr der König all der Menschen, die ihm nachfolgen wollen. All derer, für die er die Wahrheit ist. All derer, die in seinem Sinn leben und sich für andere einsetzen wollen ohne dabei an sich selbst zu denken.  Wobei er ja wirklich  ein eigenartiger König ist. Einer ohne Szepter und ohne Krone, ohne Thron und ohne roten Teppich, der vor ihm aufgerollt wird. Ohne Limousinen mit Blaulicht, die vor ihm herfahren und die Vorfahrt erzwingen.  Wenn man an ihn glaubt und sich zu ihm bekennt, dann nicht weil man sich Einfluss und einen Posten erwartet, sondern nur, weil er einen mit seiner Art und seiner Wahrheit überzeugt hat. Man macht seine Sache zur eigenen Sache, weil man daran glaubt, dass sie gerecht ist. Dass sie sich durchsetzt, scheint eher unwahrscheinlich zu sein. So unwahrscheinlich wie die Auferstehung Jesu von den Toten.

Und das Kreuz? Es bleibt rätselhaft. Auch für den, der glaubt. Vielleicht ist es ein Zeichen der Selbstüberwindung. Nicht um des eigenen Vorteils zu handeln sondern um anderen beizustehen kostet Kraft.

Um diese Kraft sollten wir Gott immer wieder bitten.

Perikope
19.04.2019
19,16-30

Johannespassion – Predigt zu Johannes 19,16-30 von Jürgen Kaiser

Johannespassion – Predigt zu Johannes 19,16-30 von Jürgen Kaiser
19,16-30

„Klappe, die erste!“ In älteren Filmen sieht man manchmal, wie in den Zeiten von Zelluloid und Cinemascope Filme gedreht wurde. Man sieht das Set: die Schauspieler stehen in ihren Kostümen regungslos bereit, außerhalb der Szene ein monströser Kamerawagen, daneben ein Mensch, der eine lange Stange mit einem Mikrophon über die Szene hält, und auf der anderen Seite der Regisseur auf seinem Campingstühlchen. Der gibt das Kommando: „Kamera! Klappe, die Erste!“ Dann huscht ein Gehilfe schnell vor die Kamera und hält ein Schild vor die Linse. Darauf steht mit Kreide Nummer und Titel der Szene geschrieben, die jetzt gedreht wird. Das Schild hat an der Unterseite einen Holzbalken. Gibt der Regisseur das Kommando, knallt der Gehilfe den Balken gegen das Schild. „Klack“ und alles gerät in „Action“. Wenn die Szene - sei sie auch noch so grausig - glücklich im Kasten ist, meldet der Assistent dem Regisseur: „Es ist vollbracht!“

 

Klappe, die Erste: Überlieferung

Da überlieferte Pilatus ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber, und er trug selber das Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte. Ab jetzt, liebe Gemeinde, ab jetzt ist nichts mehr zu machen. Ab jetzt läuft die Sache, wie sie laufen muss. Das Drehbuch ist geschrieben. Die Schrift hat jetzt das Sagen. Pilatus überlieferte ihnen Jesus. So beginnt die Überlieferung.

 

Klappe, die Zweite: König der Juden

Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der Juden König. Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache.

Pilatus ist der erste, der über Jesus geschrieben hat. Nicht viel, nur vier Wörter auf ein Schild: Jesus von Nazareth, König der Juden. In drei Sprachen, in Hebräisch, in Lateinisch und in Griechisch, damit alle Welt es lesen könne, das Gottesvolk, die Machtheiden und die Bildungsbürger.
Jesus wird zur Tötung ausgeliefert und mit einer kargen aber polyglotten Schrift den Heiden überliefert. Wieder lebendig werden muss er uns ab jetzt in der Schrift und aus der Schrift. Theologen müssen die drei Sprachen der Überlieferung lernen, Hebräisch, Griechisch und Latein. Um der Wahrheit näher zu kommen.
An die Wahrheit ranzukommen versuchte auch Pilatus. Er war Richter. Die Anklage: Jesus habe sich König der Juden genannt. Bist du der König der Juden, fragte ihn der Richter (Joh 18,33). Der Angeklagte legte kein Geständnis ab. Er stellte die Gegenfrage: Wer sagt das? Wenn sich die Wahrheit in der Überlieferung verschleiert, ist die erste Frage immer: Wer sagt das?
Auch die Zeugen versagten. Keiner wollte bezeugen, dass er der König der Juden ist. Die Wahrheit fällt in Finsternis, wenn es keinen mehr gibt, der sie bezeugt.
Pilatus scheiterte an der Wahrheitsfrage. Aus der Wahrheitsfrage wurde eine Machtfrage.

Die Gemeinde singt:

EG 81,7: Ach großer König, groß zu allen Zeiten, wie kann ich g’nugsam solche Treu ausbreiten? Keins Menschen Herz vermag es auszudenken, was dir zu schenken.

Oder:

EG 71,3: Du bist ein großer König,
wie uns die Schrift vermeld’t,
doch achtest du gar wenig
vergänglich Gut und Geld,
prangst nicht auf stolzem Rosse,
trägst keine güldne Kron,
sitzt nicht im steinern Schlosse;
hier hast du Spott und Hohn.

Oder:

EG 275 (aus Ps 31),5: Mir hat die Welt trüglich gericht’
mit Lügen und falschem Gedicht
viel Netz und heimlich Stricke;
Herr, nimm mein wahr in dieser G’fahr,
b’hüt mich vor falscher Tücke.

6. Herr, meinen Geist befehl ich dir;
mein Gott, mein Gott, weich nicht von mir,
nimm mich in deine Hände.
O wahrer Gott, aus aller Not
hilf mir am letzten Ende.

 

Klappe, die Dritte: Deutungshoheit

Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreibe nicht: Der Juden König, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der Juden König. Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.

Wo sich die Wahrheit zurückgezogen hat, weil keiner sie mehr bezeugt, wird die Frage der Deutung zur Machtfrage. Wer hat die Deutungshoheit? Wer darf sagen, was geschrieben steht, wer darf ihm einen Titel geben? Denn was Pilatus auf das Schild aufschreiben ließ, nannte der Römer in seiner Sprache einen „Titel“. Er gab Jesus einen Titel: König der Juden.
Viele Jahrhunderte war die Wahrheit eine Frage der Deutungshoheit und also eine Frage der Macht. Wer die Macht hatte, bestimmte das Dogma. „Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben“, sagte Pilatus und der Papst sprach es nach. Was an Titeln einmal gefunden war und was als Dogma fixiert wurde, musste bleiben.
Dann eroberte die Wissenschaft die Deutungshoheit. Die Theologie glaubte, mit Mitteln der historischen Wissenschaft an die Wahrheit heranzukommen. Je älter ein Fundstück, desto ursprünglicher, je ursprünglicher, desto wahrer.
So weckte vor 50 Jahren die Erforschung der Hoheitstitel, die man für Jesus im Neuen Testament finden konnte - „König“, „Christus“, „Messias“, „Herr“, „Menschensohn“ - neue Hoffnung. Mit diesen Hoheitstiteln glaubte man, den Ursprüngen des christlichen Glaubens ganz nahe zu sein, denn die Hoheitstitel seien eine Art sehr früher Mikrobekenntnisse.
Doch auch das funktionierte nicht. Auf diese Weise ließ sich die Wahrheit auch nicht aus der Überlieferung herausdestillieren. Sie verflüchtigt sich in der Überlieferung, weder die Macht noch die Wissenschaft werden ihrer Herr. Weder Pilatus noch die Hohenpriester, weder die Christen noch die Juden, weder die Kirche noch Israel haben die Deutungshoheit über das Geschehen. Auch wissenschaftliche Expeditionen zu den Ursprüngen verirrten sich in den Weiten der Überlieferung. Denn nur die Überlieferung selbst kann die Überlieferung deuten.

Die Gemeinde singt:

EG 11,1: Wie soll ich dich empfangen
und wie begegn ich dir,
o aller Welt Verlangen,
o meiner Seelen Zier?
O Jesu, Jesu, setze
mir selbst die Fackel bei,
damit, was dich ergötze,
mir kund und wissend sei.

 

Klappe, die Vierte: Thron aus Psalmen

Die Soldaten aber, da sie Jesus gekreuzigt hatten, nahmen seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch den Rock. Der aber war ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. Da sprachen sie untereinander: Lasst uns den nicht zerteilen, sondern darum losen, wem er gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt (Psalm 22,19): »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten.

Endlich gewinnt die Überlieferung die Deutungshoheit, indem die Überlieferung an die Heiden den Anschluss an der Überlieferung Israels sucht. Was war, geht weiter. Das Geschehen thront auf Psalmen. „Du aber bist heilig, der du thronst über den Lobgesängen Israels“ (Ps 22,4) Der oben hängt, thront über den Lobgesängen Israels. Keiner singt hier Lob und doch hallt sein Klang im All, sein Echo schwingt zwischen den Zeilen dieser Geschichte.
Alles steht geschrieben im Drehbuch der Überlieferung Israels. Dort sind die Spielregeln für das heidnische Spiel um seine Kleider notiert, jedes Detail, jede Kostümfrage. Nicht aufgeteilt und zerrissen werden sollen seine Kleider, sondern verlost: „Sie teilen meiner Kleider unter sich, und werfen das Los um mein Gewand.“ (Ps 22,19). Alles steht geschrieben. „…dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt kann fallen, ja auch mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss.“ (Heidelberger Katechismus, Frage 1)
Alles steht geschrieben. Gott hat das Drehbuch geschrieben. Alles zu unsrer Seligkeit.

Die Gemeinde singt:

EG 11,2: Dein Zion streut dir Palmen
und grüne Zweige hin,
und ich will dir in Psalmen
ermuntern meinen Sinn.
Mein Herze soll dir grünen
in stetem Lob und Preis
und deinem Namen dienen,
so gut es kann und weiß.

 

Klappe, die Fünfte: Wahlverwandtschaften

Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria Magdalena. Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.

Wer ist das? Der Jünger, den er lieb hatte. Bist du es? Sollte ich es sein? Bleibe ich? Bis zum Ende? Halte ich es aus?
Dieser schreckliche Karfreitag! Diese furchtbare Geschichte! Wäre doch schon Ostern!
Warum muss ich mir das antun? Warum tut Gott mir das an? Warum mutet mir Gott das zu? Hätte Gott nicht auch die Welt so sehr lieben und seinen Sohn am Leben lassen können? Kann ich Gott denn nicht auch ohne die Überlieferung vom Karfreitag lieben?
Wirst du der Jünger sein, den er lieb hat? Werde ich es sein? Sind wir seine neue Familie? Sind wir die, die bleiben? Sind wir die Gemeinschaft der Heiligen bis zur Vollendung? Wie lange müssen wir ausharren, bis wir die Antwort auf all die Fragen kriegen?

Die Gemeinde singt:

EG 85,6: Ich will hier bei dir stehen,
verachte mich doch nicht;
von dir will ich nicht gehen,
wenn dir dein Herze bricht;
wenn dein Haupt wird erblassen
im letzten Todesstoß,
alsdann will ich dich fassen
in meinen Arm und Schoß.

 

Klappe, die Sechste: Es bleibt das Wort

Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Ysop und hielten ihm den an den Mund.

Wieder steht geschrieben, was geschieht. Wieder hält sich das Drehbuch an Israels Überlieferung. Wieder thront es auf Psalmen. „Gift gaben sie mir zur Speise und Essig zu trinken für meinen Durst“ (Ps 69,22)
Das Wort ward Fleisch. Das Fleisch hat Durst. Das Fleisch wird Gras. Das Gras verdorrt.
Was soll ich predigen?
Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich. Zion, du Freudenbotin, steig auf einen hohen Berg; … Sage …: Siehe, da ist euer Gott!“ (Jes 40,8f)
Das Wort ward Fleisch.
Das Fleisch ward Gras.
Das Gras verdorrt.
Es bleibt das Wort.

Die Gemeinde singt:

EG 223,1: Das Wort geht von dem Vater aus
und bleibt doch ewiglich zu Haus,
geht zu der Welten Abendzeit,
das Werk zu tun, das uns befreit.

Oder:

Ps 42,1 (EG ref., Genfer Psalter)
1. Wie der Hirsch bei schwülem Wetter
schmachtend nach der Quelle schreit,
also schreit zu dir, mein Retter,
meine Seel in Druck und Leid.
Ja, nach Gott nur dürstet mich;
Lebensquell, wo find ich dich?
O wann werd ich vor dir stehen
und dein herrlich Antlitz sehen?

 

Klappe, die Siebte: Sabbat

Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht. Und neigte das Haupt und verschied.

Ende. Er stirbt. Nicht in die Sinnlosigkeit fällt er, er steigt in die Vollendung.
Es ist vollbracht. Sein Leben, mein Leben, dein Leben. Was geschrieben steht, hat Wort gehalten. Auch mein Leben wird Wort halten. Auch deines. Denn es steht geschrieben. Das Leben und das Sterben und das Auferstehen. Seines, meines, deines, steht geschrieben in der Überlieferung. Wir werden Gott überliefert. Gott wird Wort halten.
Es ist vollbracht. Ehre sei Gott in der Höhe. Amen.

Die Gemeinde singt:

EG 97,3. Denn die Erde klagt uns
an bei Tag und Nacht.
Doch der Himmel sagt uns:
Alles ist vollbracht!
Kyrie eleison,
sieh, wohin wir gehn.
Ruf uns aus den Toten,
lass uns auferstehn.

6. Hart auf deiner Schulter
lag das Kreuz, o Herr,
ward zum Baum des Lebens,
ist von Früchten schwer.
Kyrie eleison,
sieh, wohin wir gehn.
Ruf uns aus den Toten,
lass uns auferstehn.

Oder:

EG 296 (aus Ps 121), 1. Ich heb mein Augen sehnlich auf
und seh die Berge hoch hinauf,
wann mir mein Gott vom Himmelsthron
mit seiner Hilf zustatten komm.

4. Der treue Hüter Israel’
bewahret dir dein Leib und Seel;
er schläft nicht, weder Tag noch Nacht,
wird auch nicht müde von der Wacht.

8. Der Herr dein’ Ausgang stets bewahr,
sind Weg und Steg auch voll Gefahr,
bring dich nach Haus in seim Geleit
von nun an bis in Ewigkeit.

Perikope
19.04.2019
19,16-30

Feinfühlig und standhaft – Predigt zu Jesaja 50,4-9 von Hans Uwe Hüllweg

Feinfühlig und standhaft – Predigt zu Jesaja 50,4-9 von Hans Uwe Hüllweg
50,4-9

Liebe Gemeinde,

Verkehrschaos, kaum ein Durchkommen, die Stadt wimmelt von Touristen, die Polizei ist überall präsent, Militär rund um die Stadt zusammengezogen. Die Sicherheitslage ist heikel. Man befürchtet Terroranschläge. Es gibt eine kleine, aber hochgefährliche Terrortruppe, die mit Waffengewalt, Anschlägen und, wir würden sagen, Banküberfällen zur Finanzierung ihrer Aktionen, gegen die fremden Ungläubigen vorgeht. Kaum eine Zeit ist geeigneter für Anschläge als eine Festzeit, kaum ein Platz geeigneter als die überfüllten Plätze und verstopften Gassen der Hauptstadt. Wir kennen das zur leidvollen Genüge! Berlin, Brüssel, London, Paris, Madrid – alle Metropolen sind schon Ziele solcher schrecklichen Anschläge gewesen.

Auch Jerusalem zur Zeit Jesu kann davon ein Klagelied singen. Die Reporter von damals berichten, dass aus Anlass des hohen Festes jedes Jahr über hunderttausend Touristen in die Stadt strömen, aus allen Gegenden des Landes und aus dem Ausland, ja aus der ganzen Welt, worunter man damals den Mittelmeerraum verstand. Allen steht die Vorfreude ins Gesicht geschrieben, die Vorfreude auf das große Fest, den herzbewegenden Gottesdienst, das Gemeinschaftsgefühl in einer riesigen, gleichgestimmten Menschenmenge, die sich einig weiß in der Anbetung Gottes - und in der Gegnerschaft gegen die heidnischen Besatzer. Gerade in solchen Menschenmengen können sich, die Schlimmes im Schilde führen, bewegen wie Fische im Wasser. Die Behörden sind alarmiert.

Die kleine Schar Männer, die sich da von einem ein paar Kilometer entfernten Dorf her zu Fuß auf die Stadt zu bewegen, fällt da nicht weiter auf, möchte man meinen. Doch weit gefehlt. Der Trupp erregt sofort Aufmerksamkeit. Der Ruf insbesondere eines von ihnen eilt ihnen voraus. Leute aus Galiläa erkennen ihn. Ein paar Hundert werden es gewesen sein, die ganz ergriffen sind, weil sie sich an wunderbare Predigten und wunderhafte Heilungen erinnern, Gesundung von an Leib und Seele Kranken. Ist das nicht schon von alters her prophezeit worden? So muss es sein, wenn der Messias kommt, der Menschensohn, der alles Leid dieser Welt auf sich nimmt und es damit vernichtet. So muss es sein, wenn der Messias kommt, der Gottessohn, der mit harter Hand die Heiden besiegt und aus dem Heiligen Lande wirft, damit das Volk wieder als Volk Gottes leben kann. So muss es sein! Kein Zweifel, das ist der lange schon ersehnte Messias! Sie reißen sich die Obergewänder vom Leib, brechen in aller Eile Palmzweige ab, werfen sie auf den Weg. Es muss der Messias sein! „Hosianna, gelobt sei der da kommt, im Namen des Herrn!“ Nur wenige Tage später wird die aufgeputschte Menge nur noch schreien: „Kreuzige ihn!“

Was mag Jesus durch den Sinn gegangen sein? Ob er damals an Jesaja gedacht hat, der von einem „leidenden Gottesknecht“ schreibt? Er kennt das Gesetz und die Propheten gut. Er hatte oft genug in den Gottesdiensten daraus zitiert. Er hatte oft genug ihnen allen, besonders aber den Theologen und den Kirchenpolitikern, den Scharfmachern ebenso wie den Gesetzeshütern die Leviten gelesen. Das hat ihm ja auch den Hals gebrochen, und nicht nur das, sondern überhaupt die Art, wie er von Gott sprach, wie er mit den heiligsten Traditionen des Glaubens umging - denken Sie an den Sabbat - wie er die altehrwürdigen Institutionen des Judentums um des Menschen willen in Zweifel zog. So wollten und so mussten sie es verstehen, was er sagte und tat.

Die Behörden ziehen schnell den Schluss: Der Mann ist gefährlich, vielleicht sogar einer dieser Terroristen? Jedenfalls musste er weg und das schleunigst, noch vor dem Fest.  Nicht auszudenken, was da alles passieren könnte! Immerhin gehört es sich,  wenigstens den Anschein eines rechtsstaatlichen Verfahrens zu erwecken.

Ob Jesus in diesem Geschehen an den leidenden Gottesknecht gedacht hat, wissen wir nicht. Eines steht jedoch fest: Die Christen der ersten Stunde taten es. Sie lasen diese Texte aus Jesaja im Blick auf Jesus. Er ist es, es muss so sein, er war es. Er hat mit den Müden geredet. Er ist Gott gehorsam gewesen. Er hat seinen Rücken dargeboten, die ihn schlugen, sein Angesicht vor Schmach und Speichel nicht verborgen, auf ihn sind die Pfeile abgeschossen worden. So glaubten die Christen, den leidenden Knecht Gottes im leidenden Jesus von Nazareth zu erkennen.

Wir kennen den Mann nicht, der im Auftrag Gottes vor weit über 2000 Jahren diese lösenden und tröstenden Worte gesagt hat, die uns von Jesaja überliefert werden. Vielleicht hat es seinen Sinn, dass er im Geheimnis der Anonymität geblieben ist. Das könnte uns helfen, die üblichen Sehgewohnheiten für einen Augenblick zu verlassen und nicht immer sofort den Blick auf das Kreuz zu richten, das hölzern oder versilbert oder gar vergoldet auf unseren Altären steht.

Die Gestalt des namenlosen Sprechers ist eine Einladung, den leidenden Jesus nicht sogleich dort zu suchen, wo er im Rahmen des vertrauten Passionsgeschehens immer schon zu finden ist: beim Einzug in Jerusalem, in Verrat und Verleugnung, im Verhör vor dem Hohen Rat, mit der Dornenkrone auf dem Haupt, sterbend am Kreuz von Golgatha.

Entdeckt den leidenden Jesus, den Menschensohn, den Repräsentanten Gottes, doch einmal woanders! Zum Beispiel bei den unter Sturm- und Flutfolgen Leidenden in Mozambique und Malawi, bei den Gewaltopfern in Syrien, bei den Ertrinkenden im Mittelmeer, den Lebensmüden, den Vergessenen und Ausgebrannten, bei denen, deren Leben ihnen selbst wertlos scheint. Das sind alles „leidende Gottesknechte und -mägde“. Es ist nicht zu viel gesagt: In ihnen begegnet uns der leidende, der mitleidende Christus.

Mich beeindruckt, dass sich, wie Jesaja ihn schildert, in der Haltung des Gottesknechtes Feinfühligkeit einerseits und Standhaftigkeit andererseits die Hand reichen. Bei uns ist das eher selten: Wir spalten gern auf, entweder das eine oder das andere. Feinfühligkeit kann dann leicht zur Rührseligkeit verkümmern, Standhaftsein zu gefühlloser Härte. Im Gottesknecht aber verbindet sich beides auf einzigartige  Weise. Das behutsame Reden mit dem Müden und die zeitweilige Härte im Augenblick des Durchstehens. Seine Gegner können ihn schlagen und demütigen - aber sie können ihn nicht „fertig-machen“. Wie den Menschen, zu denen er spricht, sind auch ihm manche Sicherheiten zerschlagen, doch die unerschütterliche und erstaunliche Gewissheit ist ihm geblieben: Gott steht zu ihm. Darum lässt er sich nicht zerreiben und zerreißen, und darum wird er nicht zerrieben und zerrissen. Als ein Gezeichneter und Geschlagener weiß er sich immer noch von Gott gehalten, und als Bote Gottes weiß er immer noch ein Wort zu sagen, das den Gezeichneten und Geschlagenen hilft. Alles Leiden spricht nicht gegen Gott, so sage ich es mit meinen Worten, sondern im Gegenteil: Er hilft hindurch.

Aber Gott hält nicht nur zu seinem leidenden Boten, sondern eben auch zu seinem am Kreuz sterbenden Sohn. Da ist der Berührungspunkt zwischen den leidenden Gottesknecht und dem gekreuzigten Sohn Gottes. Darum sollten wir die alttestamentlichen Texte in Ehrfurcht lesen als Texte aus der Bibel des jüdischen Volkes. Aber auch als Christen dürfen wir sie lesen als pointierte Hinweise auf den gekreuzigten Gottessohn.

Verkehrschaos, kaum ein Durchkommen, die Stadt wimmelt von Touristen, die Polizei ist überall präsent, Militär rund um die Stadt zusammengezogen. Man befürchtet Terroranschläge. Es gibt eine Hinrichtung, zusätzlicher innenpolitischer Zündstoff für die Verantwortlichen in den Behörden. Der vermeintliche Revolutionär, Volksaufwiegler, Vaterlandsverräter, Gotteslästerer - alles Vorwürfe, die man ihm anzulasten versucht hat, - wurde erfolgreich zu Tode gebracht. Dass dies jedoch keineswegs erfolgreich war, dass der Totgesagte lebt, das ist bis heute umstritten. Viele glauben es immer noch, andern ist es ein Ärgernis, wieder anderen gleichgültig.

Den Jüngern und Freunden Jesu, den zu Tod Betrübten und Ängstlichen, den Flüchtenden und Enttäuschten aber halfen die alten Worte aus Jesaja, die der leidende Gottesknecht spricht:

„Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden... Er ist nahe, der mich gerecht spricht...; Wer ist unter euch, der den HERRN fürchtet, der der Stimme seines Knechts gehorcht, der im Finstern wandelt und dem kein Licht scheint? Der hoffe auf den Namen des HERRN und verlasse sich auf seinen Gott!“ (Vers 9-11)

Und denen, die glauben, dass Gott dies wahr gemacht hat an seinem Sohn Jesus Christus, hilft es in dieser immer noch von Gewalt, Leid und Tod erfüllten Welt, hilft es, zu leben, zu hoffen, fröhlich zu sein und auf Gott zu bauen. Niemals wird der Mensch eine Welt ohne Leid schaffen können, aber Gott hat es geschafft, dass auch wir nicht zuschanden werden – in dieser Welt. Amen.

 

Anregungen von Wolfgang Altpeter in PastBl 3/1988, S. 148ff und Werner Biastoch in PastBl 4/2000, S. 18ff

Perikope
14.04.2019
50,4-9

Maria lacht - Predigt zu Johannes 20,11-18 von Karoline Läger-Reinbold

Maria lacht - Predigt zu Johannes 20,11-18 von Karoline Läger-Reinbold
20,11-18

Maria schweigt.

Da war zu viel Gerede in den letzten Tagen, in Jerusalem. Gerüchte. Vermutungen. Fragen.  

Worte, die einfach nicht passen. Worte, die nicht stimmig sind, die nicht beschreiben können, was sie gehört und erlebt hat. Was sie alle gesehen haben und doch nicht glauben mochten: der Abschied von Jesus. Das Kreuz. Die vielen Menschen und die aufgebrachten Rufe. Fassungslos die einen, hämisch lachend die anderen. Schließlich die Schreie und Schmerzenslaute, dort draußen auf Golgatha.  

Warum? Und was nun?

Worte, Fragen und Geräusche, das alles klingt noch nach in ihrem Kopf. Quält sie. Macht unruhig. Maria schweigt.

Einatmen. Ausatmen. Und dann zieht es sie mit Macht zurück an sein Grab. Dorthin, wo sie ihn abgelegt haben: Jesus. Seinen Körper, eingehüllt in ein Tuch. Der Gefährte, ihr Lehrer und Freund. Damals, als sie so unendlich krank war, da war er ihre Rettung gewesen. Ihre Begegnung hatte sie geheilt. Hatte sie befreit von den Dämonen der Angst und des Leids.

Maria weint.

Ihre Tränen laufen still und sie lässt es geschehen. Warum denn auch nicht? Jesus ist tot. Doch das Grab – das ist leer.

Wie konnte das sein? Am frühen Morgen waren sie losgezogen, sie und die Freundinnen.  Mit duftenden Ölen wollten sie ihn salben. Eine letzte Wohltat für den reglosen Körper, den geschundenen Leib.

Und jetzt: Zittern und Entsetzen. Jesus ist… auferstanden? Was mag das bedeuten? Er ist nicht hier.

Maria weint. Sie schmeckt das Salz ihrer Tränen und legt die Hand auf ihre Brust. Ihr Herz ist so schwer, und doch – da verändert sich was. Aber noch immer hat sie keine Worte.

Er ist nicht hier? Was soll das denn heißen?

Maria schluckt. Die Tränen fließen immer noch. Vielleicht tut das Weinen ganz gut. Maria denkt, ein bisschen fließt jetzt auch das Dunkle, fließt der Schmerz und die Trauer dahin.   

Jesus ist tot. Aber irgendetwas ist passiert an diesem neuen Tag! Maria beugt sich noch mal tief hinunter, schaut in die Grabkammer hinein. Sie will es sehen und verstehen, und darum muss sie einfach nochmal näher dran.

Und dann sieht sie: die Engel.

Zwei Gestalten im weißen Gewand. Der eine steht am Kopf-, der andere am Fußende des Grabes. Das glaubt mir doch kein Mensch, durchzuckt es sie.

Was weinst du, Frau? So fragen die Engel. Und Maria räuspert sich und spricht es irgendwie aus: Das Unbegreifliche. Das, was ihr auf der Seele liegt.

Der Kyrios, sagt sie. Mein Herr! Jesus, dem wir alle gefolgt sind. Sie haben ihn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.

Und kaum hat sie es gesagt, schaut sie noch mal genauer hin und sieht: da steht ja noch jemand. Und wieder wird sie gefragt: Was weinst du? Wen suchst du denn?

Da geht ein Ruck durch Maria. Sie bemüht sich um Haltung, um Klarheit. Maria überlegt: dann wird das wohl der Gärtner sein. Noch einmal ringt sie um Luft und dann fragt sie den Unbekannten: Hast du ihn etwa weggetragen? Wo hast du ihn hingebracht? Wo kann ich ihn finden?

Der Fremde sieht Maria an. Mit ganz viel Liebe im Blick. In seinen Augen blitzt etwas auf. Er lächelt. Und dann sagt er ihren Namen: Maria!

Ihr Herz macht einen kleinen Hops. Und Maria reibt sich die Augen. Mit ihren Händen wischt sie die Nässe fort. Sie blinzelt und fängt an zu erkennen. Blinzelt nochmal und ist plötzlich sicher: das ist er!

Rabbuni! Mein Lehrer, mein Meister, mein Herr! Maria streckt ihre Hand aus. Begreifen möchte sie das! Und ihn berühren natürlich auch. Die Wärme seiner Finger spüren, so tröstlich und gut. So wie damals, als er mit seiner Nähe die Dämonen vertrieben hat. Rabbuni! Gib mir die Hand, damit ich fassen kann, was hier gerade geschieht!

Doch Jesus zieht sich zurück. Rühr mich nicht an.

Warum bist du so schroff, denkt Maria. Doch schon im nächsten Moment hat sie verstanden: ich kann ihn nicht halten. Er ist zwar hier, aber er ist nicht mehr da. Das, was geschehen ist, wird nicht mehr rückgängig gemacht. Von Karfreitag bis zu diesem Ostermorgen, da ist etwas passiert.

Halt mich nicht fest, Maria. Ich bin doch auf dem Weg, sagt der Auferstandene im leeren Grab. Ich gehe nun weiter zu meinem Vater. Ich kehre zurück in mein Eigentum. Dorthin, wo ich herkam. Ich fahre auf in den Himmel, zu unserem Vater, unserem Gott.

Und Maria staunt.

Ein tiefes Seufzen kommt aus ihrer Brust. Maria hat ausgeweint. Sie sieht allmählich wieder klar.

Jesus ist da, und doch nicht mehr hier. Jetzt löst sich auch der Kloß in ihrem Hals.

Ja. Es ist so, wie er es gesagt hat. Er kehrt zurück zu seinem Vater. Und wie in einem Puzzle fügt sich nun ein Teil zum andern. Jesus ist gestorben, aber seinen Weg mit uns setzt er fort, denkt Maria. Und nun weiß ich auch, was ich tun muss: Ich gehe los und werde es den Anderen sagen. 

Maria staunt.

Nach all dem Schrecken ist da plötzlich wieder Hoffnung. Leichtigkeit. Ein Stein ist ihr vom Herzen gefallen. Freude macht sich breit in ihrer Brust. Wo eben noch Dunkel und Schmerz war ist plötzlich Licht und leises Singen.

Maria tanzt.

Mit großen Schritten läuft sie auf die Anderen zu und ruft: Denkt nur! Ich hab‘ ihn gesehen! Die Männer sehen sie mit großen Augen an.   

Petrus, Johannes und Thomas! Hört zu! Lasst euch erzählen, was ich da gerade erlebt habe!

Jesus war tot, doch sein Weg, der geht weiter. Der Tod ist besiegt. Das Leben ist stärker. Maria erzählt es den Jüngern in allen Details. Von der Begegnung mit den Engeln und der Begegnung mit Jesus. Auferweckt von den Toten.

Maria, woran hast du ihn erkannt?

Er hat meinen Namen gesagt. Und das war ganz so wie immer. Auch wenn er nicht mehr hier ist, er bleibt unter uns. Das, was wir mit ihm erlebt haben, es ist nicht vorbei. Der Tod hat seine Macht verloren. Das ist die Botschaft an diesem Morgen. Jesus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Er bleibt bei uns.

Maria lacht.

Sie singt und sie springt. Die richtigen Worte zu finden, das fällt ihr immer noch etwas schwer. Der Sieg des Lebens über den Tod. Auferstehung und Hoffnung und helles Licht an diesem Morgen. Und tief im Herzen die Gewissheit: er ist nicht fort. Er ist bei uns. Alle Tage, bis ans Ende der Welt.

Amen.

Perikope
21.04.2019
20,11-18

„Richtstatt“: zuletzt Würde in alle Ewigkeit – Predigt zu Johannes 18,28-19,5 von Ulrich Kappes

„Richtstatt“: zuletzt Würde in alle Ewigkeit – Predigt zu Johannes 18,28-19,5 von Ulrich Kappes
18,28-19,5

Es ist der „Rüsttag“. Am darauf folgenden Tag, einem Freitag, ist Passahfest, Ein Lamm ist zu kaufen, der koschere Wein ist zu erwerben und alle, die zu einer Familie gehören, sind spätestens jetzt einzuladen … Vorschrift für den „Rüsttag“ ist an oberster Stelle, unter keinen  Umständen das Haus eines Heiden zu betreten und sich dadurch „zu verunreinigen“. Deshalb blieben die Juden, die gekommen waren, um Jesus kreuzigen zu lassen, dem Palast des Pilatus fern und standen „draußen“.

 

Als man Jesus zu Pilatus brachte und ihm den „Fall“ Jesus von Nazareth sozusagen vor die Füße legte, wehrte er ab. Er wollte ihn nicht verurteilen. „Das geht mich nichts an!“

Er ist mit Rücksicht auf die Menge mal drinnen und mal draußen, pendelt ständig hin und her. Zweimal geht er „nach draußen“, um der Menge zu sagen: „Ich finde keine Schuld an diesem Menschen.“ Dann geht er wieder in den Palast zurück. Dieses „Tür auf und Tür zu“ ist wie eine Welle, die immer stärker wird und aus der heraus es für Jesus schließlich kein Entrinnen mehr gab.

 

Waren es die „Juden“, die Pilatus vor sich her trieben, bis er machte, was sie wollten? Das hat sich so in das kollektive Gedächtnis bis hin zur Johannespassion von Johann Sebastian Bach eingegraben. Auf die Frage von Pilatus, ob er nicht Jesus am Passahtag begnadigen kann, singt der Chor grauenhaft und entfesselt: „Weg, weg mit dem, weg, weg!“ Das waren „die Juden“.

Lesen wir den Text des Johannesevangeliums aber genau, so heißt es unmittelbar vor dem Urteilsspruch: „Da (Pilatus) die Hohenpriester und deren Diener sah, schrien sie und sprachen: Kreuzige! Kreuzige!“ (Joh. 19,6) Werden wir dem Wortlaut des Evangeliums gerecht, so waren es nicht die „Juden“ als Volk, sondern ein Mob von „Hohenpriestern und deren Diener“, die Pilatus schließlich zum Todesurteil trieben. („Das Volk der Juden“ hatte ohnehin gar keinen Platz vor dem Gerichtspalast.)

 

Vor der Geißelung des Angeklagten findet ein Zwiegespräch zwischen Pilatus und Jesus statt. Pilatus fragt Jesus, ob er, unabhängig von der von ihm benutzten Verhöhnung als „König der Juden“, ein König sei. Jesus antwortete: „Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll.“

 

Das ist wohl eine der dichtesten Beschreibungen der Mission des Jesus von Nazareth im Johannesevangelium. Indem Pilatus Jesus nicht unterbrach und ins Wort fiel, kann man vermuten, dass er für einen Moment erkannte, dass Jesus etwas ganz anderes ist als es der äußere Schein hergibt. Er erkannte die große Würde dieses Menschen wohl, wagte aber keine Schlussfolgerungen zu ziehen. Das ist seine tiefe Tragik.

‚Ich bin in diese Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit zeugen soll, und darin bin ich der König.’ Was heißt das?

Zunächst: „Ich bin in diese Welt gekommen …“ Die Wahrheit dieses Jesus ist „nicht von dieser Welt“. Sie ist aus einem anderen Kontext. Sonst hätte der „König der Wahrheit“ nicht in die Welt kommen müssen, wäre sie von der Welt. Wir müssen das sehen und wir müssen das festhalten. Es wird mit Christus etwas in unsere Welt gebracht und gesenkt, das den Maßstäben dieser Welt nie gerecht wird. „Liebet eure Feinde … Vergebt, so wird euch vergeben … Richtet nicht …“, um nur einiges zu nennen, folgt nicht den Maximen der „Welt“. Unterwerfen wir seine Wahrheit unseren Dimensionen, vergessen wir ihren Ursprung, so werden wir keinen Zugang finden.

 

„Ich bin ein König … und in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit zeugen soll.“ Der „König der Wahrheit“ leitet an, in seinen Worten „die Wahrheit“ zu suchen. Wahrheit ist, blicken wir auf sein Leben, nicht Halbheit und nicht Resonanz auf das, was gehört werden will. Wahrheit ist keine Halbheit. Sie geht keine krummen Wege. Das ist der Anspruch, der vom König der Wahrheit an uns ausgeht. ‚Suche die Wahrheit und nichts als die Wahrheit und meide die Halbheit und eine Rede, die anderen bloß zu Gefallen dient.’ Wer dem König der Wahrheit angehört, ist ein unablässig um die Wahrheit ringender Mensch.

 

Pilatus fragt: „Was ist Wahrheit?“ Die Frage markiert, was Pilatus ausmacht. Sie ist echt. ‚Was ist Wahrheit für einen wie mich, den Pilatus? Heute dient das als Wahrheit, was mir weiter hilft, morgen jenes, dann etwas Anderes. Eine absolute Wahrheit gibt es nicht. Sie schadet, sie stört. Was soll ich bloß mit einem Wort wie Wahrheit?’

 

Was ist Wahrheit? Ich bin, sagen wir, Buchhalter und schaue auf die Liquidität meines Betriebes. Oder ich gehe täglich zur Arbeit am Fließband. Oder ich baue ein Haus. … Das ist es. Das ist mein Alltag, mein Leben. Was interessiert dann „Wahrheit“? Was für eine Wahrheit außerhalb der Grenzen, sein Leben gut zu organisieren und vernünftig zu führen, brauche ich? Ist Wahrheit ein Luxus, den der „praktische“ Mensch nicht braucht?  Wie groß, wie stark und wie mächtig fesseln uns die Erfordernisse des Alltags? Richtigkeit und Genauigkeit sind geboten, welchen Wert aber hat „Wahrheit“?

 

Der Disput zwischen Jesus und Pilatus muss in der Alten Kirche sehr hoch im Kurs gestanden haben. Irgendeine oder irgendeiner hat ihn offenbar über alles geschätzt. Diesem Umstand verdanken wir wohl, dass der Text als griechische Handschrift bewahrt wurde, und zwar als das älteste Stück einer Handschrift des Neuen Testamentes, das wir überhaupt besitzen. Das Fragment stammt aus den Jahren 100–125 n. Chr. 1

Wie gesagt: Offenbar muss es Christen gegeben haben, die gerade in diesem Text sich selbst wieder fanden und ihn darum besonders bewahrten, so dass er der Nachwelt erhalten blieb. ‚Wer sind wir, die Christinnen und Christen, im Unterschied zu der Welt um uns im Römischen Reich? Wir sind nicht mehr und nicht weniger als Gefolgsleute des Königs der Wahrheit.’

 

Pilatus befiehlt wie aus einer Laune heraus, Jesus zu geißeln. Die römischen Soldaten setzen der Geißelung ihrerseits die Krone mit einem Kranz aus geflochtenen Dornenzweigen und dem Umhängen eines Purpurmantels auf. Sie haben ihre viehische Freude, diesen königlichen Menschen zu misshandeln.

 

 Pilatus sagt, als der so geschundene Jesus vor der Menge steht: „Sehet, welch ein Mensch!“ Das ist die Übersetzung Martin Luthers. Im Urtext steht nur da: „Sehet, der Mensch!“

 

Was ist gemeint? Wir fragen als erstes, ob das der letzte Zynismus des Pilatus ist. „Sehet, so ist der Mensch!“ - Verhöhnt, geschlagen, von einem Wahn, er sei etwas Besonderes, getrieben, Opfer eines Gerichtsspruches, der keiner ist, weil der Richter ein Schwächling ist?’ Ist das gemeint? Es gibt prominente Ausleger, die diese Worte so interpretieren.2 Was ist der Mensch? ‚Er ist in diese Welt geworfen und ihr nur ausgeliefert. Keinen Wert hat dieses Menschsein als Qual und Elend.’ Ich verstehe diese Worte anders.

 

Bedenken wir:

Jesus sieht und weiß, dass er nunmehr einem furchtbaren, unbeschreiblich grausamen Tod entgegengeht. Er wird sich bewusst, dass er an die äußerste Grenze dessen, was ein Mensch ertragen kann, getrieben wird.

Und? Jesus schweigt. Der „König der Wahrheit“ verschmäht es, sich gegenüber Pilatus oder dem Mob da draußen zu äußern. Er sucht nicht ihr Mitleid oder wenigsten etwas Nachdenklichkeit über das, was sie tun. Er schweigt hoheitsvoll zu allem. Heißt das: So und nicht anders ist wahres Mensch-Sein? Einer, der Verhöhnung, Schmerzen und Tod mit königlicher Würde erträgt?

 

Ist „Sehet der Mensch!“ dann so zu verstehen, dass es eine letzte Verbeugung des Pilatus vor Jesus ist und es dann gleichzeitig an uns die Botschaft ist, diesen starken und diesen königlichen Menschen im Leiden und im Sterben vor Augen zu haben?

 

Wir halten inne und müssen nachfragen. Wird uns hier in einer biblischen Szene etwas gesagt, was wir aus unserer Erziehung heraus kennen: Weine nicht, zeig keine Schwächen, blamier dich nicht? Ist Jesus der Mensch, der allen Leidenden vorlebt, wie man das Sterben aushält und erträgt? Müssen wir diese Worte dann nur als eine biblische Variante für weltliche Tugendpredigt auf die Tapferkeit einstufen, einer Tapferkeit, die der Menschheit seit Sokrates  bis zu den Widerstandskämpfern vom 20. Juli 1944 vor Augen gehalten wird?

 

Die Frage ist nicht mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten.

Was ist ausschlaggebend für ein Christenleben, das Jesus nachahmt? Im Glauben wird Jesus nur dann in uns groß, wenn wir unablässig sein Bild und sein Wort vor Augen haben. Von diesen Worten und dieser Jesusgestalt geht die eigene, unvergleichbare Kraft und Potenz aus, die Menschen ihm ähnlich macht. Das ist etwas anderes, als an ein Vorbild zu denken.

„Sehet der Mensch!“ So ist, nach Pilatus in prophetischer Rede, der wirkliche Mensch: gefasst, ungebeugt und Gott gehorsam im größten Leiden. Der Weg der Nachfolge führt über die Verinnerlichung des Evangeliums. Das macht den Unterschied zu einer Tugendpredigt.

 

ANMERKUNGEN

1 I Andreas Reinert, Das Johannes-Evangelium. Ein Arbeitsheft zur Erschließung des ganzen biblischen Buches, Seelze 2012, S. 18.

2 I Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, Berlin 1963, S. 510 etwa im obigen Sinn: „So muss denn Jesus heraustreten als die Karikatur eines Königs und Pilatus stellt ihn vor mit den Worten: das ist der Mensch! Da seht die Jammergestalt.“

Günther Baumbach, Die Bibel mit Erklärungen, Berlin und Altenburg 1989, z. St. S. 225: „Das berühmte Pilatuswort „Sehet, welch ein Mensch!“ (19,5) dürfte deshalb ironisch gemeint sein und die Überzeugung des Statthalters von der politischen Harmlosigkeit zum Ausdruck bringen.“ Günther Baumbach schränkt allerdings ein: „Jedoch kann dieses Wort im Sinn des Joh auch prophetisch  gemeint sein.“

Ulrich Kappes

Perikope
07.04.2019
18,28-19,5

Vor Gericht - Predigt zu Johannes 18,28-19,5 von Susanne Ehrhardt-Rein

Vor Gericht - Predigt zu Johannes 18,28-19,5 von Susanne Ehrhardt-Rein
18,28-19,5

I.

Ein Mensch steht vor Gericht. Es ist früh am Morgen. Der Angeklagte wurde die ganze Nacht verhört. Es ging nicht um die Wahrheit. Es ging darum, Schuld zu finden. Man wirft ihm Amtsanmaßung vor, Anstiftung zum Aufruhr gegen die religiösen Führer und gegen den Staat. Gotteslästerung. Infragestellung des Systems. Das muss aus der Welt geschafft werden. Der muss aus der Welt geschafft werden.

Sie bringen ihn zum obersten Richter. Nur dieser, Vertreter der staatlichen Gewalt, hat die Macht, ein Urteil über Kapitalverbrechen zu sprechen. Eine Verteidigung ist nicht vorgesehen. Der Richter ist befangen, durch Unkenntnis und Desinteresse.

Das Verhör wird fortgesetzt, aber es kommt nichts dabei heraus. Was soll die Schuld sein? Größenwahn? Herrschaftsphantasien? Der ist doch harmlos. Ein Wortverdreher, kein Volksverführer.

Aber die Ankläger sind nicht harmlos. Sie behaupten: Ein Aufruhr droht. Also wird der Prozess kurz: Noch ein Angebot zum Ausgleich – ein Ersatzopfer. Es wird abgelehnt, sie verlangen eine regelrechte Verurteilung.

Dann noch die übliche Folter, Schläge mit speziell präparierten Geißeln. Vielleicht sagt er noch etwas Substantielles, das sich gegen ihn verwenden lässt. Aber nichts. Schweigende Unschuld. Der Angeklagte wird noch einmal vorgeführt: Seht, ein Mensch! Also schnell jetzt. Bringt es zu Ende.

II.

Ein Jude steht vor Gericht. Jesus von Nazareth, Jeshua, Wanderprediger aus Galiläa. Angeklagt von anderen Juden, von der obersten Religionsbehörde. Religion hat Gewicht in dieser Zeit. Es geht um Wahrheit und Macht. Der Grund der Anklage lässt sich aus den überlieferten Texten kaum rekonstruieren: Missbrauch des Gottesnamens? Unruhestiftung im Tempel? Missachtung der Reinheitsgebote? Aber war das alles genug, um die Todesstrafe zu fordern? Kreuzige ihn – deshalb?

Der Prozess gegen den Juden Jesus aus Nazareth beginnt mit einem Streit über religiöse Fragen, über die Auslegung der Gebote der Thora. Aber geführt wird dieser Prozess bis zum Urteil vor einem römischen, weltlichen  Gericht. Nur der Prokurator Pontius Pilatus darf ein Todesurteil fällen und vollstrecken. Und er tut es. Aus Unkenntnis, aus Dummheit oder Lust an der Gewalt, aus politischem Kalkül, zur Abschreckung anderer Aufrührer oder einfach, um diese Sache loszuwerden? Dieser Fall, dieses Urteil, wird ihn berühmt machen über den Untergang des römischen Reiches hinaus. Sein Name, über die Jahrhunderte hinweg bekannt durch das christliche Glaubensbekenntnis: Gelitten unter Pontius Pilatus. Gekreuzigt – auf Befehl dieses Prokurators.

Der Evangelist Johannes beschreibt die Gestalt des Pontius Pilatus wie weichgezeichnet: Einer, der Fragen stellt, die Wahrheit sucht. Einer, der sich bemüht, den schuldlosen Jesus von Nazareth doch noch freizugeben. Andere Quellen beschreiben einen hartherzigen, bestechlichen und grausamen Gewaltherrscher.

Was ist Wahrheit – im Blick auf diesen Richter?

Wahr ist auch, dass mit diesem Prozess, mit diesen Zuschreibungen in den Berichten der Evangelien, eine Gewaltgeschichte beginnt, die bis heute anhält: „Die Juden“ – so heißt es im Johannesevangelium. Sie suchen nach Gründen für ein Todesurteil gegen Jesus. Sie fordern seine Kreuzigung. So schreibt es Johannes. Was ist Wahrheit?

Wahrheit ist auch: Mit diesem Prozess nimmt eine Katastrophe ihren Lauf, die Schuld um Schuld über Jahrhunderte aufgehäuft hat. Der Evangelist Johannes wollte die Gegnerschaft zwischen den Juden des Hohen Rates und dem Juden Jesus von Nazareth herausstellen. Ihren Irrtum gegen seine Wahrheit. Unsägliche Gewalt erwuchs aus dieser Geschichte. Die Schläge, die Jesus trafen, der qualvolle Tod am Kreuz – sie stehen auch für die Verfolgten, Gequälten, Gemordeten seines Volkes. Auch dies: Wahrheit dieser Geschichte voller Gewalt.

III.

Gott steht vor Gericht.

Hat er das gewollt? Wollte er so dastehen vor aller Welt: entstellt, zerschunden, entwürdigt? Kann das Gott sein?

Das Wort wurde Fleisch – und nun hängt es ihm in Fetzen vom Rücken, Dornen drücken sich in dieses Fleisch, bis aufs Blut. Geboren von einer Frau, und nun nur noch Qual und Schmerz.

Das muss ein Missverständnis sein. Wäre dieser Gott, er wäre doch unverwundbar. Strahlend. Anbetungswürdig. Ein König aller Könige. Aber nicht ein Unschuldiger unter der Folter. Unerträglich ist dieser Anblick, auch ohne den Gedanken an Gott. Ein Mensch, der nur noch Schmerz ist. Seht ihn euch an.

Welchen Sinn soll das haben: Gott vor Gericht, ohne Verteidigung, ohne jede Macht. Angespuckt und geschlagen. Verwechselbar mit jedem Leidenden, mit jeder Geschlagenen. Er ist das Letzte – so endet dieser Prozess. Diesem Gott widerfährt, was allen gequälten, geschundenen Menschen widerfährt. Er macht sich austauschbar, verwechselbar. Das ist die Wahrheit Gottes, der sich vor Gericht ziehen lässt: Seht, welch ein Mensch!

IV.

Die Liebe steht vor Gericht.

Sie hätte dort nicht hingehen dürfen, ins Zentrum der Macht. Sie hätte still bleiben müssen, am Rand, nur für einige wenige sichtbar. Ein kleiner Kreis von Gleichgesinnten – hätte das nicht genügt? Es musste die Hauptstadt sein. Auf einem Esel durch das Stadttor, wie lächerlich.

Sie war die ganze Zeit dabei, beharrlich, direkt, ohne Scheu. Die Liebe war dabei, als er aus Wasser Wein machte und als er den Blinden heilte von seiner Blindheit. Sie war dabei, als er das Brot verteilte, als gäbe es keinen Mangel. Sie blickte verwundert auf, als er die Ehebrecherin freisprach. Sie lebte auf, als er den Lazarus aus dem Grab rief. Und sie beugte sich, als er seinen Freunden die Füße wusch.

Wahrheit und Liebe – die beiden können nicht ohne einander. Nun steht sie vor Gericht, die Liebe. Hat sie alles falsch gemacht? Hätte sie sich verstecken müssen, vorsichtiger sein? Sie scheint keine Angst zu haben vor den Schmerzen, vor dem Tod.

Was ist Wahrheit? Die Liebe antwortet nicht mit Worten auf diese Frage. Sie lässt sich vorführen und schlagen und umbringen. Es wird nichts nützen. Sie wird auch dabei sein, wenn er stirbt, qualvoll am Kreuz. Sie lässt sich begraben und kommt wieder ans Licht.

 

V.

Wenn ich vor Gericht stehe, wer gibt mir recht? Vor dem Gericht der Schuld und der Wahrheit? Wer verteidigt mich und steht für mich ein?

„Bist du Gott, dann tu mir Recht.

Ja, das Lügen regiert weit und breit:

Hochstapler sind an der Macht.

Du warst mein Gott, meine Barke und meine Burg.

Darf ich nicht mehr hinein?

Darum bin ich so heruntergekommen,

gequält und erniedrigt.

Schicke zu mir

Licht gebende Füße,

dass sie mir vorangehen

dorthin, wo du bist.

Dass meine Seele sich nicht verkriecht.

Dass du

Mein Angesicht befreist.

Mich wägst und sagst ja.“1

Amen.

 

 

1 I Huub Oosterhuis, Psalmen, Freiburg u.a., 2014, S. 94. Diese Übertragung von Ps 43 wird in der Eingangsliturgie des Gottesdienstes am Sonntag Judika aufgenommen.

Perikope
07.04.2019
18,28-19,5

Hechtklöße und Himmelsbrot – Predigt zu Johannes 6, 47-51 von Marjaana Marttunen-Wagner

Hechtklöße und Himmelsbrot – Predigt zu Johannes 6, 47-51 von Marjaana Marttunen-Wagner
6,47-51

Predigttext

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer glaubt, der hat das ewige Leben. Ich bin das Brot des Lebens. Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben. Dies ist das Brot, das vom Himmel kommt, damit, wer davon isst, nicht sterbe. Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit. Und dieses Brot ist mein Fleisch, das ich geben werde für das Leben der Welt.

Johannes 6, 47-51

Er liegt im Hospiz und verbringt dort die letzten Tage seines Lebens. Da kommt eine Frau in sein Zimmer, stellt sich vor als Gourmet-Köchin und fragt ihn: „Was wünschen Sie sich denn heute zu essen?“ Für einen kurzen Augenblick erhellt sich sein abgemagertes Gesicht. Er hebt seine Augenbrauen und fängt an zu strahlen. „Hechtklöße, die wünsch ich mir!“.

Diese Szene aus der Sendung „37 Grad“ hat mich sehr berührt. Ich konnte mitverfolgen, mit wie viel Liebe die Köchin dem Sterbenden seine Lieblingsspeise zubereitet. Dabei sagt sie: „Essen hält Leib und Seele zusammen und zwar bis zum Schluss.“ Und er stellt fest: „Das ist Leben, noch bin ich da, noch kann ich was wünschen und das freut mich!“

 „Lätare“, (lat. sich freuen) heißt der 4. Sonntag der Passionszeit. Mitten in den sieben Fastenwochen feiern wir das sogenannte „kleine Ostern“ als Zäsur auf dem Weg durch die Leidenszeit Jesu. Schon jetzt schenkt uns dieser Sonntag einen österlichen Vorgeschmack auf Gottes neue Welt.

So einen Vorgeschmack bekommen wir auch in der „Brotrede“ Jesu. Sie folgt im Johannesevangelium auf die Speisung der Fünftausend. Fünf Brote und zwei Fische sind es, die alt und jung satt machen. An Leib und Seele spüren sie: Jesus gibt die Lebenskraft Gottes weiter! Die Menschen erleben Fülle und gemeinsame Freude. Nach dieser Erfahrung hören sie ganz anders hin, als Jesus sagt: „Ich bin das Brot des Lebens“. Sie begreifen, dass in diesem Brot leibliche und seelische Nahrung zusammenkommen. „Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit“. 

Bei jedem Abendmahl erinnern wir uns an Jesu letztes Mahl. Zugleich feiern wir die Hoffnung, dass wir auch über den Tod hinaus mit Gott verbunden sind. Das ist ein Grund zur Freude, auch wenn noch schwere Tag folgen werden. Freude, weil wir schon jetzt im Brot des Lebens schmecken und sehen dürfen, wie freundlich der Herr ist! Denn Jesus deckt nicht nur den Tisch, sondern ist zugleich selber die Gabe des Himmels, lebendiges Brot für das Leben der Welt.

 „Das ist Leben, noch bin ich da, noch kann ich wünschen“, so der Hospiz-Bewohner. Für ihn war der Moment, in dem er seine Hechtklöße tatsächlich serviert bekam, mehr als nur Essen! Die Köchin hat das Brot des Lebens auf ihre Weise geteilt und weitergegeben. Sie hat ihren Gast verwöhnt und ihm in diesem Moment Freude am Leben geschenkt. Die Hechtklöße schmeckten bestimmt wie der Himmel auf Erden – übrigens zubereitet aus Fisch und Brot!

 

Lebendiger Gott,

wir danken dir,

dass du unserem Leib

und unserer Seele Leben schenkst.

Sei bei uns, in Momenten, in denen die Kraft nachlässt.

Schenke Begegnungen, die Mut machen,

Worte, die uns nähren,

die Gegenwart deines Sohnes Jesus Christus,

dem Brot des Lebens, das lebendig macht, jetzt und ewig.

AMEN.

 

Lied: „Wenn das Brot, das wir teilen als Rose blüht…“ KAA 091

Text: C.-P. März; Melodie K. Grahl  

 

Quellenangabe: ZDF „37 Grad“ – „Der Geschmack von Leben - Die Köchin, das Hospiz und ein gutes Ende“, Sendung vom 18.2.2019

 

Perikope
31.03.2019
6,47-51